Umschlag

Hannes Nygaard ist das Pseudonym von Rainer Dissars-Nygaard. 1949 in Hamburg geboren, hat er sein halbes Leben in Schleswig-Holstein verbracht. Er studierte Betriebswirtschaft und war viele Jahre als Unternehmensberater tätig. Hannes Nygaard lebt auf der Insel Nordstrand.
www.hannes-nygaard.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2020 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Ilona Wellmann /Arcangel Images
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept
von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Dr. Marion Heister
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-597-8
Hinterm Deich Krimi
Originalausgabe

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Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Editio Dialog,
Dr. Michael Wenzel (www.editio-dialog.com).

 

Für Anders

und zur Erinnerung an Margit

 

Zu allen Zeiten, in allen Ländern

und auf allen Gebieten des Lebens

wuchert das Böse, und das Gute bleibt rar.

Voltaire

EINS

Das Wochenende war wie ein guter Wein gewesen. Es war wunderbar und hatte einen angenehmen Nachgeschmack. Das tiefe Blau der See, ein wolkenloser Himmel und das sanfte Streicheln einer leichten Brise hatten die Menschen verwöhnt. Auch die nächsten Tage versprachen eine Fortsetzung des traumhaften Wetters. Auf dem Satellitenbild wurde seit dem vergangenen Freitag das Hoch »Hannes« gezeigt, das sich fest über Mittel- und Nordeuropa festgesetzt hatte. »Hannes ist absolut unbeweglich«, hatte der Wetterfrosch Meeno im Fernsehen geunkt. »Und in seiner Dickfälligkeit wird er auch noch zum Wochenbeginn über uns lachen. Über der Biskaya wartet schon das nächste Hoch. Bei aller Diskussion zum Thema ›gendergerecht‹: In diesem Frühsommer dominieren ganz einfach die Männer.«

»Sag ich doch«, bestätigte Hauptkommissar Große Jäger und streckte den Daumen Richtung Fenster aus. Seine Bewegungen wurden heftiger, als sein Gegenüber nicht reagierte. »Was ist, Hosenmatz? Steckt in dir das Phlegma der gemütlichen Dänen? Das Blut deiner Vorfahren? Oder hat Oma dir geraten, dich bei den für euch Rot-Weiße fast schon tropischen Temperaturen von siebzehn Grad, und das in aller Herrgottsfrühe, nicht zu bewegen?«

Kommissar Mats Cornilsen lachte laut auf. »In aller Frühe? Es ist fast halb zehn. Du bist seit zehn Minuten im Büro. War das Wochenende sooo anstrengend?«

Große Jäger bewegte den Daumen noch heftiger. »Was ist nun?«

»Willst du rechts abbiegen?«

»Ich warte darauf, dass du endlich das Fenster öffnest.«

»Ich?«

Der Hauptkommissar drehte sich betont lässig einmal auf seinem Bürostuhl im Kreis. »Siehst du sonst noch jemand?« Dann wandte er Cornilsen, der ihm am Schreibtischblock gegenübersaß, den Rücken zu und sprach zum leeren Arbeitsplatz hinter sich.

»Mensch, Christoph. Wie haben sich die Zeiten gewandelt. Die Jugend erweist uns keinen Respekt mehr. Ich möchte wetten, der Hosenmatz steht auch im Bus nicht für uns Alte auf.«

Hinter ihm ertönte wieder ein Lachen. »Du? Im Bus? Ich könnte mir höchstens vorstellen, dass du dich in einer Sänfte durch Husum tragen lässt. Standardmäßig ist dein Mobilitätsplatz der Schlafsessel vorne rechts.«

Große Jäger faltete die Hände und streckte sie zur Zimmerdecke, verdrehte kunstvoll die Augen und klagte mit verstellter Stimme: »Oh Herr, lass Weisheit regnen über den nordfriesischen Nachwuchs. Lieber Christoph. Du hast auf Erden viel Gutes und Kluges bewirkt. Nun bezirzt du Petrus, dass er uns schon seit Jahren gutes Wetter beschert. Schicke bitte auch Einsicht und Vernunft dem jungen Mann in meinem Büro.«

Cornilsen stöhnte auf. »Ist ja gut. Ich öffne das Fenster.«

Sofort drang von draußen der Lärm der Poggenburgstraße ins Zimmer.

»Wir bekommen eine neue Hausnummer für die Dienststelle«, hatte Große Jäger vor Kurzem verkündet. »Dann ist das Polizeirevier Husum nicht mehr in der Poggenburgstraße 9.«

»Sondern?«

»221b.«

»Verstehe ich nicht.«

Große Jäger gab einen Zischlaut von sich. »So ist es mit Niebüller Abiturienten. In der Baker Street 221b residierte Sherlock Holmes.«

»Dann besteht keine Gefahr, dass wir umnummeriert werden. Was ist die Londoner Adresse gegen Poggenburgstraße 9?«

Jetzt wurden sie abgelenkt, als sich die Tür öffnete und Kriminalrat Mommsen eintrat.

»Moin«, sagte der Dienststellenleiter und baute sich vor den Schreibtischen auf. Die beiden Beamten erwiderten den Gruß. Mommsen erkundigte sich, ob das Wochenende gut verlaufen sei. Dann bestätigte er auf Nachfrage, dass er und sein Lebensgefährte Karlchen ebenfalls schöne Tage verbracht hatten. »Das gute Wetter hat offenbar auch andere animiert, zu feiern. Leider mit einem tragischen Ausgang. Am Sonnabendmorgen hat man einen toten Jugendlichen gefunden.«

»Davon haben wir noch nichts gehört«, warf Große Jäger ein.

»Richtig. Das wurde mit Rücksicht auf den Toten und dessen Familie bisher zurückgehalten.«

»Weiß man etwas über die Todesursache?«

»Der Jugendliche ist in der Kieler Rechtsmedizin.«

»Fremdeinwirkung?«

»Das ist unbestimmt.«

»Ein goldener Schuss?«

»Vielleicht«, wich Mommsen aus. »Es könnte aber auch sein, dass er sich zu Tode getrunken hat. Es gibt Anzeichen dafür.«

»Was haben wir damit zu tun?«

»Tja.« Mommsen hielt inne. »Es ergibt sich ein unklares Bild. Die Schutzpolizei war aufmerksam und hat Schleifspuren am Fundort entdeckt.«

»Das könnte bedeuten, dass er von seinen Saufkumpanen dorthin geschleppt wurde.«

»Denkbar«, erwiderte Mommsen.

»Wo hat man den Jungen gefunden?«

»Im Totengang, gleich neben dem Westfriedhof.«

»Wie sinnig«, merkte Große Jäger an.

»Nehmt euch der Sache an«, sagte Mommsen. »Name und Adresse bekommt ihr an der Wache.« Dann verließ er das Zimmer.

Sie suchten die »Wache« im Erdgeschoss auf und ließen sich den Vorgang geben. Die Polizei war am Sonntagmorgen um fünf Uhr zweiundvierzig von einem Zeugen angerufen worden. Der Triebfahrzeugführer war auf dem Weg zum Dienst gewesen. Er hatte angegeben, in Husum den Regionalexpress nach Kiel übernommen zu haben und auf dem Weg zum Einsatz auf die leblose Gestalt getroffen zu sein. Er dachte, ein betrunkener Jugendlicher schlafe dort seinen Rausch aus. Die Nacht sei nicht kalt gewesen, und außer einer Erkältung werde dem jungen Mann nichts geschehen sein. Der Mann berichtete, dass er schon ein paar Meter vorbeigegangen sei, sich dann aber doch noch einmal umgedreht habe, um nach dem Hilflosen zu sehen. Da der nicht ansprechbar war, hatte er die Polizei gerufen und seinen Namen hinterlassen. Nach zehn Minuten war der Rettungswagen eingetroffen. Der Zeuge hatte sich dann zum Dienst begeben und noch angemerkt, dass es sonst hieße: Der Regionalexpress nach Kiel fällt heute aus, weil der Lokführer einen Betrunkenen gefunden hat.

Die Besatzung des Husumer Rettungswagens und der hinzugezogene Notarzt hatten den Tod des Jugendlichen festgestellt. Der Polizeistreife waren einige Merkwürdigkeiten, unter anderem die Schleifspuren, aufgefallen. Sie hatten die Bereitschaft der Kripo hinzugerufen. Hauptkommissar Hundt, der zum Fundort geeilt war, teilte ihre Auffassung und informierte die Flensburger Spurensicherung.

»Das ist alles«, erklärte der Uniformierte. »Die Eltern sind benachrichtigt.«

»Gibt es schon weitere Hinweise?«, wollte Große Jäger wissen.

»Mir beziehungsweise uns ist nichts bekannt. Der Fall liegt bei euch.«

»Der blöde Hundt«, knurrte Große Jäger und eilte, gefolgt von Cornilsen, in das Büro des Kollegen. Der Raum war verwaist, der Schreibtisch aufgeräumt, der Bildschirm dunkel.

»Wo steckt dieser Mischling zwischen Dackel und Dogge?«, fauchte der Hauptkommissar und bellte griesgrämig.

Mommsen sah auf, als Große Jäger ins Büro stürmte.

»Wo ist die Kröte? Das Kamel? Das Faultier? Äh …« Große Jäger wedelte wild mit der Hand in der Luft herum. »Irgend so ein Tier meine ich.«

»Wilderich!« Es war ein Ordnungsruf. »Ich dulde diesen Umgang nicht unter den Kollegen der Dienststelle. Herr Hundt ist seit Sonntag im Urlaub.«

»Dem sollte man auf Lebzeiten das Frolic entziehen. Verdrückt sich der Kerl in ein Hundehotel und hinterlässt uns einen ungeordneten Haufen.«

»Er hat alles in seiner Macht Stehende angeleiert.«

»Das ist schon ein Leierkastenmann. Ich weiß.« Wutschnaubend drehte Große Jäger sich um und kehrte zu seinem Arbeitsplatz zurück. Er ließ sich in seinen Bürostuhl fallen, dass das Möbel bedenklich knarrte. Dann zeigte er auf Cornilsen. »Ein Fall für dich.«

»Für uns«, erwiderte der Kommissar.

Große Jäger bohrte sich im Ohr, betrachte kurz die Ernte und sagte: »Ich habe Hochdeutsch gesprochen. Es wird Zeit, dass du einmal allein deine Dienstbezüge verdienst. Gut, damit du dich nicht verläufst, begleite ich dich.«

Cornilsen sah ihn einen Moment irritiert an, dann machte er sich mit Feuereifer ans Werk.

»Jan Behrendsen, fünfzehn Jahre«, sagte er. »Wohnt mit seinen Eltern in der Mozartstraße.«

Große Jäger sah ihn fragend an.

»Suchen wir sie auf.«

Die Mozartstraße lag in einem ruhigen Wohnbezirk, in dem die Straßen nach berühmten Komponisten benannt waren. Die für Husum typischen Rotklinkerhäuser säumten die schmalen Straßen. Die Familie Behrendsen bewohnte ein älteres Giebeldachhaus. Sie fanden direkt davor einen Parkplatz.

Es dauerte nur einen Moment, bis die Tür geöffnet wurde. Eine rundliche Frau öffnete ihnen und sah sie fragend an.

»Frau Behrendsen?«, wollte Cornilsen wissen.

Sie schüttelte den Kopf. »Hammer ist mein Name. Ich wohne da drüben.« Sie zeigte an den Beamten vorbei in eine unbestimmte Richtung. »Nachbarin. Nein. Wir sind befreundet.«

»Polizei. Wir würden gern mit den Eltern sprechen.«

»Die sind drin. Komm Sie mit.« Sie fragte nicht nach dem Ausweis.

Das schlichte Wohnzimmer war von einer ordnenden Hand liebevoll dekoriert worden. Keine teuren Designermöbel, die Einrichtung stammte erkennbar aus einem Großmarkt. Die Sitzmöglichkeiten waren auf den großen Fernsehapparat ausgerichtet, der den Raum dominierte. Auf dem Glastisch unterhalb des Bildschirms stapelten sich elektronische Geräte. Decoder. Rekorder. Spielekonsole. Kopfhörer. Fernbedienungen.

Die Bewohner waren sicher mit den Laufwegen in dem engen Raum vertraut und fanden ohne Mühe den Zugang zum Esstisch, der mit einer Stirnseite gegen die Wand gestellt war. Um die anderen drei Seiten waren fünf Stühle gruppiert. Auf dem Tisch standen drei Kaffeebecher. Der Aschenbecher war zur Hälfte gefüllt. Eine Katze, die sich auf dem Sofa zusammengerollt hatte, hob träge den Kopf, begutachtete die Neuankömmlinge und setzte dann die Fellpflege fort.

Am Tisch saß ein Paar. Große Jäger schätzte die beiden auf um die vierzig. Der Mann trug ein T-Shirt. Auf der Unterseite der stark behaarten Arme hatte er sich Tattoos stechen lassen. Die rotblonden Haare waren kurz geschnitten. Die stämmige Frau war mit einem leichten Pullover bekleidet, der nur zum Teil in die Jeans gestopft war. Ihre blonden Haare waren ungekämmt. Das Gesicht war gerötet, die Augen verquollen.

»Das sind die Eltern«, erklärte Frau Hammer. »Die beiden sind von der Polizei«, stellte sie die Beamten vor.

Große Jäger nickte Cornilsen aufmunternd zu. Der junge Kollege schluckte heftig. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab.

»Wir kommen von der Husumer Polizei«, begann Cornilsen und senkte die Stimme, bevor er kaum hörbar »Unser aufrichtiges Beileid« anfügte. »Können Sie uns noch ein paar Fragen beantworten?«

In der Aufregung hatte er es versäumt, sich und Große Jäger namentlich vorzustellen.

Torsten Behrendsen nickte kaum merklich. Seine Frau vermied es, die Polizisten anzusehen.

»Ich seh mal in die Küche«, sagte die Nachbarin Hammer und zog sich diskret zurück.

»Dürfen wir uns setzen?«, fragte Große Jäger.

Behrendsen deutete mit einer Geste sein Einverständnis an. Die Beamten nahmen gegenüber dem Ehepaar Platz.

»Hat Ihr Sohn gesagt, mit wem und wo er am Freitag feiern wollte?«, begann Cornilsen.

»Jan war bei Freunden. Die haben öfter zusammen abgehangen. Was machen die jungen Leute mit fünfzehn sonst?«, fragte der Vater sich selbst.

»Kennen Sie die Namen?«

»Meistens aus seiner Klasse. Er geht in die Achte zur Ferdinand-Tönnies-Schule in der Flensburger Chaussee.«

»Die Gemeinschaftsschule«, ergänzte Cornilsen. »Mit wem hat sich Ihr Sohn in der Freizeit getroffen?«

»Dörte?« Behrendsen stieß seine neben ihm sitzende Frau sanft an.

Die Mutter zuckte zusammen, als wäre sie aus einer Trance erwacht.

»Wie? Was?«, fragte sie irritiert. »Das ist unterschiedlich. Wir wohnen schon immer in Husum. Die Kinder sind hier groß geworden. Jan und seine beiden Brüder.«

»Die sind bei meinen Schwiegereltern in Viöl«, schob Behrendsen dazwischen.

»Meine Eltern wohnen in …«, begann seine Frau und erklärte umständlich, wo sich das Haus der Eltern in dem aufstrebenden ländlichen Zentralort an der Straße nach Flensburg befand.

»Sie wollten sagen, mit wem Jan oft zusammen war«, erinnerte Cornilsen sie, nachdem sie ihre Erklärung abgeschlossen hatte.

»Das sind einige. Benedikt. Alexander. Amir. Emre. Pascal.«

»Hat er gesagt, mit wem er am Freitag verabredet war?«

Herr Behrendsen schüttelte den Kopf. »Wir haben am Abend, als er um neun noch nicht zu Hause war, die Freunde abtelefoniert. Er hatte sich nachmittags mit Emre und Pascal getroffen. Die waren an der Kleikuhle. Pascal ist dann zu einem anderen Freund. Allein. Jan und Emre haben noch ein wenig an der Tine rumgehangen. Emre sagte, er ist gegen halb neun nach Hause, weil Jan sagte, er hätte noch etwas vor.«

»Was?«, wollte Cornilsen wissen.

»Das wissen wir nicht. Das hat er auch Emre gegenüber verschwiegen. Emre war ein bisschen sauer, weil Jan so geheimnisvoll tat. ›Hast du eine Tusse aufgerissen?‹, wollte Emre wissen. Aber unser Sohn hat geschwiegen.«

»Hat Jan sich nicht zwischendurch gemeldet? Eine SMS geschickt?«

»Dörte?« Erneut stieß Behrendsen seine Frau an.

»SMS ist out. Wenn, dann hätte er eine WhatsApp geschickt. Aber Freitag … Da war nichts. Ich habe ihn mehrfach angemorst, aber keine Antwort erhalten.«

»Kam das öfter vor?«

»Jan war kein Baby mehr«, antwortete der Vater. »Wir haben ihm Freiheiten gelassen. Die hat er aber nicht ausgenutzt. Klar – es kam schon vor, dass er nicht zur vereinbarten Zeit zu Hause war. Aber so einfach weggeblieben … Nein, eigentlich nicht.«

Cornilsen räusperte sich. »Hat Jan Drogen genommen? Alkohol getrunken?«

»Nein«, protestierte der Vater heftig. »Das gibt es in unserer Familie nicht.« Automatisch griff er zur Zigarettenpackung und zündete sich einen Glimmstängel an.

»Darf ich?«, fragte Große Jäger und folgte Behrendsens Beispiel, nachdem er keine Antwort erhielt.

Die Mutter sagte etwas.

»Bitte?«, fragte Große Jäger, weil es fast lautlos über die Lippen der Frau kam.

»Wir haben ihm Vorhaltungen gemacht, aber es kam schon mal vor, dass die Jungs gekifft haben.«

»Ein- oder zweimal«, wiegelte der Vater ab.

»Und Alkohol?«

»Na ja. Die Jungs sind neugierig. Die haben es sicher schon einmal probiert. Ein Bier. Oder zwei.«

»Und härtere Sachen?«

»Bestimmt nicht. Nicht in dem Alter.«

»Du bist ein schlechtes Beispiel«, sagte Frau Behrendsen.

»Wie kommst du darauf? Ich trinke abends mein Feierabendbier. Mehr nicht. Das kann ich mir gar nicht leisten.« Er zeigte mit dem Daumen zur Zimmerwand. Hinter dem kleinen Wäldchen befand sich die Julius-Leber-Kaserne, in der das Spezialpionierregiment 164 »Nordfriesland« beheimatet war.

»Sie sind Soldat?«

Er schüttelte den Kopf, nachdem er einen tiefen Zug an seiner Zigarette genommen hatte. »Ich bin Kfz-Meister. Ziviler Angestellter bei der Bundeswehr.«

»Mein Mann will nicht zugeben, dass er für Jan ein schlechtes Vorbild ist.« Frau Behrendsen wedelte mit der Hand. »Und für die beiden Jüngeren auch. Du mit deiner verdammten Qualmerei.«

»Das lernen die da draußen«, behauptete Behrendsen.

»Ach was. Er sieht es doch bei seinem Vater.«

Bevor die eheliche Auseinandersetzung eskalierte, mischte sich Große Jäger ein. »Sind Sie auch berufstätig?«

»Ja«, bestätigte sie. »Ich arbeite dreißig Stunden in der Woche in einer Husumer Steuerkanzlei. Ich bin Steuerfachgehilfin. Ein Einkommen reicht nicht bei drei Kindern. Der Bund zahlt nicht übermäßig viel. Da tun ein paar zusätzliche Euro gut.«

»Nun glauben Sie aber nicht, dass unsere Kinder deshalb vernachlässigt werden. Anita – also Frau Hammer – wirft einen Blick darauf, wenn Dörte arbeiten ist.«

Cornilsen versuchte es auf unterschiedliche Weise, dem Ehepaar zu entlocken, wo sich ihr Sohn am Freitag aufgehalten haben könnte. Gab es doch noch andere Freunde? Ein Mädchen?

»Nein«, sagte der Vater entschieden. »Jan ist sehr engagiert im Handball. Er spielt beim TSV Mildstedt.« Dann entstand eine längere Pause. »Was soll nun werden?«, fragte Behrendsen zum Abschied.

»Sie werden von uns hören«, wich Cornilsen aus.

Die Mutter fing an zu weinen. »Jan – man hat ihn nach Kiel gebracht?«

Cornilsen nickte stumm.

»Ihn da aufgeschnitten?«

Der Kommissar suchte nach den richtigen Worten. Große Jäger sprang für ihn ein. »Es gibt ein vorgeschriebenes Verfahren«, sagte er. »Wir alle, Sie eingeschlossen, möchten gern wissen, was vorgefallen ist. Das Prozedere gibt uns Gewissheit.«

»Stimmt es, dass Jan betrunken war? Die Polizisten, die am Sonnabendmorgen hier waren, haben so etwas angedeutet«, hakte Frau Behrendsen nach.

»Sie werden informiert, sobald ein Ergebnis vorliegt.«

Die Frau schlug die Hände vors Gesicht und begann hemmungslos zu schluchzen. »Jan, unser Sohn. Er war doch erst fünfzehn«, wiederholte sie mehrfach, während Frau Hammer aus der Küche auftauchte und die Beamten zur Tür geleitete.

»Das war der erste Eindruck der Streife«, sagte Große Jäger auf dem Weg zum Auto. »Die Kollegen glauben, dass Jan Behrendsen völlig betrunken gewesen war. Wir müssen das Ergebnis der Rechtsmedizin abwarten. Jetzt fahren wir zu der Stelle, an der man den Jungen gefunden hat.«

Cornilsen musterte Große Jäger von der Seite, als sie im Auto saßen.

»Vorhin hattest du ein Stoßgebet zum Himmel geschickt, dass es über die Jugend Weisheit regnen soll. Es sieht so aus, als wäre das notwendig.«

»Mal ehrlich. Davon haben wir beide auch nicht viel abbekommen.«

Große Jäger strich sich versonnen über seinen Schmerbauch, der die Gürtelschnalle der Jeans verdeckte. Man musste gutwillig sein, um ihren Zustand als »gebraucht« zu bezeichnen. Die fleckige Lederweste mit dem Einschussloch und das Holzfällerhemd schienen mit ihm verwachsen zu sein. Sein Humorverständnis hatte einmal seine Grenze erreicht, als Cornilsen ihm kondolierte und auf seine irritierte Nachfrage darauf hinwies, dass der Hauptkommissar Trauer unter den Fingernägeln trug. Der Zahn der Zeit nagte auch an Große Jäger. Die Stoppeln der »Unrasur«, wie Cornilsen den Schimmer auf den Wangen seines Gegenübers nannte, waren ebenso wie ein Teil der Haarsträhnen von einem leichten Silbergrau durchzogen. Das nahm ein wenig von dem fettigen Glanz der ungewaschenen Haare. Große Jäger hätte sich mit Sicherheit in der Zeit Ludwigs XIV. wohlgefühlt, als man die Körperhygiene nicht mit Wasser und Seife, sondern mit Puder vollzog.

»Totengang« lautete der Name einer kleinen Stichstraße, die von der Nordbahnhofstraße zum idyllischen Westfriedhof führte, der »Hinter der Neustadt« lag. Auch dieser Name bezeichnete eine Straße, die durch ein Absperrgitter vom Totengang abgegrenzt wurde. Während auf einer Straßenseite ein paar Gewerbehinterhöfe lagen, war die linke Seite mit einem modernen Rotklinkergebäudekomplex bebaut, an dessen südlichem Ende sich ein Kinderspielplatz anschloss. Ein Drahtzaun bildete die Abgrenzung zum mit liebevoller Hand gestalteten und gepflegten Friedhof.

»Das ist hier nachts ziemlich trist«, stellte Große Jäger fest und musterte die Abfallcontainer, die sich seitlich des Wohnkomplexes befanden. Eine Handvoll Spielgeräte auf einer Sandfläche möblierte ein etwas armseliges Areal. Kindern mochte es zum Toben ausreichen. Für die Erwachsenen waren Bänke aufgestellt. Große Jäger zeigte auf die hintere. »Da hat man Jan Behrendsen abgelegt.« Er sah sich um. »Wie kommt man hierher? Entweder mit dem Auto von der einen Seite in den Totengang oder von der anderen Seite bis zum Friedhof.«

»Was macht es für den Saufkumpan für einen Sinn, die Leiche …«

»Vielleicht war er noch nicht tot«, warf Große Jäger ein.

»Was macht es für einen Sinn, den Betrunkenen mit dem Auto hierherzubringen?«

»Wenig. Es wäre denkbar, dass das Saufgelage in der Nähe stattgefunden hat. In einem der Häuser? Hier ist alles ruhig und bürgerlich. Das hätten Nachbarn mitbekommen. In der Parallelstraße, der Neustadt, gibt es Kneipen und Spelunken. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass man sich dort betrunken hat.«

»Gut.« Cornilsen zog die Stirn kraus. »Wenn jemand volltrunken ist und es ihm nicht gut geht, ruft man den Notarzt. Weshalb legt man den Hilfsbedürftigen hier ab?«

»Er war minderjährig. Das könnte unangenehm für den Gastwirt werden, wenn das Besäufnis in einem solchen Etablissement stattgefunden hat. Ich kenne mich hier ganz gut aus und habe Kontakte. Die werde ich heute Abend nutzen. Wie willst du vorgehen?«

»Ich?« Cornilsen war für einen Moment sprachlos. Er sah zu den Wohnhäusern. »Ich werde die Anwohner befragen. Die Leute müssen etwas gehört haben, wenn es dort stattfand. Oder junge Leute haben sich auf dem Spielplatz getroffen. Aber auch das hätten die Nachbarn bemerkt. In einem solchen Fall wären außerdem Spuren hinterlassen worden. Flaschen. Dosen. Zigarettenkippen und so weiter. Ich prüfe das.«

Große Jäger nickte zustimmend.

»Ich bringe dich zur Dienststelle. Dann fahre ich zur Schule und spreche mit den Lehrern und den Mitschülern.«

»Mach weiter so, Hosenmatz«, sagte der Hauptkommissar anerkennend und ließ sich in der Poggenburgstraße absetzen.

Dort erwartete ihn bereits Mommsen.

»Wir sind am Ball«, sagte Große Jäger ungnädig. »Wir können viel, aber nicht hexen.«

»Dessen bin ich mir bewusst. Es geht um etwas anderes, ein anderer Fall. Du könntest Cornilsen einmal allein auf etwas ansetzen«, schlug der Kriminalrat vor.

Große Jäger erzählte, dass dies auch ohne »väterlichen Rat« seitens des Vorgesetzten geschehen war. »Um was geht es jetzt? Körperverletzung, nachdem jemand beim Friseur in den Spiegel gesehen hat?«

»Eine Vermisstensache. Eine Frau ist verschwunden.«

»Und nun will der Ehemann einen ausgeben, damit wir sie nicht suchen?«

Mommsen ging nicht darauf ein.

»Karin Amundsen ist vierundsiebzig Jahre, alleinstehend. Sie wohnt in der Ludwig-Ohlsen-Straße.«

Große Jäger wiederholte den Straßennamen und zog eine Augenbraue in die Höhe. »Wo ist das?«

»Eine kleine Nebenstraße, die von der Flensburger abgeht, parallel zur Mommsenstraße.«

Große Jäger stach dem Kriminalrat mit dem Zeigefinger in die Brust. »Klar, dass du weißt, wo das ist. Okay. Ich kümmere mich darum. Wer hat die Anzeige aufgegeben?«

»Eine Nachbarin. Eggers.«

Der Hauptkommissar beschloss, mit seinem Privatwagen zu fahren, nachdem Mommsen versichert hatte, dass das Dienstrad zurzeit in Benutzung sei.

Husum war eine bedeutende Garnisonsstadt. Neben der Julius-Leber-Kaserne, in der Torsten Behrendsen beschäftigt war, gab es die traditionsreiche Fliegerhorstkaserne. Seit Langem war das dort beheimatete Jagdbombergeschwader Geschichte. Heute beherbergte der Fliegerhorst das einzige Flugabwehrraketengeschwader der Bundeswehr, das den stolzen Namen »Schleswig-Holstein« trug. Westlich des Areals verlief die Spielstraße Ludwig-Ohlsen-Straße. Lang gestreckte Mehrfamilienhäuser, in denen früher viele Bundeswehrangehörige wohnten, zogen sich entlang der Straße mit dem vielen Grün. Inmitten des schmalen Fahrwegs stoppten begrünte Inseln zusätzlich den Verkehrsfluss. Die Wohnungen waren nicht groß, die dunklen Klinkerhäuser älter. Wollte man es plakativ beschreiben – hier war die Welt noch in Ordnung.

Husum war die kleine Stadt mit dem großen Herzen. Oder die der kurzen Wege. Dummer Schnack, dachte Große Jäger. Schließlich hatte man den Bahnhof weit außerhalb gebaut. Es waren glatte fünfhundert Meter bis ins Zentrum.

Große Jäger klingelte bei Amundsen und war überrascht, dass der Türsummer ertönte. Auf dem Absatz in der ersten Etage erwartete ihn eine grauhaarige Frau.

So lösen sich die Probleme, dachte er zufrieden. »Moin, Frau Amundsen.«

»Eggers«, widersprach sie. »Ich bin Frau Eggers. Die Nachbarin. Karin – äh, Frau Amundsen – wohnt da.« Sie zeigte auf die andere Wohnungstür.

»Ich komme von der Polizei«, sagte Große Jäger schnaufend.

»Echt?«

Nee, unecht. Und wenn die Nachbarin öffnete, schien das Problem noch existent zu sein. »Sie haben eine Vermisstenanzeige aufgegeben?«

»Richtig. Ich bin deshalb extra bis zur Polizei. Die ganze Strecke mit dem Fahrrad. Ist ’ne ordentliche Ecke.«

»Seit wann vermissen Sie Frau Amundsen?«

»Hab ich doch gesagt. Seit gestern.«

»Hm. Kann sie verreist sein?«

»Karin? Nö. Wohin denn? Sie hat doch keinen.«

»Familie? Kinder? Freunde?«

»Sag ich doch. Da is nix mit popeliger Verwandtschaft. Gibt irgendwo ’ne Schwester. Aber da hat sie kein Kontakt zu. Kinder hatte sie viele.«

»Wo wohnen die?«

Frau Eggers lachte herzhaft. Dabei verrutschte ihr das Gebiss ein wenig. Gekonnt schob sie es mit der Zunge zurecht. »Wer soll die alle kenn? Karin war doch Kindergärtnerin bei der AWO

»In der Kurt-Pohle-Kita?«

»Ja. Kennen Sie die? Ist super. Sie hat da manchmal noch Vertretung gemacht. Eigene Görn … Nee. Da war nix. Sie hat ja auch kein Kerl gehabt.«

»Freunde?«

»Ja. Mich. Wir sind man nicht nur Nachbarn.«

»Und andere Freunde? Bekannte?«

»Bin ich nich gut genug?« Ein Hauch Empörung schwang bei der Antwort mit. »Also. Einmal im Monat sind wir zum Kaffeeklatsch nach Jacquelines Café. Wissen Sie, wo das ist?«

Große Jäger nickte.

»Da komm noch ein paar andere alte Schachteln dazu. Aber sonst? Nee. Da is nix.«

»Wie ist Ihnen aufgefallen, dass Frau Amundsen abwesend ist?«

»Wir wohn doch Wand an Wand. Seit ewig. Und gestern hab ich nix gehört. Sonst rumort es doch in der Wohnung. Bad, Küche und so.«

»Und dann?«

»Zuerst hab ich geklingelt. Und als sich nichts rührte, bin ich rüber.«

»Sie haben einen Schlüssel?«

»Selbstverständlich.«

»Ist Ihnen etwas aufgefallen? Hatte Frau Amundsen Besuch?«

»Von wem denn? Das hätte ich gehört, junger Mann.« Sie maß ihn mit einem abschätzenden Blick. »Na ja, so ganz jung sind Sie ja auch nicht mehr.«

»Können wir einen Blick in die Wohnung werfen?«

»Sicher.« Sie bewegte den Zeigefinger hin und her. »Aber keine Unordnung machen. Ich pass auf.« Sie verschwand in ihrer Wohnung und vergaß auch nicht, die Tür hinter sich zu schließen. Kurz darauf tauchte sie wieder auf und öffnete die Nachbarwohnung.

Im kleinen Flur war eine Garderobe angebracht. Dort hingen ein leichter Sommermantel, eine dünne Jacke und ein Leinenbeutel.

»Den hat Karin immer dabei, wenn sie einkaufen ist. Sie geht nicht ohne den. Eher vergisst sie ihr Portemonnaie.«

In einem Messingständer fanden sich zwei Regenschirme. Große Jäger wollte eine geschlossene Tür öffnen, als ihn Frau Eggers am Ärmel zupfte.

»Muss das sein? Das ist Karins Schlafzimmer.«

»Wir werden sie sicher nicht im Negligé erwischen«, erwiderte Große Jäger.

Der Raum war klein. Das Bett aus Birnbaum war gemacht. Auf dem Nachttisch standen eine Leuchte und ein elektrischer Wecker. Daneben lag ein aufgeschlagenes Buch.

»Sie liest leidenschaftlich gern Krimis«, erklärte Frau Eggers. »Am liebsten welche von hier.«

Der Hauptkommissar öffnete den Kleiderschrank. Im Inneren befand sich das, was man bei einer Frau ihres Alters erwarten durfte. Ihn interessierte aber mehr, ob es Lücken oder leere Kleiderbügel gab. Das schien nicht der Fall zu sein. Auf dem Schrank lag ein Koffertrolley.

»Wissen Sie, ob Frau Amundsen noch anderes Reisegepäck hat?«

»Soweit ich weiß … Nee. Warum auch? Sie ist ja fast nie verreist. Und wenn, dann für ein paar Tage. Mit unserer Tratschtruppe vom Café. Sie wissen schon«, fügte sie an. »Da hat sie ihre paar Sachen immer in dem Ding da gehabt.«

Es sah nicht aus, als sei die Frau verreist. Große Jäger durchsuchte das Badezimmer. Hier fanden sich Zahnbürste und Zahnpasta und ein paar Kosmetika. An der Wand war ein kleiner Wäschetrockner befestigt. Dort hingen drei rosafarbene Damenschlüpfer, die auch mit viel Phantasie nicht mehr als Reizwäsche durchgehen würden. Frau Eggers bemerkte Große Jägers Blick und kommentierte es mit einem »Ohhh«. Dabei hielt sie sich die Hand vor den Mund.

Im Wohnzimmer gab es einen kleinen Esstisch mit zwei Stühlen, ein bequemes Sofa und einen niedrigen Couchtisch. Auf der Fensterbank mit den Wolkenstores standen Blumentöpfe. Ein Tulpenstrauß war in einer Glasvase arrangiert und schmückte den Esstisch, auf dem eine weiße Decke mit bunten Blumenranken in Kreuzstickerei lag. Ein zweiter bunter Blumenstrauß stand auf dem Couchtisch. Daneben die aufgeschlagene Fernsehbeilage der Husumer Nachrichten und eine Lesebrille. Große Jäger warf einen Blick auf die Zeitung. Es war das Sonntagsprogramm.

Frau Eggers schien alles genau zu registrieren. »Was sollen ältere Menschen wie wir sonst machen? Fernsehen. Sonntags hatte Karin nie Zeit. Da war sie immer unsicher, ob sie ›Tatort‹ oder den Film im Zweiten sehen soll. Beides geht ja nicht.«

»Man könnte eines original ansehen und das andere aufzeichnen«, schlug Große Jäger vor.

»Ach nö«, winkte Frau Eggers ab. »Das ist zu viel Technik.«

Alles wirkte aufgeräumt und sauber. Als Letztes warf er einen Blick in die Küche. Auf der Arbeitsfläche lag ein Brettchen aus Kunststoff, auf dem sich zwei Scheiben Schwarzbrot wellten. Daneben standen eine Plastikdose mit einem angebrochenen Klotz Butter, ein Glas Erdbeermarmelade und ein Glas Honig. In die Kaffeemaschine war Wasser gefüllt, von der Dose mit dem Kaffeepulver war der Deckel abgenommen.

»Sie hat sich gerade Frühstück gemacht«, meinte Große Jäger.

»Spannend, was so ein Detektiv alles sieht«, staunte Frau Eggers. »Ja, so war das jeden Morgen. Ich glaube, seit dreißig Jahren gibt es bei Karin zwei Scheiben Brot. Eine mit Honig, eine mit Marmelade. Dazu einen großen Pott Kaffee. Koffeinfrei.«

Wieso verschwand jemand, der sich gerade das Frühstück zubereitete? Bei der Akkuratesse, mit der die Wohnung aufgeräumt und gepflegt war, würde Karin Amundsen das angefangene Frühstück nicht so stehen lassen.

»Als Sie feststellten, dass Ihre Nachbarin sich nicht meldet, sind Sie in diese Wohnung gegangen?«

»Klar. Ich hatte dabei ordentlich Herzpochen. Hoffentlich liegt sie da nicht irgendwie herum, habe ich gedacht.«

»War die Wohnungstür abgeschlossen?«

»Natürlich stand sie nicht offen.«

»Ich meine, ob das Schloss ein- oder zweimal herumgedreht war.«

»Nein, weshalb auch? Das hat sie immer nur nachts gemacht. Oder wenn sie weg war. Aber wenn sie hier war, dann hat sie nicht abgeschlossen.«

Merkwürdig. Es gab keine Anzeichen dafür, dass Karin Amundsen geplant die Wohnung verlassen hatte, schon gar nicht für eine Reise. Alles deutete auf einen überhasteten Aufbruch hin. Große Jäger ließ sich noch einmal den Keller und die anderen Gemeinschaftsräume zeigen.

»Da hab ich gar nicht dran gedacht«, sagte Frau Eggers erschrocken. »Wenn sie in Keller gegangen ist und da ’nen Herzkasper gekriegt hat. Mein Gott.«

Diese Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht.

»Suchen Sie Karin nun?«, wollte die Nachbarin zum Abschied wissen.

Große Jäger ließ sich noch den Namen des Hausarztes geben. Dann fuhr er zur Dienststelle zurück.

Seine Rückfrage im Husumer Krankenhaus ergab, dass die Frau dort nicht bekannt war. Auch der Rettungsdienst hatte keinen entsprechenden Einsatz zu verzeichnen.

Beim Hausarzt stieß er auf Widerstand. Der Mediziner wollte nicht einmal bestätigen, dass Karin Amundsen seine Patientin war.

Zwei Stunden später kehrte Cornilsen zurück. An seinem Gesichtsausdruck war erkennbar, dass seine Mission nicht von Erfolg gekrönt gewesen war. Der Kommissar berichtete, dass Jan Behrendsen in der Schule als unauffälliger Schüler galt. Er »schwamm mit«, hatte es der Klassenlehrer genannt. Seine Leistungen waren durchschnittlich. Im sozialen Umgang war er unproblematisch. Man wusste nichts von Exzessen in Sachen Drogen oder Alkohol. Rauchen – ja, das war leider ein Übel, auf das man ihn hingewiesen hatte. Erfolglos. Cornilsen hatte auch mit den Mitschülern gesprochen. Sie hatten das bestätigt, was ihnen die Eltern berichtet hatten. Jan habe – soweit bekannt – keine anderen Kontakte gepflegt. Sicher. Man kannte sich in dieser Altersgruppe in Husum. Zumindest zum großen Teil. Die Jungen waren auch gelegentlich »durch die Gemeinde gezogen«. Emre hatte gestanden, dass man auch schon einmal eine Flasche Bier geleert habe. Betrunken sei dabei keiner gewesen. Das hätte bei ihm zu Hause Zoff gegeben, hatte Emre erklärt und Cornilsen angefleht, es unter keinen Umständen seine Eltern wissen zu lassen. Aber am Freitag … Nein. Da gab es keinen Alkohol. Und niemand wusste, mit wem sich Jan Behrendsen noch getroffen haben könnte.

Auch die Befragung der Bewohner am Totengang hatte keine Ergebnisse gebracht. Cornilsen war sich sicher, dass das Besäufnis dort nicht stattgefunden hatte. Mit Sicherheit hätten die Nachbarn es sonst bemerkt. Ein Mieter hatte ausgesagt, er habe nachts ein Auto gehört und sei davon wach geworden. Er habe nur das Motorengeräusch vernommen. Sonst nichts. Der Mann sagte, er sei zu träge gewesen, um aufzustehen und aus dem Fenster zu sehen. Weshalb auch?

»Es ist noch ungeklärt, wo sich Jan Behrendsen betrunken hat«, schloss Cornilsen seinen Bericht. »Und mit wem.«

Große Jäger nutzte seinen Kontakt zu den Husumer Nachrichten, um dort einen kurzen Bericht über das Verschwinden der vierundsiebzigjährigen Karin A. zu platzieren. Er gab eine kurze Personenbeschreibung durch und bat um den Hinweis, dass man sich an die örtliche Polizei wenden solle. Die restlichen Stunden verbrachten die beiden Beamten am Schreibtisch.

Cornilsen stand zwischendurch einmal auf und zeigte auf den für Große Jäger unsichtbaren Bildschirm. »Wir haben einen neuen Fall, dass sich ein Anrufer bei einer Seniorin gemeldet und als falscher Polizist ausgegeben hat. Zum Glück erfolglos. Das wäre eigentlich eine Aufgabe für dich. Du bist dieser Generation doch wesentlich näher als ich.«

Große Jäger hatte mit einem Knurrlaut geantwortet.

»Spare dir das für den Kollegen Hundt«, hatte Cornilsen erwidert.

ZWEI

Wetterfrosch Meeno hatte recht behalten. Hoch Hannes wollte nicht weichen. Für den Tag waren sechzehn Stunden Sonne angekündigt. Hier, im »Echten Norden«, wie der Slogan des Landes lautete, hatte der Tag eine Länge von mehr als siebzehn Stunden.

»Du bist wohl auch erst nach Sonnenuntergang zu Hause gewesen«, begrüßte Cornilsen seinen Kollegen, nachdem er auf das »Moin« keine Antwort erhalten hatte. Er wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum, rümpfte die Nase und meinte: »Puuuh. Warst du zu einer Brauereibesichtigung?«

»Ich habe gearbeitet, während Oma dir deine Gutenachtgeschichte vorgelesen hat. Und wenn noch einmal so ein Spruch kommt, darfst du eine Woche den Kollegen von der Wache bei der Ablage helfen.«

»Ist ja gut. Man muss auch das Positive sehen. Du wirst heute gesund leben und nicht rauchen.«

»Wie kommst du darauf?«, wollte Große Jäger wissen.

»Bei dem Alkoholgehalt in deiner Atemluft gäbe es sofort eine Explosion.«

»Wenn ich nicht wüsste, dass du in Niebüll Abitur gemacht hast, könnte man vermuten, du hast in der Schule Chemie gehabt. Aber in Niebüll macht man die Reifeprüfung in den Pflichtfächern gregorianischer Gesang und Über-den-Deich-Blinzeln.«

»Na und? Immerhin gibt es da noch eine Prüfung. In Nottuln hat man dir das Abitur nach fünf Jahren Anwesenheit geschenkt.«

»Geht nicht. Dort gibt es kein Gymnasium.«

»Siehste. Kommt das Abitur da per Post?«

Große Jäger parkte die Füße in der Schreibtischschublade. »Hol mir mal ’nen Kaffee.«

»›Hol mir mal ’ne Flasche Bier‹ heißt das. Außerdem bist du kein Ex-Kanzler.«

»Das Einzige, was mir dazu fehlt, sind fünf Ehefrauen. Nun sieh zu, dass du mit dem Kaffee anrückst.«

Cornilsen verschwand und kehrte mit einem Becher des dampfenden Heißgetränks zurück.

Große Jäger setzte das Gefäß an und nahm einen Schluck. Er begann gleichzeitig zu husten, fluchte und japste nach Luft. »Verdammt«, keuchte er, »das Zeug ist so heiß, dass das ein Brandanschlag auf einen Vorgesetzten ist.«

»Das passt doch zu dir. Alles andere wäre kalter Kaffee.«

Nach einem mühsam heruntergeschluckten halben Becher berichtete Große Jäger von seinen abendlichen Erkundigungen in den Kneipen der Neustadt. Die Straße führte unweit des Fundorts von der sehenswerten Flaniermeile zum Kreishaus.

»Ich kenne mich dort aus«, versicherte der Hauptkommissar. »Jan Behrendsen ist da nicht aufgetaucht. Das hätte man mir nicht verschwiegen. Es bleibt also weiterhin rätselhaft, wo sich der Junge betrunken hat. Kein Wirt hätte es gewagt, mich zu belügen, weil er weiß, dass ich es sonst von einem der Gäste erfahren hätte.«

Große Jäger lehnte sich im Bürostuhl zurück und rief die Kieler Rechtsmedizin an. Er wurde mehrfach verbunden, bis er Dr. Diether am Apparat hatte.

»Sie sprechen undeutlich«, beklagte sich Große Jäger.

»Das liegt daran, dass ich den Hörer zwischen Clavicula und Regio buccalis eingeklemmt habe.«

»Das klingt aber nicht jugendfrei.«

»Es heißt nichts anderes als Schulter und Wange. Und um es auch für Nordfriesen verständlich auszudrücken: Wange. Nicht Backe

»Frühstücken Sie gerade?«

»Nicht direkt. Ich habe die Hände zwischen Milz und Leber geparkt und das Skalpell quer im Mund. Was ist Ihr Begehr?«

»Sie betreiben ein blutiges Geschäft.«

»Mag sein. Sie wollen sicher etwas über den Schüler wissen, den Sie mir auf den Obduktionstisch gelegt haben.«

Große Jäger bestätigte es.

»So voll, wie der mit Alkohol gepumpt war, könnte man ihn als Exponat für die Ausstellung verwenden. Der ist so konserviert, dass er auch in hundert Jahren noch diesen Erhaltungszustand hat. Wenn Sie je von einer Schnapsleiche sprechen – hier liegt eine vor.«

»Das ist nicht sehr pietätvoll«, sagte Große Jäger.

»Wieso? Wenn jemand den Alkohol in diesen Mengen in sich hineinpumpt, habe ich genauso wenig Mitleid wie bei einem Suizid. Ausbaden müssen es hinterher immer andere.«

»Sie?«

»Kaum. Das ist mein Job. Aber denken Sie an die Angehörigen, die Rettungskräfte, die bergen müssen.«

»Gibt es einen Laborbefund?«

»Wir haben es zurückgerechnet. Der Knabe hatte drei Komma zwei Promille im Blut. Da hat es auch nicht geholfen, dass er bis auf die Galle gespuckt hat.«

»Kann es sein, dass man ihm den Alkohol gegen seinen Willen eingeflößt hat?«

»In letzter Konsequenz kann ich das nicht bestreiten. Ich habe aber weder Abwehrverletzungen noch die in Fernsehkrimis so beliebten Fremdspuren unter den Fingernägeln gefunden. Die Forensik ist noch nicht ganz fertig, aber bisher gibt es keine Fremd-DNA

»Hat ihm jemand den Mund aufgehalten und etwas eingetrichtert?«

»Soweit ich es erkennen konnte – nein. Es gibt aber postmortale Spuren am Oberarm und unter den Achseln.«

»Die ihm nach seinem Tod zugefügt wurden?«

»Um es auch schlichten Gemütern wie Ihnen zu erklären: Als er tot war, hat ihn jemand gepackt und bewegt.«

»Ist das sicher?«

»Würde ich sonst Dr. Diether heißen?«

Große Jäger bedankte sich bei dem Rechtsmediziner und wünschte ihm weiterhin fröhliches Sezieren. Anschließend erörterte er das Ergebnis mit Cornilsen.

»Es liegen somit Indizien vor, dass Jan Behrendsen an anderer Stelle getrunken hat. Das Besäufnis ist aus dem Ruder gelaufen. Als der oder die Trinkgenossen feststellten, dass Jan tot war, haben sie ihn auf diese Weise im Totengang entsorgt.«

»Das heißt«, ergänzte Cornilsen, »der Junge war mit Erwachsenen zusammen. Seine gleichaltrigen Kumpel haben weder Führerschein noch Auto.«

»Es gibt noch die Option, dass er privat getrunken hat. Als die Eltern des oder der anderen Teilnehmer am Komasaufen die Situation registrierten, haben sie sich zu diesem Schritt entschlossen, um sich nicht der Verantwortung stellen zu müssen.«

»Wenn das so ist, dann …«, ließ Cornilsen den Satz offen.

Große Jäger fragte bei der Staatsanwaltschaft nach, ob der Leichnam freigegeben war. Nachdem er die Bestätigung erhalten hatte, sah er Cornilsen ernst an. »Du kannst diese Nachricht den Eltern überbringen.«

Sein Gegenüber zog den Kopf zwischen die Schultern ein. »Das ist eine schwierige Aufgabe.«

»Auch das musst du lernen.«

Cornilsen holte tief Luft. »Na denn dann. Ich fahre zu den Eltern«, sagte er und machte sich auf den Weg.

Große Jäger beschäftigte sich in den nächsten Stunden mit der ungeliebten Schreibtischarbeit und empfand das Klingeln des Telefons als willkommene Unterbrechung.

»Hier ist Tim«, meldete sich eine sonore Männerstimme.

»Welcher Tim?«

»Na, Tim Krohn aus Garding.«

»Entschuldigung, Tim, dass ich dich nicht gleich erkannt habe.«

Krohn war ein altgedienter Polizeihauptmeister, im Dienst ergraut. Einer von der alten Garde. Ein echter Landpolizist, ganz so, wie man sich eine solche Institution in der Phantasie vorstellte. Gefühlt tat Krohn schon seit Kaisers Zeiten Dienst auf Eiderstedt.

»De Pastoor harr mi anschnackt«, erklärte der Polizist. »Ick harr jem hüüt Moin bi Edeka sehn.« Krohn hüstelte. »Ich sprech mal lieber Hochdütsch. Sonst versteihst mi nich. Also, uns Pastor sein Küster hat am Sünnobend was anne Tür vonne Kark gefun’n. Da hat ein was angenagelt. Wie damals der Luther, hat er seegt. Nur dass Martin all lang dood bleven is.«

»War das etwas Unanständiges? Blasphemie?«

»Nee. Nix da. Auch keine Sachbeschädigung. Nur so ’n Nagel. Kann man mit ’n büsschen Farbe wieder wegkriegen. War ’n Bild vonne Frau, in einer Klarsichthülle. Sonst nix weiter.«

»Einer nackten?«

»Ach was. Einer älteren, die einkaufen geht. Aufm Bild is das Einkaufszentrum Theo in Husum erkenntlich, wenn man ein büsschen Phantasie hat. Kennst du den Supermarkt gegenüber vonne Post? Davor is das aufgenommen.«

»Ist das alles?«

»Ja. Ich hätt di jo nich anröpen, wenn ick nich hörn dei, dass ihr nach sonner Frau sucht.«

»Hast du das Bild?«

»Klor. De Pastoor wullt dat nich inne Kark aufhängn. Dor is schon een, harr he mi seegt.«

»Wann hat der Küster das gefunden?«

»Noch mal in Hochdeutsch für dich: Sonnabendmorgen.«

Sie wechselten noch ein paar Worte über Eiderstedt, die Leerstände in den Geschäftslokalen in Eiderstedts heimlicher Hauptstadt und über Krohns in Kürze anstehende Pensionierung.

»Ich freue mich auf meine Enkel, den Garten und all das, was liegen geblieben ist«, erklärte der Landpolizist.

Große Jäger widersprach ihm nicht, obwohl er sich sicher war, dass es für Tim Krohn eine Zäsur bedeuten würde. Der Mann war nicht Polizist, er lebte diese Aufgabe.

Zehn Minuten später reichte ein junger Beamter der Schutzpolizei eine Fotokopie herein. »Ist das für Sie?«, fragte er. »Das kam eben aus Garding.«

Auf dem Papier war die lebhafte Straße in Husums Zentrum zu sehen. Es herrschte rege Betriebsamkeit auf dem Fußweg. Selbst auf dem Bild war zu unterscheiden, wer seine alltäglichen Besorgungen erledigte oder sich als Gast gemächlich durch die Straßen der Westküstenmetropole treiben ließ. Das Bild war aktuell. Die Kleidung der Menschen ließ darauf schließen. Auch Ende der letzten Woche hatte Petrus der Region zauberhaftes Wetter gespendet.

Im Mittelpunkt war eine ältere Frau zu erkennen, die ihre Einkäufe getätigt hatte und sie jetzt nach Hause schleppte. Große Jäger vergrößerte das Bild auf dem Fotokopierer und richtete sein Augenmerk auf den Leinenbeutel, den die Frau trug. Auf den hatte Frau Eggers gezeigt und behauptet, Karin Amundsen sei nie ohne ihn aus dem Haus gegangen. Der Hauptkommissar druckte das Bild aus und fuhr in die Ludwig-Ohlsen-Straße. Dort wirkte alles friedlich. Er klingelte bei der Nachbarin. Frau Eggers erwartete ihn am Treppenabsatz und erkannte ihn wieder.

»Haben Sie Karin gefunden? Ihr ist doch nichts passiert?«, überfiel sie ihn statt einer Begrüßung.

»Ich habe nur eine kurze Frage.« Er zeigte ihr den Ausdruck. »Ist das Frau Amundsen?«

Frau Eggers warf nur einen kurzen Blick auf das Foto. »Ja. Wer soll das sonst sein? Karin. Die ist beim Sky zum Einkaufen. Da ist sie oft hin.« Sie benutzte noch den alten Namen des Supermarkts. »Wo haben Sie das Bild her?« Die Frau streckte den Arm aus und riss es Große Jäger fast aus der Hand. »Das muss Freitag gewesen sein. Genau. Da hatte sie das hier an.« Sie wedelte mit dem Papier. »Und im Beutel hat sie Nudeln. Sehen Sie mal.« Frau Eggers hielt ihm die Aufnahme dicht vor das Gesicht. Neben den Schlaufen, an denen Karin Amundsen den Beutel trug, ragte vorwitzig das Ende einer Spaghettipackung heraus. »Da haben wir noch drüber gesprochen. Karin wollte wieder einmal Nudeln mit Tomatensoße machen. Sehen Sie doch.«

Große Jäger hatte Mühe, sich von der Nachbarin zu lösen. Immer wieder hakte Frau Eggers nach und wollte wissen, wie es Karin Amundsen gehe. »Sie wissen doch etwas«, behauptete sie. »Sonst hätten Sie sie doch nicht fotografiert.«

Wie sollte er es ihr erklären? Es war für ihn selbst ein Rätsel.

Cornilsen war genauso ratlos, als sie sich auf der Dienststelle trafen und der Kommissar mit leiser Stimme von seinem Besuch bei Jans Eltern berichtete. Große Jäger erzählte von der merkwürdigen Fotografie.

»Weshalb nagelt jemand das Bild einer älteren Frau an die Kirchentür, die drei Tage später anscheinend während der Zubereitung ihres Frühstücks aufbricht und verschwindet?«

»Wir müssen versuchen, die Zeit zwischen der Aufnahme und dem Vermissen durch Frau Eggers zu rekonstruieren. Ich besorge uns die Genehmigung, dass wir uns ihre Telefondaten ansehen dürfen.«

Karin Amundsen besaß einen Führerschein, den sie vor über fünfzig Jahren gemacht hatte. Ein Auto war nicht auf sie zugelassen.

»Sie ist also nicht überraschend zu einer Spritztour aufgebrochen«, merkte Große Jäger an.

Sein Telefon meldete sich. »Der Irre aus Kiel«, stellt er nach einem Blick auf das Display fest und nahm ab. »Moin, Herr Dr. Diether.«

»Müsste ich in Ihrer Gegend leben, bliebe mir als Ausweg vermutlich auch nur der Alkohol«, begann der Rechtsmediziner seinen Bericht. »Bei Ihnen gibt es doch dieses traditionelle Sauffest, das Biikebrennen. Das findet aber zu einer anderen Zeit statt. Jedenfalls war der Jugendliche ordentlich abgefüllt. Ich habe jetzt den Laborbefund vorliegen. Drei Komma zwei Promille sind eine stattliche Menge, besonders für einen Fünfzehnjährigen, zumal der Organbefund nicht darauf hindeutete, dass er das Saufen gewohnt war. Der Tod ist unzweifelhaft durch Alkoholintoxikation verursacht. Die Mediziner nennen es wegen der chemischen Struktur C2-Intox. Durch die Vergiftung des menschlichen Körpers durch Ethanol wird die Funktionsfähigkeit des Gehirns beeinträchtigt. Das führt zu Atemstillstand und Kreislaufversagen. Wir konnten auch feststellen, dass man dem Jungen zunächst Wodka mit Feigenaroma eingetrichtert hat. Dieses Getränk hat aber nur einen Alkoholgehalt von zwanzig Prozent. Um die Wirkung zu verstärken, ist man später auf Kräuterlikör, der zum Beispiel unter Namen wie Friesen- oder Fischergeist im Handel erhältlich ist, umgestiegen. Die haben weit über fünfzig Prozent Alkoholgehalt.«

»Ihrem Bericht entnehme ich einige Merkwürdigkeiten.«

»Denen kann ich noch weitere anfügen«, sagte Dr. Diether. »Es gibt keine Anzeichen eines Kampfes, also Abwehrspuren oder Ähnliches. Donnerwetter. Sie haben aufgepasst und mitgedacht. Ich habe Suffusionen, also Hämatome, gefunden. Alle subkutan. In keinem Fall ist es zu einer Verletzung der Oberhaut gekommen. Ich gehe davon aus, dass sie postmortal entstanden sind, da ich sie im lockeren Zellverband und nicht im festen Muskelgewebe gefunden habe. Es lagen auch keine Farbveränderungen vor.«

»Um es für Beamte des gehobenen Dienstes zu beschreiben: Jemand hat Jan Behrendsen nach dem Tod angepackt und die Leiche verlagert.«

»Nichts anderes habe ich Ihnen erklärt«, sagte Dr. Diether süffisant.

»Wenn ich etwas sage, bediene ich mich einer klaren Formulierung, die jeder versteht. Für mich ist ein Arsch eben ein Arsch. Und das sage ich auch so.« Manchmal belle ich auch, dachte Große Jäger im Stillen.

»Ich will Ihnen nicht vorweggreifen, aber für mich sieht es nicht nach einem normalen Komasaufen unter Jugendlichen aus«, sagte der Mediziner.