UNAUSLÖSCHLICH  

Die Reacher Fälle - Band 1

    

Dan Ames


übersetzt von Madeleine Seither

    





This Translation is published by arrangement with Dan Ames.
All rights reserved.

 

Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.

Impressum


Deutsche Erstausgabe
Originaltitel: A HARD MAN TO FORGET
Copyright Gesamtausgabe © 2020 LUZIFER-Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

  

Cover: Michael Schubert
Übersetzung: Madeleine Seither

  

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2020) lektoriert.

  

ISBN E-Book: 978-3-95835-475-3

  

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Kapitel 1

 

Die beiden Männer mit den Knarren gingen hinter dem Mann mit der Schaufel. Sie wussten, was sie taten. Manchmal war eine Schaufel eine Waffe wie jede andere. Ein Mann mit einer Schaufel, der nichts zu verlieren hatte, musste es mit dem versuchen, was ihm zur Verfügung stand.

Also blieben sie auf Distanz.

Sollte sich der Mann umdrehen und die Schaufel mit ausgestreckten Armen schwingen, konnte er bestimmt zweieinhalb Meter weit reichen.

Die Männer mit den Knarren hielten einen Abstand von drei Metern.

Der Mann mit der Schaufel erweckte allerdings nicht den Eindruck, als wollte er angreifen. Seine Schultern hingen herab, seine Füße schlurften durch den Sand. Er sagte nichts.

Es war Nacht in der Wüste. Die Sterne standen am Himmel. Der Wind blies stetig aus Südwest, hatte aber keine Kraft. Es war kühl und die Männer mit den Knarren fröstelten. Der Nachthimmel über ihnen war von Sternen übersät.

Der Mann mit der Schaufel schwitzte. Er trottete voran und sein Gesicht war klebrig, schimmerte im fahlen Mondlicht. Hin und wieder stolperte er über einen großen Stein. Ohne sich die Mühe zu machen, nachzusehen, was seinen Weg behindert hatte, bewegte er sich einfach weiter vorwärts.

Die Männer mit den Knarren wichen den Steinen geschickt aus, über die der Mann mit der Schaufel stolperte. Er war ihr Wegbereiter, auch wenn er als einziger keine Ahnung hatte, wohin sie gingen.

Als das Trio mindestens eine Meile von der Straße entfernt war, wechselten die Männer mit den Knarren einen Blick, nickten und blieben abrupt stehen.

Der Mann mit der Schaufel stolperte zunächst noch weiter vorwärts, doch dann merkte er, dass seine Begleiter angehalten hatten.

Er blieb ebenfalls stehen, drehte sich um und sah sie an.

Einer der Männer zeigte mit seiner Pistole auf eine Stelle am Boden und wies mit dem Kinn zur Schaufel.

Der Mann mit der Schaufel blickte nach unten zu der Stelle am Boden. Er sah nichts Besonderes. Sand. Einige lose Kiesel. Unkraut.

Sie warteten.

»Ihr Mistkerle«, sagte er. Seine Worte waren ohne Nachdruck, ohne Drohung. Eine einfache Aussage, von allen akzeptiert.

Der Mann mit der Schaufel steckte die Spitze des Schaufelblatts in den Boden vor sich. Er stellte seinen Fuß auf die Schaufel und drückte sie in die Erde.

Er begann zu graben.

In der Ferne heulte ein Kojote. Das Geräusch der Stahlschaufel hallte in der einsamen Wüstenluft wider. Wenn sie auf einen losen Stein oder eine Kiesschicht stieß, schien der Widerhall im Raum über den Männern zu schweben.

Die Männer mit den Knarren schenkten der Wüste oder ihren Bewohnern in der Ferne keine Aufmerksamkeit. Sie waren ausschließlich auf den Mann mit der Schaufel konzentriert. Sie hielten noch immer Abstand. Es war jederzeit möglich, dass eine Schaufel voller Sand auf sie geschleudert würde. Also standen sie weit weg. Nah genug, um in der Lage zu sein, mit absoluter Zuversicht auf ihre Zielperson zu schießen und sie zu töten, aber weit genug, damit sich ein Spaten voll Sand über die Entfernung, die er zurücklegen musste, zerstreute.

Der Mann mit der Schaufel zeigte keine Anzeichen einer Angriffsabsicht.

Er wirkte mechanisch. Schaufel hineinstecken. Schaufeln. Sand beiseite werfen. Wiederholen.

Er hatte aufgehört zu schwitzen.

Seine Hände waren zittrig. Manchmal bebte die Schaufel in seinem Griff.

Es schien, als wollte er etwas sagen, aber sein Mund bewegte sich, ohne ein Geräusch zu produzieren. Einer der Männer mit den Knarren war sehr groß, und als er das Gesicht des Grabenden betrachtete, erinnerte es ihn an einen frisch gefangenen Fisch, den man ans Ufer geworfen hatte und der nach Luft schnappte.

Als der Wüstenboden auf Höhe der Taille des schaufelnden Mannes war, sprach einer der Männer mit den Knarren. Es war nicht der Große. Der andere war klein und stämmig, mit einem Stiernacken.

Seine Stimme war emotionslos.

»Wirf die Schaufel weg. Setz dich hin.«

Der Mann in dem flachen Grab zögerte. Er stützte sich auf die Schaufel und sah zum dunkelvioletten Himmel. Seine Lippen bewegten sich unablässig, aber kein Ton kam hervor.

Einer der Männer mit den Knarren war neugierig, ob der Mann betete. Doch die Stimme war so leise und dank der Drei-Meter-Sicherheitszone konnte er sie nicht hören. Aber seiner fundierten Vermutung nach wurde ein Gebet gesprochen.

Der Mann mit der Schaufel legte eine Hand ans untere Griffende des Werkzeugs und warf es in die Dunkelheit. Es segelte in einem Bogen fort und drehte sich leicht, wie ein perfekt geworfener Football.

Es landete im Sand und verursachte einen leisen, entfernten, dumpfen Aufschlag.

Der Mann setzte sich hin, zog die Knie an sich und schlang die Arme darum. Er vergrub sein Gesicht in der Lücke zwischen seinen Armen und seiner Brust.

Er weinte.

Einer der Männer mit den Knarren trat vor, hob seine Pistole und schoss zweimal. Die Waffe war mit einem Schalldämpfer ausgestattet und das Geräusch seiner Schüsse war kaum mehr als ein leises Puff. Es hatte kein Echo und verklang rasch.

Die Haare auf dem Kopf des sitzenden Mannes bauschten sich in die Höhe, als jede der Kugeln in seinen Schädel eintrat. Er kippte nach hinten und fiel auf den Rücken.

Der Schütze neigte seinen Kopf zur Seite und beurteilte, wie gut seine Schüsse den Mann ins Grab gelegt hatten.

Er schien vom Ergebnis enttäuscht zu sein.

Er schraubte den Schalldämpfer ab und schob ihn in eine Tasche. Dann steckte er die Waffe in ein verdecktes Holster unter seinem linken Arm.

Danach streckte er die Hand aus und zog die Füße des toten Mannes in seine Richtung, sodass die Leiche flach im Grab lag.

Der andere Mann holte die Schaufel und ging zu seinem Partner am Fußende des Grabs.

Er holte einen Vierteldollar aus seiner Tasche und lehnte den Schaufelgriff gegen seinen Bauch.

»Sag an.«

»Kopf.«

Der Mann mit der Münze warf sie in die Luft, fing sie und schlug sie auf seine andere Hand. Dann zog er die obere Hand schwungvoll weg.

Er zeigte dem anderen Mann die Münze, der daraufhin die Schaufel nahm und Sand auf den toten Mann zu werfen begann.

In der Ferne heulte der Kojote wieder.

Kapitel 2

 

Erst viel später, lange, nachdem die Leichen sich zu stapeln begonnen hatten und die Hölle losgebrochen war, würde Lauren Pauling anfangen, sich zu fragen, warum genau an diesem Morgen sie an Jack Reacher gedacht hatte.

Es war ein ziemlich routinemäßiger Start in den Tag gewesen.

Ein früher Kaffee. Schnell die New York Times durchblättern. Ein knallhartes Workout im Fitnessstudio, das im Keller ihres Apartmenthauses untergebracht war. Es war eine extreme Routine, die ein hartes Kardiotraining gefolgt von einem Hantelprogramm beinhaltete. Während sich Pauling der Fünfzig näherte, war sie besonders stolz darauf, dass ihr Trainingsplan wesentlich jüngere Frauen um Gnade betteln lassen würde.

Duschen, ein leichtes Frühstück und der Beginn ihres Arbeitstages.

Für Pauling bedeutete das, ihr Apartment in der Barrow Street zu verlassen und zu ihrem Büro in der 4. Street West zu gehen. Unterwegs betrachtete sie ihr Abbild in den Schaufenstern. Sie war ein bisschen größer als der Durchschnitt, mit goldblonden Haaren. Ihre erstaunlich grünen Augen waren im Spiegelbild nicht zu erkennen, aber sie waren oft das Erste, das die Menschen an ihr wahrnahmen. Sie konnte sie strategisch einsetzen, wenn sie musste.

Pauling erreichte das Bürogebäude, stieg die schmale Treppe hinauf und schloss ihre Zweiraum-Bürosuite auf.

Im vorderen Bereich befand sich ein zwangloser Aufenthaltsbereich mit zwei Stühlen und einem Tisch. Zeitschriften waren sorgfältig auf der Tischplatte arrangiert und auf jedem der Stühle lag ein Zierkissen. Die Wände beheimateten Kunstdrucke. Nicht teuer. Professionell.

Der zweite Teil, ihr tatsächliches Büro, lag hinten.

Pauling war Privatdetektivin. Ihre Premium-Visitenkarte verriet ein wenig mehr: Lauren Pauling. Privatermittlerin. Special Agent, FBI, a. D.

Unten stand eine Adresse mit 212- und 917-Telefonnummern für Festnetz und Handy sowie eine E-Mail-Adresse und eine Website-URL.

Wie auch die Frau selbst war die Visitenkarte professionell, elegant und direkt. Gleiches galt für ihre Website und ihr Büro.

Es war das Abbild von Effizienz und Prestige. Nicht übertrieben luxuriös, aber mit einem hochwertigen letzten Schliff, der die Kunden beeindruckte.

Pauling war nicht billig.

Ihre berufliche Umgebung spiegelte diese Tatsache wider.

Sie sah ihre E-Mails mit routinierter Effizienz durch. Innerhalb von dreißig Minuten war auf jede Frage eingegangen, jede erforderliche Handlung unternommen und jede unwichtige Nachricht abgelegt worden.

Vielleicht geschah es da, während der flüchtigen Ruhepause, dass sich ihre Gedanken Reacher zuwandten.

Natürlich taten sie das in Wahrheit oft.

Paulings letzter Fall beim FBI war die schlimmste Phase ihres Lebens gewesen. Eine Entführung war zu einem Mordfall geworden. Sie hatte sich wie eine Versagerin gefühlt, als habe sie das Opfer im Stich gelassen. Erst als Jack Reacher auftauchte, erschien der Fall Annie Lane wieder in ihrem Leben. Gemeinsam mit Reacher hatte sie schließlich Gerechtigkeit für Annie gefunden.

Und dann war Reacher verschwunden.

Das war seine Art; sie verstand das.

Aber die dadurch endlich herbeigeführte Gerechtigkeit, zusammen mit dem Wissen, dass sie, Pauling, nichts falsch gemacht hatte, hatte ihr neues Leben eingehaucht.

Sie war mit neu gewonnener Stärke in ihre Firma und zu ihrer Karriere zurückgekehrt. Infolgedessen war es mit ihrem Geschäft bergauf gegangen, bis zu dem Punkt, an dem sie oft Aufträge ablehnte oder Fälle an andere Ermittler übergab.

Jetzt schüttelte sie die Gedanken an Reacher ab.

Er war ein zäher Kerl, und einer, den man schwer vergaß.

Doch sie hatte versucht, ihn hinter sich zu lassen. Es war allerdings nicht leicht. Pauling hatte die romantische Vernarrtheit lange überwunden. Es hatte Männer gegeben. Erfolgreich. Beeindruckend. Freundlich.

Aber keiner von ihnen war wie Jack Reacher gewesen.

Und sie wusste ohne Zweifel, dass keiner je so sein würde. Es gab Jack Reacher – und dann gab es alle anderen.

Der Gedanke ans Weitermachen brachte ihr die Motivation, von ihrem Schreibtisch aufzustehen und zu ihrer Eingangstür zu gehen. Sie wollte am Briefkasten vorbeischauen und nachsehen, ob etwas zugestellt worden war. Sie versuchte nie länger als eine halbe Stunde am Stück am Schreibtisch sitzend zu verbringen. Sie besaß einen zweiten Schreibtisch rechts von ihrem Hauptarbeitsplatz, der nach oben gefahren werden konnte, sodass sie im Stehen arbeiten konnte.

Jetzt aber wollte sie sich bewegen. An Reacher zu denken, veranlasste sie immer, in irgendeiner Form aktiv zu werden.

Als sie gerade ihr Büro verlassen wollte, entdeckte Pauling einen bereits zugestellten Brief, der ordentlich unter ihrer Tür steckte.

Sie hatte niemanden kommen hören.

Es war ein wenig früh für die Post, und so nahm sie an, dass es eine Nachtzustellung war.

Aber das war es nicht.

Es war ein schlichtweißer Brief.

Auf dessen Vorderseite ein einzelnes Wort prangte:

Reacher.

Kapitel 3

 

Obwohl er für eine Organisation gearbeitet hatte, die über unklare und veränderliche Richtlinien verfügte, lebte Michael Tallon nach konkreten Regeln.

Wie man so schön sagt, ist die Welt nicht schwarz-weiß. Es gibt viele Grauschattierungen, so was in der Form.

Während das manchmal zutraf, bevorzugte Tallon es, so weit möglich in Schwarz und Weiß zu leben. Er verabscheute unklare Limits und fließende Grenzen. Vielleicht war es ein angeborener Wunsch nach der Fähigkeit, eine Bedrohung rasch zu erkennen. Sekundenbruchteilschnelle Entscheidungen zwischen richtig und falsch. Leben und Tod.

Tallons Gedanken wanderten zu diesen Regeln, als der Mann im Restaurant anfing, sich schlecht zu benehmen.

Es war kein besonderer Ort, dieses Restaurant. Eine Lokalkette, die typisch mexikanisches Essen servierte, kaum eine Stufe besser als Fastfood.

Es besaß einen offenen Gastraum, hauptsächlich Tische, hier und da von einigen Nischen unterbrochen. Ein riesiger Getränkeautomat befand sich auf der einen Seite, die Theke in der Mitte, der Eingang auf der anderen Seite. An den Wänden hingen Poster, die für das neuste Spezialmenü mit einem Softdrink von der Größe eines städtischen Wasserturms warben.

Eine Reihe von Schildern priesen die Mitarbeiter des Monats an, sowie Auszeichnungen für Kundenzufriedenheit, vom Restaurant selbst verliehen.

Das Lokal war halb voll; hauptsächlich Ortsansässige, schätzte Tallon. Beim Eintreten hatte sein Blick die Kunden abgeschätzt, und die einzige Person, die ihm ins Auge gesprungen war, war der Mann, der gerade die Aufmerksamkeit von so ziemlich jedem im Raum auf sich zog.

»Du bist ein Albtraum«, blaffte er die junge Frau an, die ihm gegenüber saß. Sie schreckte wegen der Lautstärke seiner Stimme und der Nähe seines Gesichts zurück. Tallon nahm an, dass sie bei diesem Ausruf ein wenig Speichel abbekommen hatte.

Er versuchte den Mann zu ignorieren. Er war nur hier, weil er Hunger hatte und eine kurze Rast brauchte, bevor er weiterfuhr. Er hatte gerade einen Auftrag abgeschlossen und befand sich auf dem Heimweg.

Normalerweise hätte er sich gezwungen, durchzufahren, aber sein Bedürfnis nach Nahrung war so stark geworden, dass es ihn ablenkte, und er wusste, dass noch sechs Stunden Fahrzeit vor ihm lagen.

Er bestellte das am wenigsten abstoßende Gericht auf der Karte: Tacos mit gegrilltem Hühnchen. Das Huhn war zäh, die Tortilla matschig. Doch der Kaffee war gut und überraschend stark. Es war Nahrung, nichts weiter.

Tallon hatte alle Tacos aufgegessen, die er zu essen vorgehabt hatte, und wollte gerade den Rest seines Kaffees nehmen und gehen, als die Stimme des Mannes die monotonen Gespräche des Restaurants erneut durchschnitt.

»Du bist nutzlos, genau wie deine Mutter«, sagte der Kerl. »Ihr seid beide zu nichts zu gebrauchen.«

All das lenkte Tallons Gedanken zu seinen Regeln.

Von denen eine schlechte Eltern betraf.

Tallon hatte genug von denen erlebt und war schon bei früheren Gelegenheiten versucht gewesen, sich einzumischen. Doch er glaubte an Durchhaltevermögen. Seine eigenen Eltern waren gerechte und großzügige Menschen gewesen. Jedoch hatte er andere getroffen, die grausam und böse gewesen waren. Trotzdem hatte er gesehen, dass ihre Kinder überlebten und – in manchen Fällen – sogar aufblühten.

Die Welt konnte ein kalter und dunkler Ort sein. An irgendeinem Punkt musste jeder lernen, dass es manchmal nötig war, eine Rüstung anzulegen und sich dem Kampf zu stellen.

Deswegen hatte Tallon entschieden, sich nicht einzumischen. Der Mann war groß, weit über eins-achtzig, mit fettigen, zu einem Zopf gebundenen Haaren. Er trug ein ärmelloses Shirt, das kräftige Arme entblößte, um die sich Stacheldraht-Tattoos wanden.

Er hatte mächtige Hände mit großen Silberringen an allen Fingern. Sie sahen wie Totenkopfringe aus, von denen einer eine Art gefärbter Glasstücke als Augen besaß.

Tallon sah eine Bewegung links von sich, und noch ehe die alte Frau aus ihrer Nische aufstand, wusste er genau, was passieren würde, lange, bevor es so weit war.

Er hatte das ältere Paar in der Nische beim Fenster sitzen sehen. Die Frau besaß eines jener offenen, fürsorglichen Gesichter, die auf Liebe für die Familie und das Gute in anderen hindeuteten. Sie hatte außerdem große, ausdrucksvolle Augen, die die Art Persönlichkeitsstärke verrieten, die man oft in weit jüngeren Menschen fand. Es waren ein Gesicht und eine Haltung, die Aktion bedeuteten. Das war eine Frau, die sich lieber früher als später einmischte.

Der Mann, von dem Tallon annahm, er sei ihr Ehemann, teilte diese Intensität nicht. Er sprach leise mit der Frau, und Tallon wusste, dass er seine langjährige Ehefrau inständig bat, sich nicht einzumischen.

Sie wollte nichts davon hören.

Tallon sah zu, wie die Frau den Speisesaal durchquerte. Sie trug eine legere blaue Hose, eine blaue Bluse, die bis zum Hals zugeknöpft war, und zweckmäßige schwarze Schuhe. Sie war groß, vielleicht früher einmal eine Athletin.

Eine Frau der Tat, dachte Tallon.

Der Großteil der eintönigen, leisen Unterhaltungen im Restaurant verstummte. Es schien Tallon, dass sogar der notwendige Küchenlärm von jenseits der Theke plötzlich zu einer Flaute geschrumpft war.

Die ältere Frau erreichte den Tisch des Mannes und des jungen Mädchens.

»Sie bringen Ihrer Tochter bei, es hinzunehmen, von einem Mann schlecht behandelt zu werden«, sagte die alte Frau. »Wenn Sie so weitermachen, wird sie sich nach jemandem umsehen, der genauso ist wie Sie. Ein Rowdy, der sie beschimpft und wahrscheinlich schlägt. Wollen Sie das?«

Im Hintergrund sah Tallon einen Mitarbeiter vom Tresen in die Küche huschen, sehr wahrscheinlich auf der Suche nach einem Geschäftsführer. Der Ehemann der alten Frau setzte an, die Nische zu verlassen. Es war keine elegante, rasche Bewegung. Er war nicht so agil wie seine Frau.

Doch Tallon wusste, dass der große Mann nicht zögern würde. Diese Ringe waren nicht zur Schau da. Der Kerl war ein Raufbold. Das war ihm ins Gesicht geschrieben, und auf die Hände.

»Verpiss dich, alte Schachtel«, brüllte der große Mann. Er sprang auf und die alte Frau wich die halbe Strecke zu ihrem Ehemann zurück. Sie stießen zusammen und die Frau fiel zu Boden.

»Nicht, Dad! Lass sie in Ruhe«, rief das junge Mädchen. Ihr Gesicht hatte sich gerötet und sie hatte zu weinen begonnen. Es war die Angst, die ihr den Mut zum Sprechen verliehen hatte. Und Mitgefühl für jemand anderen als sich selbst. Ihr Vater hatte ihr vermutlich die Fähigkeit ausgeprügelt, sich um sich selbst zu sorgen, doch die angeborene Güte war noch da, solange sie für andere reserviert war.

Doch der große Mann hörte nicht auf sie.

Er bewegte sich rasch auf die Frau und ihren Ehemann zu.

Tallon bemerkte die schmutzigen Bluejeans und schweren Stahlkappenlederstiefel des großen Mannes. Er ging auf die Frau zu, und Tallon wusste mit absoluter Gewissheit, dass er vorhatte, die Frau zu schlagen und dann zu treten, bevor sie aufstehen konnte. Wahrscheinlich würde er auch versuchen, den alten Ehemann zu verprügeln.

Musste seine Tochter beeindrucken, befahl ihm sein Erbsenhirn wahrscheinlich.

Tallons Regeln über schlechte Eltern waren eine Sache.

Unschuldige Zuschauer waren etwas ganz anderes. In der Angelegenheit gab es keine verwischten Linien.

Noch bevor jemand reagieren konnte, hatte er seine Nische verlassen und sich zwischen den großen Mann und das ältere Paar bewegt.

Tallon und der große Mann standen Auge in Auge.

»Drehen Sie sich um, gehen Sie zurück und entschuldigen Sie sich bei Ihrer Tochter«, sagte Tallon.

Der Mann lachte mit ungläubigem Gesichtsausdruck. Er sah hinter sich, fragte sich, so vermutete Tallon, ob plötzlich eine Polizistenschar eingetroffen war, um Unterstützung zu bieten.

Doch dort war niemand. Nur ein verängstigtes Mädchen und Restaurantangestellte, die mit starren Blicken hinter der Theke hervorspähten.

Tallon las die Geschichte, die auf dem Gesicht des Mannes geschrieben stand. Ein grausamer Mann, der seine Überlegenheit beweisen und eigenhändig jeden fertigmachen wollte, der sich ihm in den Weg stellte, in einer kleinen Restaurantkette am Rand von Nirgendwo, USA.

Der Blick veränderte sich, wurde beinahe hämisch, und Tallon wusste, dass der Schlag kam, bevor es dem großen Mann selbst bewusst war.

Der Hieb des Mannes war ein wenig unkonventionell, langsam, aber mit ausreichend Kraft dahinter.

Anstatt ihm auszuweichen, trat Tallon ihm einfach entgegen, lenkte den Arm im weiten Bogen ab, packte ihn mit beiden Händen und hieb ihn auf die Rücklehne eines der fixierten Stühle des Restaurants.

Der Arm zerbrach wie ein mittelgroßes Stück Treibholz.

Der Mann schrie und schwankte, fiel beinahe auf die Knie.

Tallon hieb dem Mann mit dem Ellbogen gegen die Kehle, was den Schrei unterbrach, und dann, noch während der Mann zusammensackte, setzte er mit einem Kniestoß ins Gesicht nach. Tallon spürte und hörte, wie der Knorpel gleich einem überfahrenen Tier unter einem Lastwagenreifen zerquetscht wurde.

Die Augen des Mannes rollten nach hinten.

Hinter ihnen beendete der Geschäftsführer einen Anruf, den er gerade getätigt hatte. 9-1-1, das wusste Tallon.

Ihm blieb gerade genug Zeit, also fing er an, dem Mann die Ringe von den Fingern zu ziehen.

Er wusste nicht genau, warum.

Ein Teil von ihm begriff, dass die Ringe alt waren, und dass die Finger des Mannes um sie herum fett geworden waren. Sie waren die Rüstung des Mannes. Etwas an der Art, wie sie aussahen, erschien Tallon so, als verschafften sie dem Mann ein gewisses besonderes Selbstvertrauen. Und dass er sich schon lange Zeit so gefühlt hatte.

Deswegen ließen sie sich nicht leicht lösen.

Einer riss einen Großteil der Haut des Fingers ab, an dem er saß.

Tallon musste drei Finger brechen, um die zugehörigen Ringe abzubekommen.

Alle Ringe lagen nun in seiner rechten Hand, und er stopfte sie dem Mann in den Mund, wobei er ihm mehrere Zähne abbrach.