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Anne Karin Elstad

Ich wollte nie verlieren - ein Frauenschicksal

Aus dem Norwegischen übertragen von Sigurd Schmidt

Saga

Heute ist einer der ersten richtigen Frühlingstage. Von meinem Fensterplatz im Bus sehe ich Menschen in leichter Frühjahrskleidung. Ein hoher, blauer Himmel über den Dächern, die Sonne flutet durch die Straßen. Als der Bus an der Haltestelle stoppt, sehe ich sie. Ich sehe Maria.

Sie steht dicht an der Hauswand, im Schatten. Unter den frühlingshaft gekleideten Menschen an der Haltestelle sticht sie hervor, in ihrer Jacke aus gelbgeflecktem Wolfsleder und in Hosen, die in Stiefeln stecken. Mit der einen Hand hält sie den Kragen am Hals zusammen. Den anderen Arm, mit der Handtasche, hat sie fest um den Körper geschlungen. Eine menschliche Statue in eisiger Kälte, das Gesicht halb versenkt in den Kragen, an den sie sich klammert, als müsse sie sich an etwas festhalten, um aufrecht stehen zu können.

Ich sehe dieses Gesicht, blaß, mit Falten über der Nasenwurzel, wie in tiefer Konzentration, um die Fassung zu bewahren.

Für einen kurzen Moment fange ich ihren Blick ein, aber das ist ein Blick, der nichts wahrnimmt. Über den Augen eine dünne Trotzfalte, die Angst und Frieren verbergen soll. Und ihre Angst und ihr Frieren überkommen mich. Ich drehe mich weg, um dem Anblick zu entgehen.

Mit einem langen Seufzer fährt der Bus weiter. Sie bleibt zurück.

Mich fröstelt in der stickigen Wärme des Busses. Fast ohne es zu merken, halte ich den Kragen meines Mantels zusammen, presse meinen Arm mit der Handtasche fest an mich.

Sie ist mir in letzter Zeit nachts erschienen. Nacht für Nacht, in schlaflosen Stunden, habe ich sie bei geschlossenen Augen gesehen. Aber ich sah sie nur wie auf dem alten Negativ eines Schwarz-Weiß-Filmes, den man gegen das Licht hält. Nacht für Nacht kam ihr weißer Schatten hervor und tanzte über die schwarze Leinwand der Dunkelheit. Ich habe sie als kleines Kind gesehen, als junges Mädchen, ich habe ihr Schattenbild gesehen, zärtlich ein Kind im Arm haltend, verschmolzen mit den Umrissen eines jungen Mannes. Und ich habe sie still daliegen gesehen, still, so still, bis sie in sich selbst verschwand, fort war.

Sie zeigte mir niemals ihr Gesicht. Nicht bis vor einem Moment, nicht bis heute. Der Film ist entwickelt, ich habe alles wieder vor Augen.

Mir bleibt keine Wahl mehr. Ich muß Marias Geschichte aufschreiben.

Maria

Es passiert während der morgendlichen Besprechung. Maria trägt gerade einen Bericht vor. Plötzlich bricht sie ab, hellwach blickend, nach innen lauschend. Sie sieht die Gesichter der anderen vor sich, sieht, wie aufmerksam sie auf einmal sind, wie sie sie anstarren. Dann spürt sie es. Die Blase, die tief in ihr platzt. Für einen Moment durchrieselt sie die althergebrachte Scham über die Unreinheit der Frau. Sie nimmt sich zusammen, damit ihr nichts anzusehen ist und ihre Stimme nicht zittert.

»Entschuldigung, aber ich glaube, mir ist ein kleines Malheur passiert«, sagt sie, lächelt, gibt ihrem Nebenmann den Bericht mit der Bitte, ihn für sie zu Ende vorzulesen.

Sie erhebt sich, spürt, sieht die roten Flecke, die sich zwischen den Oberschenkeln auf ihrer weißen Hose ausbreiten.

»Nun ja«, sagt sie leichthin und hebt bedauernd die Hände, »das kann jedem passieren, nicht?«

Sie registriert jedoch die verschreckten Gesichter, sieht Verlegenheit, Befremden in den Mienen einiger Männer.

Lächelnd, mit erhobenem Haupt, geht sie hinaus. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hat, lehnt sie sich für einen Moment dagegen, spürt wie die Knie zittern – vor Scham und Entsetzen.

Sie merkt, daß sie ihre Tasche vergessen hat, nimmt sich zusammen und geht wieder zu ihnen hinein. Noch immer herrscht dort diese gelähmte, verlegene Stille.

In der offenen Tür bleibt sie stehen.

»Aber ich bitte euch, guckt doch nicht so entsetzt. Was kann ich dafür, daß ich in der zweiten Pubertät bin!« sagt sie heiter.

Das löst die beklemmende Stimmung, befreiendes Lachen, einige klatschen Beifall.

»Ihr versteht, daß ich schnell mal nach Hause muß. In einer Stunde kommt eine Klientin. Das schaffe ich noch.«

Sie geht zur Toilette, stopft sich eine Binde zwischen die Beine. Binden hat sie jetzt immer in der Tasche, wirft den Mantel über und läuft zum Auto.

Herrgott, was für ein trostloses Wetter. Den ganzen Sommer schon Regen, und der Herbst genauso. Regen und Nebel, tagein, tagaus. Grau in grau.

Ungeduldig hält sie an der roten Ampel. Die Scheibenwischer summen, sie reibt die beschlagenen Fenster im Auto trocken, fährt bei Gelb los und muß scharf bremsen wegen eines Jungen, der im letzten Moment über die Straße läuft. Erschrocken denkt sie, daß sie in ihrem Zustand nicht Auto fahren sollte, daß sie sich und andere gefährdet.

Vom Auto läuft sie ins Haus, durch die Wohnung, spürt die Unordnung vom Vortag mehr, als sie zu sehen ist, nimmt den Geruch von kaltem Zigarettenrauch wahr. In dem trostlosen, grauen Schummerlicht erscheint alles noch schlimmer. Ihr geht durch den Kopf, daß sie es mit dem Haus nie mehr schaffen wird, mit nichts mehr. Selbst wenn sie ständig hetzt, ununterbrochen, von einer Sache zur anderen. Daran muß sie denken und an die peinliche Situation im Büro. Einen langen Arbeitstag so zu beginnen...

Sie erschrickt heftig, als sie ihr kalkweißes Gesicht im Badezimmerspiegel sieht. Wieder muß sie an das Schamgefühl denken, das sie dort auf dem Präsentierteller empfand, die Schande der Frau. Trotz aller Aufklärung und weiblicher Emanzipation war ihnen anzusehen gewesen, den Männern, aber auch den Frauen, daß sie etwas sehr Intimes zur Schau gestellt hatte, etwas, das besonders sorgfältig verborgen wird. Und dafür schämt sie sich.

Plötzlich kommt aus ihrem Inneren, aus dem Verborgenen, eine Erinnerung hoch. Ein zweites Gesicht tritt ihr vor Augen, sie sieht sich als Vierzehnjährige.

Es ist am Abend des 17. Mai, des Nationalfeiertages. Im Jugendklub findet ein Fest statt. Gemeinsam mit ihren Klassenkameraden sitzt sie auf der Galerie. Im Sommer werden sie konfirmiert, deshalb dürfen sie sich das Unterhaltungsprogramm ansehen, bevor der Tanz beginnt.

Die Mädchen sitzen in der ersten Reihe nebeneinander, alle gleich gekleidet, sie tragen die Volkstrachten, die sie in den Handarbeitsstunden in der Schule genäht haben. In der Reihe hinter ihnen die Jungen, die lärmen, sie an den Haaren ziehen und in ihrem Stimmbruch viel zu hoch lachen. Nachdem das Licht im Saal ausgegangen ist, führt sie ihre Hand nach hinten, schmiegt sie in eine warme und schwitzende Jungenhand. Die Hand des einzigen , deren Wärme sie schnell durchdringt.

Da merkt sie es. Zuerst die Schmerzen ganz unten im Rücken, dann der Magen, der sich zu einem harten Knoten zusammenkrampft, was immer unerträglicher wird. Danach die große Blase, die in ihr platzt, das Blut, das in Wellen kommt, in Strömen aus ihr rinnt.

Sie erinnert sich an ihre Verzweiflung darüber, daß sie zwischen den anderen eingeklemmt saß, nicht herauskonnte, sich nicht fortwagte, daß sie die Hand, die ihre hielt, nicht losließ, obwohl ihre Hand kalt und klamm wurde, daß sie kicherte und mit den anderen lachte, daß sie die Vorgänge auf der Bühne nicht wahrnahm, daß vor ihren Augen alles eine rote Wolke der Scham war. Sie blieb sitzen, wie sie saß.

Sie hatte eine grüne Jacke mit, die sie sich behutsam unterschob und auf der sie verharrte, bis ihr klar wurde, daß es keinen Zweck mehr hatte. Bis sie spürte, wie das Blut alles durchdrang, und sie die schale Ausdünstung des Blutes wahrnahm, begriff, daß die anderen bei diesem Geruch etwas merken mußten. Da flüsterte sie der ihr am nächsten sitzenden Freundin zu, daß es gekommen sei, daß sie nach Hause müsse.

Lise kam ihr nach, blieb dicht hinter ihr, damit niemand den großen, beschämenden Fleck auf ihrem Rock sähe. Vor sich her trug Maria ihre zusammengeknüllte Jacke, während sie darum betete, daß ihr Sitzplatz nicht beschmutzt sein und ihr Freund nichts merken möge.

»Du bist verrückt«, sagte Lise aufgekratzt kichernd, als sie endlich draußen waren.

Maria drehte den Rock so, daß der Fleck nach vorn kam, faltete die Jacke zusammen, um deren beschmutzte Stellen ebenfalls zu verbergen, hielt die Jacke vor den Bauch.

»Soll ich dich nach Hause bringen?« fragte Lise widerwillig.

»Natürlich nicht.«

Fröstelnd in dem dünnen Rock, schlug sie den Heimweg ein. Sie schluchzte und weinte, und ihr größter Kummer war, daß sie das Fest verlassen mußte.

Sie schlich sich leise ins Haus, damit der Vater sie nicht hören sollte, verkroch sich tief in ihr Bett und weinte vor Scham und Verzweiflung. Weinte über die Gefangenschaft in einem Körper, der so etwas mit einem machen konnte. Ja, sie erinnert sich jetzt an die Verzweiflung und die Scham.

Dieselbe Scham, die sie heute überkommen hatte. Derselbe unberechenbare Körper. Und sie sieht ihr Leben von diesem Tag bis heute als einen Kreis. Ihr Zyklus ist genauso unberechenbar geworden wie damals. Sie erinnert sich an die ersten Menstruationen, die unregelmäßig kamen, in Abständen von Monaten. Nicht anders ist es jetzt. Fünf Wochen, drei Wochen, sechs, acht; sie muß immer Binden in der Tasche haben. Der Kreis hat sich in gewisser Weise geschlossen, denkt sie. Nur damals, da hatte sie ein unendlich langes Leben vor sich – und heute?

Lediglich vierzehn Tage seit der letzten Menstruation, das ruft quälende Angst hervor. Beunruhigende Gedanken, die sie zwischen den Menstruationstagen verdrängt. Das Krebsgespenst, die Furcht davor, daß irgend etwas nicht in Ordnung ist.

Unsinn, sagt sie sich. Es ist nichts weiter als das Klimakterium. Ihr Zyklus, der verrückt spielt, eine andere Krankheit hat sie nicht. Wie schon so oft, schüttelt sie die Angst ab, die dummen Gedanken, macht sich schnell zurecht. Sie legt sich zwei Binden vor, zieht einen weiten Rock an, fährt mit dem Kamm durch das Haar, legt etwas Lippenstift auf und eilt wieder aus dem Haus. Denkt, daß sie es immer eilig hat, während ihr die Jahre wie Sand durch die Finger rinnen. In ein paar Jahren ist sie fünfzig. Daran denkt sie auch, jetzt häufig.

Im Auto fällt ihr wieder das fatale Fest an jenem 17. Mai ein. Merkwürdig, daß diese Erinnerung gerade jetzt hochkommt, nachdem sie so viele Jahre verschüttet war. Noch immer gibt es ihr einen Stich, wenn sie sich in das Kind versetzt, das sie damals war. Spuren eines alten Kummers. Am allerschlimmsten war es, allein damit fertig werden zu müssen, mit niemandem über das sprechen zu können, was mit ihr vorging. Nur mit den Freundinnen, und da wurde es zu Gekicher und Getuschel. Niemals jemanden zu haben, dem man den Ernst klarmachen konnte, die Angst und die Unsicherheit. Das war es wohl eigentlich, weshalb sie geweint hatte, auch damals.

Zugleich erinnert sie sich an den Alptraum, daß ihr das am Konfirmationstag passiert. Nacht für Nacht träumte sie damals dasselbe. Sah sich zum Altar gehen, mit dem großen roten Fleck hinten auf dem Kleid. Ihr fällt ein, daß sie an ihrem Konfirmationstag ein Binde trug, obwohl das gar nicht nötig war.

Und plötzlich ist ihr, als sei sie sich selber begegnet, ihrer Scham von damals. Heute, als sie dastand und sich die roten Flecken auf der weißen Hose ausbreiteten, hatte sie sich als Konfirmandin aus dem Traum gesehen, mit einer großen beschämenden Rose auf dem glänzenden, weißen Taftrock.

 

Während sie die Treppe hinaufeilt, wirft sie einen Blick auf die Uhr. Sie hat noch ein paar Minuten, um sich auf die Begegnung mit der Klientin vorzubereiten. Vor dem Treffen graut ihr – wie immer.

»Ist sie noch nicht gekommen?« fragt sie die junge Kollegin im Vorzimmer.

»Nein. Mein Gott, Maria, ich muß schon sagen, wie spielend leicht du das weggesteckt hast, was da passiert ist. Und noch dazu, wo der Alte dabei war. Wäre mir das passiert, ich wäre gestorben.«

Der Alte, das ist der Chef des Sozialamtes. Maria schmunzelt, er ist in ihrem Alter, obwohl, gelegentlich ist er wirklich alt und hat schrullige Ansichten. Etwas, was die Arbeit der Angestellten hier zusätzlich belastet.

»Aber das ist doch nichts, weswegen man sich schämen müßte. Die natürlichste Sache der Welt, nicht?«

»Schon, aber stark war es trotzdem, wie du das gemacht hast.«

»Was sollte ich denn tun? Im Erdboden versinken, mich unsichtbar machen?«

»Ja, zum Beispiel...«, sagt die Kollegin lachend und schaut voller Bewunderung auf Maria.

Maria ist die Älteste unter den angestellten Frauen. Für die Jüngeren ist sie so etwas wie eine Mutter. Sie kommen mit ihren Schwierigkeiten und Problemen zu ihr, ob es um die Arbeit geht oder um das Privatleben. Sie sehen Maria als die Starke, die alle Dinge in Ordnung bringen kann. Sicher hat sie für dieses Bild, das man von ihr hat, selbst gesorgt. Sie möchte gern als stark angesehen werden. Daß sie auch schwach sein kann, geht niemanden etwas an. Das ist ihre eigene Sache.

Sie geht in ihr Büro und weiß, daß sie eine neue Maria-Anekdote in die Welt gesetzt hat. Wie beispielsweise jene von ihr und der Klientin, bei der es um Scheidung ging, einer abgehärmten, grauen Frau, niedergeschlagen und voller Lebensangst. Plötzlich stand der rasende Ehemann in der Tür und ging auf die Frau los. Maria schmiß ihn raus. Sie packte ihn beim Schlafittchen, schob ihn durch den Korridor, die Treppe hinunter, bis auf die Straße. Der Mann war so verdutzt, daß er sich nicht wehrte und wie ein verprügelter Hund abzog, während die Mädchen im Vorzimmer Maria mit sprachloser Verwunderung betrachteten.

Oder einmal, als die Polizei anrief und sie zu kommen bat. Sie hätten einen ihrer drogensüchtigen Jungen mitgenommen. Er habe in einem Café randaliert, spiele immer noch verrückt und sei nicht zu bändigen. Man wende sich an sie, weil sie der Polizei mitgeteilt habe, daß dieser Junge unter keinen Umständen in eine Zelle gesperrt werden dürfe.

Sie warf sich in ihr Auto und fuhr zur Polizeistation. Dort fand sie ihn, von zwei Polizisten mit Gewalt auf einer Bank gehalten. Sie wurden kaum fertig mit diesem schmächtigen Knaben, in dessen Gesicht wahnsinnige Angst geschrieben stand.

Maria sprach beruhigend auf ihn ein, bat die Polizisten, ihn loszulassen. Sie umfing den mageren Körper des Jungen, bis er sich ihrer Umarmung weinend ergab, ein Ausbund an Angst.

Sie sorgte dafür, daß die Polizei seine Mutter und einen Arzt anrief. Als er nach Hause gefahren wurde, setzte sie sich mit ihm nach hinten ins Polizeiauto, legte die Arme um ihn. Sie blieb, bis der Arzt kam und der Junge sich beruhigt hatte.

Nicht zum ersten Mal war sie in einer Wohnung wie dieser. Aber sie verspürt immer wieder denselben hilflosen Zorn auf eine Gesellschaft, die so etwas geschehen läßt, auf ihren Berufsstand, sie fühlt sich schuldig, wenn sie so eine Mutter sieht, so eine Bruchbude.

Auch diese Geschichte kursierte unter den jungen Kollegen. Man hielt sie für mutig.

»Herrgott, das ist doch meine Arbeit!« hatte sie abgewehrt und die Bürotür hinter sich zugeschlagen.

Das waren die Momente, in denen sie das Heulen kriegen konnte.

Die Klientin, die gleich zu ihr kommen wird, ist die Mutter dieses Jungen. Stein heißt er.

Heute, wenn sie Vorfälle wie diese vor Augen hat, fragt sie sich nach dem Sinn ihrer Arbeit. Jeder Klient verlangt etwas, nimmt sich ein Stückchen von ihr, und so geht es immer weiter – es bringt nichts, denkt sie in ihren finstersten Augenblicken, wie gerade jetzt.

Trostlos, wie der Regen und das Grau dort draußen. Trostlos, denkt sie, wenn sie das triste, enge Kabuff sieht, ihr Büro, das knapp Platz für einen Klienten bietet. Wenn sie mehrere Personen empfangen muß, zum Beispiel ein Ehepaar mit Kind, ist es so eng, daß sie das Gefühl hat, kaum atmen zu können. Enge und Trostlosigkeit, augenfällig durch Unglück und Elend, die innerhalb dieser Wände ständig zugegen, zum Greifen nahe sind.

In letzter Zeit hat sie immer häufiger gedacht, daß sie es nicht mehr packt, sich sinnlos kaputtmacht. Aber wenn die Klienten vor ihr sitzen, weiß sie, daß sie es schaffen muß. Will und muß. In diesen Momenten werden ihre eigenen Alltagsprobleme zu Bagatellen, an die zu denken unanständig wäre, zu einem Nichts.

Das geht ihr auch gerade jetzt durch den Kopf, während sie die dicke Akte hervorholt. Steins Akte. »Dringend«, steht darauf. Im Herbst 1983 als dringend eingestuft. Seitdem ist dieser Fall dringend, wie viele andere. Ergebnislos, und jetzt ist Herbst 1986.

Ihre Gedanken wenden sich der Mutter zu, die gleich kommen wird. Sie war Marias Kollegin, als sie noch in der Stadtverwaltung arbeitete. Erstaunlicherweise hat die Frau es bei dieser Arbeit ausgehalten, trotz eines zerstörten Heims und eines ruinierten Lebens, trotz Scheidung, trotz des Jungen und der Probleme, die sie nach und nach mit den jüngeren Kindern bekommen hat. Seinerzeit, als Maria und sie zusammen arbeiteten – sie saßen im selben Büro –, war sie eine junge, voll ausgelastete, aber glückliche Mutter. Damals war sie die junge Frau Holte. Später sollte sie sie wiedertreffen, hier.

Außerhalb der Arbeit waren sie damals nie zusammen gewesen. Trotzdem, einen Klienten auf diese Weise zu kennen, macht die Sache zu persönlich, zu problematisch.

Sie graut sich vor der Begegnung mit ihr. Erstmals jedoch hat sie ein Angebot zu unterbreiten. Wie es aussieht, ist es ihr gelungen, einen Platz für den Jungen in einer Therapiegruppe zu beschaffen. Nach Weihnachten. Eigentlich wäre es ab sofort notwendig, es hätte schon vor vielen Jahren sein müssen, aber sie ist immer noch damit befaßt. Nach Weihnachten.

Das sind Marias Überlegungen, die Mutter betreffend, die gleich vor ihr sitzen wird. Sie schämt sich ihrer Gedanken von heute morgen. Daß sie sich durch das Mißgeschick mit der Menstruation aus dem Gleichgewicht bringen ließ! Vergessen ist auch die Angst. Ungebührliches Benehmen innerhalb dieser Wände hier. Bagatellen!

Maria ist immer wieder überrascht, wenn sie Åse Holte trifft. Sie erwartet den Anblick einer verschüchterten, gestreßten und verzagten Frau. Jedesmal durchfährt sie derselbe Schreck, als wäre das, was sie sieht, widernatürlich.

Åse Holte ist großgewachsen, schlank und attraktiv. Heute trägt sie einen knallroten Mantel, ihren roten Regenschirm stellt sie in den Ständer an der Tür. Gelassen kommt sie näher, setzt sich, öffnet die Knöpfe des Mantels.

»Möchtest du den Mantel nicht ablegen?« fragt Maria. »Es ist warm hier.«

»Nein, ich kann mich nicht allzulange aufhalten. Du weißt, die Frühstückspause...«

Ja, Maria versteht. Åse Holte kommt auch sonst nie während der Arbeitszeit hierher. Die Arbeit ist wohl das einzige, was man im Leben dieser Frau als normal bezeichnen kann.

Maria betrachtet sie. Eine frisch gebügelte weiße Bluse zu dem schönen Rock, um den Hals einen rot-weißgestreiften Schal, die Haare frisiert und ordentlich. Unbegreiflich, denkt Maria, daß sie das schafft. In ihrer Situation, immer adrett, sie will der Umwelt zeigen, daß alles in Ordnung ist. Maria fällt jedoch auf, daß das gepflegte Haar matt ist und ohne Leben, in ihrem Gesicht sieht sie ein Grau, das unter keiner Schminke zu verbergen ist, die tiefen Furchen um den Mund, die strengen Falten über der Nasenwurzel. Diese Frau vor ihr ist mindestens fünf Jahre jünger als sie, sieht aber älter aus. Die Augen hinter den rauchblauen Brillengläsern weichen Marias Blick aus, ihr abgemagerter Körper, die zitternden Hände, die die Tasche umklammert halten, sagen alles.

Ihr gepflegtes Äußeres verunsichert Maria mehr als das Bild, das sie von ihr hat, wenn sie sie nicht sieht. Denn sie weiß, diese Frau bewegt sich ständig auf einem sehr, sehr dünnen Seil, das jederzeit reißen kann.

»Was wird nun?«

Ein Schreck durchfährt Maria auch wegen dieser Stimme, die fest ist, aber niedergeschlagen und ohne Gefühl. Sie versucht, ihrem eigenen Tonfall Optimismus zu geben, Nüchternheit, während sie über die Therapiegruppe berichtet, über den Platz dort, der sozusagen reserviert ist. Aber er müsse es selber wollen.

»Jetzt will er doch nichts lieber als das. Wann also?«

»Nach Weihnachten«, sagt Maria, und jetzt muß sie dem Blick der Mutter ausweichen. »Es ist bald soweit, nach Weihnachten.«

Wieder sitzt sie hier und weiß, daß ihr Angebot zu miserabel ist, als daß es der Mutter helfen könnte, denn jetzt ist erst September.

»Das ist zu spät«, sagt die Mutter, »das ist zu spät für uns alle.«

Maria beugt sich zu ihr über den Tisch, versucht, sich eifrig zu geben, ihren Worten Gewicht zu verleihen.

»Wir haben es bis hierher geschafft, die paar Monate müssen wir nun auch noch überstehen.«

»Nein, nach Weihnachten, das ist zu spät«, sagt die Mutter mehr zu sich selbst als zu Maria. – »Das schaffe ich nicht.«

Dann blickt sie Maria direkt ins Gesicht. Ihre Augen sind hart, verzweifelt. Sie zögert einen Moment, bevor sie den Schal am Hals zur Seite schiebt.

Maria merkt, wie ihr schlecht wird beim Anblick der Flekke – lila, blaugelb.

»Ich hatte mir vorgenommen, nichts davon zu sagen. Es ist zum ersten Mal passiert, das hier. Aber verstehst du jetzt, wenn ich sage, daß es mit deinem Angebot zu spät ist?«

»War er das?«

»Letztes Wochenende, als er zu Hause war.«

»Warum hast du nicht angerufen?«

»Hätte das was geändert?« fragt die Mutter müde.

»Aber warum hat er das getan? Er hat dich doch früher nie mißhandelt?«

Da löst sich ihre Zunge, die Worte sprudeln hervor. Daß er nach Hause gekommen sei, nachdem er sich ein paar Wochen nicht hatte sehen lassen, daß sie ihn gesucht, sich wieder fürchterlich gesorgt habe.

Dann sei er nach Hause gekommen, völlig fertig. Sie habe ihn in die Wanne gesteckt, ins Bett gebracht. Fast zwei Tage habe er ununterbrochen geschlafen. Während dieser Zeit habe sie seine Bettwäsche mehrmals wechseln müssen. Geschwitzt habe er so, daß die Matratze naß geworden, die Feuchtigkeit bis zur Auflage durchgedrungen sei. Dann sei ihr der furchtbare Gedanke gekommen: Aids. Daß er infiziert sein könne. Und sie habe solche Angst bekommen, fürchterliche Angst. Er sei erst zwanzig, und die ganze Zeit habe sie die Hoffnung gehabt, daß ein Wunder geschehe. Wie etwa mit der Gruppe. Denn in letzter Zeit habe er sich das auch selber so sehr gewünscht.

Am Sonntagmorgen habe sie ihm das Frühstück gemacht, Eier, Milch, und sich gefreut, daß er so gut gegessen habe. Sie habe ihn betrachtet, ihren gutaussehenden Jungen, bei sich gedacht, daß er ihr Bester sei, von jeher ihr bravstes und am meisten hilfsbereites Kind. Und in dieser Situation, als sie ihn so gesehen habe, ausgeruht, frisch und sauber, da sei ihr all das Qualvolle wie ein böser Traum erschienen. Lächelnd und vollkommen nüchtern habe er dagesessen und sei der gewesen, der er früher gewesen war. Für einen Moment sei er das gewesen. Bis sie ihn danach gefragt habe.

»Wonach gefragt?«

»Ob er nicht einen HIV-Test machen lassen wolle.«

»Und dann?«

»Ja, dann ist der Teufel los gewesen. Er hat alles vom Tisch gefegt, einen Küchenstuhl zerschlagen... Na, du weißt ja selbst, wie das ist. Die Mädchen sind von dem Krach wach geworden, und dann, dann hat er das hier getan«, sagt sie und zeigt auf die Flecke am Hals. »Schließlich ist Per wach geworden, er hat ihn gebändigt, bevor ich das Bewußtsein verlor.«

Ihre Stimme, ratlos, niedergeschlagen, zittert jetzt ein wenig.

»Es war entsetzlich: die heulenden Mädchen, Per kreidebleich vor Haß und blinder Wut. Ja, da habe ich gesehen, was ich solange verdrängt hatte, daß Per seinen eigenen Bruder haßt. Und Stein. Er hat geschrien und mich verflucht. Das war noch nie vorgekommen. Ich hätte auf keinen Fall nach dieser fürchterlichen Sache fragen dürfen, aber ich bin so voller Angst gewesen, bin es noch.«

Die Worte rauschten an Marias Ohren vorbei. Das hat sie alles schon einmal gehört.

»Ich habe ihm alles Geld gegeben, das ich bei mir hatte. Mir ist nichts anderes übriggeblieben, sonst hätte er noch mehr zerschlagen. Das letzte, was er geschrien hat, bevor er gegangen ist, war, daß er mich haßt, daß er nie mehr nach Hause kommen wird. Aber er kommt wieder, wenn er gänzlich am Boden liegt und sich erholen muß. Die Sache ist nur die, ich weiß nicht, ob ich es noch packe. Denn – ich habe Angst vor meinem eigenen Sohn.«

Das letzte sagt sie verwundert, als könnte sie es selbst nicht glauben. Auch während sie Maria ansieht, ist Verwunderung in ihren Augen, als wäre sie aus einem Trancezustand erwacht.

»Was soll ich bloß machen?« fragt sie.

»Wir werden tun, was wir können, um den Platz früher zu bekommen, aber weißt du, wie hoffnungslos das ist, wie viele auf der Warteliste stehen?«

»Ich weiß, daß du tust, was du kannst, aber das reicht nicht. Ab und zu habe ich das Gefühl, daß alles aus und vorbei ist und es nur noch zu einer Katastrophe kommen kann.«

»Aber so darfst du nicht denken.«

Maria spürt, wie ihr von den eigenen Worten schlecht wird, diesen Phrasen. Worte, Worte, an die sie selbst nicht glaubt.

Åse Holte geht, nicht ganz so aufrecht, wie sie gekommen ist, gebeugter, sorgenvoller.

Maria bleibt zurück, das hat an ihren Kräften gezehrt. Soll das ihr Leben sein? In diesem Moment scheint es ihr hoffnungslos. Ihre Arbeit, die Versprechungen, die sie nicht einlösen kann, die Aussichtslosigkeit bei alledem. Und diese Frau ist nur eine von vielen. Sie sieht die verzweifelten Mütter vor sich, die Eltern, alle, die zu dieser Tür hier rein- und rausgegangen sind. Die versuchten, ihren Lügen Glauben zu schenken, die hofften.

Am schlimmsten ist es, solche wie Åse Holte zu empfangen, Menschen, die sie besser kennt als die Klienten sonst. Das geht ihr so nahe, daß sie meint, es nicht ertragen zu können.

In den letzten Jahren ist sie so oft bei Åse Holte zu Hause gewesen. Hat den Verfall mit angesehen. Sah, wie sich die drei jüngeren Kinder von Mal zu Mal veränderten. Per, der Zweitälteste, ist ein guter Schüler, aber wortkarg, sagt die Mutter, sie weiß nie, was er denkt. Die beiden Jüngsten, Mädchen, haben große Probleme mit der Schule und mit Freunden, sind quengelig und nervös. Ein Ausdruck für ihr Verlangen nach Aufmerksamkeit. Der Vater gab auf und suchte das Weite, als sich die Probleme zu Hause häuften. Einmal hatte sie Åse gefragt, ob sie deshalb nicht verbittert sei.

»Nein«, hatte sie geantwortet. »Verbittert? Nein. Er ist nicht so stark wie ich, ist es nie gewesen. Warum sollten wir uns beide zugrunde richten?«

Ganz sich selbst überlassen, lebt sie vollkommen isoliert. Sie und ihre Kinder. Keine Freunde mehr, nur eine alte Mutter, die auftaucht, wenn alles gar zu schwierig wird.

Maria seufzt müde. Åse Holte ist nur eine von vielen. Hoffnungslos ist bloß, daß Gespräche wie dieses sie allmählich zermürben, noch Tage danach an ihr nagen. Das macht sie kaputt. All die Dinge, die sie nicht regeln kann, machen sie fertig. Und das nutzt ja nichts. Auf keinen Fall nutzt es etwas, wenn derjenige, der helfen soll, mit seinem Klienten untergeht.

Wer hat das gesagt? Fredrik. Irgendwann in den ersten Jahren, nachdem sie hier begonnen hatte. Eines Tages war sie beim Mittagessen zusammengebrochen. Hatte nur noch geweint. Hatte ihre drei eigenen wohlgeratenen Kinder betrachtet und geweint. Hatte an die Kinder gedacht, mit denen sie durch ihre Arbeit in Berührung kam, und hatte geweint. Möglich, daß es nach einem solchen Gespräch wie heute war. Er sagte damals: »Es hilft kaum etwas, wenn derjenige, der helfen soll, mit seinen Klienten untergeht. Wenn du so weitermachst und deine Arbeit mit nach Hause schleppst, mußt du dir einen anderen Job besorgen.« Das sagte er. Und er hatte recht.

Seither hat sie versucht, danach zu leben. Versucht. Nur wenn sie besonders müde ist, wenn sie sich nicht wohlfühlt, wird sie empfindlich. In solchen Situationen gehen ihr die Angst und das Entsetzen und das Unglück der Klienten unter die Haut.

Maria räumt die Akte mit all den Informationen zu Stein weg, legt sie in die Schublade, verdrängt das Bild seiner Mutter aus ihrem Kopf. Für einen Moment ärgert sie sich, daß ausgerechnet diese Frau sie derart beschäftigt. Und sie greift zu einer neuen Akte, erwartet den nächsten Klienten. Auch diese Mappe trägt den Vermerk: »Dringend«.