EINS

Ich stehe am Fenster dieses prächtigen Hauses in Südfrankreich, als die Nacht anbricht, die Nacht, die mich zum schrecklichsten Morgen meines Lebens führen wird. Ich habe ein Glas in der Hand, eine Flasche in Reichweite. Ich betrachte mein Spiegelbild im dämmrigen Glanz der Fensterscheibe. Es ist groß oder eher lang wie ein Pfeil, und meine blonden Haare glänzen. Ein Gesicht wie meins hat man schon oft gesehen. Meine Vorfahren haben einen Kontinent erobert, sind vorgerückt über todesschwere Ebenen, bis sie an einen Ozean kamen, der, von Europa abgewandt, einer dunkleren Vergangenheit gegenüberlag.

Morgen früh bin ich vielleicht betrunken, aber das wird nichts nützen. Den Zug nach Paris werde ich trotzdem nehmen. Der Zug wird derselbe sein, die Menschen, um Bequemlichkeit bemüht und sogar Würde auf den harten Holzbänken der dritten Klasse, werden dieselben sein, und ich werde derselbe sein. Wir werden durch dieselbe vielfältige Landschaft nach Norden rollen, weg von den Olivenbäumen, dem Meer und der ganzen Pracht des südlichen Sturmhimmels, hinein in den Nebel und Regen von Paris. Irgendjemand wird sein Sandwich mit mir teilen wollen, irgendjemand wird mir einen Schluck Wein anbieten, irgendjemand wird mich nach einem Streichholz fragen. Menschen werden in den Gängen auf und ab gehen, aus dem Fenster sehen, zu uns hereinsehen. An jedem Bahnhof werden Rekruten in ihren ausgebeulten braunen Uniformen und farbigen Mützen die Abteiltür aufschieben und complet? fragen. Wir werden alle nicken, wie Verschwörer, und uns leise anlächeln, wenn sie weitergehen. Zwei oder drei von ihnen werden vor unserem Abteil stehen bleiben, sich mit ihren derben Stimmen etwas zubrüllen und ihre scheußlichen Militärzigaretten rauchen. Mir gegenüber wird eine junge Frau sitzen, die sich fragt, wieso ich nicht mit ihr flirte, und beim Anblick der Rekruten nervös wird. Alles wird sein wie immer, nur ich bin dann stiller.

Auch die Landschaft ist still heute Abend, die Landschaft, in die mein Spiegelbild eindringt. Dieses Haus steht am Rande eines kleinen Badeorts – der noch leer ist, die Saison hat noch nicht begonnen. Es steht auf einer Anhöhe, man kann auf die Lichter der Stadt hinunterblicken und das Donnern des Meeres hören. Meine Freundin Hella und ich haben es vor ein paar Monaten von Paris aus gemietet, nachdem wir Fotos gesehen hatten. Seit einer Woche ist sie weg. Sie ist jetzt auf hoher See, auf dem Weg zurück nach Amerika.

Ich sehe sie vor mir, sehr elegant, straff und schillernd, von Licht umfangen im Salon des Ozeandampfers; sie trinkt ein bisschen zu hastig, lacht und beobachtet die Männer. So habe ich sie kennengelernt in einer Bar in Saint-Germain-des-Prés, trinkend und beobachtend, und das mochte ich an ihr, ich dachte, mit ihr könnte man sich gut amüsieren. So fing es an, mehr bedeutete es mir nicht; jetzt bin ich mir trotz allem nicht mehr sicher, ob es mir je mehr bedeutet hat. Ich glaube auch nicht, dass es ihr jemals mehr bedeutet hat – zumindest nicht vor ihrer Reise nach Spanien, wo sie sich, so ganz sich selbst überlassen, vielleicht gefragt hat, ob Trinken und Männer Beobachten wirklich das ist, was sie im Leben will. Aber da war es schon zu spät. Da war ich schon bei Giovanni. Bevor sie nach Spanien aufbrach, hatte ich um ihre Hand angehalten; sie hatte gelacht, und ich hatte gelacht, aber dadurch wurde es für mich erst recht ernst, und ich blieb hartnäckig. Sie sagte, sie müsse wegfahren und darüber nachdenken. Hier, an ihrem letzten Abend, als ich sie das letzte Mal sah, sagte ich ihr, während sie ihren Koffer packte, ich habe sie einmal geliebt, und das redete ich mir selber ein. Aber ob das so war? Bestimmt hatte ich an unsere Nächte gedacht, an die eigenartige Unschuld und Zuversicht, die nie wiederkommen werden, die diese Nächte so köstlich gemacht hatten, so losgelöst von Vergangenem, Zukünftigem und allem, was noch kommen mag, und so losgelöst von meinem Leben, da ich für sie doch nur flüchtig verantwortlich war. Es waren Nächte unter fremdem Himmel, ohne neugierige Blicke, ohne Androhung von Strafen – Letzteres war unser Verhängnis, denn wenn man sie einmal hat, ist nichts unerträglicher als Freiheit. Wohl deshalb habe ich um ihre Hand angehalten: um mich irgendwo zu verankern. Vielleicht hat sie deshalb in Spanien beschlossen, mich zu heiraten. Doch leider können sich die Menschen ihren Ankerplatz, ihre Liebhaber und ihre Freunde ebenso wenig aussuchen wie ihre Eltern. Das Leben gibt sie und nimmt sie, und die Schwierigkeit liegt darin, zum Leben Ja zu sagen.

Als ich Hella sagte, ich hätte sie geliebt, dachte ich an die Zeit, da mir noch nichts Schreckliches, Unwiderrufliches geschehen war, als eine Liebschaft nichts weiter war als eine Liebschaft. Jetzt, nach dieser Nacht, nach morgen früh, egal, in wie vielen Betten ich mich bis zu meinem Sterbebett noch wiederfinde, werde ich nie wieder zu solch jungenhaften, genüsslichen Liebschaften imstande sein – die bei näherem Hinsehen ohnehin nur eine Art höherer oder zumindest selbstgefälligerer Masturbation sind. Die Menschen sind zu vielschichtig, um so abgetan zu werden, und ich bin zu vielschichtig, um vertrauenswürdig zu sein. Sonst wäre ich heute Abend nicht allein in diesem Haus. Hella wäre nicht auf hoher See. Und Giovanni würde nicht irgendwann zwischen heute Nacht und morgen früh unter der Guillotine enden.

Heute bereue ich, so müßig das ist, eine spezielle Lüge von den vielen, die ich erzählt habe, erzählt, gelebt und geglaubt habe. Die Lüge – die ich Giovanni erzählt, doch nie habe glauben machen können –, ich hätte noch nie zuvor mit einem Mann geschlafen. Denn das hatte ich schon. Und ich hatte beschlossen, es nie wieder zu tun. Das Schauspiel, das ich mir jetzt selber biete, hat etwas Absurdes: so weit, so emsig weggerannt zu sein, sogar bis auf die andere Seite des Ozeans, nur um erneut von der Bulldogge in meinem eigenen Garten gestellt zu werden – jetzt, da der Garten kleiner ist und die Bulldogge größer.

An den jungen Mann, Joey, habe ich lange nicht mehr gedacht, doch heute Abend sehe ich ihn deutlich vor mir. Es ist etliche Jahre her. Ich war noch ein Teenager, er war etwa in meinem Alter, ein Jahr Unterschied vielleicht. Und er war sehr sympathisch, sehr lebhaft, dunkel und immer zum Lachen aufgelegt. Eine Zeit lang war er mein bester Freund. Später bezeugte der Gedanke, dass so jemand mein bester Freund gewesen sein konnte, einen entsetzlichen Makel in mir. Also vergaß ich ihn. Aber heute Abend sehe ich ihn genau vor mir.

Es war Sommer, wir hatten keine Schule. Seine Eltern waren übers Wochenende weggefahren, und ich verbrachte die Zeit in seinem Haus in der Nähe von Coney Island, in Brooklyn. Wir wohnten damals auch in Brooklyn, aber in einer besseren Gegend als Joey. Ich glaube, wir hatten den Tag am Strand verbracht, waren ein bisschen geschwommen und hatten den halb nackten Mädchen hinterhergeblickt, lachend und pfeifend. Hätte eines dieser Mädchen auch nur ansatzweise auf unser Pfeifen reagiert, ich bin mir sicher, das Meer wäre nicht tief genug gewesen, um unsere Scham und unseren Schrecken zu ertränken. Aber die Mädchen haben es bestimmt gespürt, vielleicht wegen der Art, wie wir ihnen hinterherpfiffen, und beachteten uns nicht. Als die Sonne unterging, liefen wir über den Holzsteg zu Joey nach Hause, mit den nassen Badehosen unter den Kleidern.

Ich glaube, es fing beim Duschen an. Ich weiß, dass ich etwas fühlte – als wir in dem dampfigen engen Raum herumalberten und uns gegenseitig mit nassen Handtüchern peitschten –, das ich noch nie gefühlt hatte und das ihn geheimnisvoll, ziellos mit einschloss. Ich erinnere mich, dass ich mich gar nicht anziehen wollte: Das schrieb ich der Hitze zu. Dennoch zogen wir uns halbwegs an, aßen etwas Kaltes aus dem Kühlschrank und tranken viel Bier. Dann sind wir wohl ins Kino gegangen, ein anderer Grund, weshalb wir rausgingen, fällt mir nicht ein, und ich erinnere mich, wie wir durch die dunklen, tropisch heißen Straßen von Brooklyn gingen, während die Hitze aus dem Asphalt quoll und mit solcher Wucht von den Häuserwänden abprallte, dass sie einen hätte erschlagen können, und wie alle Erwachsenen dieser Welt, so schien es, schrill und strubbelig auf den Eingangsstufen saßen und alle Kinder dieser Welt auf dem Gehweg oder im Rinnstein hockten oder an den Feuertreppen hingen; und mein Arm lag um Joeys Schultern. Ich war stolz, glaube ich, weil sein Kopf mir gerade bis zum Ohr reichte. Beim Gehen riss Joey schmutzige Witze, und wir lachten. Merkwürdig, mich nach so langer Zeit daran zu erinnern, wie gut ich mich an dem Abend fühlte, wie gern ich Joey hatte.

Auf dem Rückweg war es still; wir waren auch still. Still und müde zogen wir uns in Joeys Zimmer aus und gingen ins Bett. Ich schlief ein – und schlief, glaube ich, eine ganze Weile. Als ich aufwachte, brannte Licht, und Joey untersuchte mit verbissener Sorgfalt das Kopfkissen.

»Was ist los?«

»Ich glaube, mich hat eine Wanze gebissen.«

»Igitt, du hast Wanzen?«

»Ich glaube, eine hat mich gebissen.«

»Bist du schon mal von einer Wanze gebissen worden?«

»Nein.«

»Na, dann schlaf weiter. Du hast geträumt.«

Mit offenem Mund und sehr großen dunklen Augen sah er mich an. Es war, als hätte er in mir soeben einen Fachmann für Bettwanzen gefunden. Lachend packte ich ihn am Kopf, wie ich es schon Gott weiß wie oft gemacht hatte, wenn ich ihn neckte oder er mich geärgert hatte. Doch als ich ihn diesmal berührte, passierte etwas in ihm und in mir; eine solche Berührung hatten wir beide noch nie erlebt. Er wehrte sich nicht wie sonst, sondern blieb dort liegen, wo ich ihn hingezogen hatte, an meiner Brust. Und ich merkte, dass mein Herz wie wild schlug und dass Joey neben mir zitterte und das Licht im Zimmer sehr hell und heiß war. Ich rührte mich und wollte einen Witz machen, doch als Joey etwas murmelte, beugte ich mich hinunter, um besser zu hören. Gleichzeitig hob Joey den Kopf, und wir küssten uns sozusagen aus Versehen. Da nahm ich zum ersten Mal in meinem Leben den Körper eines anderen, den Geruch eines anderen richtig wahr. Wir hatten die Arme umeinander gelegt. Es war, als hielte ich einen seltenen, erschöpften, beinahe todgeweihten Vogel in meiner Hand, den ich wundersamerweise gefunden hatte. Ich war sehr erschrocken und er sicherlich auch, und wir schlossen beide die Augen. Dass ich mich heute Abend so deutlich, so schmerzlich daran erinnere, zeigt mir, dass ich es nie auch nur für einen Augenblick wirklich vergessen habe. Noch jetzt regt sich fern und fürchterlich in mir etwas von dem, was mich damals so überwältigt hat, große durstige Leidenschaft, Zittern und eine Zärtlichkeit, die so wehtat, dass ich dachte, mein Herz würde zerspringen. Doch aus diesem unglaublichen, unerträglichen Schmerz entstand Freude; in jener Nacht gaben wir einander Freude. Ein ganzes Leben schien mir nicht genug, um mit Joey den Akt der Liebe zu leben.

Doch dieses Leben war kurz, auf die eine Nacht beschränkt – es endete am Morgen. Ich wachte auf, als Joey noch schlief, eingerollt wie ein Baby, mir zugewandt, mit halb geöffnetem Mund und geröteten Wangen; seine Locken färbten das Kissen dunkel und verbargen halb seine feuchte runde Stirn und die langen Wimpern, die in der Sommersonne leicht schimmerten. Wir waren beide nackt, und das Laken, mit dem wir uns zugedeckt hatten, knäuelte sich zu unseren Füßen. Joeys Körper war braun, war von Schweiß bedeckt, die schönste Schöpfung, die ich je gesehen hatte. Ich hätte ihn angefasst, um ihn zu wecken, aber etwas hielt mich zurück. Auf einmal hatte ich Angst. Vielleicht, weil er so unschuldig da lag, so zutraulich, vielleicht, weil er so viel kleiner war als ich; mein eigener Körper erschien mir auf auf einmal abstoßend und erdrückend, und das Verlangen, das in mir aufstieg, kam mir ungeheuerlich vor. Vor allem aber hatte ich plötzlich Angst. Mir dämmerte: Joey ist ein Junge. Auf einmal sah ich die Kraft in seinen Schenkeln, in seinen Armen und in seinen lose geballten Fäusten. Die Kraft, das Versprechen, das Geheimnis dieses Körpers machten mir Angst. Dieser Körper kam mir auf einmal vor wie die dunkle Öffnung zu einer Höhle, in der ich gemartert würde, bis der Wahnsinn eintrat, in der ich meine Männlichkeit verlieren würde. Genau dieses Geheimnis wollte ich ergründen, ich wollte die Kraft spüren und das Versprechen durch mich erfüllt sehen. Der Schweiß auf meinem Rücken wurde kalt. Ich schämte mich. Dieses köstlich zerwühlte Bett zeugte von Schändlichkeit. Was würde Joeys Mutter sagen, wenn sie die Laken sah? Dann dachte ich an meinen Vater, der auf der Welt nur mich hatte, denn meine Mutter war gestorben, als ich klein war. In meiner Vorstellung tat sich diese Höhle auf, dunkel, voller Andeutungen und Gerede, voller halbherziger, halb vergessener, halb verstandener Geschichten, voller schmutziger Wörter. In dieser Höhle sah ich meine Zukunft. Ich hatte Angst. Ich hätte schreien können vor Schrecken und Scham, hätte schreien können, weil ich nicht verstand, wie mir das hatte passieren können, wie das in mir hatte passieren können. Und ich fasste einen Entschluss. Ich stand auf, duschte, zog mich an und hatte das Frühstück fertig, als Joey aufwachte.

Von meinem Entschluss erzählte ich ihm nicht; das hätte mir den Willen gebrochen. Statt mit dem Frühstück auf ihn zu warten, trank ich nur einen Schluck Kaffee und ging unter einem Vorwand nach Hause. Ich wusste, dass Joey mir diesen Vorwand nicht abnahm, aber er wusste nicht, wie er widersprechen oder mich zum Bleiben drängen sollte; er wusste nicht, dass es nur das gebraucht hätte. Ich, der ich ihn in dem Sommer fast jeden Tag gesehen hatte, ging danach nicht mehr zu ihm. Und er kam nicht zu mir. Ich hätte mich sehr gefreut, wenn er gekommen wäre, aber die Art meines Abschieds hatte eine Schlinge um uns gezogen, die sich immer weiter zuzog. Als ich ihn schließlich doch wiedersah, mehr oder weniger zufällig gegen Ende des Sommers, erfand ich eine lange und völlig hergeholte Geschichte über ein Mädchen, mit dem ich ging, und als die Schule wieder anfing, suchte ich mir eine rauere, ältere Clique und war sehr gemein zu Joey. Je trauriger ihn das machte, desto gemeiner wurde ich. Am Ende zog er weg, weg aus der Gegend, weg von der Schule, und ich sah ihn nie wieder.

Vielleicht begann in dem Sommer meine Einsamkeit, und vielleicht begann in dem Sommer die Flucht, die mich an dieses dämmrige Fenster geführt hat.

Und doch – wenn man anfängt, nach dem maßgeblichen, dem entscheidenden Augenblick zu suchen, dem Augenblick, der alles veränderte, schlägt man sich unversehens unter großen Schmerzen durch ein Labyrinth falscher Signale und zufallender Türen. Meine Flucht begann vielleicht wirklich in dem Sommer – aber das beantwortet mir nicht, wo der Ursprung des Dilemmas zu finden ist, der in jenem Sommer in meine Flucht mündete. Natürlich ist er hier irgendwo vor meinen Augen, eingeschlossen in dem Spiegelbild, das ich in der Fensterscheibe betrachte, während draußen die Nacht anbricht. Er ist mit mir im Zimmer gefangen, immer schon und für immer, und ist mir doch fremder als die fremden Hügel draußen.

Wir wohnten damals, wie gesagt, in Brooklyn; wir hatten auch in San Francisco gewohnt, wo ich geboren bin und wo meine Mutter begraben liegt, wir hatten eine Weile in Seattle gewohnt und dann in New York – für mich heißt New York Manhattan. Später zogen wir von Brooklyn wieder nach New York, und als ich nach Frankreich ging, waren mein Vater und seine neue Frau nach Connecticut aufgestiegen. Da war ich natürlich schon lange ausgezogen und wohnte in einer Wohnung an der unteren Upper East Side.

Wir, das waren in meiner Kindheit und Jugend mein Vater, seine unverheiratete Schwester und ich. Meine Mutter war zu Grabe getragen worden, als ich fünf war. Ich kann mich kaum noch an sie erinnern, allerdings tauchte sie in meinen Albträumen auf, blind vor Würmern, die Haare trocken wie Metall und spröde wie ein Zweig, heftig bemüht, mich an ihren Körper zu drücken, der so modrig war, so ekelhaft weich, dass er sich durch mein Strampeln und Heulen zu einer riesigen Spalte auftat, die aussah, als wollte sie mich bei lebendigem Leib schlucken. Doch wenn mein Vater oder meine Tante in mein Zimmer gestürzt kamen, um nachzusehen, was mich so erschreckt hatte, wagte ich den Traum, der mir als Verrat an meiner Mutter erschien, nicht zu beschreiben. Ich sagte dann, ich hätte von einem Friedhof geträumt. Sie schlossen daraus, durch den Tod meiner Mutter gehe meine Fantasie mit mir durch, und vielleicht dachten sie, ich trauere um sie. Was vielleicht auch zutraf, aber dann trauere ich noch heute.

Mein Vater und meine Tante verstanden sich überhaupt nicht, und ohne zu wissen, wie oder warum, spürte ich, dass sich ihr endloser Streit ganz um meine tote Mutter drehte. Ich erinnere mich, als ich noch sehr klein war, wie das Foto meiner Mutter, das im großen Wohnzimmer in San Francisco für sich auf dem Kaminsims stand, den Raum zu beherrschen schien. Als bewiese das Foto, dass ihr Geist die Atmosphäre ausfüllte und uns alle kontrollierte. Ich erinnere mich an die Schatten in den hinteren Ecken des Zimmers, in dem ich mich nie zu Hause gefühlt habe, und wie mein Vater vom goldenen Licht umspült wurde, das sich von der großen Stehlampe neben seinem Sessel über ihn ergoss. Dort las er seine Zeitung, war hinter seiner Zeitung vor mir verborgen, sodass ich ihm manchmal im verzweifelten Buhlen um seine Aufmerksamkeit so auf die Nerven ging, dass ich am Ende unseres Ringens heulend aus dem Zimmer getragen werden musste. Ich erinnere mich auch, wie er mit den Ellbogen auf den Knien dasaß und das große Fenster anstarrte, das die tintenschwarze Nacht ausschloss. Ich fragte mich dann immer, woran er wohl dachte. Im Auge meiner Erinnerung trägt er grundsätzlich einen ärmellosen grauen Pullover und hat die Krawatte gelockert, und sein strohblondes Haar fällt über sein kantiges, rotwangiges Gesicht. Er gehörte zu den Menschen, die viel lachen und nicht so schnell wütend werden, was die Wut, wenn sie denn kommt, umso beeindruckender macht, weil sie aus einer unvermuteten Spalte aufzulodern scheint wie Feuer, das das ganze Haus verschlingen wird.

Und seine Schwester Ellen, etwas älter als er, etwas dunkler, mit wachsender Härte in Gesicht und Gestalt, immer zu schick, immer zu stark geschminkt mit zu viel Schmuck überall, der im Licht klimperte und klapperte, sitzt auf dem Sofa und liest; sie las viel, alle Neuerscheinungen, und sie ging oft ins Kino. Oder sie strickte. Mir scheint, sie hatte immer eine große Tasche mit gefährlich aussehenden Stricknadeln dabei oder ein Buch oder beides. Und ich weiß nicht, was sie gestrickt hat, wobei sie doch hin und wieder etwas für meinen Vater oder mich gestrickt haben muss. Aber ich erinnere mich nicht mehr daran, ebenso wenig wie an die Bücher, die sie gelesen hat. In all den Jahren, in denen ich sie kannte, könnte sie immer dasselbe Buch gelesen haben, und sie könnte immer denselben Schal gestrickt haben oder denselben Pullover, oder weiß der Himmel. Manchmal spielte sie mit meinem Vater Karten – eher selten; manchmal unterhielten sie sich in freundlich neckendem Ton, aber das war gefährlich. Ihr Geplänkel endete meistens im Streit. Manchmal hatten sie Besuch, und ich durfte zusehen, wie sie Cocktails tranken. Dann war mein Vater in seinem Element, jungenhaft ausgelassen wanderte er mit seinem Glas durchs voll besetzte Zimmer, schenkte nach, lachte viel, behandelte alle Männer wie Brüder und flirtete mit den Frauen. Oder nein, er flirtete nicht, sondern gockelte vor ihnen her wie ein Hahn. Ellen schien ihn immer zu beobachten, als fürchtete sie, dass er etwas Schlimmes anstellte, beobachtete ihn und die Frauen und, ja, flirtete mit den Männern auf seltsame, nervenaufreibende Weise. Sie stand da, todschick, wie man so sagt, der Mund röter als jedes Blut, in einem Kleid, das entweder die falsche Farbe hatte oder zu eng war oder zu jugendlich, und das Cocktailglas in ihrer Hand drohte, jeden Augenblick in Scherben zu zersplittern, während die Stimme unaufhörlich durch den Raum schnitt wie eine Rasierklinge auf Glas. Wenn ich sie als kleiner Junge in Gesellschaft sah, fürchtete ich mich vor ihr.

Was auch immer sich in diesem Zimmer abspielte, meine Mutter sah zu. Sie blickte aus dem Bilderrahmen, eine blasse, zarte blonde Frau mit dunklen Augen, hoher Stirn und einem sanften, nervösen Mund. Doch etwas an der Art, wie die Augen in ihrem Kopf saßen und gerade herausblickten, ein nur im Ansatz hämischer, wissender Zug um den Mund ließen ahnen, dass sich unter der gespannten Zerbrechlichkeit eine unbeugsame Kraft verbarg, die so vielschichtig und gefährlich, weil so unerwartet war wie der Zorn meines Vaters. Mein Vater sprach selten von ihr, und wenn, dann verbarg er dabei auf unerklärliche Weise sein Gesicht; er sprach von ihr nur als von meiner Mutter und dann so, dass es sich dabei auch um seine eigene Mutter hätte handeln können. Ellen sprach oft von meiner Mutter und betonte, was für eine bemerkenswerte Frau sie gewesen sei, aber mir war unwohl dabei. Mir war, als hätte ich kein Recht, der Sohn einer solchen Mutter zu sein.

Jahre später, als ich erwachsen war, wollte ich meinen Vater dazu bringen, von meiner Mutter zu sprechen. Aber da war Ellen schon tot, und er stand im Begriff, wieder zu heiraten. Nun sprach er von meiner Mutter, wie Ellen von ihr gesprochen hatte, und so, dass es sich dabei eigentlich um Ellen hätte handeln können.

Als ich dreizehn war, hatten sie eines Abends einen Streit. Sie hatten viel Streit, aber an diesen erinnere ich mich vielleicht so genau, weil es um mich zu gehen schien.

Ich lag oben in meinem Bett und schlief. Es war schon ziemlich spät. Plötzlich wachte ich von den Schritten meines Vaters unter meinem Fenster auf. Klang und Rhythmus der Schritte verrieten mir, dass er ein bisschen betrunken war, und ich weiß noch, dass mich in dem Moment eine gewisse Enttäuschung, eine noch nie da gewesene Trauer ergriff. Ich hatte ihn schon oft betrunken erlebt und dabei noch nie so empfunden – im Gegenteil, wenn er betrunken war, entwickelte mein Vater manchmal großen Charme –, doch an dem Abend lag für mich auf einmal etwas Verachtenswertes darin, in ihm.

Ich hörte ihn reinkommen, und gleich darauf hörte ich Ellens Stimme.

»Du bist noch nicht im Bett?«, fragte mein Vater. Er bemühte sich, freundlich zu sein und eine Szene zu vermeiden, aber in seiner Stimme lag keine Herzlichkeit, nur Anspannung und Gereiztheit.

»Ich dachte mir«, antwortete Ellen kühl, »jemand sollte dir vor Augen führen, was du deinem Sohn antust.«

»Was ich meinem Sohn antue?« Er wollte noch etwas sagen, etwas Furchtbares, aber er riss sich zusammen und sagte nur mit resignierter, trunkener, verzweifelnder Ruhe: »Was redest du da, Ellen?«

»Meinst du wirklich«, fragte sie – ich war mir sicher, dass sie mitten im Zimmer stand, die Hände gefaltet, ganz aufrecht und still –, »dass er mal so ein Mann werden sollte wie du, wenn er erwachsen wird?« Und als mein Vater schwieg: »Denn er wird langsam erwachsen, weißt du.« Und schließlich gehässig: »Was man von dir ja nicht gerade behaupten kann.«

»Geh schlafen, Ellen.« Mein Vater klang sehr matt.

Da sie über mich sprachen, hatte ich das Gefühl, ich müsste runtergehen und Ellen sagen, dass mein Vater und ich, sollte es zwischen uns Probleme geben, diese ohne ihre Hilfe lösen konnten. Und vielleicht – was merkwürdig ist – hatte ich das Gefühl, dass sie mir gegenüber respektlos war. Denn ich hatte mit ihr gewiss nie über meinen Vater gesprochen.

Ich hörte seine schweren, stockenden Schritte durchs Zimmer in Richtung Treppe.

»Glaub ja nicht, ich weiß nicht, wo du warst«, sagte Ellen.

»Ich war aus – was trinken …«, sagte mein Vater, »und jetzt würde ich gern ein bisschen schlafen. Was dagegen?«

»Du warst bei dieser Beatrice«, sagte Ellen. »Da bist du ja immer, und da geht das ganze Geld hin und deine Männlichkeit und deine Selbstachtung gleich mit.«

Sie hatte es geschafft, ihn wütend zu machen. Er fing an zu stammeln. »Wenn du glaubst – wenn du glaubst –, dass ich hier – hier – hier stehe – und mit dir über mein Privatleben – mein Privatleben! –, wenn du glaubst, darüber diskutiere ich mit dir, dann bist du nicht ganz bei Trost.«

»Mir ist vollkommen egal, was du mit dir anstellst«, sagte Ellen. »Um dich mache ich mir keine Sorgen. Aber du hast als Einziger ein wenig Einfluss auf David. Ich nicht. Und eine Mutter hat er nicht. Auf mich hört er nur, wenn er dir damit einen Gefallen tun will. Meinst du wirklich, es ist gut für David, dich dauernd betrunken nach Hause wanken zu sehen? Und mach dir nichts vor«, setzte sie schon ganz heiser nach, »mach dir nicht vor, dass er nicht weiß, wo du herkommst, glaub nicht, er weiß nichts von deinen Weibergeschichten!«

Sie irrte sich. Ich glaube nicht, dass ich davon wusste – zumindest hatte ich nie darüber nachgedacht. Seit dem Abend allerdings dachte ich dauernd daran. Ich konnte eine Frau kaum ansehen, ohne mich zu fragen, ob mein Vater mit ihr, wie Ellen es ausdrückte, »zu tun« gehabt hatte.

»Dann wissen wir ja«, sagte mein Vater, »von wem David seine schmutzige Fantasie hat.«

Die Stille, in der mein Vater anschließend die Treppe hinaufging, war bei Weitem die schlimmste Stille, die mein Leben bis dahin gekannt hatte. Ich fragte mich, was sie dachten – er und sie. Ich fragte mich, wie sie aussahen. Ich fragte mich, was ich sehen würde, wenn ich den beiden am nächsten Morgen begegnete.

»Im Übrigen«, sagte mein Vater plötzlich mitten auf der Treppe, in einem Tonfall, der mich erschreckte, »wünsche ich mir für David nur, dass er zu einem Mann heranwächst. Und wenn ich Mann sage, Ellen, meine ich keinen Sonntagsschullehrer.«

»Ein Mann«, sagte Ellen knapp, »ist nicht dasselbe wie ein Stier. Gute Nacht.«

»Gute Nacht«, sagte er nach kurzer Pause.

Und ich hörte ihn an meinem Zimmer vorüberwanken.

Mit der rätselhaften, scheußlich schlauen Inbrunst der frühen Jugend verachtete ich von da an meinen Vater und hasste Ellen. Warum, ist schwer zu sagen. Ich weiß es nicht. Aber dadurch erfüllten sich Ellens Prophezeiungen. Eine Zeit würde kommen, hatte sie gesagt, da nichts und niemand mich mehr würde lenken können, nicht mal mein Vater. Und diese Zeit kam.

Sie kam nach Joey. Der Vorfall mit Joey hatte mich zutiefst aufgewühlt, und das machte mich hart und verschlossen. Über das, was mit mir geschehen war, konnte ich mit niemandem sprechen, nicht mal mir selbst konnte ich es eingestehen; und auch wenn ich nie darüber nachdachte, lag es doch auf dem Grund meiner Seele, so still und so fürchterlich wie eine verwesende Leiche. Und veränderte, verdüsterte, verbitterte mein Gemüt. Bald war ich derjenige, der spätabends nach Hause gewankt kam und auf den Ellen wartete, waren Ellen und ich diejenigen, die Nacht für Nacht miteinander rangen.

Mein Vater betrachtete das Ganze als eine unvermeidliche Phase meiner Entwicklung und nahm es scheinbar auf die leichte Schulter. Unter seiner jovialen Kumpelhaftigkeit aber verbargen sich Ratlosigkeit und Angst. Vielleicht hatte er angenommen, mein Heranwachsen würde uns enger zusammenschweißen – während ich jetzt, da er mich näher kennenlernen wollte, nur noch vor ihm floh. Ich wollte nicht, dass er mich näher kennenlernte. Ich wollte nicht, dass irgendjemand mich kennenlernte. Zudem entwickelte ich eine Haltung, die junge Menschen unvermeidlich irgendwann ihren Eltern gegenüber einnehmen: Ich fing an, über meinen Vater zu urteilen. Und ebendiese Härte des Urteils, die mir das Herz brach, offenbarte, auch wenn ich es damals nicht in Worte hätte fassen können, wie sehr ich ihn geliebt hatte und wie diese Liebe, zusammen mit meiner Unschuld, langsam starb.

Mein armer Vater war ratlos und besorgt. Er konnte sich nicht vorstellen, dass wir tatsächlich Probleme miteinander hatten. Und das nicht nur, weil er nicht gewusst hätte, wie er damit umgehen sollte; vor allem hätte er sich dann eingestehen müssen, dass er irgendwas versäumt hatte, etwas ungemein Wichtiges. Und da wir beide keine Ahnung hatten, worin dieses wesentliche Versäumnis liegen könnte, und wir außerdem gezwungen waren, uns weiter stillschweigend gegen Ellen zu verbünden, flüchteten wir uns in Kameradschaft. Wir seien nicht wie Vater und Sohn, bemerkte mein Vater hin und wieder stolz, sondern wie Kumpel. Das glaubte mein Vater wohl manchmal wirklich. Ich nicht. Ich wollte nicht sein Kumpel sein; ich wollte sein Sohn sein. Was zwischen uns als Freimütigkeit unter Männern durchging, erschöpfte mich und stieß mich ab. Väter sollten sich ihren Söhnen gegenüber nicht völlig entblößen. Ich wollte nicht wissen – zumindest nicht aus seinem Mund –, dass sein Fleisch genauso verderbt war wie meins. Dieses Wissen führte nicht dazu, dass ich mich mehr wie sein Sohn fühlte – oder wie sein Kumpel –, es führte nur dazu, dass ich mir wie ein Eindringling vorkam, ein verängstigter noch dazu. Er dachte, wir wären uns ähnlich. Mir widerstrebte der Gedanke. Ich wollte mir nicht vorstellen, dass mein Leben so werden würde wie seins oder dass mein Geist jemals so blass wäre, so ohne Härten und jähe Abgründe. Er wollte keine Distanz zwischen uns; er wollte, dass ich ihn als meinesgleichen betrachtete. Ich hingegen wollte die gnädige Distanz zwischen Vater und Sohn, die mir erlaubt hätte, ihn zu lieben.

Eines Abends auf dem Rückweg von einer Party außerhalb der Stadt verunglückte der Wagen, den ich betrunken fuhr, mit mehreren Mitfahrern. Es war allein meine Schuld. Ich war so betrunken, dass ich kaum mehr laufen konnte, und hätte überhaupt nicht fahren dürfen, aber das wussten die anderen nicht; ich gehöre zu den Menschen, die auch fast bewusstlos noch nüchtern wirken können. Auf einer geraden, ebenen Strecke des Highways setzten irgendwie meine Reflexe aus, der Wagen entzog sich meiner Kontrolle, und ein schaumweißer Telefonmast kam aus pechschwarzer Dunkelheit kreischend auf mich zugesprungen. Ich hörte Schreie, ein schweres Brausen, ein Reißen. Alles wurde dunkelrot, dann taghell, danach fiel ich in eine nie gekannte Finsternis.

Ich muss kurz wach geworden sein, als wir ins Krankenhaus gebracht wurden. Ich kann mich undeutlich an Bewegungen und Stimmen erinnern, aber sie wirkten weit weg und als hätten sie nichts mit mir zu tun. Später wachte ich an einem Ort auf, der im tiefsten Winter zu liegen schien, mit einer hohen weißen Zimmerdecke, weißen Wänden und einem harten Gletscherfenster, das sich über mich zu beugen schien. Ich muss versucht haben aufzustehen, denn ich erinnere mich an ein furchtbares Brausen in meinem Kopf, dann eine Last auf meiner Brust und ein riesiges Gesicht über mir. Als diese Last, dieses Gesicht mich wieder nach unten zu drücken begannen, schrie ich nach meiner Mutter. Dann wurde es wieder dunkel.

Als ich schließlich zu mir kam, stand mein Vater am Bett. Bevor ich ihn sah, bevor ich richtig aus den Augen blicken konnte und vorsichtig den Kopf drehte, wusste ich, dass er da war. Er sah, dass ich wach war, trat vorsichtig näher und bedeutete mir, still zu sein. Er wirkte sehr alt. Ich wollte weinen. Eine Weile starrten wir uns nur an.

»Wie geht es dir?«, flüsterte er schließlich.

Erst, als ich den Mund aufmachte, spürte ich meine Schmerzen und bekam Angst. Er muss es mir angesehen haben, denn leise sagte er, mit gequältem, mit fabelhaftem Nachdruck: »Keine Sorge, David. Du wirst wieder gesund. Du wirst wieder gesund.«

Ich konnte noch immer nicht sprechen. Ich sah ihm einfach ins Gesicht.

Er rang sich ein Lächeln ab. »Ihr habt enormes Glück gehabt«, sagte er. »Dich hat es am schlimmsten erwischt.«

»Ich war betrunken«, sagte ich schließlich. Ich wollte ihm alles erzählen – aber Reden war so eine Qual.

»Bist du wirklich so dumm«, fragte er mit einem Ausdruck völliger Ratlosigkeit – denn in diesem Fall konnte er sich die Ratlosigkeit erlauben –, »im betrunkenen Zustand durch die Gegend zu fahren? So dumm bist du doch nicht«, sagte er streng und schürzte die Lippen. »Ihr hättet allesamt dabei draufgehen können.« Seine Stimme zitterte.

»Es tut mir leid«, sagte ich auf einmal. »Es tut mir leid.« Ich wusste nicht, wie ich ihm sagen sollte, was genau mir leidtat.

»Du musst dich nicht entschuldigen«, sagte er, »nur nächstes Mal besser aufpassen.« Er hatte sein Taschentuch zwischen den Handflächen genestelt, jetzt faltete er es auseinander und wischte mir über die Stirn. »Du bist alles, was ich habe«, sagte er mit einem schmerzlichen scheuen Lächeln. »Sieh dich vor.«

»Daddy«, sagte ich. Und fing an zu weinen. Reden war ja schon eine Qual, aber dies war schlimmer, trotzdem konnte ich nicht aufhören.

Das Gesicht meines Vaters veränderte sich. Es wurde schrecklich alt und zugleich, ganz und gar, unrettbar jung. Ich weiß noch, wie erstaunt ich war über das stille, kalte Zentrum des Sturms, der in mir tobte, festzustellen, dass mein Vater gelitten hatte, noch immer litt.

»Nicht weinen«, sagte er, »nicht weinen.« Er strich mir mit diesem albernen Taschentuch über die Stirn, als besäße es Heilkräfte. »Du musst nicht weinen, alles wird gut.« Er weinte beinahe selbst. »Da ist nichts falschgelaufen, nicht? Ich habe nichts falsch gemacht, oder?« Die ganze Zeit strich er mir mit diesem Taschentuch übers Gesicht und erstickte mich fast.

»Wir waren betrunken«, sagte ich. »Wir waren betrunken.« Das schien irgendwie alles zu erklären.

»Deine Tante Ellen sagt, es ist meine Schuld. Sie sagt, ich hab dich nicht richtig erzogen.« Gott sei Dank legte er das Taschentuch weg und straffte matt die Schultern. »Du hast nichts gegen mich, oder? Sonst sag es mir!«

Meine Tränen versiegten, auf dem Gesicht und in meiner Brust. »Nein«, sagte ich, »nein. Nichts. Wirklich nicht.«

»Ich hab mich bemüht«, sagte er. »Ich habe mich wirklich bemüht.« Ich sah ihn an. Schließlich grinste er. »Du wirst noch eine Weile brauchen, aber wenn du nach Hause kommst, reden wir, solange du dort rumliegst, ja? Und überlegen gemeinsam, was zum Teufel wir mit dir anfangen, wenn du wieder auf die Beine kommst. Okay?«

»Okay«, sagte ich.