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IMPRESSUM

Joe Löhrmann mit Katharina Weiß

My Traveling Piano

Mit dem Klavier um die Welt

eISBN: 978-3-95910-266-7

Eden Books

Ein Verlag der Edel Verlagsgruppe

Copyright © 2021 Edel Germany GmbH, Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edenbooks.de | www.edel.com

1. Auflage 2021

Einige der Personen im Text sind aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes anonymisiert.

Projektkoordination: Nina Schumacher

Lektorat: Friederike Haller

Covergestaltung: Rosanna Motz

Fotos (wenn nicht anders angegeben): © privat

E-Pub-Konvertierung: Datagrafix GSP GmbH, Berlin | www.datagrafix.com

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.








»Life is like a piano; the white keys represent happiness and the black show sadness. But as you go through life’s journey, remember that the black keys also create music.«

– Author unknown

VOM TRÄUMEN

Während ich diese Zeilen schreibe, liege ich in einer Hängematte am Happy Beach auf einem paradiesischen Inseljuwel im Golf von Thailand. Ein Fuß streift durch den warmen, hellen Sand. In die Kniebeuge des anderen Beines habe ich einen frischen Smoothie geklemmt, hinter mir singt eine Gruppe junger Thais lebhafte Popsongs, und vorne am Wasser probieren sich einige Backpacker im Acro-Yoga.

Ich plane mein nächstes Naturkonzert an einem Wasserfall, schreibe eine E-Mail an mein Team und male mir die Freude im Gesicht der Konzertbesucher aus, wenn sie an diesem spektakulären Ort ankommen. Vor 15 Jahren hätte sich das für mich wie ein unvorstellbarer Traum angehört. Aber zu meiner Überraschung zeigte sich, dass unsere Träume tatsächlich wahr werden können.

Hast du einen Traum? So einen Traum, bei dem es dir im Bauch kribbelt, wenn du daran denkst? Bei dem es dir warm ums Herz wird und der dir ein großes Lächeln auf die Lippen zaubert?

So einen Traum hatte ich. Und der Gedanke daran hat sich dermaßen gut angefühlt, dass ich es mir selbst fast nicht erlaubt hätte, ihn überhaupt weiterzudenken. Denn muss das Leben nicht hart sein? Lernen wir nicht von klein auf, dass nur messbare Leistung zählt? Arbeit muss schon ein bisschen wehtun, oder? Von seinem Hobby kann man nicht leben? Musik, Bücher schreiben, Bilder malen sind brotlose Künste? Du allein kannst doch kein ganzes Unternehmen gründen …

Pustekuchen!

Ich habe das auch mal geglaubt und war kurz davor, meine Ängste über meine Herzenswünsche dominieren zu lassen und der gesellschaftlichen Norm zu folgen. Aber dann kam – wie so oft – ein Weckruf und mit ihm die nötige Motivation, mich in neue Abenteuer zu stürzen.

Zum Glück traf ich unterwegs auf Menschen, die mich unterstützten. Steine lagen trotzdem auf dem Weg, aber für einen Traum muss man eben auch kämpfen. Mittlerweile ist die Szene in der Hängematte, die ich eingangs schilderte, Teil meines Alltags. Ich habe 47 Länder bereist und in fünf davon gelebt, spreche vier Sprachen fließend und bin mit meinem Klavier fast tausendmal vor Publikum aus aller Welt aufgetreten. Wenn ich an all die wunderbaren Erlebnisse und Begegnungen denke, die mir dieser Weg geschenkt hat, erschreckt es mich manchmal, dass mir das alles fast entgangen wäre.

Ich sehe mich noch, wie ich in einem Büro sitze, das Neonlicht über mir, der Körper geschwächt, die Seele ermattet. In diesem früheren Leben wurde mein Tagesablauf – wie der von vielen, vielen anderen – von den Zielen eines Großkonzerns bestimmt, vom schrillen Weckerklingeln bis zum Herunterfahren des Computers in der Dunkelheit.

Heute weckt mich das Sonnenlicht, und ich habe mein Glück in der Ungewissheit gefunden, jeden Tag zu einem eigenen und einzigartigen Abenteuer machen zu dürfen. Das alles verdanke ich einer verrückten Idee, von der viele glaubten, dass sie unmöglich in die Wirklichkeit umzusetzen sei: mit einem Klavier um die Welt zu reisen, um dort Konzerte zu geben, wo es am schönsten ist. Seit 2012 krempelt My Traveling Piano mein Leben um, und alles dreht sich um die Kombination meiner beiden größten Leidenschaften: Klavierspielen und Reisen. Im Sommer toure ich mit meinem Klavier auf sechs Quadratmetern in einem Campervan durch Europa, während ich im Winter in Asien Konzerte gebe und neue Lieder komponiere, die ich am liebsten bei Naturkonzerten an spektakulären Orten präsentiere: auf den Gipfeln mächtiger Berge oder umgeben von Muscheln und Krabben an kilometerlangen Sandstränden. Mein Anliegen ist es, durch die Musik eine Verbindung zu schaffen, die die Zuhörer näher zusammenbringt – mit sich selbst, untereinander und mit der Natur.

In diesem Buch möchte ich dich auf meine Reisen zu den schönsten Orten der Welt mitnehmen und dir erzählen, wie ich den Schritt zum weltreisenden, professionellen Musiker und digitalen Nomaden geschafft habe. Wie das Leben mich eingeladen hat, den Sprung in die Freiheit zu wagen, der Sonne zu folgen und herauszufinden, wie jede Entscheidung immer der Anfang von etwas ist – auch wenn es nicht immer das ist, was wir erwarten.

Meine Geschichte ist ein Beispiel dafür, dass Träume Realität werden können. Auch DEINE Realität! Ich hoffe, sie inspiriert dich – und lädt dich ein herauszufinden, was genau jenseits deiner Komfortzone auf dich wartet.

Dein Joe

VON EINGESPERRT ZU VOGELFREI

EIN KLEINES GEHEIMNIS

März 2019. Ich saß in meiner Lieblingssaftbar in Srithanu auf der thailändischen Insel Ko Pha-ngan. Der mintgrüne Anstrich passte gut zu den Lampen in der gleichen Farbe, die von der hölzernen Decke baumelten und auch nach Sonnenuntergang das strahlend bunte Obst beleuchteten, das in großen Schüsseln den Verkaufstresen schmückte.

Hlong, der Inhaber der Bar, stellte eine Kokosnuss vor mich hin, aus der ein Strohhalm herausragte, und fragte: »Na, wie läuft’s? Hast du schon deinen magischen Ort gefunden?«

Hlong ist wenig älter als ich, ein Typ mit lustigem Kinnbart und einer Liebe für asiatische Castingshows. Bei einem meiner vielen Besuche hatte ich ihm erzählt, dass ich nach einer besonderen Stelle suchte, an der ich mein nächstes Naturkonzert geben konnte.

»Leider nicht«, berichtete ich von meiner bislang erfolglosen Suche. »Entweder ist es unmöglich, dort ein Klavier zu platzieren. Oder es ist zu kommerziell oder zu laut.«

Hlong nickte verständnisvoll. Wir kannten uns erst kurz, aber wir verstanden uns blendend und hatten viel Spaß, wenn wir uns sahen. Ihm gefiel meine Musik, und häufig spielte er meine Musikvideos auf dem riesigen Fernseher der Bar ab und erzählte seinen Gästen begeistert von meinen Konzerten unter freiem Himmel.

Ich sah, dass er überlegte. Dann sagte er: »Es gibt eine Bucht, von der ich dir noch nie erzählt habe. Es ist etwas umständlich, dort hinzukommen. Und eigentlich sollten nicht zu viele davon wissen. Aber es wäre der perfekte Ort für dich … also, was soll’s!«

Und während er mit seinem langen Obstmesser ein paar Früchte in Stücke schnitt und in einen seiner Hochleistungsmixer füllte, verriet er mir tatsächlich, wo sich die schönste Bucht der Insel vor den Augen der meisten Touristen versteckte.

Ich nahm einen Schluck aus meiner Kokosnuss, speicherte die Wegbeschreibung ab und rief Sophie an, eine Freundin, mit der ich am Abend verabredet war. »Lust auf ein Date in einer verborgenen Bucht?«

Ich hatte Sophie Jahre zuvor bei einem Yogaretreat auf Bali kennengelernt. Sie reist als Yogalehrerin durch die Welt und lebt dabei ein minimalistisches Nomadenleben, das meinem nicht unähnlich ist. Über die Jahre entstand eine besondere Verbindung zwischen uns, die wir auf unsere eigene, freiheitsliebende Art genossen, wenn uns das Schicksal mal wieder an denselben Ort führte.

Das zweite Mal liefen wir uns beim Jazzfestival im kanadischen Montreal über den Weg, ein anderes Mal tanzten wir eine Nacht in Lissabon durch, meditierten zusammen in Ägypten und knutschten in einer Rooftop-Bar in Singapur. Und nun hoffte ich, dass wir einen langen Sonnenuntergang an Hlongs geheimem Lieblingsort miteinander teilen würden.

»Klar«, lachte Sophie an meinem Ohr. »Mit dir immer.«

Ich reckte den Daumen in Richtung Hlong nach oben, leerte meine Kokosnuss und verabschiedete mich. Grinsend winkte er mir hinterher.

Ein paar Stunden später begrüßte Sophie mich mit einem Kuss auf die Wange.

»Du willst mich also an einen abgelegenen Strand entführen?«, fragte sie mit einem Augenaufschlag, der seinesgleichen suchte.

»Absolut!« entgegnete ich zwinkernd. »Und außerdem bin ich auf der Suche nach einem magischen Ort für mein nächstes Naturkonzert.«

»Ach so.« Ein Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Dann mal los.«

Wir stiegen auf meinen Roller, sie klammerte sich an mich, und wir knatterten über die kurvigen Straßen, wechselweise steil bergauf und bergab, bis zu der Stelle, die Hlong mir beschrieben hatte. Ich parkte den Roller am Straßenrand und blickte mich um. Vor uns lag ein wenig spektakulärer Strandstreifen, der linker Hand in einiger Entfernung an einer Geröllwand endete. Sophie machte ein enttäuschtes Gesicht.

»Soll das etwa dein magischer Ort sein?«, fragte sie ungläubig.

»Nein, natürlich nicht.«

Hlong hatte mich vorgewarnt: »Um die Bucht zu erreichen, müsst ihr entweder klettern oder durch das Wasser waten.«

Also deutete ich in Richtung der Felsen. »Da müssen wir rüber.«

Sophie runzelte die Stirn, zog dann aber eine abenteuerlustige Miene.

»Zum Glück habe ich mich nicht für Suppe entschieden«, meinte sie und klopfte auf den Bastkorb, den sie auf dem Rücken trug.

»Du hast uns ein Picknick mitgebracht?«, fragte ich erfreut.

»Aus meinem Lieblingsrestaurant hier auf der Insel, ja. Ich weiß ja: Wenn man dir mit etwas eine Freude machen kann, dann mit gutem veganen Essen«, antwortete sie, und ich fasste mir wertschätzend an die Brust. »Also, worauf warten wir noch?«

Hinter uns war die Sonne bereits auf bestem Wege, den Tag langsam zu verabschieden. Sophie stapfte mir voran durch den Sand, direkt auf die Geröllwand zu, ich folgte ihr, eine seltsame Aufregung in der Magengegend. Hoffentlich hatte Hlong nicht zu viel versprochen.

Zum Glück gab es niedrige Felsen, auf die wir hinaufklettern konnten. Von dort ging es weiter über glitschige Brocken und breite Spalten, bis wir uns gegenseitig über die letzten Steine hinweg halfen und schließlich die besagte Bucht erreichten. Wir sprangen in den Sand, und Sophies Augen wurden groß, meine ebenso: Das funkelnde Wasser schäumte weiß am Strand auf, der leicht Richtung Meer abfiel. An vielen anderen Stränden auf dieser paradiesischen Insel tummeln sich die Einheimischen und Reisenden, doch dieser Abschnitt war menschenleer. Nicht einmal Fußspuren entdeckten wir, kein Kiosk verkaufte billiges Bier, und weit und breit war kein Plastikmüll zu sehen. Drei bis vier Meter hohe Felsen umrahmten die Bucht von beiden Seiten. Die Natur hatte hier ein wunderschönes Amphitheater erschaffen – einsam und unberührt.

Sophie schnappte sich meine Hand und sah mir aufgeregt in die Augen. »Hier musst du spielen!«

Sie sprach aus, was ich in diesem Moment ebenfalls spürte: Das war der Ort, nach dem ich die ganze Zeit gesucht hatte – hier musste ich ein Konzert geben.

Sophie ließ den Proviantkorb in den Sand gleiten und hüpfte los. Rannte über den Sand und streckte die Arme aus.

»Stell es dir vor«, rief sie mir aus etwa fünfzig Metern Entfernung zu. »Hier könnte dein Klavier stehen.« Mit den Zehen malte sie ein großes Rechteck in den Sand. Ihre Euphorie rührte mich, und mit dem Picknickkorb in der Hand trat ich zu ihr.

»Du hast recht. Es ist perfekt«, sagte ich und strahlte die Stelle auf dem Boden an. Gemeinsam breiteten wir unsere Picknickdecke auf dem Rechteck aus, verteilten die mitgebrachten Essenspäckchen darauf und genossen unsere Gesellschaft, die kulinarischen Köstlichkeiten und das spektakuläre Versinken der Sonne im Golf von Thailand.

Der Nordwesten der Insel ist für seine große Yogaszene und seine veganen Restaurants bekannt. Hier siedeln sich seit Jahren vor allem westliche Aussteiger an, die nach einem ruhigeren und bewussteren Leben suchen. Unweit von Hlongs Lieblingsbucht liegt der bekannte Zen Beach, wo Musiker- und Künstlergruppen jeden Abend zum Sonnenuntergang einen Großteil der Auswanderer und Einheimischen um sich versammeln. Natürlich hätte ich mein Piano einfach dort aufbauen können und damit zahlreiche Zuhörer erreicht. Doch geht es bei meinen Naturkonzerten ja gerade um die Ruhe der Landschaft, die sich an Hotspots wie dem Zen Beach nicht einstellen kann. Den Weg über die Felsen zu Hlongs Bucht würden zwar vermutlich nicht so viele Zuhörer finden, dafür jedoch war ihre Atmosphäre perfekt.

Noch in derselben Nacht postete ich die Idee zu meinem Strandkonzert in einer Ko-Pha-ngan-Gruppe auf Facebook. In weniger als 24 Stunden sollte das kleine Event stattfinden – akribische Planung ist nicht unbedingt meine Stärke, und ich folge lieber meinen Impulsen.

Die halbe Nacht lag ich vor Aufregung und Vorfreude wach. Am Morgen schlüpfte ich in meine Shorts und rannte zur Saftbar hinüber.

»Hlong, du bist ein Gott!«, begrüßte ich meinen Freund und umarmte ihn. »Die Bucht ist perfekt. Ich will gleich heute spielen!«

»Heute? Du hast es ja eilig!« Hlong grinste. »Wie bekommst du denn dein Instrument an den Strand?«

»Tja …«

»Soll ich dir ein Taxi organisieren?«

Ich nickte dankbar, schlürfte eine Kokosnuss und kehrte anschließend in meine Unterkunft zurück, um die nötige Technik zu sortieren.

Zwei Stunden vor Konzertbeginn wartete ich mit Klavier und Sack und Pack auf meinen Fahrer. Und wartete. Und wartete. Mehrfach klingelte ich den Taxifahrer an, ein Freund eines Freundes von Hlong, erreichte jedoch lediglich die Mailbox mit einem unverständlichen Ansagetext. Auch Hlong bekam ich nicht an die Strippe. Ich warf einen Blick auf die Uhr: nur noch eine Stunde bis zum Sonnenuntergangskonzert.

Leicht nervös fragte ich Erik, meinen Vermieter, um Rat. Er rief ein paar Leute an, doch keiner seiner Bekannten, die ein Auto besaßen, befand sich gerade in der Nähe. Langsam stieg Panik in mir auf. Verflucht, wieso hatte ich es nur mal wieder so eilig gehabt mit dem Konzert?

Ich überlegte schon, wie ich das Piano in Einzelteilen auf meinem Roller transportieren könnte, als Erik erwähnte: »Ich habe einen alten Jeep. Allerdings weiß ich nicht, ob der anspringt – er steht seit ’nem Dreivierteljahr ungenutzt in der Garage. Aber wenn er fährt, kannst du ihn nehmen.«

»Danke!«, rief ich etwas zu laut, umarmte Erik überschwänglich und eilte mit ihm zur Garage hinüber.

»Warte kurz, für zwei ist es zu eng«, sagte er und schob sich in die schmale Hütte. Ich hörte ein paar metallische Geräusche und sendete ununterbrochen Stoßgebete in den Himmel.

»Ich schließe jetzt die Batterien an«, verkündete Erik schließlich.

»Oh, bitte, bitte, bitte …«, murmelte ich und quetschte meine Daumen zusammen.

Nichts. Nichts. Mir wurden die Knie weich. Dann ertönte ein tiefes Röhren aus der Garage.

»Yeah!« Mit einem fetten Grinsen im Gesicht rollte Erik den völlig verstaubten und verdreckten Wagen ins Freie, räumte den Fahrersitz und ließ mich reinspringen.

»Wartet!« Ein Nachbar kam angelaufen und winkte uns. »Wir helfen euch.« Hinter ihm tauchte seine Freundin auf, und kurzerhand schwangen sich die beiden auf die Ladefläche des Jeeps.

»Wow, Wahnsinn – danke!«, stammelte ich, überrumpelt von so viel Hilfsbereitschaft. Da keine Zeit mehr blieb, das Klavier ordentlich zu befestigen, kamen die beiden wie gerufen. Auf der Ladefläche hockend konnten sie das Instrument während der wackeligen Fahrt festhalten. Erik half uns beim Verladen, und noch als ich losfuhr, spritzte er mit einem Gartenschlauch die dreckige Windschutzscheibe ab. Ohne das Auto zu kennen und mit dem Lenkrad auf der »falschen«, also der rechten Seite, heizte ich im Linksverkehr über die unebenen Straßen, in ständiger Angst, dass herunterhängende Äste der die Straße säumenden Bäume meine Helfer oder mein Instrument treffen würden. Oder dass einer von ihnen hinunterfiel. Oder dass ich eine der vielen Kurven zu eng nahm und wir allesamt von der Straße geschleudert würden.

Doch das Tempo lohnte sich: Wir schafften es rechtzeitig zu jener Stelle, an der ich am Tag zuvor meinen Roller geparkt hatte. Mit vereinten Kräften manövrierten wir mein Instrument und die Verstärker zum Veranstaltungsort – diesmal über den Wasserweg. Seitdem ich mir für das Komponieren neuer Stücke ein leichtes, digitales Klavier gekauft habe, ist es über den europäischen Sommer bei thailändischen Freunden eingelagert und dient mir im Winter neben dem Komponieren auch für meine Naturkonzerte. Und im Gegensatz zu meinem großen Traveling Piano lässt es sich zur Not eben auch mal über Geröll heben.

Als wir die Felsen umrundet hatten und barfuß und mit nassen Shorts die Bucht erreichten, nahm ich wahr, dass sich dort bereits einige Leute versammelt hatten. Für genaue Beobachtungen fehlte mir jedoch die Zeit. Innerhalb weniger Minuten musste ich die ganze Technik für das Konzert fertig bekommen. Erst als der Aufbau beendet war und ich mich erschöpft und verschwitzt, aber unendlich erleichtert auf meinen Klavierhocker sinken ließ, wanderte mein Blick zum ersten Mal richtig über das Setting.

Der Anblick verschlug mir den Atem: Über zweihundert Menschen hatten sich bereits versammelt. Auf einem Felsen saß Hlong mit seiner Familie und reckte die Daumen nach oben. Und auf der Picknickdecke, auf der ich am Abend zuvor mit ihr gespeist hatte, saß Sophie und winkte mir mit einem Strahlen im Gesicht zu, das lange Haar windzerzaust.

Ich entdeckte weitere Freunde, Bekannte und viele noch ganz fremde Gesichter. Einigen tropfte Wasser aus der nassen Kleidung, weil sie ebenfalls den Weg durch die Wellen gewählt hatten. Andere hatten Getränke und Kerzen über die Felsen angeschleppt. Und in der Ferne sah ich weitere kleine Punkte, die durch das Wasser auf die Bucht zuwateten oder sich gegenseitig über die Steine halfen.

Ohne es zu planen, stimmte ich auf einmal den ersten Ton an. Das Tuscheln hörte auf. Die Melodie vermischte sich mit dem Klang der Wellen, die das Ufer umspülten.

Ich saß barfuß am Klavier, hinter mir der Sonnenuntergang über dem Ozean, unter mir der Sand – und vor mir Hunderte Menschen, aus deren Augen eine Sehnsucht funkelte, die ich nur allzu gut kannte. Menschen, die sich verbunden fühlten, sich in den Armen lagen, tanzten, sich massierten oder leise mitsummten. Diese Lebendigkeit im weichen Licht des Sonnenuntergangs war das Gegenteil von Einsamkeit. Ich spürte die Liebe und Verbundenheit wie ein unsichtbares Netz, das uns alle umspann.

Ich schloss die Augen, ließ meine Finger intuitiv über die Tasten gleiten, und eine erfüllende Welle von Frieden und Freude breitete sich in mir aus. Es war längst kein Geheimnis mehr: Genau das ist es, wofür ich leben möchte und wofür ich hier bin.