Über das Buch

Dass Theresa, um die sechzig und Bäuerin, sich plötzlich krank fühlt, bringt alle Gewissheiten ins Wanken. Die erwachsenen Kinder müssen anreisen, von wo auch immer es sie hin verschlagen hat, um endlich wieder miteinander zu reden. Theresas Mann muss lernen Hilfe und Gefühle zu akzeptieren. Und selbst der zwölfjährige Daniel muss seinem verbohrten Onkel Max entschlossen entgegentreten, um seinen einzigen wirklichen Freund zu schützen. Theresa aber schweigt, findet keine Worte, keinen Weg.
Mit großer Präzision und archaischer Kraft und Empathie erzählt Dominik Barta in seinem Debütroman von den Menschen und den Umständen. Er schreibt eine große Tradition der österreichischen Literatur fort und geht dorthin, wo die Provinz heute politisch ist.

Dominik Barta

Vom Land

Roman

Paul Zsolnay Verlag

1

Theresa rang nach Luft. Es ging nicht mehr. Sie richtete sich auf und zog das Tuch vom Kopf. Die Stirn glänzte. Eine Strähne blieb an der Haut kleben. Sie hantelte sich am Holz entlang nach draußen, wo alles im Dunkeln lag. Nur ganz im Westen hielt sich ein heller Streifen. Theresa überquerte den matschigen Rasen. Den Rücken gekrümmt, presste sie die Hände gegen die Brust. Ehe sie die Waschküche erreichte, erbrach sie sich auf einen Wacholderstrauch. Spucke und Schleim verließen ihre Mundhöhle. Der Körper faltete sich immer weiter zusammen. Dem Bewegungsmelder blieb kein Zucken verborgen. Das dampfende Gesicht wurde von vier Seiten elektrisch ausgeleuchtet. Ohne sich aufzurichten oder die verkrampfte Körperhaltung aufzugeben, griff sie nach der Türschnalle. Mit Mühe zog sie die Füße aus den Gummistiefeln. Sie öffnete die Tür und sackte auf den Sessel nieder.

Nach einem Moment des Atemfindens streifte Theresa den Anzug vom Körper. Sie schälte sich aus dem Blaugewand und stieg aus den Hosenbeinen. Sie knöpfte das zerschlissene Hemd auf und ließ es auf den Sessel fallen. Schweiß sammelte sich in kleinen Tropfen über dem Brustbein. Die dunklen Vorhöfe der Brustwarzen leuchteten aus dem weißen BH. Mit zittrigen Beinen wusch sie sich am Waschbecken Hände, Arme und Gesicht. Der Geruch der Seife und das warme Wasser milderten den scharfen Geruch, der an der Stallkleidung und an den unbedeckt gebliebenen Körperpartien haftete. Theresa gelang es nicht, sich aufzurichten. Ihr körperliches Zentrum schien einem aufrechten Gang mit Kraft entgegenzuwirken. Sie hielt sich mit beiden Händen am Waschbecken fest. Nach einer Minute des Wartens stieß sie sich ab und griff nach ihrer Alltagskleidung.

Das Geschrei der Tiere wurde laut. Die Stalltür rollte mit Schwung in die Verankerung. In den Hof fiel Licht. Theresa griff nach dem Hemd. Sie hörte die Schritte ihres Mannes.

Bevor sie die Bluse bis zum Brustbereich zugeknöpft hatte, stand Erwin in der Waschküche: »Was ist mit dir? Hast du dich wieder übergeben?« Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Gummistiefel auszuziehen. Er trug Stroh, Dung und Erdreich herein. Auf den weißen Fliesen zeichnete sich das Muster seiner Sohlen ab.

»Ja!«, sagte Theresa und bemühte sich, im Stehen in die Jeans zu schlüpfen. Ihr schwindelte. Erwin trat auf sie zu. Sie griff nach seinem Oberarm, um sich abzustützen.

Erwin hob ihre Arbeitshose vom Boden auf. »So kann es nicht weitergehen …«

Theresa legte sich die Handflächen auf den Bauch. Erwin ging in den Stall zurück.

In der Küche wusch sich Theresa ein zweites Mal die Hände. Die kurze Berührung von Erwins Mantel hatte gereicht, um den Stallgeruch erneut auf ihre Haut zu übertragen. Sie gurgelte lauwarmes Wasser und spülte den bitteren Geschmack aus dem Mund. Der Durst ließ sich nicht mehr ignorieren. Doch im Inneren des Bauches lauerte die Übelkeit und bestrafte jede Veränderung. Vier, fünf Schluck Wasser, schon stieg Galle zum Gaumenzäpfchen hoch. Sie holte Luft und wartete. Der akute Brechreiz legte sich. Theresa ging gebeugt ins Wohnzimmer. Im Kamin glühten Buchenscheiter. Noch bevor er in den Stall gegangen war, hatte Erwin nachgelegt. Theresa kroch auf das Sofa und drehte ihren Bauch der Kaminwand zu. Sie zog die Knie zu den Ellbogen hoch und gab sich der Erschöpfung hin.

Das Dorf lag in einem Tal, das die Pielitz in Millionen von Jahren durch die Hügel gefräst hatte. Am Südhang gediehen Äpfel, Birnen, Nüsse und Zwetschken. Am Nordhang stand Wald. Kleine Bächlein speisten Teiche und Fischzuchten. Weizen, Gerste und Mais wurden beiderseits des Tals auf überschaubaren Flächen angebaut. Wo die erste, steinerne Brücke über die Pielitz führte, gab es eine Kirche und ein Gemeindeamt. Neben dem Gemeindeamt stand ein alter Speicher, dessen Fundamente angeblich über einem römischen Keller errichtet worden waren. Der Speicher beherbergte ein Heimatmuseum, das von Schulklassen aus der Umgebung gerne besucht wurde. Lange Zeit gab es auch einen Bäcker, bis vor wenigen Jahren ein Supermarkt eröffnete. Die Dorfstraße war im Laufe der Jahrzehnte ständig verbreitert worden. Das höchste Gebäude war der betonierte Turm des Lagerhauses.

Obwohl die Einwohnerzahl in den letzten dreißig Jahren kaum gestiegen war, hatte sich das Siedlungsgebiet weit über die Talrücken ausgedehnt. Auf der Südseite prangten etliche Einfamilienhäuser mit ausladenden Gauben, Balkonen und Erkern. Jedes einzelne hätte einer Vielzahl von Personen Platz geboten. Meist lebten darin kleine Familien, mit einem oder zwei Kindern und einem Hund. In den Gärten gab es kompliziert bewässerte Biotope, blau bemalte Swimmingpools und aus Fichten- oder Kiefernholz gefertigte Carports. Unter den Carports parkten SUVs, Zweitautos, Rasenmäher und Motorräder.

An der Nordseite lagen bis zum Grat hinauf, wo sich der Hügel zur Nachbargemeinde hinabsenkte, mehr oder weniger massive Gehöfte. Auch sie hatte die oberösterreichische Nachkriegsordnung einer Blütezeit zugeführt. Kaum eines, das nicht an Umfang oder Ausstattung zugenommen hatte. Die teilweise aus dem 17. Jahrhundert stammenden Bauernhäuser waren erweitert oder abgerissen und neu gebaut worden. Viele hatten die Form mächtiger Vierkanthöfe angenommen. Allen waren runde Silotürme aus Beton, elektronisch gewartete Misthaufen und hallenartige Garagen vorgelagert. Mancher hatte die einst hölzernen oder aus Klinkerziegeln errichteten Außenmauern durch Glasfronten ersetzt. Einst bröckliger Putz strahlte in leuchtenden Farben. So gab es rosa Gehöfte oder Gehöfte in leuchtendem Grün oder Gelb und kaum noch jemand ließ, wie früher, Obst oder Wein an der Mauer emporwachsen.

Folgte man der Straße drei oder vier Kilometer ostwärts aus dem Tal hinaus, gelangte man auf die vierspurige Bundesstraße, die Eferding und Linz mit Wels und Passau verband. Die relative Nähe zu den größeren Städten der Region hatte dem Dorf nicht geschadet und zu seinem baulichen Wachstum beigetragen. Berufe abseits der Landwirtschaft konnten ausgeübt, ein bürgerlicher Broterwerb mit ländlichen Wohnverhältnissen kombiniert werden. Im Dorf und in den benachbarten Gemeinden gab es Schulen aller Art. So viele Kinder wie nie zuvor in der tausendjährigen Geschichte von Pielitz lernten lesen, schreiben und rechnen.

Bog man an der alten Mühle neben dem Heimatmuseum links ab, führte eine tadellos asphaltierte Straße den Hügel hinauf. Kurz durchquerte man ein Waldstück. Die Straße machte eine Kehre, lief geradeaus und stieg ein weiteres Stück steil an. Auf der rechten Straßenseite öffnete sich ein großer Obstgarten. Über dem Obstgarten lag Erwins Hof in weißer Farbe. Drei Garagentore und eine mit hölzernen Fensterläden geschmückte Hausfront begrenzten den kleinen Platz. Hinter dem Hof nahm die Steigung des Hügels ab und ein Teich stand im Schatten hoher Erlen. Enten tauchten dort nach Schnecken oder glitten ruhig über die Wasseroberfläche. Rechts vom Teich zog die Waldgrenze vorbei. Der Wald erstreckte sich über die angrenzenden Gemeinden Bad Hiemsbach, Kreuzenstein, St. Marien und weit darüber hinaus. Es handelte sich um das größte intakte Waldgebiet der Region, das angestammte Jagdrevier von Erwin Weichselbaum.

Erwin betrat geduscht das Wohnzimmer. Theresa schlief. Er breitete behutsam die Decke über ihren gedrungenen Körper und heizte das Feuer, das auszugehen drohte, mit Reisig und Buchenscheitern an. In der Küche herrschte peinliche Ordnung. Kein Topf kochte am Herd, keine Schüssel stand am Tisch, im Rohr wurde nichts gebacken. Der Kühlschrank surrte teilnahmslos. Den dritten Tag in Folge aß Erwin kalt zu Abend.

Rosalie, die Tochter, parkte auf dem Vorplatz neben den Garagen. Erwin kannte das Geräusch ihres Wagens. Sie betrat lärmend Vorhaus und Küche. Erwin hieß sie leise sein.

»Ist Mama immer noch nicht gesund?«, fragte Rosalie, ohne die Stimme merklich zu senken. Sie öffnete instinktiv den Kühlschrank. »Wie kann denn das sein? Wart ihr beim Arzt? Ich brauche für morgen jemanden, der auf den Jungen schaut. Kann ich ihn nach Mittag vorbeibringen?«

Erwin schüttelte energisch den Kopf. »Das geht nicht. Ich bin morgen den ganzen Tag im Obstgarten. Der Kaiser Josef hilft mir beim Schneiden, da ist mir der Bub im Weg. Er ist alt genug, er braucht keinen Babysitter mehr.«

Rosalie bereitete sich umständlich ein Wurstbrot zu. »Kann die Mama nicht auf ihn aufpassen? Wo ist sie denn überhaupt? So krank kann sie doch nicht sein. Daniel macht die Hausübung und dann soll er ein Buch lesen oder von mir aus fernsehen.«

Erwin blickte zu Boden. »Deine Mutter ist krank, sie braucht Ruhe! Heute hat sie sich fünfmal übergeben. Dabei dachten wir zu Mittag, die Krankheit wäre vorbei.«

»Die Krankheit, die Krankheit«, rief Rosalie. Sie öffnete sämtliche Tupperwarebehälter, die sich im Kühlschrank befanden. »Was ist das denn für eine Krankheit?«

Mitten in der Nacht wachte Theresa auf. Sie fuhr sich mit beiden Handflächen über die Stirn und fand sich in der Finsternis nicht zurecht. Sie sah aus dem Fenster. Niemand hatte den Vorhang zugezogen. Über den Obstgarten schoben sich Wolkenfetzen. Am gegenüberliegenden Hang blitzten zwei rote Rücklichter durchs Dickicht. Das Auto verschwand aus dem Blickfeld und die Reglosigkeit der Landschaft zog Theresa in den Bann. Die Stille im Wohnzimmer, im Haus und über den kahlen Baumreihen wurde durch das leise Surren des Kühlschranks verstärkt. Theresa drehte vorsichtig den Körper und bettete sich zum Fenster hin. Sie sah in die Dunkelheit. Das Weiß ihrer Augäpfel leuchtete.

Der Boden knarrte und Erwins Gesicht schwebte über ihr. »Du bist wach? Wie geht es dir?«

Theresa zuckte zusammen. Sie hatte seine Anwesenheit nicht gespürt. »Wie soll es mir gehen? Ich bin matt.«

»Morgen gehen wir zum Arzt! Damit du es weißt. Es muss etwas geschehen.«

Theresa senkte die Lider. Ihre sachte Kopfbewegung konnte als Nicken interpretiert werden. Erwin nahm das zur Kenntnis und griff auf den Holzstoß neben dem Kamin.

Ohne die Augen wieder zu öffnen und mit hörbarer Anstrengung erhob Theresa die Stimme: »Bitte nicht mehr einheizen. Hier hat es über vierzig Grad. Geh endlich ins Bett. Morgen kommt der Kaiser Josef.«

Erwin warf ein Scheit in das Ofenloch. »Ich möchte, dass du gesund wirst. Ich brauche dich doch!« Er schüttelte den Kopf, setzte sich ans Bett und legte seine Hand auf Theresas Schulter. Dann verließ er, ohne Licht zu machen, leise das Zimmer.

Die Temperaturen stiegen und die Feldhasen boten ein fröhliches Schauspiel. In undurchschaubaren Manövern stoben sie über das nasse Erdreich, tummelten sich in Gruppen zusammen, sprangen jäh in die Luft, prallten in wilden Zweikämpfen aneinander und tobten wie vom Blitz getroffen wieder davon. Die Vögel sangen bis in den Abend. Hinten am Teich bildeten sich von einer Woche zur anderen Teppiche von Krokussen und Schneeglöckchen. Tage zuvor war ein warmer Frühlingssturm über das Land gefegt, hatte den letzten schattigen Schnee schmelzen lassen, Bäume geknickt und sogar ein Dach abgetragen. Kaum ein Bauer behielt die Gülle, die sich den Winter über in den Senkgruben gesammelt hatte, bei sich. Man spritzte sie an immer länger werdenden Nachmittagen auf die brachliegenden Felder.

Das Wartezimmer war bis auf den letzten Platz gefüllt. Theresa saß zwischen Renate Haberleitner und Hans Ölwein. Hans litt an einer starken Bronchitis. Seine Lungen pfiffen beim Ein- und Ausatmen. Renate klagte über Rückenschmerzen. Vor zwei Wochen hatte sie in einer unachtsamen Sekunde der Schafbock gerammt. Erwin setzte sich nicht ins Wartezimmer. Er plauderte an der Rezeption mit Adolf Bernböck, der sich den Blutdruck messen ließ. Hans fragte nach Theresas Beschwerden. Theresa zuckte mit den Achseln: »Ein Magen-Darm-Virus.«

Renate fragte nach Theresas Kindern. Theresa fühlte das Unwohlsein ansteigen. Ohne zu antworten, verzog sie das Gesicht und griff sich an den Bauch. Renate Haberleitner verstand diese Geste und bemerkte an Hans Ölwein gerichtet: »Mein Gott! Die Resi hat es schlimm erwischt.«

Doktor Peyerleitner rief Theresa ins Ordinationszimmer. Sie erhob sich und kämpfte mit dem Drang, sich übergeben zu müssen. Als sie ins Zimmer des Doktors trat, riss der Himmel auf und erfüllte den Raum mit einem warmen Strahl Sonne.

»Was kann ich für dich tun?«

Theresa hob die Schultern.

Doktor Peyerleitner rollte im Sitzen auf Theresa zu. »Erkältet bist du aber nicht, oder? Fieber? Wie ist es mit dem Appetit?«

Theresa gab an, keine Erkältung zu haben. Sie hätte auch kein Fieber. Nur essen könne sie nichts. »Mir ist schlecht. Das ist das Problem. Und ich bin schwach, wie selten.«

Doktor Peyerleitner maß Theresas Blutdruck. »Der Blutdruck ist ein bisschen zu niedrig. Seit wann nimmst du keine feste Nahrung mehr zu dir?«

»Seit drei Tagen.«

»Durchfall?«

»Nein«, antwortete Theresa. »Aber alles, was ich zu mir nehme, möchte ich erbrechen.«

Doktor Peyerleitner nickte. »Ich nehme dir Blut ab.«

Theresas Augen glitzerten. Der kleine Stich war kaum spürbar. Die Sonnenstrahlen ließen den Holzboden der Ordination aufleuchten. Über dem Parkett tanzten winzige Staubpartikel. Theresa fürchtete plötzlich zu weinen. Sie fuhr sich mit den Fingern unter die Augen, um die Trockenheit der Wangen zu überprüfen. Doktor Peyerleitner schien nichts zu bemerken. Er beschriftete die Blutprobe, steckte sich das Stethoskop in die Ohren und bat Theresa, die Bluse zu öffnen.

»Mit Herz und Lunge ist alles in Ordnung«, Doktor Peyerleitner nahm das Stethoskop aus den Ohren und rollte zum Schreibtisch. Er schrieb etwas in den Computer. Theresa knöpfte ihre Bluse zu. »Sonst irgendetwas Auffälliges? Seit wann geht es dir schlecht?«

Theresa hielt ihre lächelnde Miene nach Kräften aufrecht. »Seit zwei, drei Tagen. Vielleicht bin ich wetterfühlig? Der Winter war so lang …«

»Vielleicht …«, wiederholte Doktor Peyerleitner freundlich. Er wandte sich vom Computer ab und rollte noch einmal auf Theresa zu. »Ich verschreibe dir vorerst homöopathische Tropfen, sonst nichts. Wenn das Ergebnis des Bluttests da ist, sehen wir weiter. Gut? Gibt es noch etwas?«

Theresa duckte sich und winkte ab. Beim Hinausgehen wagte sie nicht, den Doktor anzusehen.

Erwin half Theresa in den Mantel. »Was hat der Peyerleitner gesagt?«

Theresa ließ den Kopf hängen. »Wahrscheinlich ein Virus. Er hat mir Blut abgenommen und noch nichts verschrieben. Nächste Woche wissen wir mehr.« Erwin war zufrieden. Oben am Hof hatte der Kaiser Josef die Sägeketten schon geschmiert.

Der Lärm der Motorsägen erfüllte den Obstgarten. Rosalies Wagen preschte an Erwin und Josef vorbei. In der Küche belegte sie sich mit drei Handgriffen ein Brot. Ihren Sohn hieß sie sofort mit den Hausaufgaben beginnen. Sie trat ins Wohnzimmer, wo Theresa neben dem Kamin auf dem Sofa döste.

»Mama, bist du noch immer nicht gesund? Es tut mir leid. Ich weiß wirklich nicht, wo ich den Buben hinbringen soll. Allein will ich ihn aber auch nicht lassen, dafür ist er mir noch zu klein. Ich muss dringend nach Linz und hole ihn am Abend wieder. Er hat viel zu tun und ein Buch dabei. Von mir aus kann er auch fernsehen.« Rosalie sprach extralaut, um sich ihrem in der Küche sitzenden Sohn ebenfalls verständlich zu machen. Theresa hatte keine Kraft, irgendetwas zu entgegnen. Sie nahm die Rede ihrer Tochter regungslos zur Kenntnis. Diese rief ihr einen kurzen Gruß der Besserung zu, trat aus der Tür und fuhr davon.

Daniel setzte sich ans Bett seiner Großmutter. »Ich geh nach draußen, okay?«

Theresa lag am Rücken. Sie hob die Hand und griff ihm an die Wangen. Seine Augen leuchteten. »Ich habe alle Hausaufgaben erledigt! Ich schwöre!«

Theresa nickte, doch es gelang ihr nicht, die Lippen so zu formen, dass ihnen Worte entwichen. Daniel kannte sich aus, sprang auf und zog sich die Jacke an. Wieder flutete die Sonne das Tal und der Frühling kündete bessere, lichtere Tage an.

Es hielt ihn nicht lange am Teich. Daniel stieg hoch zum Bänkchen und genoss den Blick über das Dorf und das Tal. Die Motorsägen im Obstgarten lärmten, vor dem Supermarkt floss reger Verkehr, auf den Feldern verspritzten Traktoren Gülle. An mehreren Dachstühlen wurde laut herumgehämmert. Am verlockendsten war die Dunkelheit des Waldes. Das Dickicht rund um den Hof kannte er blind. Die Astgabel einer Rotbuche grüßte den Wanderer. Er passierte das Gatter. Beim Waldtümpel betrachtete er sich für einen Augenblick im schwarzen Wasser. Bald würden Feuersalamander aus der Tiefe steigen und ungeschickt an Land kriechen. Wo keine Fichten oder Tannen, sondern Laubbäume die Pfade säumten, drang Sonnenlicht auf den mit Blättern übersäten Boden. Daniel rannte los. Er lief an der Eiche mit der perversen Liebesbotschaft vorbei und kontrollierte die steinige Stelle, an der im Herbst Fliegenpilze sprossen. Als er allen Plätzen seiner Kindheit einen Besuch abgestattet hatte, ließ er sich treiben und schlug einen unbekannten Weg ein, den er noch nie gegangen war.

Ein Bach führte an den Waldrand, wo die Gehöfte eines kleinen Dorfes standen. Daniel lief ein Stück geradeaus und folgte dem Wasserlauf wieder ins Waldinnere. Er beobachtete mehrere Eichkätzchen, den quirligen Flug eines schönen Spechts und kam tiefer in eine dicht bepflanzte Fichtenzone. Hier fiel kaum Licht auf den Waldboden. Daniel verlangsamte seinen Schritt. Das Gefühl, mitten im Wald, im Herzen des Waldes, sozusagen im Urwald zu sein, schärfte seine Aufmerksamkeit. Das Geräusch brechender Zweige irritierte ihn. Er blieb stehen, suchte den Schutz eines Baumes und spähte in Richtung des knackenden Unterholzes. In einiger Entfernung stand eine Gestalt. Daniel duckte sich. Er suchte instinktiv nach dem Himmel und seinem Mobiltelefon. Es war drei Uhr nachmittags, was alle Sorgen zerstreute. Um drei Uhr nachmittags räumte man den Stall aus, verrichtete Waldarbeit oder ging einkaufen. Keinesfalls passierten um diese Uhrzeit Verbrechen. Daniel gab sich seiner Phantasie hin. Er nahm Pose und Erwartungshaltung eines furchtlosen Detektivs, eines Geheimagenten oder Bandenführers ein, um der Gestalt ihr Geheimnis abzuringen.

Geduckt schlich er von Baum zu Baum und pirschte sich an den Fremden heran. Umsichtig versuchte er seine Beine möglichst geräuschlos am Waldboden aufzusetzen. Wie laut ein knackender Ast zwischen den hoch aufragenden Stämmen nachhallen konnte. Je näher Daniel kam, desto mehr spannten sich seine Muskeln an. Er fürchtete, sich durch seinen Herzschlag zu verraten. Irgendein phantastischer Einfall gab ihm die Gewissheit, dass es mit dem Eindringling etwas Besonderes auf sich hatte. Sein Tun war jedenfalls merkwürdig. Daniel war auf zirka zwanzig Meter herangekommen. Er konnte den Fremden nun genauer beobachten. Er trug eine dicke Kapuzenjacke in Militärfarben. Er war gut einen Kopf größer als Daniel und zog von Zeit zu Zeit Nägel aus den Seitentaschen seiner schwarzen Hose. Er stand mit dem Rücken zu Daniels Versteck. In der anderen Hand schwang er einen Hammer. Am Boden lagen kleine Holzstücke, die an Bauklötze erinnerten. Die Holzstücke hämmerte er an den Baumstamm. Dann legte er den Hammer zur Seite, um mit einer Handsäge dürre Zweige vom Stamm der Fichte abzusägen. Er schien in sein Tun vertieft und weit davon entfernt, rings um sich etwas zu bemerken.

Daniel hielt den Atem an. In den Momenten, in denen sich der Fremde ruhig verhielt, weil er einen Nagel aus seiner Tasche zog oder ein passendes Holzstück aussuchte, meinte er weit entfernt die Motorsägen seines Großvaters zu hören. Das flößte ihm Mut ein und steigerte seinen Nervenkitzel. Er wollte zumindest das Gesicht des Fremden sehen und seinen Beobachtungsposten keinesfalls eher aufgeben. Sein Standpunkt war ideal. Noch näher heranzurücken hätte keinen Sinn gehabt. Es kam nur darauf an, dass sich der Fremde einmal umdrehte. Daniel zweifelte nicht eine Sekunde, dass es sich um verbotene Machenschaften handelte. Es war verboten, fremde Bäume anzusägen, geschweige denn anzunageln. Aus der Art, wie sich die Gestalt bückte und ihren Fuß gegen die Fichte stemmte, schloss Daniel, dass es sich um einen Mann handeln musste. Er war dünn. Durch die Weite der dunklen Hose zeichneten sich schmale Beine ab. Das beruhigte instinktiv oder unbewusst Daniels Gemüt und bekräftigte seine Überzeugung, es mit einem Schlingel, aber mit keinem Monster zu tun zu haben.

Er dachte daran, wie er Paul und Michael und Severin am Schulhof von seiner geheimen Beobachtung erzählen würde. Sie würden ihm nicht glauben oder zumindest so tun, als ob sie ihm kein Wort abkauften. Dabei hatte Daniel kaum eine Geschichte jemals vollständig erfunden. Manchmal hatte er ein bisschen übertrieben. Doch daraus konnte man ihm keinen fundamentalen Vorwurf machen. Wenn Daniel mit seinem Vater fischen ging, blieb seiner kindlich-jugendlichen Aufmerksamkeit kein Detail verborgen. Wenn er seinen Vater später in geselliger Runde davon erzählen hörte, merkte Daniel sehr genau, in wie vielen mehr oder weniger bedeutsamen Punkten sein Vater von der Wahrheit abwich.

Daniel spürte, dass seine Existenz sich von der seiner Schulkollegen unterschied. Er fühlte, dass das mit seinem Vater und seiner Mutter zu tun hatte. Ein Makel schien an ihm zu haften. Wenn er sich nicht durch Stärke und Verwegenheit Respekt verschaffte, tanzten ihm Paul, Michael oder Severin sofort auf der Nase herum. Manchmal schienen sie sich regelrecht gegen ihn zu verbrüdern. Dann verspotteten sie ihn oder beleidigten seinen Vater, was Daniel in Zorn versetzte. Zum Glück hatte er von seinem Vater starke Arme geerbt. Er wusste sich gegen Angriffe zu verteidigen. In der Schule war er längst ein gefürchteter Kämpfer. Widersacher überlegten es sich dreimal, ob sie ihn mit ihrem Spott überhäuften. Daniel erinnerte sich an die warme Hand seiner Großmutter, die eben über seine Wange gestreift hatte. Einmal kam er weinend angerannt, da hatte sie zu ihm gesagt: »Aber Daniel, das darfst du dir doch nicht zu Herzen nehmen. Die anderen Kinder sind eifersüchtig, weil du stark und schön bist. Hast du das noch nicht bemerkt?«

Direkt über ihm landete der schöne Specht. Daniel beobachtete ihn einen Augenblick. Kein Waldvogel konnte es an Eleganz mit dem Specht aufnehmen. Er hüpfte geschickt am Stamm entlang, umrundete ihn mehrmals und klopfte mit seinem Schnabel die Rinde ab. Du bist mir also gefolgt?, dachte Daniel und nickte dem Vogel anerkennend zu. Der Specht hämmerte, als würde er zustimmen, intensiv gegen das weiche Rindenholz. Damit weckte er auch das Interesse des Fremden. Daniel wurde unruhig. Der Fremde drehte sich überrascht um und suchte in der Luft nach dem Ursprung des Klopfgeräusches. Die Kapuze der Jacke hing ihm so weit ins Gesicht, dass seine Züge nicht auszumachen waren. Daniel kauerte sich hinter einem Brombeerstrauch zusammen. Er machte sich so klein er konnte. Der Kopf des Fremden, der hinter dem Kapuzenstoffdach im Dunkeln blieb, wanderte suchend hin und her. Er konnte nichts erkennen, legte die Handsäge auf den Waldboden und kam zwei Schritte auf Daniel zu.

Daniel verfluchte den Specht. Der Specht schien sich seiner Sache sicherer denn je. Sein Schnabel hatte sich durch die Rinde gebohrt und das harte Holz erreicht. Staub rieselte ganz leise den Stamm herab. Der Fremde hielt inne. Kurz schien er den genauen Herkunftsort des Klopfgeräusches neu zu orten. Daniel packte kindliches Grauen. Mit jedem neuen Atemzug wollte er die Flucht ergreifen. Doch die Lust, das Gesicht des Fremden wenigstens für den Bruchteil einer Sekunde zu sehen, überwältigte ihn. Hin- und hergerissen zwischen Lust und Grauen, zog sich sein Körper wie eine Feder zusammen. Er verlagerte das Gewicht auf sein angewinkeltes Knie, um im Augenblick loszusprinten. Der Fremde blickte wenige Meter vor Daniel in die Höhe. Es war der Specht, der nun als Erster die Flucht ergriff. Er flog drei oder vier Bäume weiter und hüpfte dort die Rinde entlang. Daniel konnte sehen, wie der Kopf des Fremden dem Vogel folgte. Er musste den Augenblick nutzen, um seinem Enttarnt- oder Gefasst- oder gar Gefangen-Werden zuvorzukommen. Da lüftete der Fremde seine Kapuze. Daniel starrte gebannt auf das frei werdende Haupt.