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Fred Reber

DAS
GEWICHT
VON
NÄHE

Roman

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ISBN 978-3-948065-04-1

eISBN 978-3-948065-10-2

Alle Rechte der Ausgabe

© STROUX edition München 2019

Covergestaltung Matthias Mielitz · München

www.stroux-edition.de

Printed in Germany

INHALT

ES IST VORBEI

EIN HALBES JAHR ZUVOR

DREI JAHRE SPÄTER

Das Messer.

Plötzlich hält sie es in der Hand.

Hackt – vorbei an seinem Gesicht – in das Stück Fleischroulade.

Nagelt es mit einem dumpfen Geräusch auf das Holzbrett. Genau zwischen seinen Daumen und Zeigefinger. Sie hätte seine Hand treffen können, einen seiner Finger.

„Hast du sie noch alle?“

Er schubst sie beiseite, stürmt aus der Küche.

Im Vorbeilaufen zerrt er sein Sakko von der Garderobe. Er bückt sich nach seinen Slippern, will einsteigen, stolpert, reißt die Haustür auf. Nur halb in den Schuhen rennt er aus dem Haus – hinein in den prasselnden Regen. Auf der rutschigen Steinstufe verliert er den rechten Schuh, greift nach unten. Hinter sich in der Eingangstür erkennt er ihren Schatten.

„Bleib doch, bitte. Ich weiß selbst nicht, was in mich gefahren ist“, hört er ihre sanfte Stimme.

Nein. So nicht.

Es ist vorbei.

Endgültig.

Ben sprintet, den Schuh fest an sich gedrückt, durch die kalte Nässe. Schmerzhaft spürt er spitze Steine unter der Fußsohle. Immer weiter, weiter, nur weg. Nicht beirrren lassen. Völlig durchnässt erreicht er die Abzweigung zur Landstraße. Ein kurzer Blick zurück in die Talsenke: Laubbäume verwehren den Einblick in die Gärten. Über den Wipfeln hängen bedrohliche Regenwolken. Ein Blitz, ein ohrenbetäubender Donner treiben ihn weiter, stolpernd den Straßenrand entlang, auf das Wartehäuschen neben der Bushaltestelle zu. Dort drinnen ist es einigermaßen trocken und geschützt. Benommen lehnt er sich an die Rückwand. Allmählich wird sein Atem ruhiger. Lange starrt er auf seine verdreckten Zehen, auf die Leinenhose, die wie ein nasser Sack faltig über seine Knie und Oberschenkel hängt. Irgendwann wirft er seinen Schuh vor sich auf den Boden, zwängt seinen Fuß in das nasse, steif gewordene Leder, horcht in die Dämmerung.

Sie wird ihm doch hoffentlich nicht folgen? Motorengeräusche nähern sich, in der Kurve taucht ein Wagen auf und fährt zügig vorüber. Er friert, sein linker Arm, mit dem er schon die ganze Zeit sein Leinensakko gegen die Brust drückt, wird langsam taub. Das durchweichte und zerknitterte Sakko wird ihn kaum wärmen. Er zieht es über, tastet nach seinem Portemonnaie. Glück gehabt, er spürt die Ausbuchtung der Innentasche. Es hätte auch noch auf dem Tischchen neben ihrem Bett liegen können, wo er sonst immer gerne alles abgelegt hat. Hektisch prüft er die Sakkotaschen. Handy. Wohnungsschlüssel. Alles da. Erleichtert lässt er sich auf die hölzerne Sitzbank fallen, starrt er in die vom Regen aufgewühlten Pfützen vor dem Wartehäuschen. Nachmittags war er mit der S-Bahn zu ihr gefahren. Sein alter Käfer hatte einfach nicht anspringen wollen. Ein Messer. Wieso passiert ihm so etwas? Er nimmt das Auto erst wahr, als es schon vor dem Wartehäuschen angehalten hat. Fast panisch springt er hoch, beruhigt sich sofort. Nur ein Taxi! Das Beifahrerfenster senkt sich. Ein bärtiges Gesicht wird sichtbar.

„Hier kommt heute kein Bus mehr. Es ist zwanzig Uhr durch.“

„Was?“ Er dreht sich zum Fahrplan hin. „Ach so, ja.“ Wischt sich über das Gesicht. An seinen Fingern noch der Geruch von rohem Fleisch und Senf. Angewidert lässt er die Hand sinken.

„Ich muss nach München.“ Er schluckt. „So schnell wie möglich. Können Sie mich fahren?“

Die Beifahrertür wird aufgedrückt. „Danke.“

Er steigt ein und entdeckt jetzt im beleuchteten Wageninneren, dass sein Daumen blutet.

„Sind Sie gestürzt?“ Der Fahrer neben ihm hat das Blut auch gesehen und reicht ihm ein Papiertaschentuch.

„Ich war spazieren, unten am See, als mich das Unwetter überrascht hat. Furchtbar. Zu allem Übel bin ich noch über eine Wurzel gestolpert.“

Wie leicht ihm so eine kleine Lügengeschichte fällt. Er untersucht die Wunde zwischen Daumen und Zeigefinger. Erst jetzt spürt er den brennenden Schmerz.

„Da, an der Brusttasche haben Sie auch Blut. Passen Sie auf, dass Sie hier nichts dreckig machen.“

Der Fahrer hält ihm ein zweites Tuch hin.

Ben starrt an sich herunter. Überall Blutflecken auf seinem Lieblingssakko, dort, wo er vorhin nach Brieftasche, Handy und Wohnungsschlüssel gesucht hat.

„Mist!“

Der Taxifahrer mustert ihn skeptisch, fasst unter seine Schirmmütze, und kratzt sich an der Stirn.

„Wo müssen Sie denn hin in München?“

„Brunnerstraße, am Luitpold Park.“

Über sein Lenkrad gebeugt tippt der Mann die Route in das Navigationsgerät, stellt den Taxameter ein, startet den Motor und nimmt die Straße Richtung Autobahn. Er versucht, Ben zu unterhalten, erzählt, wie er einmal mit seiner Freundin ein Gewitter im Boot auf dem See erlebte.

„Interessiert Sie das überhaupt?“, unterbricht er sich und dreht sich zu Ben hin.

„Ja, natürlich“, erwidert Ben mechanisch, während er sich die Finger immer wieder mit dem Papiertuch abwischt, so gut es eben geht.

Er kann keinen einzigen klaren Gedanken fassen.

Erst als das Taxi im Petuel-Tunnel die Ausfahrt nach Schwabing nimmt, registriert er, dass der Fahrer inzwischen seinen Wagen schweigend über die im Regen glänzenden Straßen lenkt. Endlich Hausnummer 35, sein Haus. Ben gibt einen Zehner extra, irgendwie bedauert er, so wortkarg gewesen zu sein. Hätte er erzählen können, was er tatsächlich erlebt hat? Er wünscht dem Fahrer eine gute Rückfahrt, steigt aus, wirft die Beifahrertür zu und hastet zum Hauseingang. Oben im dritten Stock drückt er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss. Jetzt fühlt er sich wohler. Die Luft in der Wohnung ist drückend und abgestanden. Er öffnet die Balkontür zum Park und das Schlafzimmerfenster zum Innenhof. Unter der Dusche stellt er fest, der Schnitt zwischen den Fingern ist nur ein kleiner Ritzer.

Wie kann die Haut an dieser Stelle so bluten? Vielleicht sind die Flecken am T-Shirt und am Sakko nicht nur sein Blut, sondern auch Fleischsaft?

Er muss endlich etwas essen. In der Küche, beim Anblick seines Messerblocks, vergeht ihm wieder der Appetit. Sein Magen streikt. Er fühlt sich unendlich matt, schleppt sich in sein Schlafzimmer, wirft sich auf das Bett. Draußen prasselt der Regen ans Fenster.

Warum hat er es so weit kommen lassen?

Seine Gedanken drehen sich im Kreis, hindern ihn am Einschlafen. Er hätte die Firmen-Weihnachtsfeier sausen lassen sollen. Nur der Hunger hatte ihn dorthin getrieben.

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EIN HALBES JAHR ZUVOR

18:25 Uhr. Ben setzt sein Namenskürzel BK in die Freigabe der Buchungsmaske und drückt die Entertaste. Für den Zahllauf hat er alle vorliegenden Rechnungen erfasst und gebucht. Er meldet sich an seinem PC ab, steht auf für seine gewohnten Dehnübungen und spürt schnell, wie sich die Verspannungen im Nacken und in den Schultern lösen. Allmählich taucht er gedanklich wieder in seine neue Geschichte ein, in der sich alles um Paul Newman dreht.

Die Zigarette. Er nimmt sie aus der Schreibtischschublade. Gestern hat er sie unbemerkt dem Kollegen Sandmann stibitzt. Um einen buchhalterischen Vorgang mit dem Kollegen aus dem Controlling zu klären, war er hinübergegangen, hatte ihn aber nicht angetroffen. Als er auf dessen Schreibtisch das Päckchen Zigaretten entdeckte, hatte er zugegriffen. Jetzt hängt die Zigarette lässig im linken Mundwinkel. Er stellt sich vor, er raucht. Der aufsteigende Tabakqualm brennt in seinem Auge. Er kneift es zusammen, so wie er es bei Newman beobachtet hat. Mit diesem schiefen Newman-Gesicht schnappt er sich die leere Wasserflasche und das Glas, trägt beides entspannt und schlaksig den Flur entlang zurück in die Kaffeeküche – wie Paul. Seine Mutter wäre wieder einmal begeistert, wenn sie ihn so sehen könnte. Schon immer hat er sie mit seinen Auftritten begeistern können.

Er will sein Büro verlassen, hat schon den Mantel übergezogen, da klingelt das Telefon. Die Gottwald vom Marketing, ihr Name leuchtet auf dem Display. Sie sitzt im Nebengebäude, und er weiß ganz genau, dass sie ihn jetzt durch die Glasfronten der Büros von ihrem Schreibtisch aus beobachtet. Er nimmt den Hörer ab.

„Hallo, lieber Ben. Geht es Ihnen gut? Beschleicht Sie auch langsam dieses gewisse Weihnachtsfeeling?“

Ihr übertriebenes Gesäusel nervt ihn. Eine dieser Marketing-Frauen. Typisch. Angeblich hat sie etwas mit Lobenthal, dem Vorstand. Er geht auf ihre Frage nicht ein, will einfach nur wissen, was er für sie tun kann, ganz cool. Jetzt wird sie präzise.

„Ich habe die Rechnungen für den Kundenevent am Nikolausabend geprüft und zur Zahlung freigegeben. Meine Praktikantin bringt Ihnen die Unterlagen sofort rüber.“

„Sie kann sie mir gerne ins Postfach legen.“

Er wird sich von der Gottwald nicht aus der Ruhe bringen lassen.

„Ich will nur sichergehen, dass alles morgen mit dem letzten Zahllauf in diesem Jahr noch beglichen wird“, hört er sie.

Sein Puls beschleunigt sich. Das darf doch nicht wahr sein. Jetzt, wo er fertig ist, kommt sie mit ihrem Scheiß daher. Das ist absolut nicht zu schaffen. No way!

„Daraus wird nichts. Rosner hat den Banktransfer auf morgen Vormittag um zehn Uhr festgelegt. Danach bekomme ich von ihm keine Freigabe mehr. Er muss weg zu einem Termin außer Haus.“

Die Gottwald geht überhaupt nicht auf ihn ein.

„Lieber Ben, Sie wissen doch, wir dürfen niemanden verärgern. Ich brauche die Location, das Catering, den Fotografen mit seinen Leuten. Ende Februar auch den Limousinen-Service für die Präsentation der Sommer- und Herbstkollektion. Und vergessen Sie mir nicht die Rechnung der Kundengeschenke.“

In Momenten wie diesen hasst Ben seinen Job. Niemand in der Firma hat eine Ahnung davon, was er für einen Aufwand betreiben muss, bis er alle steuerlichen Richtlinien für eine Eingangsrechnung abgecheckt hat. Jeder hier denkt wohl, dass er die Belege nur in seinen PC reinschiebt, und dann sucht sich der Computer alle Daten selber zusammen, die für den Banktransfer nötig sind.

„Ich weiß, Sie enttäuschen mich nicht“, säuselt die Gottwald und legt auf.

Sie kann ihm den Schuh aufblasen. Würde sie ihm besser zuarbeiten, dann bekäme er seinen Job während der üblichen acht Stunden auf die Reihe und sie ihre Rechnungen pünktlich bezahlt. Ben dreht sich um und sieht hinter den Scheiben der Fensterfront, gegen die der Regen trommelt, die Kollegin im Nebengebäude sitzen. Hoffentlich bemerkt sie, dass er den Lichtschalter betätigt – dabei stellt er sich vor, wie ihr sämtliche Gesichtszüge entgleiten, sperrt sein Büro ab, geht lässig wie Paul durch das Treppenhaus nach unten und läuft der Praktikantin direkt in die Arme. Die Gottwald muss sie schon vor dem Telefonat losgeschickt haben. Hätte er bloß den Lift genommen. Das junge Ding überreicht ihm mit einem schüchternen Lächeln den Packen Rechnungen. Er starrt auf das angeheftete Post-it. Für Ihren Einsatz genehmigen wir uns morgen Abend auf der Party ein Glas Champagner extra, hat die Gottwald geschrieben.

Widerwillig kehrt Ben in sein Büro zurück.

„Ich kotze gleich.“ Er feuert seine Umhängetasche in die Ecke, zerrt an den Mantelknöpfen. Er muss sich zwingen, nicht zur Gottwald hinüberzusehen, um ihr den Mittelfinger zu zeigen.

Es gelingt ihm nicht, sich zu konzentrieren, immerzu schweifen die Gedanken ab zu seiner Paul-Newman-Geschichte für den Schreibwettbewerb. Wieder und wieder vertippt er sich beim Erfassen der Belege.

21:30 Uhr. Das Hauptgebäude gegenüber liegt im Dunkeln. Wann die Gottwald ihr Büro verlassen hat, ist ihm völlig entgangen, das macht ihn noch wütender.

Der Regen geht in Schnee über. Schwere, große Flocken wirbeln im Lichtschein der Straßenlaterne unter ihm. Ben beugt sich über den letzten Beleg, ordnet die Ausgaben den entsprechenden Kostenstellen und Projekten zu, und als er sie buchen will, ergibt seine Aufteilung nicht die Rechnungssumme. Er flucht, überprüft alles, addiert, aber es bleibt fehlerhaft. Schließlich springt er hoch, läuft einige Schritte im Büro auf und ab, legt sich auf den Fußboden – für einen kurzen Moment der Entspannung. Autogenes Training wird ihm helfen, es ist ja sonst niemand mehr da. Er spürt die angenehme Schwere in seinem Bein, links, rechts, in seinem Arm, spürt die wohlige Wärme, atmet ganz ruhig …

Er scheint geschlafen zu haben, denn als er die Augen wieder aufschlägt, sind alle Fenster im Nebengebäude hell erleuchtet. Sämtliche Knochen schmerzen, er friert, kommt nur schwer wieder hoch. Während er sich streckt, bemerkt er Frauen, die in den Büroräumen gegenüber staubsaugen. Dass der Putztrupp noch abends durch das Firmengebäude zieht, ist ihm ganz neu. Jetzt hört er auch in seinem Gang Schritte, in der Tür seines Büros taucht eine Frau auf. Sie begrüßt ihn mit einem freundlichen „Guten Morgen.“ Ohne ihn weiter zu beachten, beginnt sie, mit einem Tuch die Tastatur seiner Rechenmaschine abzuwischen, das Display seines Telefons. Es braucht einen Moment, bis er begreift: es ist tatsächlich schon kurz nach sieben Uhr morgens. Auf der Toilette stößt er auf eine weitere Putzfrau, die gerade das Handwaschbecken scheuert. Mit einem „Tschuldigung“ zwängt er sich an ihr vorbei in die hintere der beiden Kabinen. Er verriegelt die Türe und versucht sich zu beruhigen.

„Null Problem, ist ganz Natur“, dringt die Stimme der Frau in gebrochenem Deutsch an sein Ohr. Null Problem? Die hat ja keine Ahnung.

Sie ist mit Spiegelpolieren beschäftigt, als er seine Kabine verlässt. Es stört ihn, dass sie ihm nach dem Händewaschen auch noch dabei beobachtet, wie er mit den Fingern seine widerspenstigen Haare in Form zu bringen versucht.

Weil in seinem Büro Staub gesaugt wird, holt er sich in der Gemeinschaftsküche vom Automaten eine große Tasse schwarzen Kaffee, trinkt ihn langsam und in kleinen Schlucken im Stehen. Endlich sind sie mit seinem Büro fertig. Er muss versuchen, den Additionsfehler vom Vorabend zu finden. Wieder ohne Erfolg. Was kann er noch machen? Die ganzen Mühen umsonst, und auch die Chance vertan, ein letztes Mal an seine Paul-Newman-Erzählung ranzugehen und sie beim Wettbewerb einzureichen.

Wann wird er endlich seine Karriere starten und diesen Laden hier verlassen können?

Kurzerhand verbucht er den Differenzbetrag auf das Konto für das Catering. Die Gottwald blickt in ihrem Budget sowieso nicht durch, ihr wird es nicht auffallen. Dafür ist der Betrag zu gering. Irgendwie geht es ihm nun etwas besser. Ihm fällt ein, dass er seine Stunden für den Dezember noch nicht in Rechnung gestellt hat. Er holt es nach, bucht sie ein und setzt die Zahlungsvorschlagsliste auf.

In den angrenzenden Büros hört er erste Kolleginnen und Kollegen, einige grüßen aus dem Gang zu ihm herein. Niemand macht eine Bemerkung darüber, dass er den Rollkragenpullover vom Vortag trägt, die gleiche verwaschene Jeans, als er über den Flur zum Lift geht, um sich unten in der Kantine Frühstück zu kaufen. Durch die offenstehenden Bürotüren hört er mit, wie sich einige über ihre geplante Garderobe für den Abend austauschen.

„Jetzt haben wir es ja bald geschafft.“

Kollege Sandmann aus dem Controlling kommt Ben im Gang entgegen. Augenzwinkernd beugt er sich ganz nah zu ihm und raunt:

„Sobald der Alte weg ist, genehmigen wir uns alle in meinem Büro ein Gläschen und stoßen auf die freien Tage an, die vor uns liegen.“

Ben nickt, obwohl er schon jetzt weiß, er wird sich auf keinen Fall dazugesellen. Dieser Sandmann ist ein unangenehm jovialer Typ. Bei jeder ihm sich bietenden Gelegenheit ködert er die Kolleginnen der Verwaltung mit Prosecco und schart sie um sich.

Zurück in seinem Büro schließt er die Tür, isst neben dem geöffneten Fenster seine Butterbreze. Unter ihm im Innenhof stehen rauchend Kollegen. Sehen kann er sie nicht. Nur riechen. Wie sehr ihn dieser Zigarettenqualm anekelt. Er schließt das Fenster und beobachtet die dicken Schneeflocken, wie sie sich auf den Ästen und Zweigen des alten Kastanienbaums im Innenhof sammeln. Dann holt er die Zahlungsvorschlagsliste aus dem Drucker, kontrolliert sie mit dem alphabetisch sortierten Stapel von Rechnungen. Rosner wird nachher nur Stichproben machen, er hat gar nicht die Zeit, jeden Beleg einzeln zu prüfen. Das Weihnachtsgeschenk für seine Frau ist ihm doch viel wichtiger.

Missmutig nimmt Ben die aufbereiteten Unterlagen und läuft den Flur hinunter zu Rosners Büro. Wie erwartet, macht der Alte sich tatsächlich nicht die Mühe, auch nur eine einzige Stichprobe zu nehmen. Nicht einmal Bens Honorarrechnung oben auf dem Stapel interessiert ihn. Ohne die abgerechneten Stunden auch nur eines Blickes zu würdigen, krakelt Rosner sein Namenskürzel JR auf das Papier. Wie kränkend. Warum hat er nicht schon längst alles hingeschmissen, fragt sich Ben wieder einmal. Was macht er hier in diesem Laden überhaupt noch? Es ist ihm doch schnurzpiepegal, ob und wann Designer, Leder- und Stoffzulieferer ihr Geld bekommen. Wann endlich wird er den Mut aufbringen und kündigen?

Während Rosner sich bei der Bank einloggt, starrt Ben auf dessen hohe Stirn, die Haarstoppeln. Irgendetwas stimmt mit dem Mann nicht. Er scheint nicht bei der Sache zu sein, seine Trefferquote in der Bildschirmmaske ist miserabel, mehrmals klickt er daneben, während er den Datensatz im Bankentool freigibt.

Ben hat noch nicht einmal den Stapel Rechnungen wieder an sich nehmen können, da ist Rosner schon hinter seinem Schreibtisch aufgestanden, eilt an ihm vorbei, greift nach seinem Mantel und verschwindet mit einem flüchtigen „Dann bis später“ aus dem Büro.

Na gut. Ben wird es genauso machen. Immerhin ist das Jahr, was den Job betrifft, damit abgeschlossen. Nichts wie nach Hause, an die Schreibarbeit. Der Termin zum Einreichen für den Wettbewerb ist noch zu schaffen.

Unbemerkt von der Feierrunde in Sandmanns Büro verlässt Ben mit dem Lift die Etage. Die Weihnachtsparty könnte er doch einfach schwänzen. Wer würde ihn dort schon vermissen? Allerhöchstens Rosner. Wenn er nicht auch wegbleibt.

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Lautes Stimmengewirr. Über eine mit dunkelgrauem Teppich bespannte Treppe steigt Ben in den ersten Stock des Hotels, in dem wie jedes Jahr die traditionelle Firmen-Weihnachtsparty in einer Lounge stattfindet. Er ist spät dran, ein Ober eilt ihm entgegen, bietet ihm Getränke an. Er nimmt sich ein Glas Rotwein vom Tablett, zieht sich sofort in eine dunklere Ecke zurück. Null Atmosphäre hier. Nirgendwo Tannengrün. Die dicken, grauen Kerzen mit den silbernen Schleifen auf gusseisernen Wandhaltern wirken ziemlich verloren. Was für ein Fehler, hierher zu kommen. Wie soll hier Weihnachtsfeeling aufkommen? Vier, fünf Schritte, und er könnte dazugehören. Interesse vorheucheln, die üblichen Bürogespräche mitspielen … Er kann sich nicht überwinden. Da drüben, die Gottwald im Gespräch mit dem Leiter vom Export, jetzt dreht sie sich in seine Richtung, lächelt ihm zu. Er übersieht sie einfach. Glaubt sie, mit einem Kopfnicken sei wieder alles im Lot? Sie soll nur ja nicht zu ihm herüberkommen, womöglich noch fragen, ob die Überweisungen für ihre Rechnungen unterwegs sind – er würde ihr seinen Rotwein ins Gesicht schütten. Dazu wäre er jetzt tatsächlich in der Lage. Nicht gut. Er sollte schnellstens verschwinden. Die Gottwald tut auch nur ihren Job.

Eine junge Frau vom Catering kommt auf ihn zu und bietet ihm freundlich ein Schälchen von ihrem Tablett an. Er starrt auf die knusprig gebratenen Streifen Gänsefleisch, drapiert auf Blaukraut, den Miniknödel, das bisschen Soße. Wie bitte soll er das essen, mit einem Glas in der Hand und ohne Besteck?

„Einen Moment, bitte.“

Er nimmt einen Schluck Wein, stellt das Glas auf dem Tablett der jungen Frau ab – wohl zu ungeduldig und viel zu hastig. Für einen Augenblick hat die Frau Mühe, das in Schieflage geratende und noch mit anderen Schälchen besetzte Tablett nicht fallen zu lassen. Aus ihren Mundwinkeln weicht das Lächeln.

„Tschuldigung“, murmelt er und verlässt eilig die Lounge, froh, dass niemand ihn zurückhalten will. Dass der Gaul derart mit ihm durchgeht, so etwas ist ihm lange nicht mehr passiert. Schwitzend zerrt er am Hemdkragen unter dem Sakko, eilt die breite Treppe hinunter in die Halle. Während er auf die Garderoben zusteuert, fängt er sich wieder. Paul Newman fällt ihm ein, dessen Coolness, seine Geschichte. An der Hotelbar wird er noch einen Drink nehmen. Einen Cognac. Zur Beruhigung.

Die Bar hat Stil. Alles ist in mattes Gold getaucht. Die Art-Deko-Malereien strahlen Eleganz und Intimität aus. In den mit Moleskin eingefassten Rundbogenregalen glänzen so viele Flaschen, dass Ben den schmächtigen Barkeeper im engen, bernsteinfarbenen Hemd zunächst überhaupt nicht wahrnimmt, auch nicht den einzigen Gast, eine Frau mit rostbraunen Haaren. Die beiden unterhalten sich. Ben nimmt auf einem der verchromten Hocker Platz. Als der Barkeeper sich ihm zuwendet, bestellt er sich einen Cognac, dreht sich dabei etwas weg von der Frau, um ja nicht von ihr in Smalltalk verwickelt zu werden. In seiner Sakkotasche vibriert das Handy. Eine SMS. Sein Sohn. Dad, liege flach, weiß nicht, ob X-mas mit dir und den Os klappt, melde dich, wenn du dort bist – C.

Der nächste Tiefschlag. Weihnachts-Besuch bei seinen Eltern ohne Chris. Schlimme Aussichten. Kaum vorstellbar, dass Chris auf die Schnelle gesund wird. Ben lässt sein Handy wieder verschwinden. Der Barkeeper stellt das Glas mit dem Cognac vor ihn, daneben eine Schale mit Erdnüssen. Hunger. Endlich. Ben stopft sich eine Handvoll Nüsse in den Mund. Noch kauend, greift er ein weiteres Mal in die Schale. Als er den Kopf hebt, sieht er die Frau. Sie hat ihn genau im Blick. Ihre Mundwinkel heben sich, sie lächelt, auch ihre grünbraunen, warmen Augen blicken freundlich. Sie ist nicht mehr ganz jung. Attraktiv. An irgendjemand erinnert sie ihn.

Mit einem Seitenblick auf den Barkeeper, der Nachrichten auf seinem Smartphone hin- und herschiebt, spricht sie Ben an:

„Ich muss Sie bewundern. Ich könnte mich nie überwinden, von so etwas zu essen.“

Die Klangfarbe ihrer Stimme – ihr Akzent, fast wie ein Lispeln – angenehm. Sie muss Skandinavierin sein. Für Frauen aus dem Norden hatte er schon immer eine Schwäche. In den Siebzigern, als er mit seinem Kumpel Martin Schweden erkundete, hätte er sich so gerne in eine Schwedin verliebt.

„Erdnüsse? Warum nicht? Die sehen in Ordnung aus“, erwidert Ben mit einem prüfenden Blick auf die Schale vor sich.

„Das ist wie mit den Haltestangen in der U-Bahn“, sagt die Frau leise. Es klingt verschwörerisch. „Man weiß nie, welche Bakterien daran haften. Deswegen benutze ich grundsätzlich keine öffentlichen Verkehrsmittel.“

„Und was ist mit den Griffen an den Einkaufswägen?“

„Seien Sie bloß still, sonst …“

„… gehen Sie nie wieder einkaufen.“

Sie lässt ein leises Lachen hören. Faszinierend. Obwohl das Gespräch doch ziemlich absurd ist. Ihre Augenlider flattern, ihre Verlegenheit gefällt ihm. Es macht sie sympathisch, sie wirkt fast jugendlich in diesem Moment.

„Bestimmt denken Sie jetzt, wie töricht ich bin.“ Sie nippt an ihrem Weißweinglas.

„Ganz bestimmt nicht.“

Sie streicht das rostbraune Haar über dem Ohr zurück, in Wellen fällt es wieder nach vorne. Er muss sich zwingen, seinen Blick abzuwenden, konzentriert sich auf die warme Farbe des Cognacs in seinem Glas, auf die öligen Tropfen, die nach dem Schwenken wie Tränen langsam an der Glaswand herablaufen.

Die Frau ist eindeutig älter. An die zehn Jahre. Ach was, sie ist noch keine Sechzig. Obwohl? Verstohlen schielt er auf ihre Hand, die neben ihrem Glas auf der Theke liegt. Schmal, zierlich, sehr gepflegt, schöne Farbe des Nagellacks, dezentes Cremefarben. Nur wenige Pigmentmale auf der Haut.

„Sie mögen Musik?“

Wieder dieses Wohlgefühl beim Klang ihrer Stimme. Ihm wird bewusst, dass er mit seinen Fingern den Rhythmus der Melodie begleitet, die von oben herunter dringt. Say it right von Nelly Furtado. Offensichtlich ist die Firmen-Weihnachtsparty im vollen Gange.

„Wenn sie gut ist.“ Er lächelt sie an. „Ohne Musik – das geht gar nicht. Könnten Sie denn ohne Musik leben?“

Sie zögert, überlegt, schließlich antwortet sie mit veränderter Stimme: „Musik weckt Erinnerungen …“

„Das ist doch das Gute daran“, unterbricht er sie.

„Dann müssen Sie ein glücklicher Mensch sein.“

Schade, er hat sie in melancholische Stimmung versetzt. Das muss er wieder gutmachen. Er steht auf, geht einen Schritt auf sie zu.

„Wollen Sie mit mir tanzen?“

„Was?“ Sie blickt ihn mit großen Augen an. Als er bemerkt, dass sie etwas rot wird, fühlt er sich umso mehr hingezogen zu ihr.

„Kommen Sie, trauen Sie sich“, sagt er und streckt ihr eine Hand entgegen. „Wir sind so gut wie unter uns.“

Wieder lässt sie ihr wohlklingendes leises Lachen hören. Sie neigt den Kopf, fährt sich durch die Haare, mustert ihn unter ihren langen Wimpern fast mädchenhaft schüchtern. Dann setzt sie zum Sprechen an, unterlässt es aber, denn genau in diesem Moment klingelt in ihrer schmalen Handtasche neben dem Weinglas das Handy. Sie holt es heraus, klappt das Leder-Etui auf. Nun entschuldigt sie sich, um in Richtung Toiletten zu verschwinden.

Wie schade. Hätte sie vielleicht doch ja gesagt? Er greift nach seinem Cognacglas und leert es in einem Zug. Was für eine reizvolle Frau. Aber da ist auch ein warnendes Gefühl in seinem Bauch. Warum sitzt sie hier so alleine? Das riecht fast nach Problemen. Er sollte einfach seinen Cognac bezahlen, ihr ein schönes Weihnachtsfest wünschen und sich verabschieden.

Sie kehrt zurück, tut so, als sei er gar nicht anwesend. Ein kleines Spiel? Sie nimmt Schal und Mantel vom Hocker neben sich. Beides teuer und exklusiv. Ben arbeitet schon zu lange in der Modebranche, um nicht einen echten Kamelhaarmantel zu erkennen.

Er geht zu ihr, hilft ihr hinein. Sie lässt es zu. Wie zierlich sie ist. Ihr Parfüm. Er kennt den Duft nicht, atmet ihn unauffällig tief ein.

„Vielen Dank. Es war wirklich interessant, mit Ihnen zu plaudern“, verabschiedet sie sich freundlich, aber irgendwie bedrückt. Offenbar hat das Telefonat sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Ben merkt ihr an, dass sie versucht, es ihn nicht spüren zu lassen.

Sie nickt dem Barmann zu, der antwortet ihr mit einem „Okay“.

Irritierend. Kennen die beiden sich besser?

So schnell will er sich nicht abschütteln lassen, ganz lässig fragt er: „Darf ich Sie irgendwo hinfahren? Mein Wagen steht nicht weit von hier.“

Ihr erstaunter Blick nötigt ihm eine Erklärung ab.

„U-Bahn und Tram kommen für Sie ja wegen der kontaminierten Haltegriffe nicht in Frage.“ Er zieht dazu die Augenbrauen hoch.

Wieder dieses wohltönende Lachen.

„So gefallen Sie mir.“ Er nimmt seine Brieftasche, sucht eine Visitenkarte, überreicht sie ihr.

„Wenn Sie wieder einmal Lust zum Plaudern haben.“

Sie liest die Karte, dann reicht sie ihm die Hand.

„Benjamin.“ Mehr sagt sie nicht.

Die Wärme, mit der sie seinen Namen ausspricht, fühlt sich fast an wie ein Streicheln über seine Wange. „Ben“, verbessert er sie und beobachtet mit einem Lächeln, wie sie vor ihm grazil die Hotellobby durchquert und in Richtung Treppenhaus verlässt.

Derjenige, der sie versetzt hat, ist ein Schwachkopf, denkt er.

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Beim Aufwachen hält er seine Augen geschlossen. Er kriecht noch einmal tiefer unter die Decke, versucht sich an seinen Traum zu erinnern, der ein angenehmes Gefühl in ihm zurückgelassen hat. Jetzt riskiert er einen Blick. Ein strahlend blauer Himmel lässt ihn voller Elan hochspringen. Er öffnet einen Fensterflügel, um die kalte Winterluft tief einzuatmen.

Chris wird er später anrufen. Erst will er noch zum Friseur. Unter der Dusche fragt er sich, ob es wirklich so eine gute Idee war, für sich und Chris eine Reise zu buchen. Eine gemeinsame Woche Gardasee vor dem Endspurt zum Abitur. Ob Chris sich wirklich darauf freut? Sie haben sich jetzt schon wieder einige Wochen nicht sehen können. Vielleicht ist der Gardasee zu langweilig für einen 18-Jährigen? Ob er wirklich krank ist? Vielleicht will er seine Mutter nicht alleine lassen? Vielleicht hat sie was dagegen? Eigentlich hatte Chris ihm angekündigt, über seine Pläne nach dem Abi reden zu wollen.

Nach der Dusche nimmt sich Ben Zeit für ein Frühstück. Herrlich, der erste Schluck Kaffee! Dazu ein aufgebackenes Croissant mit Butter und mit Mutters selbstgemachter Himbeermarmelade.

Die Frau an der Bar. Sie hält ihn gefangen. Er stellt sich vor, wie sie sich gegen ihn drängt und ihn liebkost, sogar ihr Parfüm meint er zu riechen. Klingelte jetzt das Telefon, und sie wäre dran, würde er sofort alle seine Pläne umwerfen. Was ist nur los mit ihm? Um Himmelswillen, nur keinen Weihnachtsblues! Alles bestens! So wie er sein Leben führt, geht es ihm doch gut. Die Handvoll Menschen, die er an sich ran lässt, kann er wirklich Freunde nennen. Er ist gerne allein. Einsam fühlt er sich allerhöchstens dann, wenn er missverstanden wird. Er hat einen Sohn, mit seiner Ex-Frau lebt er nicht im Krieg. Alles gut. Schade nur, dass Martin zwischen den Jahren nicht da ist. Der verbringt seine Feiertage auf Madeira. Und Heike, seine Schreibfreundin Heike wird er von seinen Eltern aus anrufen.

Er nimmt den Müll aus dem Eimer, trägt ihn nach unten zu den Tonnen, wieder oben spült er sein Geschirr.

Die Frau von gestern Abend würde doch überhaupt nicht in seine beigefarbene Ikea-Welt mit den Billy-Regalen, einem Schrank und dem Bett, beides preisreduziert, passen. Garantiert wohnt sie in einem großzügigen Landhaus, umgibt sich mit Designermöbeln und Accessoires, wie alle die Frauen, die er hin und wieder an der Maximilianstraße beobachtet. So wie sie sich gegeben hat, so kultiviert, nein, so eine lässt sich nicht mit jemandem wie ihm ein.

Jetzt noch die Weihnachtskarten schreiben. In das Kuvert für Chris steckt er eine Kopie seiner Hotelbuchung. Für seine Mutter hat er einen Bildband über Paul Newman, für den Vater einen Bildband über die Hallertau. Schließlich wickelt er eine Flasche Portwein in Glanzfolie, für Frau Moser, seine Nachbarin.

Ob die Frau sich melden wird? Vielleicht sollte er zum Hotel fahren und nach ihr fragen? Der Barkeeper müsste sie kennen. Sie hat ihren Wein nicht bezahlt.

Eine Schleife um den Flaschenhals, dann geht er über den Gang und klingelt bei der Nachbarin. Es duftet verführerisch nach Plätzchen. Sie öffnet ihre Türe mit erhitzten Wangen und Mehlpuder an der Stirn, lächelnd.

„Frau Moser, mit einem besonders lieben Gruß vom Weihnachtsmann.“ Er hebt dabei seine Augenbrauen. Sie greift nach Bens Pullover und zieht ihn in ihre Wohnung. „Sie müssen gleich probieren, Herr Kramer.“

„Ich habe nicht viel Zeit.“ Er deutet auf seine Wohnungstür, hinter der das Telefon klingelt. „Das wird meine Mutter sein. Ich habe ihr versprochen, sie anzurufen, bevor ich losfahre.“

„Jaja, dann müssen Sie später zurückrufen. Kommen Sie, ein Tässchen Tee und eine kleine Kostprobe geht schon.“ Frau Moser lässt sich nicht beeindrucken.

„Ich habe gerade gefrühstückt – aber ein Plätzchen, okay, das geht.“

„Sie nehmen eine Tüte mit, für Ihren Sohn“, sagt sie. „Wann kommt er Sie denn mal wieder besuchen?“

„Jungs in seinem Alter werden allmählich flügge“, antwortet er.

„Er ist sowieso ein Lieber.“ Frau Moser lächelt. „Na ja, bei dem Vater.“

Wie peinlich, so etwas zu hören. Nie weiß er, wie er darauf reagieren soll. Ob sie erwartet, dass er sich dazu äußert? Ab und zu klingelt Ben bei ihr, um mit ihr Rommé zu spielen. Dabei erzählen sie sich manchmal Episoden aus ihrem Leben. Er weiß, wie gerne sie Enkel hätte. Ihre Tochter, sehr erfolgreiche Anwältin, lebt nur für ihren Beruf. Gelegentlich begegnet er ihr im Treppenhaus. Einmal erklärte ihm Frau Moser, dass sie nicht verstehen könne, wieso er nicht wieder in einer Beziehung lebe. So wie er aussehe, müsse er doch an jedem Finger eine haben. Schließlich behauptete sie, im Grunde könne er ja froh sein, allein zu leben. Wenn sie sich vorstelle, er habe eine wie ihre Tochter, so eine mache ihn garantiert todunglücklich. Alle Frauen seien heutzutage so. Immer nur müsse alles nach ihrem Kopf gehen. Männer seien nur Deppen für diese Frauen.

„Ich werde öfters mal drüben in Ihrer Wohnung lüften.“