Für Linda, Vera und Greta

Der Zweck des Krieges ist der Friede; aber auf die Frage »Und was ist der Zweck des Friedens?« gibt es keine Antwort. Friede ist etwas Absolutes.

HANNAH ARENDT, Macht und Gewalt

April 2013

In einem bislang beispiellosen Vorgang entzieht der Kommandant der U. S. Air Force siebzehn Offizieren die Befugnis, Atomraketen zu kontrollieren und zu starten.

Die in Minot, North Dakota, stationierten Offiziere hatten bei einer Inspektion schlecht abgeschnitten. Ihnen wird befohlen, sich einer intensiven Nachschulung zu unterziehen.

 

August 2013

Ein Raketenverband am Luftwaffenstützpunkt Malmstrom fällt bei einer Sicherheitsinspektion durch, weil er »taktische Fehler begangen« habe, »die nicht mit der Kontrolle von Nuklearwaffen in Zusammenhang stehen«, gibt die Air Force bekannt.

Das 341. Raketengeschwader steuert nach offiziellen Angaben ungefähr 150 der 450 ballistischen Interkontinentalraketen des Typs Minuteman III, die mit Atomsprengköpfen bestückt sind.

 

Oktober 2013

Ein hochrangiger Offizier, der für das Atomwaffenarsenal der Vereinigten Staaten Verantwortung trug, verliert seine Stellung.

Er wird offiziell von seinen Dienstpflichten als stellvertretender Leiter des strategischen Kommandos der Vereinigten Staaten befreit. Ein Armeesprecher teilt mit, seine Degradierung stehe im Zusammenhang mit der Anschuldigung, dass er in einem Spielkasino gefälschte Jetons verwendet habe.

 

Oktober 2013

Nur wenige Tage später wird nach offiziellen Angaben ein US-General, der mit der Überwachung von Nuklearwaffen betraut war, seines Amtes enthoben, weil er während eines offiziellen Besuchs in Russland durch übermäßigen Alkoholkonsum, Umgang mit Prostituierten und Respektlosigkeit gegenüber seinen Gastgebern aufgefallen war.

Der General führte die 20. US-Luftflotte an, die für drei atomare Geschwader verantwortlich ist.

Einem Bericht des Generalinspekteurs der Air Force zufolge prahlte er während einer Zwischenlandung in der Schweiz mit seiner Stellung als Kommandant einer Nuklearstreitmacht und behauptete, er »bewahre die Welt jeden Tag vor einem Krieg«.

 

Januar 2014

Am Stützpunkt Montana werden 34 mit der Wartung von Atomraketen betraute Luftwaffenoffiziere beschuldigt, während einer Kompetenzprüfung getäuscht oder Täuschungen zugelassen zu haben.

 

»Chronik des Atomwaffenskandals«, CNN, JANUAR 2014

 

KANSAS CITY, MISSOURI. – Eine großflächige Fabrikanlage in einem ehemaligen Sojabohnenfeld produziert das technische Innenleben der atomaren Sprengköpfe Amerikas. Die im vergangenen Monat eröffnete Anlage ist größer als das Pentagon und mit neuester Hightech ausgestattet. Tausende von Arbeitern modernisieren hier die in die Jahre gekommenen Waffen, welche die Vereinigten Staaten mittels Raketen und von Bombenflugzeugen und U-Booten aus abfeuern können.

Sie ist Teil einer landesweiten Welle der atomaren Revitalisierung, zu der auch Pläne für eine neue Generation von Waffenträgern zählen. Eine kürzlich veröffentlichte offizielle Studie beziffert die Kosten für die nächsten drei Jahrzehnte auf bis zu eine Billion Dollar.

Diese Erweiterung findet unter einem Präsidenten statt, der im Wahlkampf für »eine atomwaffenfreie Welt« warb und Abrüstung zu einem Hauptziel der amerikanischen Verteidigungspolitik erklärt hat.

NEW YORK TIMES, SEPTEMBER 2014

1 Snap

September 2013 Stockholm

1.01

Ich war dem Präsidenten ganz nahe gewesen. Während offizieller Termine niemals mehr als wenige Meter von ihm entfernt, immer mit meinem einsatzbereiten Koffer. Sogar als er den Friedensnobelpreis entgegennahm. Als er diese verdammte Rede über eine Welt ohne Atomwaffen hielt.

Sie müssen das verstehen. Aber Sie werden es wohl nicht verstehen.

Wie wir wieder einmal vom Feuer verzehrt, gebannt, verleitet worden waren. Weniger durch unsere Schuld als durch unsere Unschuld. Meine eigene teuflische Unschuld.

Wir redeten vom »Football«, als ob es um ein Spiel ginge. Wir redeten vom »roten Knopf«, aber es gab weder einen Knopf noch jemanden, der ihn hätte drücken können. Für mich ähnelte der Vorgang eher einer okkulten Zeremonie, einem magisch-technischen Verwandlungstrick. Einem Nacheinander von Handlungen in der richtigen Reihenfolge, mithilfe der Codes, um ausgerechnet das eine zu entsichern, das in unserer gesamten Zivilisation das Sicherste sein sollte.

Der Inhalt des Koffers war als so hochvertraulich eingestuft worden, dass nur wenige außer uns ihn kannten. Von Anfang an befanden sich nur vier einfache Gegenstände darin: das Schwarzbuch mit allen operativen Möglichkeiten im Fall eines Gegenschlags oder Angriffs; ein Hefter mit einer Liste der unterirdischen Stützpunkte, in die der Präsident bei höchster Alarmstufe gebracht werden konnte; ein Blatt Papier, auf dem die Struktur unseres Atomwaffensystems zusammenfassend dargestellt wurde. Und dann noch die Plastikkarte mit den Codes, mit denen sich der Präsident gegenüber Centcom auswies. Wir nannten sie den »Keks«.

Während des Kalten Kriegs war das alles mehr oder weniger nachvollziehbar gewesen. Sobald man den Koffer öffnete, wurde ein Signal an Centcom gesendet. Nachdem der Präsident sich mit den Codes ausgewiesen hatte, standen ihm und dem Träger des Koffers eine Reihe von Möglichkeiten gemäß dem jeweiligen Kriegsplan zur Verfügung. Im letzten Schritt befolgte Centcom den Befehl des Präsidenten und führte den eigentlichen Abschuss aus.

Doch dank der immer ausgereifteren Zaubereien der Digitaltechnik und zahlreicher Änderungen an unserem Kriegsplan war alles immer komplizierter geworden. Zwar hatte man uns versichert, dass die Maxime nach wie vor »immer niemals« laute. Die Atomwaffen sollten immer für einen Abschuss binnen einer halben Stunde bereit sein, aber niemals irrtümlich abgefeuert werden können.

Doch während des letzten Jahrzehnts waren die Grenzen mit jedem neuen technologischen Fortschritt ausgeweitet worden. Schließlich waren sowohl die Schaltkreise als auch die Mikroprozessoren klein genug, um Teile des Explosionsmechanismus in den Koffer selbst einzubauen. Centcom schien nun fast überflüssig. Alles verschmolz zu einem einzigen Ganzen. Der Unterschied zwischen »immer« und »niemals« begann sich aufzulösen. Schließlich konnte selbst ich nicht mehr zwischen den Sicherheitsmaßnahmen und dem Abschussvorgang unterscheiden.

An diesem Punkt kam mir der Gedanke an Flucht.

1.02

Unsere gewaltige Luftflotte hob ab in den klaren blauen Morgenhimmel wie Hummeln, die träge der Schwerkraft trotzen. Wie gewohnt war unser erstes Etappenziel der Luftwaffenstützpunkt Andrews – und von dort aus flogen wir weiter über den Atlantik. Wir waren mehr als siebenhundert Männer und Frauen, ein Gefolge, wie es drei Jahrhunderte zuvor eines Sonnenkönigs würdig gewesen wäre: Air Force One, die Maschine des Präsidenten, fünf mehr oder weniger identische Boeings, neunundzwanzig Frachtflugzeuge, vierzig Autos, zweihundertfünfzig Sicherheitskräfte, dreihundert Referenten und Mitglieder vom Pressekorps des Weißen Hauses, zwei weitere Cadillacs.

Und die Krankenschwester saß ganz nah bei mir. Beobachtete jede meiner Bewegungen.

Sie war mir seit dem Beginn der Reise nicht mehr von der Seite gewichen, seit ich in den Gängen unter dem Luftwaffenstützpunkt kollabiert war, während die Maschinen aufgetankt wurden. Was mir die einzig mögliche Umsetzung der letzten Nachricht von Alpha zu sein schien: MEHR ZEIT VERSCHAFFEN. DEN KRANKEN SPIELEN. Es war naiv anzunehmen, dass mein kleiner Schwächeanfall irgendeine Auswirkung auf unseren riesigen Konvoi haben würde. Dass er die riesige Maschinerie eines Staatsbesuchs aufhalten könnte.

Doch dort, an Ort und Stelle, glaubte ich in meinem erhitzten Zustand daran. Und so ließ ich mich in dem Betontunnel, der zum Hubschrauberlandeplatz hinausführte, der Länge nach hinfallen. Hielt die Augen fest geschlossen, während mehrere Sanitäter mich in den Untersuchungsraum trugen.

Wie leicht bildet man sich ein, unersetzlich zu sein. Wer wäre unersetzlicher als ich, der Träger des Koffers, der Mann mit der wichtigsten Aufgabe der Welt? Vor meinem kleinen Zusammenbruch hatte ich keine Ahnung von unserem Notplan gehabt. Doch als der Arzt mit unseren Logistikern sprach, wurde mir klar, dass selbst ich gegen einen Ersatzmann ausgetauscht werden würde.

Äußerlich soll niemand unterscheiden können, ob es sich bei dem Hubschrauber tatsächlich um Marine One, die Maschine mit dem Präsidenten und mir selbst an Bord, handelt oder irgendeinen anderen von unseren sämtlich identisch aussehenden Hubschraubern. Ob das Flugzeug tatsächlich die Air Force One in unserer Luftarmada ist. Auf jedem Flughafen, den wir ansteuern, werden wir hinter getönten Glasscheiben von Cadillac One transportiert, wegen seines gepanzerten, zehn Zentimeter dicken Bodens auch »die Bestie« genannt. Während eine andere, äußerlich identische Limousine direkt vor oder hinter uns herfährt.

Aber in Zeiten von radikalen Gesichtsoperationen, von Doppelgängern und falschen Identitäten ist niemand unersetzlich.

Und weil mir plötzlich klar wurde, dass ein anderer aus dem Team meinen Platz einnehmen würde, musste ich für meinen Schwächeanfall ein flüchtiges Fieber vorschützen. Sobald sich herausstellte, dass die vorläufigen Untersuchungsergebnisse völlig in Ordnung waren, bekam ich grünes Licht für die Weiterreise mit dem Team. Es gab in meiner Akte nichts, das dagegengesprochen hätte, in all den Jahren hatten sich keine Verdachtsmomente ergeben. Aber ich war gezwungen, die Krankenschwester als Begleitung zu akzeptieren. Aus Sicherheitsgründen, wie es hieß.

Als sie sich im Hubschrauber neben mich setzte, in die Reihe hinter dem Präsidenten und der First Lady, hatte ich unwillkürlich das Gefühl, dass es genau so sein sollte. Dass die Krankenschwester, auf die eine oder andere Weise, ein Teil des Plans sei.

Der Staatsbesuch in Stockholm war rätselhaft und erst im letzten Augenblick in den Terminkalender des Präsidenten aufgenommen worden. Im Grunde konnte man ihn höchstens als »offiziellen Besuch« bezeichnen, da keine Einladung des schwedischen Staatsoberhaupts vorlag. Der einzige plausible Grund für eine Reise ausgerechnet in diesen Teil der Erde bestand darin, dass unsere Regierung ein politisches Signal an Russland senden wollte, das Land, das wir eigentlich besucht hätten. Wenn man nicht gerade Edward Snowden dort Asyl gewährt hätte.

Unsere Sicherheitsleute waren mit diesen Änderungen in letzter Minute nicht besonders glücklich gewesen. In Stockholm würde die äußere Sicherheit im Vordergrund stehen und trotz der kurzfristigen Bekanntgabe nichts zu wünschen übrig lassen. Das Vorauskommando war losgeschickt worden, sobald der Termin festgestanden hatte. Aber das, was man »innere Sicherheit« nennt, war eine ganz andere, viel komplexere Angelegenheit.

In den Wochen vor unserer Abreise waren wir zu erhöhter Wachsamkeit ermahnt worden. Es kursierten Gerüchte, wonach Spione sich eingeschlichen hätten. Innerhalb des Teams behielten wir einander ständig im Auge, beobachteten jede unserer Bewegungen. Und dieses Mal waren uns die letzten Anweisungen erst an Bord der Air Force One erteilt worden – und selbst das erst kurz vor dem Start, als wir mit niemandem mehr Kontakt aufnehmen konnten, der nicht autorisiert war.

Unser Team bestand aus vier Special Agents für die Sicherheit, Edelweiss nicht mitgezählt. Er war unser Einsatzleiter und derjenige, von dem wir unsere täglichen Instruktionen erhielten. Er war es, dem wir folgten, den wir bewunderten, respektierten – vor allem aber fürchteten. Sein Körper war gewaltig. Wie ein komplett fremder Planet mit all seinen Furchen und Senken, Kratern und tiefen Geheimnissen. Er strich sich über das Kinn, wenn er über eine unserer Fragen nachdachte. Antwortete dann mit seiner überraschend leisen, klaren Stimme. Oft sagte er etwas, was keiner von uns zu sagen oder nur zu denken gewagt hätte.

Man hatte uns gesagt, dass es Edelweiss gewesen sei, der jeden von uns aufgrund seiner besonderen fachlichen Fähigkeiten ausgewählt habe, damals, in jenen verzweifelten Tagen nach dem 11. September, als alle anderen Strukturen versagten.

Soviel wir wussten, hatte man ihm freie Hand gelassen. Oft erfordert es solch einen Filter – eine Membran, die die Entscheidungsträger abschirmt und ihnen zugleich Handlungsspielraum verschafft, sie von der Verantwortung für ihre Entscheidungen befreit. Manchmal umgeben sie zahlreiche solcher unsichtbarer Schutzschichten – wie ein Blätterteigkuchen, bei dem die untere Schicht immer die obere schützt. Ein komplexes Zusammenspiel von Wissen und Nichtwissen.

In unserem Fall war Tarnung das A und O. Man bezeichnete sie als »militärische Methodik für vorbeugende Sicherheitsmaßnahmen«. Nach unserer Ausbildung in einem abgeriegelten Trakt in West Point – sie fand parallel zu unserer Universitätsausbildung statt und ermöglichte es, dass wir unsere Fähigkeiten im Täuschen und Führen von Doppelleben übten – begannen wir damit, unsere neu erworbenen Fähigkeiten einzusetzen. Ich wurde meistens zu kurzen Einzeleinsätzen eingeteilt, die immer brenzliger wurden. Zuerst kleine, dann größere Sabotageakte, die ebensolche Aktionen zum Schaden unseres Land unterbinden sollten und durch die fast unsichtbare Konflikte in Ländern beseitigt oder bewirkt wurden, von denen viele Menschen noch nie etwas gehört hatten, und die anderswo in der Welt innere politische Unruhen auslösten.

In meinem anderen Leben beendete ich derweil meine Dissertation in Moralphilosophie. Endlose Sitzungen mit meiner hypnotisch-attraktiven Doktormutter füllten die späten Achtziger und die gesamten Neunzigerjahre, parallel zu meinen Sonderdiensten in der Welt der Sicherheit. Im September 2001 wurde ich promoviert, fünf Tage vor den Anschlägen auf das World Trade Center.

Einige Wochen später, am 4. November, brachte man uns in einem fensterlosen Hörsaal zwei Stockwerke unter der Erde zusammen. Wie Silhouetten, Schatten, Geister aus früheren Zeiten – einige von uns hatten vielleicht sogar dasselbe Spezialkräftetraining in West Point durchlaufen. Aber wir alle hatten seitdem mindestens eine kosmetische Operation hinter uns bringen müssen. Ich erkannte niemanden in dieser auserlesenen Gruppe.

Und keiner wusste, warum man uns zusammengebracht hatte. Wir hatten auf eine verschlüsselte Order reagiert, der wir lediglich entnehmen konnten, dass der Aufbau des Teams den Anfang unseres neuen und das Ende unseres alten Lebens bedeuten würde. Eine Einladung, der wir unmöglich widerstehen konnten.

Es waren mehr von uns da, als ich bei einem derart speziellen Auftrag erwartet hatte. Das bedeutete, dass der harte Kern kleiner sein würde – und alles ringsumher viel größer. Das Team selbst würde vielleicht aus gerade mal acht bis zehn Leuten bestehen, und der Rest würde unterstützende Aufgaben übernehmen.

Es zeichnete sich bald ab, dass das Team – Edelweiss nannte uns »Nukleus«, wie einen Zell- oder Atomkern – aus sechs Auserwählten bestehen würde, darunter er selbst und ein Unbekannter, der »Alpha« genannt wurde.

Und nachdem man uns mehr als einen Tag ohne Essen und Trinken hatte warten lassen – zweifellos, um uns gleich zu Beginn gefügig zu machen –, hatte Edelweiss seinen großen Auftritt. Diese mysteriöse Gestalt mit ihren gewaltigen Konturen. Fließend und formlos, wie ein Gespenst in dem schlecht beleuchteten Raum. Er, der in West Point mein Hauptlehrer gewesen war – und vielleicht auch der der anderen – und der nun über unser Leben bestimmen würde.

Edelweiss fing mit der offiziellen Version an. In etwas vagen Worten umriss er die Aufgabe des Teams in unserem neuen, durch die Stoßwellen des 11. September veränderten Kriegsplan: »Eine kleine mobile Einheit, die in Friedenszeiten als eigenständiger Schutztrupp dient und Seite an Seite mit dem Führungsstab des Präsidenten zusammenarbeitet und im Fall eines Notstandes oder Krieges in vollständiger Eigenverantwortung handeln kann.«

Dann folgte die inoffizielle Version. Man hatte Edelweiss freie Hand gelassen, um etwas ganz Neues zu schaffen. Einen Phönix aus der Asche des World Trade Center, aus den Ruinen unseres alten Sicherheitssystems, aus dem, was in jeder Hinsicht ein »Ground Zero« war. Jetzt, da all unsere bestehenden Strukturen – die Geheimdienste, die Überwachungssysteme, unsere Versuche der Terrorabwehr – sich als unzureichend erwiesen hatten.

Seine Idee war, dass unser Team die Spinne im Netz sein sollte. Besser gesagt: sowohl das Netz als auch die Spinne. Eine amorphe Struktur, die alle existierenden Institutionen miteinander verbinden würde: die CIA, das FBI, die NSA, den Secret Service … die aber auch in den Lücken zwischen ihnen operieren konnte.

Edelweiss sagte, er wisse nicht, wer ihm diese Aufgabe zugeteilt habe. Er wisse bloß, dass jemand mit dem Pseudonym »Alpha« ihm glaubwürdige E-Mails geschrieben habe, deren effiziente Verschlüsselung ihn davon überzeugte, dass die Befehle von ganz oben kämen. Zweifellos befand sich zwischen Alpha und dem Präsidenten eine weitere Schicht, ein weiterer Filter, aber vielleicht nicht mehr als das. Und denjenigen, die diese Schicht bildeten, musste der Präsident wiederum freie Hand gegeben haben.

Unser Ziel schien einfach zu sein. Die Befehle, die Edelweiss erhielt, waren nur grob umrissen, und die Person, die sie ihm erteilt hatte, zeigte sich an den Einzelheiten ihrer Ausführung nicht interessiert. Alles hatte eine klare Zielrichtung: Sorgt dafür, dass so etwas nicht noch einmal vorkommt, dass kein feindliches Flugzeug am helllichten Tag in ein Gebäude wie das World Trade Center fliegt. Unsere Aufgabe bestand darin, alle notwendigen Präventivmaßnahmen zu ergreifen, die außerhalb der herkömmlichen Geheimdienstbefugnisse lagen. Der Zweck heiligte die Mittel.

Was er in den folgenden drei oder vier Stunden beschrieb – bei Edelweiss nahm die Zeit immer eigene Dimensionen an –, war auf den ersten Blick eine Verteidigungsmission. Unser Team sollte sich bei Staatsbesuchen und anderen offiziellen Einsätzen in der Nähe des Präsidenten und seiner eigenen Leibgarde aufhalten. Wir sollten zu einer Art gleitender Sicherheitsschicht werden, flexibel und anpassungsfähig, auf jede erdenkliche Situation vorbereitet.

Kurzum, es ging um das, was man heute »hybride Kriegsführung« nennt. Unser Kampf galt versteckter Sabotage, digitalen Angriffen, moderner psychologischer Kriegsführung, politischer Destabilisierung, den immer ausgeklügelteren Angriffen auf unsere Infrastruktur. Und wir sollten Gleiches mit Gleichem vergelten können.

Im Fall einer echten Notlage sollte der Spieß umgedreht werden können. Das Team sollte dann in eine harte Kampftruppe umgewandelt werden, die sich auf die Schwachstellen des Gegners konzentrierte – mit Methoden, die mindestens ebenso überraschend waren wie dessen eigene. Edelweiss verglich uns mit einem Amphibienfahrzeug, das mal zu Lande, mal zu Wasser eingesetzt wird.

Wenn die globale Sicherheitskrise ihre höchste Stufe erreichte – Alarmstufe Violett, die einzig und allein dem Fall eines unmittelbar bevorstehenden weltweiten Atomkriegs vorbehalten war –, sollte der Präsident persönlich unter unseren Schutz gestellt werden. Bis zur Ausschaltung der Bedrohung würde das Team das verdeckte Kommando über den gesamten Militärapparat übernehmen. Das nukleare Waffensystem inbegriffen.

»Sie müssen für jeden denkbaren Angriff auf die nationale Sicherheit vorbereitet sein. Und mehr als das – für jeden undenkbaren auch«, sagte Edelweiss.

»Vor allen Dingen benötigen wir dafür eine größere Vorstellungskraft als unsere Feinde. Daran werden wir arbeiten: an unserer Kreativität, unserer emotionalen Intelligenz. Jeder von Ihnen ist bereits ein hervorragender Agent. Aber wenn Sie diese Zusatzausbildung hinter sich haben, sollten Sie sich eher als Künstler begreifen.«

Er strich sich mit der Hand über das Kinn.

»Unser Auftrag unterscheidet sich von anderen dadurch, dass er mit Atomwaffen zu tun hat. Waffen, die mit nichts in der Militärgeschichte vergleichbar sind, weil sie ihrem Wesen nach fernab jeder Erfahrung liegen. Der einzig wichtige Unterschied zwischen Atomwaffen und anderen Fantastereien wie, sagen wir, den Laserschwertern in Krieg der Sterne oder Supermans Röntgenblick, besteht darin, dass Atomwaffen Realität geworden sind.«

Es folgte eine Kunstpause, während Edelweiss im Halbdunkel seinen Blick schweifen ließ.

»Noch nie hat es einen Krieg gegeben, in dem nukleare Gefechtswaffen in großem Maßstab auf Schlachtfeldern eingesetzt wurden. Niemand weiß, welche Auswirkungen das haben würde, wie wir uns in einer solchen Situation verhalten würden. Auch das werden wir – Sie und ich – erkunden, unter mehr oder weniger kontrollierten Bedingungen.«

Das Ausmaß unserer Befugnisse in einem solchen Fall erschien selbst mir erstaunlich. Der Koffer war natürlich das Kronjuwel des Ganzen. Unser innerstes und äußerstes Geheimnis, unser letzter Ausweg, unsere Bestie in Ketten. Erst das Objekt, dessen Schutz unser wichtigster Auftrag war, dann unsere ultimative Angriffswaffe.

»Der wichtigste Gegenstand der Welt«, so nannte Edelweiss ihn, ehe er ihn mir am Ende jenes ersten Treffens aushändigte. Eine kleine Geste, mit der er mich zum Retter und Zerstörer in Personalunion machte. Zum Mittelpunkt nicht nur des Teams, seines Nukleus, sondern des Universums.

Von da an nannte er mich nur den »Träger«.

Um mich herum standen die wenigen anderen: in respektvollem Abstand, aber neugierig. Zafirah, die mich immer von den Vorzügen der sogenannten »Ultra-Gewalt« zu überzeugen versuchte. Ihr Interesse an allem, was »maximale Durchschlagskraft« hatte, wie sie es ausdrückte, hatte etwas Krankhaftes. Ihren eigenen Angaben zufolge hatte ihre Obsession mit Schwergewichtsboxen angefangen, den endlosen Wettkämpfen mit ihrem Vater in Bahrain, Nacht für Nacht, und war dann immer schlimmer geworden. Kampfsport, Mixed Martial Arts, militärischer Nahkampf. Sie war es, die von Edelweiss während der Manöver immer ins dichteste Gewühl geschickt wurde. Oft allein und unbewaffnet gegen eine Überzahl von Gegnern.

Wenn man Zafirah aus der Ferne sah, diese kleine, gedrungene Frau mit ihren schimmernden Kopftüchern, hätte man niemals vermutet, wozu sie imstande war. Was sie und ich zusammen in Afghanistan und im Irak, tief im Feindesland, den Taliban angetan hatten. So ist das mit echtem Talent. Man trägt es nicht offen zur Schau – erst wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt, kommt es zum Vorschein.

Außer uns beiden bestand der operative Kern des Teams nur aus zwei identisch aussehenden Sicherheitsleuten, die wir abwechselnd Kurt und John nannten. Sie kümmerten sich um alles, was mit Personenschutz zu tun hatte, in der Theorie wie in der Praxis, sowie um den Großteil unserer technischen Ausrüstung. Natürlich waren sie dauernd um mich herum, schirmten den »Träger« mit ihren mächtigen Körpern ab und strahlten unterschwellig Gewalt aus. Entschlossen, jederzeit ihr Leben für mich zu opfern. Besser gesagt: für den Koffer.

Doch der Apparat hinter den Kulissen war größer. Da gab es all jene, die wir nie oder selten zu Gesicht bekamen: Strategen, Beobachter, Techniker, Psychologen, medizinisches Personal und weitere Helfer. Dazu noch Doppelgänger, Lockvögel und Ersatzleute. All die seltsamen Menschen, die vereint die Komparserie der Sicherheitswelt bilden.

Kontakt zu anderen aus dem äußeren Stab des Nukleus war uns nicht erlaubt. Stattdessen wurden wir ermuntert, unsere zivile Identität zu perfektionieren, ein Doppelleben mit allem Drum und Dran zu führen, bevorzugt mit Familie. Edelweiss behauptete, dass ihn kein Geringerer als Kim Philby inspiriert habe. Er sagte, wir würden durch die ständige Manipulation unserer Umgebung unser operatives Potenzial verbessern, immer auf Zack sein, allzeit bereit. Außerdem würde dadurch, dass wir nicht zusammen stationiert waren, die Gefahr eines einzigen vernichtenden Schlages gegen uns verringert.

Und so wusste ich nach beinahe zwölf Jahren immer noch nichts über das Zivilleben der anderen, hatte keine Kenntnis von ihren »echten« oder »alternativen« Existenzen, keine Ahnung, wer sie waren, diese Tarnmenschen, die so sorgfältig für unsere Tarneinsätze ausgewählt worden waren. Wusste weder etwas über Edelweiss noch über Zafirah noch über John oder Kurt.

Und am wenigsten über Alpha.

Keiner von uns wusste, wer oder was es war, ob Mensch oder Maschine, oder gar eine digitale Funktion. Edelweiss behauptete, dass er selbst nach Jahren noch im Dunkeln tappe. Dass er seine Befehle in Form doppelt verschlüsselter Nachrichten auf seinem Bildschirm erhalte: Schutzeinsätze, Überstellungen, die Weisungen für unser nächstes Übungsmanöver. Nichts habe ihn bislang davon überzeugen können, dass Alpha tatsächlich ein lebendiges Wesen sei. Viele unserer Übungseinsätze wirkten ohnehin so willkürlich – hinsichtlich ihres Ziels wie ihrer Bedeutung –, dass sie genauso gut ein Zufallsgenerator hätte auswählen können.

Zu Beginn unserer Zusammenarbeit stand die Teilnahme an zwei regulären Militärinvasionen. Afghanistan war die erste – 13. November 2001, neun Tage, nachdem wir in dem fensterlosen, unterirdischen Hauptquartier zusammengekommen waren – und dann, am 20. März 2003, Irak. Doch es waren unsere Übungseinsätze, bei denen man uns mit den extremsten Situationen konfrontieren konnte, die unser Team auf die Probe stellten und abhärteten, die uns in der Hitze des Gefechts zusammenschweißten und uns zu wahren »Künstlern« machten. Jene Herausforderungen, für die wir geschaffen worden waren.

Nicht zu vergessen die Simulation einer atomaren Großoffensive auf Grundlage unseres Strategieplans »Globaler Angriff und Abschreckung«. Der größten Bedrohung für das Überleben nicht nur unserer Nation, sondern der ganzen Welt, der gesamten Menschheit: Götterdämmerung, Ragnarök. Jener Art von historischem Augenblick, den nur ein Paläontologe wirklich begreifen kann.

Und so saßen wir jetzt an dem Tisch aus Walnussholz im Konferenzraum der Air Force One und gingen die Abläufe des Staatsbesuchs in Stockholm am 4. und 5. September 2013 durch. Selbst nach all den Jahren im Team waren die Herausforderungen, vor die wir bei unseren Einsätzen gestellt wurden, ein Paradox. Immer galt die höchste Alarmstufe, bestand die Notwendigkeit, jederzeit auf alles vorbereitet zu sein, immer wurde uns äußerste Präzision abverlangt und gefordert, dass wir den eingeübten Abläufen ohne Abweichung folgten. Noch der kleinste Anlass konnte der Auftakt zum Weltuntergang sein.

Edelweiss hatte seine eigene Art, mit diesen Situationen umzugehen. Er schaffte es immer wieder, dass wir ihm unsere volle Aufmerksamkeit schenkten und kerzengerade auf unseren Stühlen saßen. Die Art, wie er die Lagebesprechungen mit einem »Guten Morgen, meine Lämmchen« eröffnete, drang uns durch Mark und Bein. Nach seinen ersten Vorträgen in dem abgeriegelten Trakt in West Point hatte ich wochenlang Albträume gehabt. Und als er seinen Blick jetzt auf die Projektionswand des Konferenzraums heftete, taten wir es ihm wie gebannt gleich.

Der grundlegende Unterschied zwischen diesem und früheren Staatsbesuchen lag darin, dass diesmal tatsächlich etwas geschehen würde. Ein Zwischenfall, der mindestens so gravierend war wie jene, mit denen wir während unserer wichtigsten Manöver konfrontiert gewesen waren. Mehr noch: Diesmal wäre er Realität. Unserer Einweisung kam eine viel größere Bedeutung zu als allen früheren Besprechungen.

Und außer mir wusste das keiner.

Wie üblich setzte die dreidimensionale Animation mit dem Fluchtweg ein, den wir bei höchster Gefahr benutzen sollten: Alarmstufe Violett, wenn der Präsident unserem Schutz unterstellt wurde und unser Team das Kommando über den gesamten Militärapparat übernahm. Die Animation zeigte den Präsidenten und die First Lady im Eilschritt, von unserem Geleitschutz umgeben, wobei unser Team sich unter die handverlesene Präsidentengarde mischte. Ich war nie mehr als fünf Meter von ihm entfernt, den Koffer ständig in Bereitschaft haltend.

Jetzt sah ich all die streng geheimen Informationen, zu denen ich während meiner Recherche keinen Zugang gehabt hatte: alle Details des Wegs, den wir einschlagen sollten. Der Fluchtweg würde in einem solchen Fall von unserem Quartier im Grand Hôtel zu dem Sammelpunkt am Hubschrauberlandeplatz auf Gamla Stan in Stockholm führen. Als geheimer Notausgang fungierte diesmal, wie sich herausstellte, eine enge, kleine Falltür links auf dem letzten Treppenabsatz, die zum Lieferanteneingang des Hotels an der Stallgatan 4 hinabführte.

Von da an war der Fluchtweg weniger beengt und führte durch ein Tunnelsystem, das sich tief im Felsgrund unterhalb des gesamten Stadtzentrums und seiner Außenränder erstreckte.

Diese Tunnel waren laut Edelweiss der Öffentlichkeit unbekannt. Ich versuchte, die beste Stelle zu finden, um mich vom Team zu trennen – doch die Anzahl der Möglichkeiten schien endlos. Auf den Plänen sah das System wie ein großer weißer Fleck auf der Landkarte aus, auf der unser Fluchtweg rot markiert war – der Rest war ein Dickicht aus gepunkteten Linien und schraffierten Flächen. Die Beobachter in unserer Vorausabteilung sagten, wir wären dort unten auf Stirnlampen angewiesen, da keiner der Tunnel über eine Lichtquelle verfüge.

Der Fluchtweg verlief anfangs in nördlicher Richtung, durch Gänge, die unter der Halbinsel Blasieholmen lagen. Sobald wir auf gleicher Höhe mit den Bahnsteigen der Tunnelbana-Station Kungsträdgården wären, würden wir uns erst scharf nach Westen und dann gleich nach Süden wenden, durch einen Tunnel unter dem Wasser. Dann würden wir uns weiter südwärts bewegen, tief unter dem Parlament, dem Königspalast und dem ältesten Teil der Stadt, bis wir beim Hubschrauberlandeplatz am Ufer des Riddarfjärden wieder an die Oberfläche kämen. Dort würden die Luftlandetruppen übernehmen und den Präsidenten und die First Lady in Sicherheit bringen, nun eskortiert von einem anderen, nicht zum Nukleus gehörenden Kofferträger, während unser Team sich zu einem Gegenangriff sammeln würde.

Edelweiss stoppte die Animation bei einem stark von Grünspan überzogenen Kupfertor. Es stamme, sagte er, aus den Ruinen des im siebzehnten Jahrhundert erbauten Schlosses Makalös, seinen Angaben zufolge eines der schönsten und berühmtesten Gebäude jener Zeit, und sei als Teil der allgemeinen künstlerischen Ausgestaltung der Stockholmer U-Bahnstationen hier in die Wand eingelassen worden. Er bemerkte, dass das Tor nicht geöffnet worden sei, seit man es im Jahr 1983 dort eingebaut habe, und dass es sich wahrscheinlich selbst mit größter Mühe heute nicht mehr öffnen lasse.

Den Beobachtern unseres Voraustrupps war selbst bei diesem geringfügigen Risiko unwohl gewesen: die Vorstellung, dass jemand sich aus den Gängen der blauen Tunnelbana-Linie seinen Weg in das direkt darüber liegende Quartier des Präsidenten bahnen könnte. Der U-Bahnhof Kungsträdgården war deshalb schon vor unserer Ankunft komplett abgeriegelt worden.

Jedes Mal, wenn Edelweiss die Animation wieder von vorn abspielte, damit wir uns den Fluchtweg einprägen konnten, wurde mein erster Eindruck klarer. Neben dem Kupfertor sah man etwas, das in die Felswand eingelassen war und gleichmäßiger als die unebene Steinoberfläche wirkte: ein helleres, kleines Quadrat. Die Ähnlichkeit mit den Bedienfeldern vor unserer eigenen abgesicherten Anlage – sie erinnerten an gewöhnliche, harmlose Anschlusskästen – konnte kein Zufall sein.

Und so, ohne die geringste Ahnung zu haben, ob ich meinen verrückten Traum in die Tat umsetzen könnte, entschied ich, dass das Kupfertor von Schloss Makalös der unsichtbare Riss in der Wand sein würde.

Der Ausgangspunkt für meine und Alphas unmögliche Flucht aus dem Team. »Wir zwei gegen die Welt.«

1.03

Eine natürliche Wolke kann fünfhundert Tonnen wiegen. Ein Atompilz sehr viel mehr.

Ehe mir meine Aufgabe zugewiesen wurde, hatte ich mich immer gefragt, wie eine solche Last sich auf einen einzelnen Menschen auswirkt. Wie es sich anfühlt, die Kontrolle und die Macht über das Atomwaffensystem zu haben, der Finger auf dem Knopf zu sein, der den Weltuntergang auslöst. Der Mann mit dem Koffer. Der Träger.

Als ich im November 2001 Teil des Teams wurde, hatte ich bereits seit einiger Zeit Zweifel gehegt. Meine Doktorarbeit war im Grunde eine einzige Infragestellung der Berechtigung von Atomwaffen. Ich lotete die Grenzen aus, hinterfragte die Gründe, arbeitete mich an den Problemen ab. Zuerst hatte ich sie »Das Atom – Ein moralisches Dilemma« nennen wollen, aber meine Doktormutter überzeugte mich davon, den Titel in »Das Geheimnis der Lise Meitner« abzuändern.

Ich führte ein Privatleben in einer Familie, die nichts von meiner zweiten Existenz wusste. Ich spielte die Rolle des Wissenschaftlers und Familienvaters – mit einer gebildeten Frau, zwei Mädchen und einem Jungen im Alter von elf, neun und sieben Jahren, mit einem Haus in der Vorstadt, mit dem üblichen freitäglichen Umtrunk mit unseren ganz gewöhnlichen Nachbarn. Ich spielte sie auf die gleiche gewissenhafte Weise wie die Rolle des »Mannes mit dem Koffer«. Alles war zugleich verlogen und wahr.

Und nichts deutet darauf hin, dass Gefühle schwächer werden, wenn man ein Doppelleben führt. Ganz im Gegenteil: Diese brennende Intensität, all die komplizierten Wechselspiele innerhalb eines Lebens, das ständig manipuliert werden muss, verstärken die Gefühle noch. Auch wenn ich an allen Fronten schauspielerte, gelang es mir doch viele Jahre lang, überall sowohl leidenschaftlich als auch professionell zu sein. Bis das symbolische Gewicht des Koffers, die absurde Bürde meiner Aufgabe zu viel für mich wurde.

Trotzdem machte ich noch ein paar Jahre weiter, auch wenn die Zweifel und Bedenken zunahmen. Ich war wie ein Hamlet des Atomwaffensystems. Dann, aus heiterem Himmel, setzte sich Alpha mit mir in Verbindung. Mir wurde klar, dass ich einen ungewöhnlichen Verbündeten hatte.

Und jetzt war die Zeit gekommen. Angespannt wartete ich auf das Zeichen, auch wenn ich immer noch keine Ahnung hatte, wie es aussehen würde. Ich spähte durch die getönten Scheiben, während wir über menschenleere Straßen in die Innenstadt von Stockholm rasten.

Mit den Jahren hatten wir uns daran gewöhnt, dass wir Innenstädte immer nur auf diese Weise zu sehen bekamen. Auf der ganzen Welt das Gleiche, wo wir auch hinkamen.

Die pulsierendsten Metropolen, die weitläufigsten Innenstädte: leer und abgeriegelt, ohne jegliches Leben. Die Gebäude intakt, die Menschen verschwunden. Wie nach dem großen Knall, der Explosion einer Neutronenbombe.

Der Koffer stand zwischen meinen Beinen auf dem Boden. Das schwarze Sicherheitsarmband war den Transportvorschriften gemäß um mein linkes Handgelenk gebunden. Der Präsident und die First Lady sprachen auf den Rücksitzen des Wagens im Flüsterton miteinander, sodass wir nicht verstehen konnten, was sie sagten.

Ich entspannte meine zur Faust geballte rechte Hand, warf einen verstohlenen Blick auf das Blatt mit dem Zeitplan und sagte im Flüsterton die zugeteilten Schlafenszeiten auf. Zafirah 00:00 – 02:13, Edelweiss 02:13 – 04:55, ich 04:55 – 06:00. Kurt und John schliefen während unserer kürzeren Staatsbesuche nachts niemals, sie holten sich ihren Schlaf, während wir den Atlantik überquerten, wobei sie jeweils abwechselnd wachten.

Wieder einmal hatte Zafirah das große Los gezogen. Edelweiss versicherte uns immer, dass die Ruhezeiten nach dem Zufallsprinzip zugewiesen würden – aber schon wieder hatte ich den letzten und kürzesten Zeitraum erwischt. Sie misstrauten mir wohl schon seit längerer Zeit.

Jetzt blieben mir nur fünfundsechzig Minuten bei geringfügig reduzierter interner Überwachung, ehe Kurt oder John mich weckten. Und die Krankenschwester, obwohl sie nirgendwo im Dienstplan stand, würde mir zweifellos bis ins Schlafzimmer folgen – bereit, bei der geringsten unnatürlichen Bewegung Alarm zu schlagen.

Sie schlief neben mir im Wagen, allem Anschein nach tief und friedlich, obwohl wir das Hotel schon fast erreicht hatten. Ich betrachtete ihr Gesicht, die dicke Schicht Schminke, das blond gefärbte Haar, die kleine, kompakte Figur. Versuchte ein Gefühl dafür zu entwickeln, wer sie war. Zu verstehen, warum ausgerechnet dieser Person erlaubt worden war, mich hierhin zu begleiten, warum man ihr diesen Auftrag erteilt hatte.

Dann verging, wie in Zeitlupe, ein langweiliger Tag. Der spärliche Reiseplan zeigte, dass dieser Staatsbesuch eilig zusammengestückelt worden war. Unser Empfang an der Kungliga Tekniska Högskolan war eine einzige Enttäuschung. Es teilte sich nicht das geringste Zeitkolorit mit, es gab keinen Versuchsreaktor R1, nicht einmal einen flüchtigen Blick auf die Räumlichkeiten, in denen Lise Meitner gearbeitet hatte. Nichts als langweilige Ausstellungssäle und sterile Schaukästen mit verschiedenen »Umweltinnovationen«.

Das Präsidentenpaar hatte seine übliche Rolle gespielt, sie hatten genickt, dies und das gesagt und die richtigen Fragen gestellt. Es blieb ihnen sogar noch ein wenig Zeit, um vor dem Abendessen auszuruhen, während wir uns in dem provisorischen Überwachungsraum trafen, einem pompösen, zwei Stockwerke hohen Eckzimmer auf den beiden oberen Etagen des Hotels, mit Wandlampen und einem dicken, blauen, mit Goldkrönchen gemusterten Teppichboden.

Von dieser hohen Warte aus konnten wir alle Hoteleingänge und große Teile der Umgebung im Blick behalten. Auf der anderen Seite der Wand, hinter einer Verbindungstür, befand sich die verschwenderisch eingerichtete, sieben Zimmer umfassende Suite des Präsidentenpaars. Sie erstreckte sich über vier Stockwerke, einschließlich des luxuriösen kleinen Schlafzimmers direkt unter einer Kuppel, die das Gebäude krönte. Aber da der Hotelbetreiber sich von unserem Voraustrupp nicht dazu hatte überreden lassen, die Panoramafenster des Zimmers mit kugelsicherem Glas auszustatten, durfte es jetzt nur als Ruheraum für die Leibwächter genutzt werden.

Wie üblich hätte es mich nur wenige Sekunden gekostet, im Fall eines Alarms an der Seite des Präsidenten zu sein. In diesem besonderen Fall würde ich mich allerdings von ihm entfernen.

Die Festhalle im Wintergarten war ebenfalls nur wenige Türen von unserem Bereich entfernt. Dort fand das Abendessen statt, das in ungefähr einer Stunde beginnen und bis kurz vor Mitternacht andauern würde. Offizielle Anlässe enden immer kurz vor Mitternacht. Das Protokoll schrieb vor, dass die Leibgarde des Präsidenten für dessen persönliche Sicherheit verantwortlich war, aber Kurt und John stellten schon unsere eigenen tragbaren Monitore an der Längswand des Eckzimmers auf. Ich machte es mir derweil in der Fensternische aus massivem Marmor bequem, von wo aus ich den besten Überblick hatte.

Die Aussicht wirkte fast künstlich. Ein Stück Theaterkulisse, eine Ansichtskarte, die so unaufgeregt idyllisch war wie das ganze kleine, neutrale Land. Ich sah hinaus, sah den Himmel, die von der Abendsonne erleuchtete Welt, die ich bald verlassen musste. Sobald Alpha den Startschuss gäbe, würde für uns beide eine neue Existenz beginnen. Immer auf der Flucht, wie ein Wild, ein Beutetier, wie Ratten unter der Erde. Trotzdem hatte ich keine Ahnung, worauf ich eigentlich wartete. Auf welche Art von Signal.

Ich ließ meinen Blick weiterschweifen, über die Menschenmenge vor dem Hotel, die hoffte, einen Blick auf den Präsidenten werfen zu können. Und nicht nur das: Sie warteten auf einen Zwischenfall, womöglich einen terroristischen Angriff. Menschen sind Haie, Blut zieht sie an. Das Licht der untergehenden Sonne schien durch die Fenster der Häuser, die die Skeppsbron auf dem gegenüberliegenden Ufer säumten. Die Szenerie verdunkelte sich, die barocken Fassaden verloren ihr erdiges Ocker und Umbra, und die Sonne verschwand wie ein riesiger roter Ballon hinter den stattlichen, aber unbelebten Gebäuden.

Meine Uhr zeigte 19:31. Noch zehn Minuten bis zum offiziellen Sonnenuntergang. Häufig war dies der verabredete Zeitpunkt für einen Angriff mit unserer überlegenen Nachtkampftechnologie gewesen. Operation Desert Storm, Operation Iraqi Freedom oder Gefechtsübungen für einen nuklearen Großangriff. Oft sollten wir genau dann losschlagen, wenn die Sonne wie ein rätselhafter kosmischer Felsbrocken in den Sand stürzte und von einem Moment auf den anderen die Wüstennacht einbrach.

Während der letzten Tageslichtminute sah ich genauso oft auf meine Armbanduhr wie aus dem Fenster und zählte einen unhörbaren Countdown. Um 19:41 Uhr, exakt zu der kalendarisch bestimmten Zeit, verschwand der obere Rand des Feuerballs hinter dem Horizont: Als hätte das gewaltige Tunnelsystem unter dem U-Bahnhof Kungsträdgården die Sonne verschluckt.

Aber es gab immer noch kein Zeichen von Alpha. Kein Signal von der einzigen Person, die mir jetzt helfen konnte.

Kurz vor Mitternacht ging Zafirah, die Erste auf unserem Dienstplan, die Treppe zu unserem Schlafquartier hoch. Während der Nacht legte die Krankenschwester alle dreißig Minuten zwei warme, leicht schwitzige Finger auf mein Handgelenk und maß meinen Puls. Sie hatte sich neben mir in der Nische vor dem Fenster positioniert. Strich mir über die Stirn, um sich davon zu überzeugen, dass meine Körpertemperatur nicht wieder verrücktspielte.

Ich selbst warf häufiger denn je verstohlene Blicke auf meine Armbanduhr, bald schon in Abständen von wenigen Minuten. Es war, als ob der Koffer zwischen meinen Füßen brannte.

Um 04:50 Uhr, kurz vor meiner Schlafpause, trat Zafirah zwischen mich und die Krankenschwester. Mit ernster Miene verkündete sie, dass die Ergebnisse der Untersuchungen vorlägen, denen ich kurz vor Abflug unterzogen worden war, und dass sie daraufhin neue Anweisungen erhalten habe. Dass sie aus Sicherheitsgründen während unserer Ruhepause bei mir und der Schwester bleiben solle.

Als Edelweiss runterkam, schlaftrunken und mit zerknittertem Gesicht, stand Zafirah auf und begleitete mich die Treppe hinauf. Die Krankenschwester bildete die Nachhut unserer kleinen Kolonne.

Ich durfte als Erster ins Bad. Durch die Wand hörte ich, wie Zafirah das Sofabett vor die Schlafzimmertür schob. Mit ihrer fast unmenschlichen Fähigkeit, die ganze Kraft ihres kleinen muskulösen Körpers auf einen einzigen kleinen Punkt zu konzentrieren.

Wohl um der Krankenschwester einen Gefallen zu tun, sagte Zafirah, dass sie gern aus dem Fenster schauen wolle. »Um mich in der fahlen Dunkelheit des Nordens zu verlieren.« Ich hörte keine Antwort. Vielleicht war die Schwester schon eingeschlafen.

Ich stellte den Koffer – er durfte nie außer Reichweite sein – neben die Toilette und erleichterte mich im Stehen. Das schwarze Sicherheitsarmband befand sich noch immer an meinem linken Handgelenk. Ich pinkelte absichtlich neben die Schüssel und hinterließ meine Markierung auf dem Goldmosaik, das vermutlich Hunderte Dollar pro Quadratmeter gekostet hatte. Als ich aus dem Bad kam, lag die Krankenschwester auf der Außenseite des Doppelbetts. Ihr Schnarchen war dunkel, kombiniert mit einem leisen Pfeifen. Vorsichtig kletterte ich über sie hinweg und drückte mich an die Wand.

Man darf niemals völlig abschalten, weder geistig noch physisch. Das ist der Trick. Unter mir warf das Laken Knitterfalten, wie Kräuselungen des Windes auf der Oberfläche eines Ozeans oder einer Sandwüste. Aber die Zeit raste unerbittlich weiter, wie immer, wenn einem nur wenig von ihr bleibt. Erst 05:11, dann, kaum dass ich noch einmal kurz die Augen schloss, 05:23. Licht strömte über die Skyline der Stadt, speiste sich aus seiner Quelle hinter dem Horizont, Ocker und Umbra kehrten aus dem Innern der Erde zurück. Möwengeschrei tönte durch die dreifach verglasten Fenster. Es klang wie das Kreischen von Geiern.

Und dann blieb nur noch eine halbe Stunde, um herauszufinden, wie ich mich absetzen konnte. Es war wie das klassische Rätsel des »verschlossenen Raums«. Ich musste den unsichtbaren Riss in der Wand entdecken.

Ich rutschte im Bett nach hinten, versuchte möglichst viel von dem mitzubekommen, was innerhalb und außerhalb des Schlafzimmers vor sich ging, versuchte einen Hinweis zu finden. Meine Armbanduhr zeigte 05:57. Noch drei Minuten, bis Kurt oder John uns wecken würden.

In diesem Moment ging der Alarm los. Die heulenden Sirenen übertönten das Gekreisch der Möwen, sie frästen sich direkt in meinen Kopf.

Endlich. Das Signal von Alpha.

1.04

Mein mobiles Feldtelefon zeigte Violett an, die höchste Alarmstufe für einen groß angelegten Atomangriff.

Intuitiv schaltete ich die Nachttischlampe an, aber es geschah nichts. Die Stromzufuhr musste unterbrochen worden sein. Doch das Licht der Morgendämmerung war stark genug – der Raum wurde kaum heller, als wir die Stirnlampen einschalteten. Wir bewegten uns blitzschnell, dennoch hatten unsere Bewegungen etwas von einem Traum, trotz des ohrenbetäubenden Alarms, der jede Kommunikation mit Zafirah oder der Krankenschwester unmöglich machte.

Wir rannten die Treppe runter zum Rest des Teams. Setzten uns mit der Präsidentengarde in Verbindung, überprüften unser Sturmgepäck und den Koffer, nahmen unsere Positionen ein, verließen die Suite. Ich war keine zwei Meter vom Präsidenten entfernt. Wir liefen zur Fluchttreppe am anderen Ende des Gangs und zählten schweigend unsere Schritte. Als wären sie Teil einer Choreografie.

Ich hielt den Koffer mit der Linken fest umfasst. Bei Alarmstufe Rot oder höher durfte das Armband nicht mehr an meinem Handgelenk befestigt sein, um den eventuell erforderlichen Gebrauch der Vernichtungswaffe nicht zu verzögern.

Wir hörten die Menschen, die sich hinter den Sicherheitstüren im Treppenhaus drängten, die Panik der Hotelgäste, panische Schreie, das durchdringende Weinen eines Babys.

Einige Männer aus der Leibgarde eilten voran, so wie man es aus Filmen kannte, gleich dahinter der Präsident und die First Lady. Als wir die Treppen hinabliefen, mischte ich mich unter sie. Zafirah drängte sich vor mich, Kurt und John folgten ihr. Die Krankenschwester lief neben mir her, und plötzlich schob sie ihre kleine, aber überraschend kräftige linke Hand in meine rechte. Sodass ich sie hätte abschütteln müssen, wenn ich meine Waffe hätte ziehen wollen.

Als ich mich auf dem letzten Treppenabsatz durch die Falltür gequetscht hatte und unweit vom Lieferanteneingang in der Stallgatan 4 stand, sah ich zu der Krankenschwester zurück. Trotz ihres sperrigen Rucksacks war sie mir behände durch die kleine Öffnung gefolgt. Auch sie war offenbar gezielt ausgewählt worden und hatte eine Spezialausbildung erhalten.

Über eine weitere Falltür betraten wir die Wendeltreppe, die uns ins Tunnelsystem bringen würde. Nach dreiundvierzig Windungen kamen wir – immer das Präsidentenpaar und unsere Rückzugslinie im Blick – auf dem ebenen Boden an. Genau wie in der Animation.

Aber an den nackten Felswänden war keine einzige Lampe zu sehen, keine Verkabelung, keine Spur Komfort für die Menschen, die sich normalerweise hier bewegten, und ich fragte mich, warum man so große Anstrengungen auf den Bau dieses riesigen Tunnelsystems verwendet hatte – in einem neutralen Land, das seit über zweihundert Jahren in Frieden lebte.

Die Krankenschwester drückte fest meine Hand. Es war nicht klar, ob sie mich beschützen oder von mir beschützt werden wollte. Im Grunde hatte ich nicht mehr Informationen als sie. Ab Alarmstufe Rot war ich nicht mehr befugt, technische Details zu erfahren. Ich wusste bloß, dass ich – besser gesagt: der Koffer – auch in solchen Situationen als die ultimative Gegenangriffswaffe und das wichtigste zu beschützende Gut betrachtet wurde – gleich nach dem Präsidenten.

Und dass Alpha sich ganz in der Nähe befinden musste, die Strippen zog, den ganzen Plan Schritt für Schritt in die Tat umsetzte. Unsere gemeinsame Flucht aus dem Team.

Nach dem beängstigenden Getöse im Hotel – dem Alarm, der lautstarken Panik der Gäste – wirkte die plötzliche Stille hier im Felsgestein fast irreal. Wir atmeten in kurzen Stößen durch die Nase, um möglichst wenig Geräusch zu machen. Wir bewegten uns mit der antrainierten Geschwindigkeit und Präzision unserer regelmäßigen, hochintensiven Übungseinsätze. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass wir stillstanden und dass stattdessen das riesige Tunnelsystem wie ein Tsunami aus Stein über uns hinwegstürzte. Im kreisrunden Strahl unserer Stirnlampen taten sich links und rechts ständig neue Gänge auf: unzählige alternative Wege durch die Finsternis.