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Über Hilary Mantel

Autor

Hilary Mantel, geboren 1952 in Glossop, England, war nach dem Jurastudium in London als Sozialarbeiterin tätig. Für den Roman ›Wölfe‹ (DuMont 2010) wurde sie 2009 mit dem Booker-Preis, dem wichtigsten britischen Literaturpreis, ausgezeichnet. Mit ›Falken‹, dem zweiten Band der Tudor-Trilogie, gewann Hilary Mantel 2012 den Booker erneut. Bei DuMont erschien zuletzt der Roman ›Der Hilfsprediger‹ (2017). Der dritte Band der Tudor-Trilogie ›Spiegel und Licht‹ erscheint im März 2020.

HILARY MANTEL

und die

Welt der Tudors

Aus dem Englischen
von Anette Grube

 

»Hinter jeder Geschichte: eine andere Geschichte.«

»Welcher Art ist die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge? Sie ist verschwommen und durchlässig, weil sie durchsetzt ist mit Gerüchten, Erfindungen, Missverständnissen und verzerrten Geschichten. Die Wahrheit kann Tore einreißen, die Wahrheit kann durch die Straßen heulen. Aber wenn sie nicht angenehm, sympathisch und leicht zu mögen ist, ist sie dazu verdammt, winselnd vor der Hintertür zu stehen.«

Inhalt

Die Geschichte bislang

Hauptpersonen

Wichtige Daten

Stammbaum

Der revolutionäre Charakter der Bücher

Wesentliche Themen

Die aktuelle Relevanz der Trilogie

Kulturelle Bedeutung von Wölfe und Falken

Lob für Wölfe und Falken

Lesekreisfragen

 

Die Geschichte bislang

Als Sohn eines Schmieds in eine Welt der Armut und Gewalt geboren, flieht der junge Thomas Cromwell auf den europäischen Kontinent und erwirbt nützliches Geschick im Kämpfen, im Finanz-, Geschäfts- und Rechtswesen. Nach seiner Rückkehr tritt er in den Dienst von Kardinal Wolsey, dem Gesandten des Papstes in England, der zu Thomas’ wohlwollendem und geliebtem Förderer wird.

Nach zwanzig Jahren Ehe mit Katherine von Aragón hat Henry VIII. unterdessen ein Auge auf Anne Boleyn geworfen. Er besteht darauf, dass seine Ehe ungültig ist, da Katherine zuvor mit seinem Bruder verheiratet war, und dass er frei sein sollte, um Anne zu heiraten, die ihm den dringend benötigten Sohn schenken soll. Wolsey trägt den Fall vergeblich dem Papst und Kirchengerichten vor. Henry macht seine Unzufriedenheit deutlich: Wolseys Grundbesitz, Güter und das Große Siegel Englands werden konfisziert; zudem wird er diverser Vergehen angeklagt, stirbt jedoch, unglücklich, bevor ihm der Prozess gemacht werden kann.

Cromwell trauert nicht nur um seinen Förderer, sondern auch um seine Frau und seine Töchter, die kurz zuvor dem Englischen Schweißfieber zum Opfer gefallen sind, und schwört, sich in den Dienst des Königs zu stellen und Rache zu nehmen an denen, die Wolseys Tod gefordert und gefeiert haben.

Thomas Cranmer, Gelehrter und Kleriker, arbeitet mit Cromwell zusammen, um die angestrebte Heirat des Königs zu ermöglichen, während Thomas More die »Häretiker« in England verfolgt, die neuen religiösen Doktrinen anhängen. Gegen den Druck alteingesessener adliger Papistenfamilien und angesichts der zunehmend chaotischen Reformationsbestrebungen auf dem Kontinent drängt Cromwell Henry behutsam weg vom Papst und überzeugt ihn, die Rolle des Kirchenoberhaupts in England zu übernehmen; Anne Boleyns Sympathien für den Protestantismus sind dabei hilfreich. Henry, der sich so gut wie sicher ist, dass seine erste Ehe annulliert ist, schneidet die schwache und alternde Katherine von ihren Unterstützern ab und verbietet ihr den Kontakt zur gemeinsamen Tochter Maria. Im November 1532 heiratet er Anne in einer privaten Zeremonie und im Januar darauf, als sie bereits schwanger ist mit ihrer Tochter Elizabeth, in einer öffentlichen Zeremonie.

Zwischen Cromwell und Anne herrscht ein fragiler Frieden. Beide glauben zum einen, dass sie die Ursache des Erfolgs des jeweils anderen sind, und zum anderen, dass sie den Niedergang des anderen herbeiführen können – und dass viele gern den Sturz beider sehen würden. Eine junge Frau, Elizabeth Barton, behauptet, hellsehen zu können, und wird im ganzen Land bekannt, weil sie eine Katastrophe für den König und Anne Boleyn vorhersagt, doch Cromwell nutzt die Unterstützung, die sie von den Feinden des Königs erhält, diese Herausforderer hinrichten zu lassen, darunter den zum Märtyrertum entschlossenen Thomas More. Cromwell erhält mehrere neue Ämter und wird Sekretär des Königs, wodurch er seine Autorität auf die Regierung ausdehnen kann, und Vicegerent in geistlichen Dingen, was ihm gestattet, die Verwaltung und den Reichtum von Englands Klöstern neu zu organisieren.

Nach nur wenigen Jahren Ehe wird deutlich, dass Anne Henry keinen Sohn gebären wird. Zudem ist er erbost über ihr aufbrausendes Temperament. Und wieder einmal wendet sich der König jemand anderem zu: diesmal der jungen Jane Seymour, einer stillen, einfachen Frau, Hofdame erst von Katherine, später von Anne. Henry grollt auch Cromwell, einem Mann, dem er große Macht übertragen hat, der jedoch nicht in der Lage ist, dem König die neue Frau zuzuführen, die er haben will. Henry verlangt nach einer Lösung – und Cromwell hat sie. Kurz nach dem Tod von Katherine wird Königin Anne des Verrats angeklagt. Sie hat angeblich Ehebruch begangen mit einer Gruppe von Henrys Höflingen und Freunden, die planten, den König umzubringen.

Lady Rochford, Annes Schwägerin, die Einfluss gewinnen will und entschlossen ist, sich ihres verhassten Ehemannes zu entledigen, liefert Cromwell bereitwillig Beweise gegen die Boleyns. Zudem sammelt Cromwell Informationen – viele davon sind fragwürdig – mit Hilfe von Spionen und der Androhung von Folter. Annes eigener Onkel, der Herzog von Norfolk, führt den Vorsitz im Prozess gegen sie. Um Annes Schicksal zu besiegeln, verbündet er sich mit dem Herzog von Suffolk, seinem Rivalen um die Macht, der ein Freund des Königs aus Kindheitstagen und ein weiterer Feind der Königin ist.

Cromwell zieht diejenigen, die gegen Wolsey intrigiert hatten, in den Prozess mit hinein und bringt mehrere Männer zu Fall, die dem König nahestanden. Manche erkennen erst zu spät, dass ihr größtes Vergehen darin besteht, Thomas Cromwell in die Quere gekommen zu sein. Anne wird der Titel und der Status als Frau des Königs aberkannt. Alle Angeklagten bezahlen mit dem Leben. Henry macht Jane Seymour nur Tage nach Annes Hinrichtung zu seiner Frau.

Cromwells Feinde lauern in den Schatten, in den Winkeln seiner Gedanken: der Bischof von Winchester, Stephen Gardiner, der mit Cromwells Karriere Schritt gehalten hat und sich über Cromwells zahllose Beförderungen ärgert, die alteingesessene Adelsfamilie Pole, die glaubt, sie sollte auf dem Thron sitzen, und Cromwell favorisiert hat, solange sie von seinem Ehrgeiz profitierte, die Anhänger des Papstes, die Cromwell für Englands Abfall vom wahren Glauben verantwortlich machen, und zahllose weitere, die ihm vielleicht nie persönlich begegnet sind.

Am Ende des zweiten Bandes weiß Cromwell: »Es gibt keine Enden. Wenn du es denkst, täuschst du dich. Es sind alles Anfänge. Hier ist einer.«

Und so ist die Bühne bereitet für Cromwells letzten Anfang.

Hauptpersonen

Die Lebenden

»›Thomas Cromwell?‹, sagen die Leute. ›Das ist ein schlauer Mann. Weißt du, dass er das ganze Neue Testament auswendig kennt?‹ Er ist genau der richtige Mann, wenn ein Streit über Gott ausbricht; er ist genau der richtige Mann, um deinen Mietern zwölf gute Gründe zu nennen, warum ihre Mieten gerecht sind. Er ist der richtige Mann, um einen Rechtsstreit zu entwirren, in dem du dich seit drei Generationen verfangen hast, oder um deine schniefende kleine Tochter zu der Ehe zu überreden, von der sie schwört, sie niemals einzugehen. Bei Tieren, Frauen und scheuen Prozessgegnern ist sein Benehmen sanft und ungezwungen, aber deine Gläubiger bringt er zum Weinen. Er kann sich mit dir über die Cäsaren unterhalten oder dir venezianische Glaswaren zu einem sehr vernünftigen Preis besorgen. Niemand redet mehr als er, wenn ihm nach Reden zumute ist.«

THOMAS CROMWELL, später Lord Cromwell, zu dessen Ämtern gehören: Sekretär des Königs, Master of the Rolls, Schatzkanzler, Kanzler der Universität Cambridge, Verwahrer der Kronjuwelen und Stellvertreter des Königs als Oberhaupt der Kirche von England

RAFE SADLER, sein Büroleiter, bei Cromwell aufgewachsen wie ein Sohn

GREGORY CROMWELL, Cromwells Sohn und einziges überlebendes Kind

RICHARD CROMWELL, Cromwells Neffe, vom König »Cousin« genannt, da beiden walisisches Blut gemeinsam ist

THOMAS WRIOTHESLEY, bekannt als Nennt-mich-Risley, Siegelbeamter; möglicherweise ein Spion für Stephen Gardiner?

»Man könnte Henry ein Jahrzehnt lang jeden Tag beobachten und nie dasselbe sehen. Wähle deinen Fürsten aus: Er bewundert Henry mehr und mehr. Manchmal scheint er glücklos zu sein, manchmal nutzlos, manchmal ein Kind, manchmal Meister seines Fachs. Manchmal scheint er ein Künstler zu sein, wenn sein Blick auf eine gewisse Art über sein Werk streift; manchmal bewegt sich seine Hand, und er scheint ihre Bewegung nicht zu sehen. Wenn das Leben ihm eine bescheidenere Position zugedacht hätte, wäre er vielleicht reisender Schauspieler und Leiter seiner Truppe geworden.«

HENRY VIII. und seine Höflinge, darunter sein unehelicher Sohn, der Herzog von Richmond, Francis Bryan und Nicholas Carew aus alten und guten Familien

ELIZABETH, Tochter von Anne Boleyn und dem König

MARIA, Tochter von Katherine von Aragón und dem König

Die zwei ranghöchsten Nobelmänner im Land:

THOMAS HOWARD HERZOG VON NORFOLK, grausamer Onkel der hingerichteten Königin Anne und Feind Cromwells. Weitere Familienmitglieder sind MARY BOLEYN, ehemalige Geliebte des Königs; LADY ROCHFORD, Klatschbase und jetzt Witwe des hingerichteten George Boleyn; MARY SHELTON, eine Boleyn-Cousine und eine weitere Geliebte des Königs; und THOMAS BOLEYN, Annes Vater, der früher darauf bestand, »Monseigneur« genannt zu werden.

Und

CHARLES BRANDON HERZOG VON SUFFOLK, kleingeistiger Witwer der verstorbenen Schwester des Königs und Rivale des Herzogs von Norfolk

STEPHEN GARDINER, ehemaliger Sekretär von Kardinal Wolsey, jetzt Bischof von Winchester und eingeschworener Feind von Thomas Cromwell

THOMAS CRANMER, Erzbischof von Canterbury, Freund von Thomas Cromwell

JANE SEYMOUR und ihre angesehene Familie und ihr kluger Bruder EDWARD SEYMOUR sowie ihre verwitwete Schwester BESS SEYMOUR

EUSTACHE CHAPUYS, spanischer Botschafter, offiziell ein Feind Cromwells, aber auch sein Nachbar

Weitere Adelsfamilien, Dienstboten, Pfarrer, Kaufleute und Botschafter

Die Toten

KARDINAL WOLSEY, vor seiner Verhaftung und seinem Tod 1530 Gesandter des Papstes und Lordkanzler

THOMAS MORE, vor seiner Hinrichtung 1535 Lordkanzler und Sprecher des Unterhauses

KATHERINE VON ARAGÓN, verheiratet mit Arthur, Erbe des englischen Throns, nach ein paar Monaten bereits verwitwet. Danach war sie zwanzig Jahre mit Arthurs Bruder Henry VIII. verheiratet und gebar ihm eine Tochter, Maria, bevor er sie vom Hof verbannte und die Ehe annullieren ließ.

ANNE BOLEYN und ihr Bruder George, ein ehrgeiziger Emporkömmling, beide wegen Verrats 1536 hingerichtet

DIE HÖFLINGE DES KÖNIGS, darunter Henry Norris, Francis Weston und William Brereton, wie Anne wegen Verrats hingerichtet

LIZZIE, ANNE UND GRACE, Cromwells ein paar Jahre zuvor an Schweißfieber gestorbene Frau und Töchter

Wichtige Daten

Ca. 1485  Geburt von Thomas Cromwell in Putney, Surrey

1491  Geburt von Henry VIII.

1509  Henry VIII. beginnt seine Regentschaft und heiratet Katherine von Aragón, die Witwe seines Bruders.

1516  Cromwell tritt in Kardinal Wolseys Haushalt ein; Geburt von Prinzessin Maria (spätere Königin Maria I.)

1529  Kardinal Wolsey scheitert daran, die Ehe von Henry und Katherine vom Papst annullieren zu lassen, und wird für den darauffolgenden Fall Englands in Europa verantwortlich gemacht.

1529 – 1536  Das Reformationsparlament tagt und sät den Samen für die englischen Reformation und die Gründung der Kirche von England.

1530  Während er auf seinen Prozess wegen Verrats wartet, stirbt Kardinal Wolsey. Cromwell wird Berater am Hof Henrys.

1531  Katherine wird vom Hof verbannt und abgeschottet. Sie sieht ihre Tochter Maria nie wieder.

1533  Die Ehe von Henry mit Katherine wird annulliert.

November 1532 / Januar 1533  Henry heiratet Anne Boleyn in einer privaten und einer öffentlichen Zeremonie. Bald darauf wird sie zur Königin von England gekrönt.

1533  Geburt von Prinzessin Elizabeth (spätere Königin Elizabeth I.)

1534  Die Untertanen des Königs müssen einen Eid schwören, dass Henrys und Annes Eheschließung gültig ist und der König sich als Oberhaupt der Kirche von England rechtmäßig von Rom lossagen kann.

1535  Hinrichtung von Thomas More, Lordkanzler und ranghöchster Geistlicher, Gegner der Annullierung

Januar 1536  Katherine von Aragón stirbt.

Mai 1536  Anne Boleyn wird hingerichtet.

 

Der revolutionäre Charakter der Bücher

Die Rehabilitierung von Thomas Cromwell

Es gibt nur wenige Gestalten in der britischen Geschichte, die so einhellig geschmäht wurden wie Thomas Cromwell. Verantwortlich gemacht für die Unterdrückung der Klöster, die Vernichtung zahlloser kostbarer Bücher, die als zu »päpstlich« galten, und die Angriffe auf Statuen, Heiligtümer und Lettner im ganzen Land, wurde Cromwell traditionell als reformatorischer Bulldozer angesehen, der den König manipulierte, um religiöse Veränderungen gegen die katholische Kirche durchsetzen zu können, koste es, was es wolle.

Hilary Mantel beschrieb 2013 in einem Interview mit der Times, wie sie viele Jahre zuvor in einem zeitgenössischen Bericht auf Cromwell aufmerksam wurde, der im Palast von Wolsey über einem Gebetbuch weint:

»Es ist eines dieser Ereignisse, die in den Seiten der Geschichtsbücher verstreut liegen. Jeder Historiker, der diese Szene beschreibt, zitiert aus der Originalquelle. Doch keinem ist aufgefallen, dass es Allerseelen ist, der Tag der Toten. Er weint, und er weint vermutlich nicht nur wegen einer Sache«, sagt sie. »Ein Historiker wird sagen: ›Wir hören dich, Cromwell, du weinst, weil Wolsey gefallen und deine Laufbahn bedroht ist.‹ Doch eine so dramatische Zurschaustellung von Gefühl hat meist mehr als nur einen Grund. Ein Schriftsteller fragt: ›Und was noch?‹ Und dann wird klar, dass er wenige Jahre zuvor den Großteil seiner Familie verloren hat, und Allerseelen ist der Tag, an dem man ihrer gedenkt.«

Da sie schon öfter über bedeutende historische Persönlichkeiten geschrieben hatte, erinnerte sie sich daran, dass »die Frage zu historischen Gestalten und Ereignissen immer lautet: ›Wer erzählt mir das, und warum will er, dass ich ihm glaube?‹ Wenn jemand durchgängig dämonisiert wird, fragt man sich, warum und ob es nicht auch noch eine andere Version der Geschichte geben könnte.« Sie war davon überzeugt, dass die Figur Cromwells bei Weitem interessanter war, als sie in Geschichtsbüchern üblicherweise dargestellt wurde, und sorgte sich, dass ihr ein anderer Autor zuvorkommen könnte. »Ich dachte, jemand anders würde das Buch über Cromwell schreiben, denn mir schien es eine sehr weitreichende Geschichte zu sein, die unseren Blick auf den Hof der Tudors grundlegend verändern würde. Cromwell war immer nur eine Randfigur in der Literatur und im Theater. Stellt man ihn in den Mittelpunkt, sieht die Sache ganz anders aus. Ich war mir sicher, dass jemand anders schneller wäre als ich.«

Cromwell ist natürlich schon oft aufgetreten. In den Filmen Königin für tausend Tage und Ein Mann zu jeder Jahreszeit aus den 1960er-Jahren wird Cromwell als ruchloser, unglaubwürdiger und rachsüchtiger Mann dargestellt, während er in der Fernsehserie Die Tudors von 2007 als glühender reformistischer Eiferer geschildert wird. Er ist in zahllosen Büchern, Serien und Filmen aufgetaucht, die die historisch opulente Ära von Henry VIII. behandeln, als Mann mit dem Blut des frommen Thomas More an den Händen, aber nie zuvor wurde er mit so viel Menschlichkeit und Mitgefühl beschrieben wie in Mantels Büchern.

In einer Diskussion der British Academy mit Diarmaid MacCulloch 2015 schilderte Mantel ihre Herangehensweise an Thomas Cromwell und erklärte, dass er zuvor »nicht die Summe historischer Fakten gewesen war, sondern die Summe von Vorurteilen. Informationen, Desinformationen, die unter populärwissenschaftlichen Historikern, Schriftstellern, Dramatikern von Generation zu Generation weitergegeben wurden, nicht angezweifelt, nicht hinterfragt.« Gefragt, ob ihre Darstellung mehr oder weniger »akkurat« sei als die eines Historikers, erklärte sie den Unterschied zwischen den zwei Arten des Porträtierens:

»Ich glaube, populärwissenschaftliche Historiker machen es sich zur Aufgabe, Urteile zu fällen, Personen ein moralisches Zeugnis auszustellen, und akademische Historiker, die eine andere Meinung zu Cromwell vertreten, sehen es als ihre Aufgabe an, zu gewichten, sie platzieren Personen vor einem unveränderlichen Hintergrund. Ein Schriftsteller kann beides nicht tun. Bei einem Schriftsteller ist der Hintergrund nie statisch, weil er mit den Figuren im Augenblick lebt, er hat keinen Ort, von dem aus er bewerten oder urteilen kann. Ein Schriftsteller versucht, die Tafel sauber zu wischen und zu sagen: ›Du kennst diesen Mann nicht, aber du wirst ihn kennenlernen.‹«

Cromwell war der Mann, der die Autorität des Königs im Norden stärkte, der dafür sorgte, dass im 16. Jahrhundert in jeder Kirche eine englischsprachige Bibel lag, der die Verhältnisse in Wales stabilisierte, der sich an ökonomischen und sozialen Verbesserungen wie der Gesetzgebung zur Erleichterung der Lebensbedingungen der Armen versuchte, und es fällt jetzt schwer, ihn nur als machthungrigen Bösewicht zu sehen. Die Faszination von Mantels Büchern besteht unter anderem darin, dass Cromwells Beweggründe nie völlig klar sind, nicht einmal ihm selbst. Ist er von Ehrgeiz getrieben? Von Rache? Angst? Mitgefühl? Ego? Mantel hat die Antwort. Wie bei jeder anderen Person ist es eine Mischung von allem. Bei der BA-Diskussion stellte sie klar: »Ich muss den inneren Menschen darstellen […], die Welt der nahezu unbewussten Motive, den Cromwell, den Cromwell nicht kennt, weil er wie wir alle das ist, was er war, was er im Augenblick ist und was er hofft zu sein.«

Beim Edinburgh Book Festival 2012 erinnerte Mantel ihr Publikum daran, dass es ihr Ziel ist, den Leser direkt in diese historischen Momente hineinzuziehen. »Das Wesentliche ist, nicht im Rückblick zu urteilen, nicht aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts ein Urteil zu fällen, wenn wir wissen, was passiert ist. Es geht darum, dabei zu sein bei der Jagd in Wolf Hall, uns mit unvollständigen Informationen und vielleicht falschen Erwartungen vorwärtszubewegen, aber sich auf jeden Fall vorwärtszubewegen in eine Zukunft, die nicht vorherbestimmt ist, sondern in der Zufall und Risiko eine ungeheure Rolle spielen werden.«

Letztlich erkennt sie an, dass Cromwells Erfolg zu seinem Untergang führte, einem Untergang, den der König in den folgenden Jahren wiederholt bereute. Mantel nimmt an, dass nach einem bestimmten Punkt in Cromwells Laufbahn ein unaufhaltsamer Zwang jenseits aller Gerüchte und Mythen am Werk war. »Wenn man einmal angefangen hat, diese Leiter hinaufzusteigen, kann man nicht stehen bleiben, es gibt keinen Punkt, an dem man das Gleichgewicht halten kann. Man muss weiter hinaufsteigen, während die Menschen am Fuß der Leiter ständig daran rütteln. Das muss man bedenken, wenn man zurückblickt und moralische Urteile fällt – letztlich ist es schlicht eine Frage des Überlebens.«

Wesentliche Themen

Das Gewebe der Welt

»In der Öffentlichkeit trägt der Kardinal Rot, ausschließlich Rot, aber von verschiedener Dichte, verschiedener Webart, verschiedener Intensität von Farbstoff und Färbung, jedes jedoch das Beste seiner Art, die besten Rots, die für Geld zu haben sind. Es hat Tage gegeben, da kam er in voller Pracht heraus und sagte: ›Gut, Master Cromwell, schätzen Sie meinen Preis pro Yard!‹ Und er sagte darauf: ›Lassen Sie sehen‹, umkreiste den Kardinal langsam, sagte: ›Darf ich?‹, und nahm ein Stück des Ärmels zwischen seine fachkundigen Finger; dann trat er zurück und begutachtete ihn, um seinen Körperumfang abzuschätzen – Jahr um Jahr dehnt sich der Kardinal aus – und nannte eine Zahl. Der Kardinal pflegte begeistert in die Hände zu klatschen.«

Einer der vielen unterhaltsamen Aspekte von Wölfe und Falken ist, wie plastisch die Welt darin ist: Wir können das Leben von vor fast fünfhundert Jahren riechen, schmecken und nachempfinden. Die dunklen Flure und qualmenden Feuer, das Platschen der Ruder in der Themse, das weiche Leder gedankenlosen Reichtums.

Als ehemaliger Tuchhändler nimmt Thomas Cromwell die Stoffe mit einem professionellen Blick wahr, und das Buch folgt ihm. Als die Männer des Königs Wolsey festnehmen und seine Besitztümer in York Place beschlagnahmen, sieht Cromwell: »Sie haben Ballen von feinem Rohhalbleinen angeschleppt, Samt und grob gerippte Seide, Sarsenett und Taft, meterweise Scharlachrot: die scharlachrote Seide, in der er der Sommerhitze Londons entgegentritt, den purpurnen Brokat, der sein Blut warm hält, wenn Schnee auf Westminster fällt und in Wirbeln über die Themse fegt.« Nach Jahren in diesem Gewerbe und den Jahren in Wolseys Dienst erhöht Cromwell die Menschen in seiner Nähe, indem er sie für ihre Rolle kleidet. Seine Schwiegermutter wirft ihm vor, dass er »den Londoner Goldschmieden und Seidenhändlern das Geld in den Rachen geworfen hat, sodass die Frauen von Austin Friars bei den Ehefrauen der City als Inbegriff der Eleganz« galten. Er heißt eine neue Dienstbotin im Haushalt willkommen, indem er sie für ihr neues Leben anzieht: »Im Geiste befreit er sie von der billigen, eingelaufenen Wolle und kleidet sie in den gemusterten Samt, den er gestern gesehen hat, sechs Shilling der Yard. Ihre Hände, bemerkt er, sind abgeschürft und geschwollen von grober Arbeit; er fügt Glacéhandschuhe hinzu.«

Auch Cromwell kleidet sich mit Bedacht. Schwarz, schattig, unsichtbar, teuer, aber immer dezent, darauf bedacht, der Beobachter zu sein, nicht im Mittelpunkt zu stehen: »Keinen Deut zu fein für seine Stellung als Gentleman kleidet er sich bei Hofe und in den Büros von Westminster in weite Jacken aus so feiner Ryelandwolle, dass sie fließen wie Wasser, und in so dunkle, fast schwarze Violett- und Indigotöne, dass es aussieht, als hätte sich die Nacht in sie ergossen; seine Kappe aus schwarzem Samt sitzt auf seinem dunklen Haar, nur seine lebhaften Augen leuchten und die kräftigen, fleischigen Hände, mit denen er gestikuliert.« Anne besteht darauf, dass er bei ihrer Krönung das Rot seines ehemaligen Herrn, des Kardinals, trägt, und Cromwell kommt ihrem Wunsch nach, indem er ein Rot wählt, das so dunkel ist, dass jemand ihn einen »wandelnden Bluterguss« nennt.

Farben und Gewebe ziehen sich durch Wölfe wie ein roter Faden. Das goldene Blau frischer Tage und die siebenhundert Meter blaues Tuch, über die Anne bei ihrer Krönung schreitet, blaue Seide und blauer Satin, in die die Geschenke verpackt sind, das Blau, das die Botschafter tragen; das Grün des Lichts im Wald und der Kleidung von Anne Boleyns Mädchen Marian, das Grün von makellosen Äpfeln auf weißem Papier und der geschickt zur Schau gestellten Strümpfe, die vom Thema ablenken; die freundlichen Gelbtöne eines Ehebetts und kindlicher Verkleidungen.

Die Figuren spiegeln sich in ihren Textilien wider, wie es sich für Menschen des 16.