E-Book-Ausgabe 2020

© 2020 Marina Frenk / Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin www.wagenbach.de Umschlaggestaltung unter Verwendung des Gemäldes Returning Again von Eric Zener und Satz aus der Minion: Julie August. Alle Rechte vorbehalten

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

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ISBN: 9783803142719

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3319 9

»Schwerer werden, leichter sein.« (Paul Celan)

Prolog

Ich erinnere mich an das Schwarze Meer. Ich war fünf Jahre alt und besaß ein aufblasbares Krokodil, grellgrün mit braunen Streifen. Man konnte sich auf das Krokodil draufsetzen und sich treiben lassen im trüben Wasser des Meeres an diesem überfüllten Strand. Mama trug einen Bikini mit Sternchen aus der amerikanischen Flagge. Papa war jung und dünn und sah aus wie ein italienischer Mafioso: Schnurrbart, schwarzes Haar und große leidende Augen, in denen auch Wut war. Dass die Sternchen auf Mamas Bikini eigentlich auf die amerikanische Flagge gehörten, wusste ich damals natürlich noch nicht, das habe ich erst später verstanden, als ich mir im Laufe meines Lebens immer wieder die Fotografie ansah, auf der Mama und Papa knietief im Meer stehen und ich auf dem Gummikrokodil sitze.

Ich bin an diesem Tag kurzzeitig am Strand verloren gegangen. Niemand konnte mich finden. Es waren enorm viele eng beieinander liegende Stranddecken im Sand verteilt und unzählige Sonnenschirme aufgestellt worden, die für mich alle gleich aussahen, weil ich nur deren Stiele erkennen konnte und nie die Spitzen mit den unterschiedlichen Blumenmustern, an denen ich mich hätte irgendwie orientieren können. Und es wuselte so sehr von anderen kleinen Kindern, dass ich mich auf einmal in meiner Badehose und ohne Sonnenhut allein im Sand wiederfand und nicht mehr wusste, woher ich gekommen war und wohin ich jetzt laufen sollte.

Ich ahnte, dass ich verloren gegangen war. Ich versuchte, das zu verdrängen, mit allem Bewusstsein, zu dem ein fünfjähriges Kind fähig ist, und trat zwischen den Menschen im heißen Sand auf der Stelle herum. Ich schluckte die langsam aus dem Hals in die Nase ziehenden Verlorenheitstränen hinunter und hielt die Zeit an. Das Lachen und Reden der fremden Menschen um mich herum kam mir von Minute zu Minute immer lauter und langsamer vor, die Sonne prallte auf meinen Kopf, der keinen Sonnenhut trug, weil er liegen geblieben war auf der Stranddecke, die ich nicht mehr fand. Nach oben schauen konnte ich nicht, die Sonne war zu grell. Nach unten zu schauen machte mich traurig, und weinen wollte ich ja nicht. Ich schaute vor mich hin und sah Knie und Bäuche und Stangen von Sonnenschirmen. Ab und zu rannte ein quietschendes Kind an mir vorbei und rempelte mich an. Die Augen schließen konnte ich nicht, das wäre aufgefallen, und ich wollte mich doch am liebsten unsichtbar machen, aus Angst vor der Einsamkeit, die mich ergriff.

Also schloss ich meinen Blick bei offenen Augen und schaute nach innen. Es war düster in mir und schimmerte zwischendurch bordeauxrot, der Ort erinnerte mich an die Zeit im Bauch meiner Mutter und irgendwie auch an das Meer unter der Wasseroberfläche. Ich habe Angst vorm Tauchen, aber mir blieb keine andere Wahl. Ich tauchte und hörte gedämpft, wie sie dort, außerhalb der Bauchdecke, miteinander sprachen, mal lauter, mal leiser, irgendetwas von »… das alles dauert hier nicht mehr lang … ein paar Jahre noch … sie hier, an sie müssen wir denken …«, wobei jemand immer wieder gegen die Bauchdecke tippte, was ich ganz und gar nicht mochte, da es mir zu verstehen gab, dass auch dieser beruhigende Zustand im Warmen irgendwann ein Ende nehmen würde und nicht nur die Jahre, von denen sie da draußen sprachen.

Ich stand reglos im Sand, bis ich gefunden wurde von meiner beinahe weinenden Mutter und sehr ausgeschimpft. Aber das interessierte mich nicht, ich wollte gar nicht getröstet werden.

Verloren gehen fühlt sich einsam an, aber auch interessant. Unbewusst, ohne es in Worte fassen zu können im eigenen Kopf, beginnt man, sich daran zu gewöhnen und sich zu fragen, ob dieser Zustand jetzt bis zum Tod anhalten wird. »Der Mensch gewöhnt sich an alles«, hörte ich im Laufe meines Lebens oft von Papa. Ungefähr so oft wie den Satz: »Das Sein bestimmt das Bewusstsein.«

Ich akzeptierte, dass ich verloren gegangen war, und versuchte mich zu verwandeln.

1

(Berlin, Deutschland, jetzt)

Lackiertes Holz kann nicht mehr atmen. Es fühlt sich wie ein Körper unter Wasser. Das eisige Nass hat den Körper nach unten gezogen, und die Eisdecke ist geschlossen. Im Sommer wirft ein Kind einen Stein auf das wieder erwärmte Nass, der Stein springt wie ein Flummi, und es bilden sich Kreise auf dem Wasser. Die Kreise sehen genauso aus wie die Holzovale, die das Alter eines Baumes angeben, die kleinen lackierten Holzkreise auf unserem Küchentisch. Meine Fingerkuppe umfährt ein solches Muster und wünscht sich einen Splitter, aber der Lack hat alles Lebendige verklebt und die Zeit angehalten, es kann nichts mehr passieren.

»Mama, warum lebe ich?«, fragt Karl.

»Weil ich dich geboren habe.«

»Warum lebst du?«

»Weil Oma Lena mich geboren hat.«

»Und Papa?«

»Weil Oma Susanne ihn geboren hat.«

»Warum kommt Oma Susanne nicht manchmal wie Oma Lena zu Besuch?«, fragt er und betrachtet ein kleines Stück Tomate, das an seiner Gabel hängt, als wollte er in das Rot hineinschauen.

»Weil … ehrlich gesagt, weiß ich das nicht, Karl. Frag doch Papa.«

»Gibt es irgendjemanden, der lebt, aber von niemandem geboren wurde?«

»Kommt drauf an«, antworte ich und frage mich, ob Marc zu uns in die Küche kommt zum Frühstück, ob er sich traut. Ich werde ihn nicht fragen, wo er die ganze Nacht war.

»Wie?«, fragt Karl.

»Wenn man ein Mensch ist, muss man auf jeden Fall geboren werden, oder ein Tier. Geboren oder ausgebrütet … aber es gibt ja auch Pflanzen und Wasser und Feuer, die müssen nicht geboren werden, die entstehen anders, aber sie sind auch lebendig.«

»Wie entsteht man?«, fragt er, und seine Augen werden ganz rund und abwesend.

»Das ist wahrscheinlich unterschiedlich … je nachdem … also, grundsätzlich ist erstmal wenig da und wird dann mehr, denke ich, aber manchmal ist auch schon viel da und wird weniger … leider. Obwohl … wenn sich etwas verändert, entsteht anstelle dessen etwas anderes oder nichts … manchmal entsteht dann auch nichts mehr … andererseits ist ja aus nichts auch alles entstanden, also unsere Welt, die Natur, die Menschen … wahrscheinlich braucht es viel Hoffnung, also … den Glauben, dass aus dem, was da ist, auch etwas anderes entstehen kann … erstmal ist aber alles so, wie es ist, glaube ich … ja, es ist alles so, wie es ist«, antworte ich und fühle mich geschwächt. Karlchen beißt in sein Brot, und ein Butterschnurrbart bleibt an seiner Oberlippe hängen. Er überlegt. Ich auch.

»Mama, hast du keinen Hunger?«

Ich möchte meinen Kopf auf den Küchentisch legen, ihn dort liegen lassen und gehen, oder ihn auf die Fensterbank rausstellen zum Lüften, aber das würde Karl erschrecken. Ich nehme mir ein Stück Brot und beginne langsam den Supermarkt-Hummus darauf zu verteilen.

Die Bilder von heute Nacht hängen immer noch in meinem Kopf: Jemand war leise durch den Flur gehuscht. Eine Frau berührte im Vorbeigehen den Rahmen der geöffneten Küchentür und verschwand. Ich ahnte nur kurz ihren knielangen dunkelroten Rock, die schlanken Beine darunter und die nackten Füße. Ihr langes Haar tanzte im Gehen, sie schien sich zu bücken, und ich sah eine Hand, die nach hellen Sandalen griff, und im nächsten Augenblick hörte ich die Wohnungstür auf- und wieder zugehen.

Dabei war nur Karlchen ins Zimmer geschlüpft, um mich zu wecken.

»Papa!«, sagt Karl freudig. Ich verschlucke mich beinahe.

»Morgen«, hallt es etwas zu laut in meinem Ohr, Marcs dumpfe, halbtiefe Stimme, wie immer frühmorgens etwas belegt, als hätte er Schnupfen. Marc bückt sich zu Karl hinunter, und der bespringt ihn wie ein Klammeraffe. Mit dem Kind auf dem Arm tapst Marc verschlafen durch die Küche und öffnet den Kühlschrank, kramt allerlei Gemüse heraus, hebt Karlchen an, damit er bis ans obere Regal über dem Kühlschrank herankommt und eine Zwiebel aus der Schüssel kramt, die dort oben steht. Sie vollziehen ihr Rührei-Ritual, schälen gemeinsam die Zwiebel, wobei Marc Karlchen wiederholt die sich immer mehr entkleidende Zwiebel vor die Nase hält und Karl lacht und sich wehrt, weil er den beißenden Geruch nicht mag und ihm die Tränen in die Augen steigen. Marc stellt Karl auf seinen Hocker und schiebt ihn an die Arbeitsplatte, stellt sich hinter ihn und führt Karls kleine Hände, die versuchen die Zwiebel zu schneiden, was sehr lange dauert, weil er noch nicht mit einem Messer umgehen kann und immer wieder in seinen Augen herumreiben muss, weil ihn die Zwiebel traurig macht. Sie kichern und lachen dabei und müssen beide weinen, am Ende gibt es ein köstliches Rührei mit Paprika, aber ich will heute nichts davon essen. Unbemerkt stehe ich auf und verlasse die Küche, bewege mich durch den Flur Richtung Toilette, mir ist schwindlig, und ich sinke vor dem Bad auf den Dielenboden. Alles dreht sich.

Hat jemand an die Wohnungstür geklopft? Unauffällig, aber gerade noch so, dass ich es gehört habe. Warum klingelst du nicht einfach?, denke ich wütend und beschließe der Sache endlich ein Ende zu setzen. Barfüßig stampfe ich durch den Flur und schiebe im Vorbeigehen energisch einige Schuhpaare zur Seite, greife gleichgültig und trotzdem brutal nach der Klinke und reiße die Tür auf. Eine junge Frau mit roten schulterlangen Haaren und Sommersprossen steht vor mir. Ihre Sandalen baumeln in der linken Hand. Sie erscheint mir nicht wirklich attraktiv, aber mit den hellgrünen Augen in Kombination mit dem roten Haar und den Sommersprossen ist sie nicht zu übersehen. Sie muss ihm aufgefallen sein zwischen den anderen Studentinnen. Wir stehen voreinander, und ihre Lippen bringen keinen Ton heraus, sie atmet, als könnte sie nicht sprechen. Ihre Augen wandern nach oben, meine Stirn entlang, vorbei an den fusseligen kurzen Härchen, dann gleitet ihr Blick in mein Haar hinein, legt sich auf die Kopfhaut. Sie ist etwas größer als ich und kann mir auf den Scheitel schauen. Dann hebt sie ihre rechte Hand und tippt mit dem Finger auf den Mittelpunkt meines Schädels unter dem Haar. Ihr Zeigefinger fährt zart aber entschieden und mathematisch genau vom Scheitel nach unten, meine Stirn entlang, den Hügel über der Nase, den Nasenknochen mittig abwärts, macht kurz Halt zwischen Nase und Oberlippe und legt die Fingerkuppe in diese kleine Mulde, in die sie genau hineinpasst. Dann fährt die Fingerkuppe weiter runter, mit dem unsichtbaren Strich meine Lippen halbierend, das Kinn abwärts, lässt den Hals aus und fällt auf meine Brust, und die unsichtbar aufgeschnittene Haut darüber zerplatzt. Es spritzt etwas Blut aus mir heraus und landet auf dem Gesicht der jungen Frau, die fast noch ein Mädchen ist, es entstehen ein paar weitere blutige Sommersprossen auf ihren Wangen, die sich sogleich auflösen. Ihre Fingerkuppe wandert weiter und landet in der Vertiefung zwischen meinen Brüsten, in der Delle. Sollte sie hier drücken, werde ich sterben. Und dann öffnet sie ihren Mund, aber es kommt nur durchsichtige Luft heraus. Sie stupst mich leicht an mit dem Finger, in die Delle hinein, der Finger dringt zwischen die Brustknochen, als sei ich schon immer nass und flüssig wie Wasser gewesen, und meine Knochen fallen über mir zusammen, ein Trümmerhaufen nach einer Bomböschka … Im nächsten Moment läuft das Mädchen mit Marc an der Hand aus der Küche heraus, Karl folgt ihnen nicht, er bleibt in der Küche, und das macht mich glücklich. Ich höre wie Marc die junge Frau, die er Catherine nennt, fragt, ob ihr dies oder jenes gefällt, ob dieser Tisch zu ihren Möbeln passen würde oder jenes Schränkchen, und sie blubbert Ja und Hmmm, nach wie vor wie ein dämlicher Fisch, der nicht richtig sprechen gelernt hat, und schielt dabei mit ihren hasenartigen, rechts und links an die Schläfen geklebten Augen auf den Boden. »Ich finde, es ist in der Situation, in der wir leben, eigentlich kein Betrug«, sagt Marc, und ich frage mich, welche Situation er meint.

»Wir teilen seit Jahren nichts mehr miteinander außer Karl«, höre ich ihn flüstern, als versuchte er die junge Frau zu beruhigen.

Marc hat Recht, befindet mein demoliertes, aber noch denkfähiges Gehirn. Es bringt nichts, sich aufzuregen oder ihn zu beschimpfen. Mich überkommt eine tiefe Traurigkeit. Traurig kann ich also auch nach wie vor sein, trotz der verrutschten Geographie meines Körpers. Wenn ich das jetzt nicht löse, werde ich verstummen. Ich werde einfach nicht mehr sprechen und nichts mehr denken, wie Marc.

»Wir haben immer gesagt, sollten wir uns trennen, bleiben wir trotzdem gute Eltern«, sagt Marc, als ob die Trennung eine schon immer beschlossene aber aufgeschobene Sache sei, und meine in die Kniekehlen gerutschte Traurigkeit rutscht noch tiefer bis in meine Fersen hinein. Einer meiner Augäpfel ist ins Wohnzimmer unter den Schrank gerollt und betrachtet die fremde Frau dabei, wie sie mit ausgestrecktem Arm und nach vorn gerichtetem Zeigefinger auf das Sofa zeigt, auf dem Marc seit Jahren schläft. »Ja, hier ist Platz, ich weiß jetzt, wo was hinkommt …«, sagt Catherine.

Ich möchte meine Stirn, die den harten Holzboden unter sich spürt, an Karlchens Stirn pressen, den Druck und das Reiben verspüren, das würde genügen.

»Und schnell umrühren, damit es nicht klebt …«, höre ich Marcs aufgebrachte und belustigte Stimme aus der Küche heraus und versuche mich wieder aufzurichten. »Rührei ist fertig!«, ruft Karl.

2

(Capresti, Bessarabien, 1941)

Aaron ist zehn und spielt mit seinem kleinen Hund Schmulik vor dem Haus seiner Eltern. Ein einstöckiges Haus mit leicht schrägem Dach in dem Dörfchen Capresti, das am Ufer des Flusses Raut liegt. Es ist Sommer und ziemlich heiß. Seine Mutter hat ihm dennoch alle warmen Sachen, die er besitzt, übereinandergezogen, da sie nicht mehr ins Gepäck passten, in dem schon dicke Decken, Töpfe und sogar ein paar Bücher, die sein Vater nicht zurücklassen wollte und die im Krieg alle als Heizpapier enden würden, verstaut waren. Noch mehr Säcke würden sie einfach nicht tragen können. Aaron kann sich, so dick eingepackt, nur noch schwer bewegen und schwitzt, als er das kläffende Hündchen hin und her jagt. Er möchte so lange mit dem Hund spielen, wie es jetzt noch geht, denn Schmulik wird nicht mitkommen. »Der Hund bleibt hier, wir kriegen nicht alle durchgefüttert«, hatte seine Mutter fahrig erklärt, und Aaron wusste, dass es nichts brachte zu widersprechen. »Die Lage ist ernst, seit heute früh hört man das Kanonenfeuer bis hierher, die Rumänen sind ganz nah, wir müssen weg«, sagte sein Vater, und Aarons alte gebrechliche Großmutter Bina bestärkte ihren Sohn: »Ihr seid jung, ihr müsst die Kinder retten, geht weg, selbst wenn es zu Fuß ist! Wir sollen alle nach Transnistrien abtransportiert werden, hört man … Wenn ihr nicht geht, schlachten sie uns ab.«

Aaron schluckt seine Tränen hinunter und spielt ein letztes Mal so energisch mit Schmulik, wie es nur geht, möchte ihm ein letztes Mal zeigen, wie gern er ihn hat. Der kleine Hund wird verhungern oder von den Rumänen erschossen oder von den deutschen Faschisten, auf die alle warten, in einer Scheune verbrannt oder zu Tode geprügelt werden.

Im Haus werden hastig die Sachen zusammengesucht, die getragen werden können, denn eine Kutsche besitzen sie nicht. Es wird auf Jiddisch durcheinandergesprochen und geklagt. Und dann beginnt es auf einmal langsam zu regnen und donnert mitten in die elende Hitze hinein. Aarons Eltern kommen heraus mit einigen Säcken und Taschen, ebenfalls alle Kleidung am Leib, die sie besitzen, und sein Vater sagt ihm, dass sie sich nun von der Großmutter verabschieden müssen. Sie kann nicht mehr gehen, deshalb wird sie bleiben. Aarons Vater Semion weint und murmelt vor sich hin, als er seinen Kopf in den Schoß seiner Mutter legt, und sie weint ebenfalls und betet dabei. Aarons Mutter steht hinter der Großmutter, presst ihre Stirn an den Hinterkopf der alten Frau und küsst immer wieder ihr Haar.

»Die Rumänen werden mich schon nicht erschießen, habt keine Angst. Ich bin zu alt, und ich bin allein. Wenn ihr hierbleibt, dann bringen sie uns alle um, das sind zu viele Juden auf einem Haufen. Aber mich allein, nein… Ich werde mich tot stellen. Habt keine Angst, Kinder. Geht jetzt, geht, bitte. Weg mit euch!«, sagt sie und zerdrückt mit ihren zitternden Händen Aarons Kopf, der an der Reihe ist, sich in den Schoß zu legen. »Du bist ein guter und schlauer Junge. Du hast ein prächtiges Leben vor dir. Mit einer wunderschönen und temperamentvollen Frau. Das weiß ich, das sehe ich, Aarontschik! Und jetzt, los, haut ab hier.«

Aaron hebt einen schweren Sack mit Geschirr und Kleidung auf seinen Rücken und versucht Schmulik, der sich an seine Beine hängt, nicht anzuschauen. Tränen laufen ihm die Wangen hinunter, und er beißt sich auf die Lippen. »Weg, Schmulik, weg, mach’s gut, kleiner Freund«, ruft er dem bellenden Tier zu und schließt das Holztor hinter sich.

Sie laufen durch das Schtetl in Richtung Fluss. Der Raut ist ein Nebengewässer des großen Flusses Dnister. »Dort ist eine Brücke gebaut worden von den Sowjets, über die gelangen wir in die Ukraine, nach Saporischschja. Von dort aus können wir mit dem Zug weiterfahren. Alle gehen dorthin, von dort aus werden wir evakuiert«, erklärt sein Vater unterwegs.

Sie kommen an der Bank vorbei und an der Apotheke von Onkel Motl, dann am Friseurladen von David Hardak. Alles steht leer, die meisten sind schon in den letzten Tagen gegangen. Die kleinen Handwerksläden und Haushaltswarengeschäfte warten darauf, von den Rumänen geplündert zu werden. Auch in der Bäckerei ist niemand. »Jetzt hat das Brot endlich Zeit zum Nachdenken«, sagt Aaron leise. »Vom vielen Nachdenken wird man hart wie das Brot …«, brummt sein Vater zurück. Der Regen nimmt zu, und die staubige Dorfstraße wird langsam matschig. Es ist stickig, und Aaron fächert sich Luft zu, versucht seine Brust unter den vielen Schichten von Kleidung herauszuschälen. Sein Vater betritt die Bäckerei, deren Tür schon jemand eingetreten hat, und nimmt ein paar Brotlaibe, die noch einsam herumliegen, mit auf den Weg.

3

(Berlin, Deutschland, jetzt)

Alleinsein in unserer Wohnung isoliert mich, versetzt mich in Panik. Weil alles stillzustehen scheint, sich nichts mehr bewegt, außer den sich wiederholenden Gedanken. Karlchen ist im Kindergarten, und ich bereite schon mal das Abendessen für ihn vor. Abends isst er gern Milchreis. Ich stehe eine halbe Stunde lang am Topf und rühre, damit der Reis am Ende nicht klebt.

Bevor Karl da war, habe ich schnell und flapsig gekocht, irgendetwas, das satt machte, es war mir egal, weil ich allein lebte. Ich rühre den Milchreis zu Ende, wasche mir meine immer noch geröteten Hände und schaue kurz in den Spiegel. Man sieht nicht, wie alt ich bin. Mein Gesicht ist jung, mein Blick kindlich. Ich bin schmal und leise. Die lauten Gedanken in der stillen Wohnung machen mich nervös und schmerzen. Meine Haut, die sich vorhin beim Einkaufen im Supermarkt aufgelöst hatte, bewächst jetzt absolut blickdicht meine weichen Knochen, und alle Körperöffnungen schließen sich, sie verschwinden. Es kommt kein Sauerstoff mehr in mich hinein. Höchstens durch die Augen, die sind noch offen und können mich sehen. Mich, mit meinen europäischen Durchschnittsproblemen vor dem Spiegel. Während Flüchtlinge an den Grenzen in Käfigen sitzen, Kinder sich in Wärmedecken aus Goldfolie hüllen und ihre Eltern in Lagern und Kellern vergewaltigt oder gefoltert werden. Während andere Menschen in Slums verhungern. Und dann ich. Eine Kira Liberman, die sich nicht spürt in ihrer Wohnung und sich von außen betrachtet. Sie läuft von Raum zu Raum, putzt und kocht, denkt und scheißt, schaut auf die Uhr, liest und geht manchmal raus, um zu kaufen oder zu gehen oder Kaffee zu trinken oder auf den Dachboden zu klettern und zu malen. Mehrmals die Woche geht sie auch in eine Kunstschule, Kindern das Zeichnen beibringen. Immer in der Hoffnung, dass der eine Gedanke, der eine anstrengende und so unsinnige, aber trotzdem immer öfter auftauchende Gedanke in ihrem Kopf heute nicht kommt: »Ich male, aber ich stelle schon lang nichts mehr aus. Ich male, aber ich verkaufe nichts.« Manchmal verkaufe ich auch etwas. Aber das wäre niemals genug, um zu überleben in dieser Großstadt, mit einem Kind, einer Wohnung und dem ganzen anderen Zeug. Dann folgt der nächste, noch beunruhigendere Gedanke, nämlich der, dass das Ersparte aus den fünf erfolgreichen Jahren, in denen ich malte und ausstellte, irgendwann aufgebraucht sein wird, und wir dann von Marcs Geld leben müssen, was ausreicht, aber höchstwahrscheinlich einen dritten ernüchternden Gedanken mit sich bringen würde, nämlich die Frage nach dem Sinn meiner Malerei, die ich mir sowieso schon lange gestellt habe, ob ich nun Geld dafür bekam oder nicht. Außer meiner Zuneigung dem handwerklichen Vorgang gegenüber und der Verbindung, die ich spüre, wenn ich male, finde ich keine Beweise dafür, dass das Ganze irgendeine Art von Sinn hat. Schaffte jemand die Kunst ab, würde sie dann in unseren Köpfen in Vergessenheit geraten?

Der Milchreis ist fertig, und ich stampfe müde die alten Holztreppen hoch, die knarzen und knacken. Der Dachboden riecht nach Schimmel. Meine Farben überlagern den Geruch, und dann riecht es gemischt nach Feuchtigkeit, Öl und Holz. Es ist immer ein bisschen kühl hier, außer im Hochsommer, dann ersticken ich und die Leinwand. Ich wickele mir meine Strickjacke um die Hüften und setze meine lächerliche Bommelmütze auf. Ich öffne das Fenster einen kleinen Spalt weit, damit der stehende Geruch sich vermischt mit kalter Luft von draußen, dann riecht es nach Tabak und Wald, ein ungewöhnlicher Duft.

Ich arbeite an seinem Rücken. Die Hüften der Frau sind schon fast abgeschlossen, sie sind fleischig und etwas zu dick für die Zeit, in der ich lebe. Vielleicht, weil ich schon immer nach einer Übersetzung für die fülligen Damen auf alten Gemälden zwischen dem fünfzehnten und neunzehnten Jahrhundert gesucht habe, für all die Nackten. Ich will keine fette Frau malen, aber ich will auch kein Gerippe aus der Frauenzeitschrift. Ich möchte, dass Hüften wieder erlaubt sind.

Die Beine der Frau sind gespreizt, und ich habe ihre Arme schon angelegt, Hände hat sie noch keine. Die lasse ich seinen Kopf umschlingen, wenn der Kopf da ist. Früher hätte ich bei seinem Kopf angefangen, bei seinen Augen, aber sie sind nicht sichtbar. Das Bild ist nicht real und es stimmt nicht in seinen Proportionen. Es ist eine Frau mit kleinen Brüsten darauf zu sehen und einem nach unten geneigten Gesicht, den Mund halb geöffnet und die Augen geschlossen, verschwitzte Haare fallen aus ihrem Dutt, hängen in ihr Gesicht, in den Schultern Erregung und Spannung in den Oberarmen. Und es gibt den männlichen Rücken, aus dem noch kein Kopf wächst. Noch bin ich bei den Rückenmuskeln. Ich halte alles in braunen und beigen Tönen und suche nach Schatten für seinen Rücken. Ich weiß nicht, wo der Ausgangspunkt seiner Anspannung liegt, seines Rückens, es fällt mir schwer, das nachzuempfinden, weil mein Kopf noch nie zwischen weiblichen Schenkeln lag. Außer bei meiner Geburt, aber diese Erfahrung habe ich seitdem nicht mehr gemacht.

Nach ungefähr einer Stunde ist der Mann immer noch kopflos, und ich wasche mir ziemlich lange die Hände, die unter dem eiskalten Wasser hier oben steif werden. Die Farbe geht nicht richtig ab, aber ich mag diese Ränder unter den Fingernägeln und die Farbe, die sich wie eine Tätowierung in die Haut eingräbt. Einmal die Woche schrubbe ich dann die Hände und Arme mit richtig heißem Wasser, bis ich weine vor Schmerz. Meine Hände blähen sich danach auf und sind tagelang gerötet. Mir ist kalt, das schmutzige Wasser läuft in den Abfluss, und ich betrachte meine versteiften Hände unter dem kalten Wasser. In Gedanken trete ich durch eine Tür in einen hohlen Eisblock. Diese Vorstellung, die ich mir oft detailgenau ausmale, befällt mich manchmal. Ich betrete diese Höhle, in die ich gerade so hineinpasse, jemand schiebt die ebenfalls aus Eis bestehende Tür hinter mir langsam zu, und ich kann mich nicht mehr bewegen. Ich atme heiße Luft aus und schaue an meinem nackten Körper hinunter. Warmer Urin läuft meine Beine entlang und friert bald ein.

Ich lehne mich mit der Stirn an den Eisblock und schließe die Augen.

Ich wünsche mir, dass sie mich in zehn oder zwanzig Jahren wieder auftauen. So gewinne ich etwas Zeit.

4

(Chisinau, Moldawien, 1993)

Ich bin sechs Jahre alt und sitze auf der Rückbank unseres Lada. Lada klingt wie ein Mädchenname. Oder eine kleine Hündin, die könnte auch Lada heißen. Einer der kleinen unbehausten Hunde in unserem Hof könnte so gerufen werden. Lada, komm her, Lada, hau ab. Oder unsere Katze, die könnten wir doch umbenennen, denke ich mir. Susanka ist so ein langweiliger und zischender Name. »Ssssssussssssanka …«, spreche ich leise vor mich hin. Mama und Papa hören einen Moment lang auf zu streiten.

»Was sagst du, Kira?«

»Können wir Susanka nicht Lada nennen?«, frage ich sie. Mama streitet weiter.

»Gut, dann reiche ich am Montag die Scheidung ein«, faucht sie, während ich die an mir vorbeisausenden verregneten Straßen betrachte. Es ist mitten im Sommer, aber heute regnet es schon seit den frühen Morgenstunden. Ab und zu hört es auf, und die Sonne explodiert an ihrem eigenen Glühen. Ich versuche dann nicht zu tief hineinzuschauen, die Sonne kann blind machen, meint Papa. Menschen stehen in ihren kurzen Hosen und Kleidern an den Rändern der Bürgersteige herum und warten auf den Trolleybus.

»Was ist nochmal der Unterschied zwischen einem Trolleybus und einem Autobus?«, frage ich.

»Der Trolleybus braucht Strom zum Fahren«, bellt Papa von vorn, und ich versuche durch das zerfließende Fenster hinauszuschauen, um die in den Himmel ziehenden Stromleinen vom Trolleybus besser erkennen zu können. Er ist wie eine dieser Puppen, die man oben an Schnüren festhält, und dann können sie sich bewegen.

»Wie heißen nochmal diese Puppen?«, frage ich.

»Aber am Montag reisen wir aus, hast du das vergessen?«, schreit mein Vater meine Mutter an. »Musst du dich wohl an einem anderen Tag scheiden lassen«, lacht er.

»Welche Puppen, Kira?«, Mama weint.

»Diese an den Fäden?«

»Ach so … Mario … Marionetten«, schluchzt sie. Marionetten, Marionetten … wiederhole ich immer wieder in meinem Kopf.

»Wohnen wir dann am Montag nicht mehr in Kishinjow?«, frage ich.

»Nein«, antwortet mein Vater, »und Kishinjow heißt jetzt wieder Chisinau«, sagt er verärgert.

»Deshalb ziehen wir ja weg«, schluchzt Mama, weil sie sich scheiden lassen will, aber am Montag geht es nicht.

Mama und Papa haben beschlossen, in Europa zu leben. Also, unser Land liegt, glaube ich, auch in Europa, aber es gibt wohl noch ein besseres Europa, und da wollen sie hin. Ich verstehe nicht genau warum, aber es hat irgendetwas mit den Nachrichten zu tun. Jeden Abend, wenn sie im Fernsehen die Nachrichten anschauen, fangen sie an zu schimpfen, und es geht dabei immer um Europa und um Moldawien und um dieses Transnustri-Transnostri … ich kann mir den Namen nicht merken und muss immer lachen, wenn ich versuche, es auszusprechen. Das war wohl irgendwie auch ein Teil von Moldawien, aber irgendetwas Wichtiges ist auseinandergefallen, und seitdem gehört Transnostri-Transnustri nicht mehr dazu, und deshalb gab es auch diesen Krieg letztes Jahr. »Es sind nur Unruhen, Kira, aber hier können wir nicht mehr bleiben, keiner weiß, was aus diesem Land wird …«, erklärte mir Mama. »Wir sprechen kein Rumänisch, hier ist keine Zukunft für dich«, sagte sie.

»Aber wir sprechen doch Russisch.«

»Ja, das ist das Problem.«

»Könnten wir nicht Rumänisch lernen?« Mama denkt kurz nach.

»Macht keinen Sinn … Global gesehen, macht das keinen Sinn.«

»Global wie mein Globus?«

»Genauso. Wir lernen jetzt Deutsch, Kira.«

»Deutsch macht mehr Sinn?«, frage ich.

»Leider.«

Unsere Wohnung hat drei Zimmer, und überall liegen bunte Teppiche. Rot und grün und braun und gelb mit Kringeln und Dreiecken, es flimmert richtig in den Augen, wenn ich sie lange betrachte. »Deutsch macht Sinn, Deutsch macht Sinn«, schreie ich und hüpfe auf dem Plüschsessel herum. Er ist dunkelgrau, und daneben steht das dunkelgraue Sofa und dazwischen ein Tischchen aus Glas. »Pass auf den Tisch auf, Kira, wenn du so wild herumspringst«, ruft Mama mir aus der Küche zu.

Im Flur stehen Kartons und Taschen, die mit uns ins bessere Europa kommen. Gestern haben wir meine Spielsachen in die grüne Reisetasche gepackt. Ich habe sie seitdem immer im Blick, sie steht an der rechten Wand auf dem zweiten Karton von links oben drauf. Die muss unbedingt mit. Nur die zwei kleinen Affen mit den Klettverschlüssen an den Pfoten habe ich noch draußen gelassen. Ich kann ihre dünnen Arme um meinen Hals legen und an den Klettverschlüssen verbinden, dann umarmen wir uns. Ich springe auf den Teppich und stütze mich dabei am Sofa ab. Hinter dem Sofa hat Mama mich vor ein paar Tagen morgens gefunden. Ich bin schlafgewandelt. Das mache ich manchmal, aber ich weiß nicht warum. Ich hörte Mama morgens aufgeregt nach mir rufen, weil ich nicht in meinem Zimmer war. Ich hatte nicht mitbekommen, wann ich aufgestanden und hinter das Sofa im Wohnzimmer gekrochen bin. »Ja, Kira, das nennt man Schlafwandeln«, sagte Mama.

»Vielleicht müssen wir doch mal zum Arzt mit ihr. Sie ist merkwürdig«, flüsterte sie meinem Vater zu und küsste mich auf die Stirn.

Es klingelt an der Tür. Ich laufe hin und betaste das dicke weiche Leder, das an der Tür klebt. »Das ist zum Abdämmen und Wärmen«, hat Mama mir einmal erklärt, als ich sie gefragt habe, warum diese weichen glatten braunen Polster an die Türen genagelt sind. Bei allen meinen Freunden zu Hause sieht es genauso aus. Als wollte man die Tür schön verpacken, um sie zu verschenken. Es macht Spaß, auf die gerundeten Stellen zu drücken und über das glatte Leder zu streichen. Mama kommt zur Tür und schaut durch das Guckloch. Dann öffnet sie das obere Schloss und dann das untere und dann dreht sie noch den Schlüssel um. Ich komme an die oberen Schlösser nicht dran, und den Schlüssel darf ich nicht umdrehen, wenn ich allein zu Hause bleibe. »Die Tür bleibt zu, Kira. Du darfst niemanden reinlassen, wenn du allein bist. Es ist gefährlich geworden in diesem Land«, hat Mama gewarnt. Sie schiebt mich zur Seite und öffnet die Tür. Eine Frau in einem langen bunten Rock und einer Strickjacke, die ihr bis zu den Knien herunterhängt, steht davor. Sie hat langes schwarzes Haar, das hinten zu einem Zopf gebunden ist. Sie begrüßt meine Mutter und sagt, sie sei diejenige, die die Wohnung kriegt.

»Ja, unsere Wohnung, unsere Wohnung«, sagt Mama leise und nervös.

»Na, lässt du mich rein, um deine Wohnung mal anzuschauen, meine Liebe?«, fragt die Frau und betont dabei das Wort »deine«, als wollte sie sich draufsetzen. Ich stelle mir vor, wie ich mich auf ein Wort setze und es sich unter mir biegt. Ich kann schon lesen und schreiben und habe in Schönschrift die beste Note in der Klasse.

»Jetzt ist es ja unsere, wir haben sie gekauft«, erklärt die Frau laut.

»Ja, von welchem Geld, wo habt ihr das Geld her, frage ich mich … «, spricht Mama leise vor sich hin und lässt die Frau rein.

»Business!«, sage ich stolz, denn so hat Papa es mir erklärt. »Alle haben Geld, weil sie Business machen in diesen Zeiten … Nur ich, ich kann das nicht. Deshalb müssen wir jetzt auch weg«, hatte er gereizt und traurig gesagt. Mama zeigt mir mit dem Zeigefinger an den Lippen, dass ich still sein soll, dabei habe ich, glaube ich, Recht. Ich soll meistens still sein, wenn ich Recht habe. Die Frau geht an mir vorbei, und ich betrachte ihre Hände. Sie sind rau, und die Fingernägel sind bordeauxrot angemalt. Unser Lada hat dieselbe Farbe. Bordeaux, bordeaux, poltert es stumm und rhythmisch in meinem Kopf, und ich schleiche still hinter den beiden her. Die Frau läuft zwischen den gepackten Kartons im Flur hindurch und versucht hineinzuschauen. Meine Mutter schnalzt mit der Zunge und schaut skeptisch, sagt aber nichts. Wir gehen von Raum zu Raum und betrachten die halbleere Wohnung. Als wir ins Wohnzimmer kommen, wo noch die Teppiche auf dem Boden liegen, sagt Mama zu der Frau, dass sie ihre Schuhe ausziehen soll. Sie hat Schlappen mit Socken an, fällt mir auf. Dabei regnet es doch heute. »Ein lauer Sommerregen, wie schön!«, hatte Mama morgens gesagt, und ich frage mich, ob die Socken nicht nass geworden sind. Die Frau zieht ihre Schlappen aus und läuft in Socken über den Teppich, den sie genau betrachtet. Dann fasst sie den Plüschsessel an, worauf Mama ziemlich laut sagt, sie soll ihre Hände da wegtun.

»Du hast die Wohnung gekauft, meine Liebe, die Möbel stehen allerdings nicht zur Debatte, die gehen an Freunde. Sei froh, dass ich dich überhaupt nochmal reinlasse, dein Mann war ja vor zwei Wochen schon hier mit seinen Kumpanen. Würde ich denen nachts im Dunkeln begegnen, hätte ich Angst«, schimpft Mama.

»Ach ja, diese Russen …«, seufzt die Frau, »na, Gott sei Dank ist euer Sowezkij Sojus jetzt endlich vorbei, jetzt haut ihr alle ab hier, ist schon lange überfällig«, sagt sie, und ich versuche mich zu erinnern, was nochmal dieses Sowezkij Sojus ist. Das ist wohl das Land, in dem unser Land auch drin war, bevor etwas Wichtiges auseinandergefallen ist, irgendwie so, aber ich habe es nie ganz verstanden, und Papa wird verärgert sein, wenn ich noch einmal frage, deshalb lasse ich es lieber. Außerdem ist es ja jetzt eh kaputt. Ich habe zwar nicht gesehen, wie es umgefallen ist, aber in den Nachrichten erzählen sie jeden Tag davon.

»So, hast du genug geschaut jetzt?«, fragt Mama ziemlich unfreundlich.

»Ja, hier ist Platz, ich weiß jetzt, wo was hinkommt. Und falls du dein Sofa doch noch verschenken willst … abkaufen wird dir das alte Teil bestimmt keiner mehr, dann meld dich«, sagt die Frau in den Socken und zwinkert meiner Mutter zu. Zwei golden funkelnde Zähne blitzen in ihrem Mund auf, und ich frage mich, ob sie vielleicht eine Hexe ist.

»Die Möbel gehen an Freunde, habe ich dir doch schon gesagt, und jetzt hau ab hier«, zischt Mama.

»Wer wird denn so unfreundlich sein? Komm schon, deine Freunde haben ihre eigenen alten Sowjet-Sofas, lass mir doch deins da … Du willst doch Glück haben da in dem Europa, oder? Willst du doch?«

Mama schiebt die Frau zur Tür und hält mich dabei an der Schulter fest. Ich bekomme ein bisschen Angst und kralle mich mit den Händen in Mamas Oberschenkel. Die Frau wehrt sich, und Mama schubst sie aus dem Wohnzimmer in den Flur. »Hau ab jetzt, du Hexe«, schreit sie. Ich behalte die Tasche mit meinem Spielzeug vorsichtshalber im Auge, vielleicht will die Frau mit den funkelnden Zähnen die auch noch haben.

»Fass mich nicht an, du Schlampe«, ruft die Frau und zieht dabei ihre Schlappen an, die Mama ihr nachgeworfen hat. »Adidas« steht da drauf, das ist modisch, das weiß ich.

»Dein Glück kannst du vergessen, hörst du? Ich verfluche dich. Im Andenken an meine alte Großmutter verfluche ich dich hier und jetzt. Nichts wirst du haben außer trockenem Brot und die Krätze an deinen Händen, klar? Nichts wirst du haben, du geizige Hure!«, schreit sie.

Mama öffnet mit Tränen in den Augen die Polstertür und schubst die Frau in den grauen Hausflur. Sie schlägt die Tür zu, verriegelt beide Schlösser und dreht den Schlüssel im Schloss zweimal um.

»Warum weinst du, Mama?«, frage ich, während ihr schwarze Farbe die Wangen herunterläuft, die sie versucht wegzuwischen.

»Du darfst niemanden reinlassen, wenn du allein zu Hause bist, hörst du, Kira? Hast du das verstanden?«, sie kniet vor mir und schüttelt mich an den Schultern. Ich betaste vorsichtig ihren dicken Schmollmund.

»Ist das auch Bordeaux an deinen Lippen?«, frage ich vorsichtig. Sie schaut mich verwirrt an und lacht auf.

»Ja, diese Farbe nennt man bordeaux, Kira, bordeauxrot.«

5

(Berlin, Deutschland, jetzt)

»Wir waren im Puppentheater«, erzählt Karl auf meinem Arm und versucht meinen Kopf zu sich zu drehen, um mir möglichst tief in die Augen schauen zu können. Wenn ich ihn aus dem Kindergarten abhole, verlangt er immer meine volle Aufmerksamkeit. Ich soll ihm zuhören und nur ihn anschauen. »So warst du schon als Baby«, sage ich ihm. »Du hast nachts am liebsten auf mir drauf gelegen, selbst als du mit zwei Jahren schon zu groß dafür warst, hast du das geschafft, und du hättest durchaus die ganze Nacht so bleiben können, wenn ich dich nicht heimlich zur Seite gehievt hätte, sobald du eingeschlafen warst.« Seit seiner Geburt kann ich nur noch seitlich schlafen. Es sind schon fast fünf Jahre vergangen, aber irgendetwas in meinem Körper hat sich verstellt, als hätte die Wirbelsäule sich irgendwie gedehnt. Auf dem Rücken fällt der Kopf zu weit nach hinten, und ich habe Angst, dass meine Halswirbel brechen, auf dem Bauch ist der Kopf zu schwer, und ich spanne wiederum die Halswirbel so an, dass man mir, wenn man mich an den Haaren zöge, das Genick brechen würde.

Im Auto sitzt Karl mit seiner Krokodil-Handpuppe im Arm in seinem Kindersitz und erzählt sehr aufgeregt vom Hasen und der Schlange aus dem Puppentheater.

»Der Hase hatte eine Brille«, sagt er, »und hat einen Platz zum Lesen gesucht, aber die Schlange wollte immer was von ihm wissen: Wo wohnst du?, hat sie zuerst gefragt, und dann wollte sie wissen, wie man da hinkommt, und ob sie ihn mal besuchen darf und ob man dort spazieren gehen kann und wie das Zimmer vom Hasen aussieht, und wie viele Bücher er hat und was in der Geschichte passiert, die er gerade liest, und dabei hat die sich heimlich um den Hasen gewindet.«

»Gewunden«, korrigiere ich und betrachte ihn im Rückspiegel, wie er mit weit aufgerissenen Augen erzählt, die Krokodilpuppe in der Hand knetet und aus dem Fenster schaut, und alles gleichzeitig macht, so wie er es immer tut.

»Und, schau mal, Mama, da ist eine Baustelle … und der Hase versteht das zuerst nicht und erzählt der Schlange von seinen Bilderbüchern, und dass sie gern vorbeikommen kann, ob sie denn überhaupt schon lesen kann? Und die Schlange fragt ihn aus nach seinen Eltern und ob er Geschwister hat, und … müssen wir da jetzt wieder winden, Mama?«

»Wenden«, sage ich.

»Und der Hase sagt, er hat drei Geschwister und seine Schwester tanzt sehr schön und der kleine Bruder malt und der zweite Bruder schneidet mit der Schere und er ist der Älteste von allen und deshalb kann er auch schon so gut lesen, und er liest und liest und merkt dabei nicht, dass die Schlange sich einmal um ihn rum gelegt hat und mit in sein Buch schaut. Es ist ein Buch über Schlangen, und da steht drin, dass man aufpassen muss, weil die manchmal einen ablenken und dann auf einmal sich einem um den Hals legen und einen auffressen! Und da fällt dem Hasen die Brille von der Nase, und die Schlange hebt die auf mit dem Maul und setzt sich die selber auf und liest weiter, und der Hase zittert vor Angst, und dann hat er uns Kinder gefragt, was er denn jetzt machen soll? Und dann hab ich gesagt: Bleib ruhig sitzen, weil die Schlange sonst deinen Hals zerdrückt! Denk erstmal nach, dir wird schon was einfallen. Keine Panik auf der Titanic! Und die Schlange, die macht erstmal gar nichts, weil die liest und das Buch so spannend findet, und der Hase fragt nochmal, was er jetzt machen soll außer Nachdenken, und ich hab dann gerufen, er soll vorsichtig versuchen, sie auseinanderzuwickeln, und das hat geklappt, Mama! Und die Schlange, die liest und liest, weil die das Buch so spannend findet, und am Ende sagt sie: Ups, Kinder, das war ja ein Buch über mich, glaube ich! Und der Hase ist weg. Abgehauen. Und hinterher durfte ich nach vorne, und dann haben alle geklatscht, weil ich den Hasen gerettet habe, obwohl ich selbst noch gar nicht lesen kann. Weißt du, ich könnte dich auch retten, Mama!«

Wir fahren in den Tierpark. Karl liebt Tiere. Er hat schon als Kleinkind stundenlang Tiere in Bilderbüchern betrachtet oder im Zoo und versucht deren Geräusche nachzumachen. Manchmal verbrachten wir den halben Tag damit, Tiergeräusche nachzuahmen, und abends fühlte ich mich wie ein Affe. Er trennt nicht zwischen Mensch und Tier, er begreift den Unterschied nicht, und ich könnte ihm auch nicht erklären, wo der Unterschied liegt, außer darin, dass es nach wie vor viele Tierarten gibt, aber nur noch eine einzige Menschenart. Ist das ein guter Grund, um einen Unterschied zu machen?

Wir gehen zum Krokodilgehege und zu den Schildkröten. Der alte Ostberliner Tierpark ist wie eine eigene kleine Welt, wie ein Loch in der Zeit. Es fühlt sich ruhig an, durch den Park zu gehen, er lässt einen vergessen, dass man sich überhaupt in einer großen Stadt befindet, und auch die Tiere sind wie zufällige Erscheinungen. Karl und ich treiben darin wie auf einem Holzboot durch stilles Wasser. Dabei begrüßen wir immer wieder Tiere und versuchen gut zu ihnen zu sein. Obwohl sie eingesperrt sind und auch das alles nur eine Inszenierung ist.

Karl hängt auf meinem Arm über dem Geländer im Krokodilhaus, und ich halte ihn so fest ich nur kann, weil ich nachts davon träume, dass er mir dort hinunterfällt. Die Krokodile hier sind klein, aber ich träume detailgenau, wie sich das Reptil meinem Sohn annähert und ihm weh tut. Der Zoo ist absurd, allein schon die Nähe der Tiere, die in der Wildnis nicht nah beieinander leben würden, der Eisbär in seinem Gehege nicht weit von den Kühen und Eseln, die Pinguine unweit der Giraffe und der Zebras.

»Wie habe ich nochmal die Krokodile genannt, als ich klein war, Mama?«

»Ge-ge-raaa…hast du gesagt.« Er lacht überbordend, als würde er sich an seinem Lachen verschlucken.

»Ge-ge-raaa! … die Krokodile sind ganz leise«, sagt er dann nachdenklich.

»Aber noch leiser sind die Schildkröten.«

»Ja?«, frage ich. »Aber das Krokodil sitzt doch auch nur stumm da und bewegt sich kaum.«

»Ja, aber die Schildkröten sind schon wie tot. Also, wie wenn du dich gar nicht mehr bewegst. Schildkröten können sehr alt werden, oder?«

»Ja, Hunderte von Jahren«, antworte ich ihm.

»Vielleicht deshalb, weil die schon tot sein könnten, aber noch nicht tot sind. Wenn man schon alt ist, könnte man ja schon tot sein, oder?«

»Das stimmt«, gebe ich zögernd zu.

»Das Nashorn zeigt mit dem Horn in den Himmel. Es ist sehr klug, weil es stolz mit dem Horn nach oben zeigt. Dafür kann es aber nicht so gut küssen mit dem Horn. Schade eigentlich. Wenn man klug ist und immer stolz, kann man nicht sehr gut küssen«, sagt Karl.

»Hast du es denn schon mal küssen gesehen?«, frage ich verblüfft.

»Nein, eben nicht.«