Aus dem Englischen von Usch Kiausch

Impressum

Eine Festa Originalausgabe

Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-791-2

www.Festa-Verlag.de

Inhalt

Impressum

Einführung

Die Sammlung des Domherrn Alberic

Die Ruhestätte der Lamia

Eine Abendunterhaltung

Die Hexe von Fenstanton

Die sonderbare Erbschaft des Mr. Humphreys

Die endlose Liebe der Ann Clark

Die Mezzotinto-Radierung

Nummer 13

Der Rosengarten

Das Chorgestühl der Kathedrale von Barchester

Der Schatz des Abtes Thomas

Die ungewöhnlichen Gebetbücher

Blick von einem Hügel

Nachwort

Quellenangaben

M. R. JAMES

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Einführung

Kurzgeschichtensammlungen und Anthologien sind für die gesamte Unterhaltungsliteratur essenziell, aber ganz besonders gilt das für das Horror-Genre. Die meisten Fans, die ich kenne, kamen durch eine Kurzgeschichte zur Horrorliteratur. Meine erste Horror-Erzählung las ich in der Grundschule, es war Poes Das verräterische Herz. Die Geschichte, die mir den Anstoß gab, selbst Horror zu schreiben, war H. P. Lovecrafts berüchtigte Story Die Ratten im Gemäuer. Ich fand sie in einer Hardcover-Anthologie mit dem Titel Die besten Geistergeschichten, 1977 herausgegeben von Charles Fowkes bei Hamlyn Press, und ich las sie während meiner Dienstzeit als Soldat in der U. S. Army 1st Armored Division, als ich im Führerstand eines M60A1-Kampfpanzers saß. (In Bamberg, Westdeutschland – als es noch Ost und West gab.) In diesem Panzer habe ich VIELE Horrorgeschichten gelesen. Ziemlich cool, nicht?

Es ist übrigens auch so, dass ziemlich viele Kritiker finden, das Beste in der Horrorliteratur seien die Kurzgeschichten und nicht die Romane, und ich glaube, dem würde ich zustimmen.

Aber was hat das mit dem Autor der hier versammelten Erzählungen zu tun, dem Linguisten, Archäologen, Mediävisten und Cambridge-Absolventen Montague Rhodes James?

Nun, der Schriftsteller James hat keinen einzigen Roman verfasst und ich habe nirgends einen Hinweis finden können, dass er das je vorgehabt hätte. Wenn überhaupt, dann war er viel zu beschäftigt! Der Mann hat gigantische Kirchenbibliotheken und Archive katalogisiert. Er hat uralte, handgeschriebene Kopien der Bibel und anderer »erleuchteter« Schriften übersetzt. Sein gesamtes Erwachsenenleben lang war er ein Mitglied der Akademien und nur sehr wenige seiner Aktivitäten hatten nichts mit dem »Rummel der Universität« zu tun (um ein Zitat aus Tanz der Teufel zu bemühen – das Original, nicht das Remake). 30 Jahre lang war er ein hochrangiger Vorsteher des King’s College, Eton College und der University of Cambridge; anders gesagt: Er balancierte mit ziemlich vielen Verpflichtungen. James war ein astreiner Bücherwurm, ein Nerd, ein bebrillter »Streber«. Sein Leben kreiste nicht um das Schreiben von Geschichten (wie es vermutlich bei den meisten Horrorautoren der Fall ist … bei mir zum Beispiel), sondern um das geistige Vorankommen in den wissenschaftlichen Disziplinen, die ihn intellektuell reizten, und um das qualitative Vorankommen der angesehenen Institute, die ihn beschäftigten.

Nein, James schrieb seine Kurzgeschichten nur nebenbei, als Hobby. Hauptsächlich las er sie seinen Freunden am College vor und schien nie besonderes Interesse an einer Veröffentlichung zu haben. (Dem Himmel sei Dank, dass seine Freunde ihn schließlich eines Besseren belehren konnten!) Viele seiner nicht fiktionalen Arbeiten sind bis zum heutigen Tag hoch angesehen und wegweisend, aber James’ wahres Erbe liegt in seinen Gruselgeschichten. In der Literaturkritik genießt er einen hohen Rang unter den besten Horrorautoren aller Zeiten.

Aber zurück zu meiner Erinnerung an Charles Fowkes’ monumentale Beste Geistergeschichten. Die Anthologie enthielt auch einige Erzählungen von M. R. James, von dem ich – bis zu jenem Zeitpunkt – noch nie gehört hatte. (Vergessen Sie nicht, dass das über 40 Jahre her ist.) Es war James’ Meisterwerk, vielleicht seine allerbeste Geschichte, Graf Magnus. Auch sie las ich in meinem Panzer, und wenn ich mich recht entsinne, war das bei Übungen in Bamberg, im Winter 1978, glaube ich, während eines Schneesturms. Allerdings las ich die Geschichte unmittelbar nach Lovecrafts Ratten im Gemäuer und ich muss leider zugeben, dass Lovecrafts Erzählung der »dämonischen Schweinherde«, die im »kniehohen Dreck« herumstapfte, mich in ihren Andeutungen, mit ihrer kreativen Energie und ihren teuflischen Bildern derart schockierte, dass James’ Geschichte vom Grafen Magnus de la Gardie keinen bleibenden Eindruck bei mir hinterließ. Am ehesten war es so, dass ich, obwohl mir die Geschichte gefiel und ich ihre Einzigartigkeit erkannte, in meiner damaligen Jugend und Naivität ihre Exzellenz einfach an mir vorbei und aus dem Fenster schlüpfen ließ (oder sollte ich sagen: aus dem Periskop des Panzers). In den folgenden Monaten las ich eine MENGE Lovecraft und wandte mich dann dem moderneren Horror zu (King, Campbell, dem frühen Ketchum usw.). Was James angeht: Obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, mich irgendwann mal näher mit seinem Werk zu beschäftigen, muss ich wohl zugeben, dass ich das damals nie tat.

Jetzt machen wir einen Zeitsprung von etwa 30 Jahren, ins Jahr 2009. Mittlerweile genoss ich das große Glück, als Vollzeit-Schriftsteller arbeiten zu dürfen. Heureka, mein Traum war wahr geworden! Danke, Gott, Schicksal oder Cthulhu! Das geschah 1997. Später, es muss wirklich um 2009 gewesen sein, besuchte ich einen kranken Verwandten und entdeckte ein altes Taschenbuch, und zwar nichts Geringeres als die Penguin-Ausgabe der Gesammelten Geistergeschichten von M. R. James. »Ach, stimmt, an den erinnere ich mich«, dachte ich. »Er hat diese coole Geschichte, Graf Magnus, geschrieben, die ich vor Ewigkeiten in Deutschland gelesen habe.« Es war ein perfekter Zeitpunkt, mich mit dem Werk von James zu beschäftigen, wie ich es mir vor so langer Zeit vorgenommen hatte.

Seither lese ich nahezu jeden Abend vor dem Schlafengehen etwas von James.

Das heißt, ich habe nahezu jede verdammte M.-R.-James-Geschichte Dutzende Male gelesen. Ein paar, Graf Magnus, Blick von einem Hügel, Das Chorgestühl der Kathedrale von Barchester und andere, habe ich sicherlich Hunderte Male gelesen. Einmal las ich Die Esche an zwölf Abenden in Folge. Am 13. Abend las ich Eine Herzenssache und am Abend darauf noch mal Die Esche. Das ist ein merkwürdiges – und ich würde fast sagen zwanghaftes – Verhalten, besonders für einen aktiven Schriftsteller, der eigentlich bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Neuerscheinungen aller zeitgenössischen Autoren seines Genres lesen sollte.

Ich mache das nicht.

Ich lese jeden Abend M. R. James. Tatsächlich glaube ich, dass ich einigen von James’ Figuren ähnele, denn ich leide unter dem Gebrechen, das auch Mr. Anderson in Nummer 13 plagt, oder Professor Parkins in Pfeif nur … oder Mr. Cooper in Die sonderbare Erbschaft des Mr. Humphreys, um nur einige zu nennen; um gut einschlafen zu können, muss ich vorher noch ein paar Seiten lesen. Nun, meine Seiten sind fast immer welche, die James verfasst hat. Im Durchschnitt schaffe ich eine M.-R.-James-Geschichte pro Abend und so habe ich alle wieder und wieder gelesen, jahrelang. Auch zu anderen Autoren kehre ich immer wieder zurück: Lovecraft, Poe, August Derleth (nicht lachen!) und noch einige mehr, aber auch an solchen Abenden lese ich immer zuerst eine meiner Lieblingsstellen von James. (Zum Beispiel die »Zugabteil«-Szene aus Die Macht der Runen, die »Nachruf«-Szene aus Das Chorgestühl …, die »dem schwedischen Typen wird das Gesicht abgezogen«-Szene aus Graf Magnus, die »Alter Mitchell«-Szene aus Landnahme und so weiter.) James ist wie eine Droge und ich bin rettungslos abhängig. Ich brauche jeden Abend meinen Schuss.

Warum ich Ihnen diese unnötigen Informationen zu meinen exzentrischen Lesegewohnheiten aufbürde? Tatsächlich strömen sie mir regelrecht aus den Fingern, wenn ich über M. R. James schreibe, aber es gibt auch einen relevanten Punkt, auf den ich, in der mir eigenen, verworrenen Art und Weise, mit diesen Zeilen hinauswill.

Zunächst muss ich feststellen, dass ich kein James-»Kenner« bin, nicht mal ein Experte. Das trifft eher auf Leute wie S. T. Joshi zu oder Steve Duffy, Christopher Roden, Ramsey Campbell oder John Pelan, die jede Erzählung von M. R. James studiert haben, jeden Entwurf, jedes Manuskript und Notizbuch, jede Postkarte und jeden Brief. Diese Männer sind James-Kenner. Ich bin einfach nur ein durchgeknallter Fan. Aber die ganze Zeit habe ich mich gefragt: Warum? Warum bin ich so begeistert vom Werk des M. R. James, dass ich es JEDEN ABEND lesen will?

Um im Stile von James zu antworten, liegt die Antwort nicht fern. Tatsächlich machen James’ Erzählungen Spaß. Sie sind unterhaltsam. Und mit all meiner Lebenserfahrung und nach all den Büchern, die ich gelesen habe, wage ich zu behaupten, dass James der am konsequentesten unterhaltsame Schriftsteller überhaupt ist. (Ausgenommen vielleicht Shakespeare. Aber selbst Shakespeare hat niemals etwas so Cooles erfunden wie eine verfluchte Hundepfeife, ein spukendes Heckenlabyrinth oder ein verfluchtes Fernglas!) In James’ Werk erspüre ich, genau wie bei Lovecraft, den idealen Ausdruck menschlicher Kreativität, und zwar in Form von Lust auf Wörter, dem Hungern danach, Sprache zu benutzen. Wörter bedeuteten James alles; sie waren sein Leben. Wenn ich James lese, dann spüre ich seine Freude an den Wörtern und seine Begeisterung für Sprache viel intensiver als bei jedem anderen Autor. James schreibt nicht einfach nur, er feiert, er zeigt, was er draufhat, und macht einfach und demonstriert beständig seine Überlegenheit als Sprachkünstler – verdammt, er demonstriert sie nicht einfach nur, er reibt sie uns unter die Nase. Das alles entspringt seiner großen Liebe zur englischen Sprache, und deshalb ist jede seiner Erzählungen eine Feier dieser Liebe.

Und sein höchstes Ziel ist es, das mit Ihnen zu teilen, den Lesern.

James mühte sich mit jedem Wort in jedem Satz ab. Er war nicht faul; er war nicht nachlässig und er machte keine halben Sachen. Jeder seiner Sätze kommt einer Mauer gleich und jedes Wort ist ein wohlgesetzter Ziegel. In seinem Kanon hat er uns eine uneinnehmbare Festung der Unterhaltung hinterlassen, und diese Festung wird ewig bestehen. James’ Geschichten sind – auch wenn sie Einblick in vergangene Zeiten bieten mögen – zeitlos. In 100 Jahren oder sogar in 1000 werden seine Erzählungen immer noch unterhaltsam sein, und zwar wegen James’ Liebe zur englischen Sprache und wegen seines großen erzählerischen Potenzials. Er hat nicht einfach geschrieben, wie es die meisten Schriftsteller tun, er hat nicht einfach ein paar Wörter auf die Seite geklatscht und sie die Geschichte bilden lassen. Nein, nein, nein. Das hat mit James überhaupt nichts zu tun. James benutzte Wörter, um die Action zu Ihnen zu bringen! Er transportiert die erzählte Zeit mit seinem ureigenen Stil so gut, dass man glauben könnte, man würde in dieser Zeit leben; er schildert die Figuren so lebendig, dass man sie mit Leuten verwechselt, die man wirklich getroffen hat. Deshalb kann man ihn wieder und wieder lesen und es macht einem nichts aus, denn jedes Mal entdeckt man kleine Überraschungen, die man vorher übersehen hat, winzige Nuancen, die auf Interpretationen hinweisen, die einem vorher entgangen sind. Selbst in Geschichten, die man schon ein Dutzend Mal gelesen hat. Da kriegt man was für sein Geld!

Als Beispiel will ich anführen, wie der Nobelpreisträger Ernest Hemingway, der König des sparsamen Schreibens, ein Bild entwerfen würde: »Der Farmer blickte über das Tor und sah die Sonne untergehen.«

Und so beschreibt James dieselbe Szene: »Ich nehme an, ein jeder kennt die Landschaften – ob sie wohl von Birket Foster stammen oder vielleicht älter sind? –, die als Holzschnitte die Lyrikbände zierten, die auf den Kaffeetischen in den Salons unserer Väter und Großväter lagen – Bände in ›Leinenbindung, geprägt‹; das scheint mir der korrekte Ausdruck zu sein. Ich gestehe, ein Bewunderer derselben zu sein, besonders derer, die den Bauern zeigen, der sich an ein Tor in einer Hecke lehnt und den Turm der Dorfkirche am Fuße eines sanften Abhangs betrachtet – umgeben von ehrwürdigen Bäumen und fruchtbaren Feldern, von Hecken durchschnitten und begrenzt von fernen Hügeln, hinter denen die Sonne versinkt …«

Jetzt entscheiden Sie: Welche Variante ist spannender? Welche Variante versetzt Sie, den Leser, eher in die Szenerie hinein? Welchem Autor sind Leseerfahrung und Bildhaftigkeit eindeutig wichtiger?

Es kommt auf die Wörter an, verstehen Sie, und James konnte mit Wörtern umgehen wie van Gogh mit Farbe; er hat mehr erschaffen als bloße Erzählungen, er hat Gemälde entworfen und auf diesen sehr bildhaften Leinwänden das Grauen eindringlicher vermittelt als jeder andere Schriftsteller seiner oder irgendeiner Zeit.

Und da wir nun fast am Ziel sind, will ich noch mit ein paar Missverständnissen zu James aufräumen. Zunächst mal bezeichnen allzu ernste Kritiker James gerne als »Meister des Understatements« und implizieren, dass sich James nicht an explizite Bilder wagte. Auch James selbst äußerte sich abfällig über Schriftsteller, die sich in ihren Horrorgeschichten allzu explizit gaben. Schriftsteller widersprechen sich andauernd selbst (ich zum Beispiel!) und James bildet da keine Ausnahme. Einige der blutigsten, grausigsten Bilder, die mir in der Literatur je begegnet sind, stammen von ihm. Die bereits erwähnte Szene aus Graf Magnus handelt von einem attraktiven schwedischen Wilderer namens Anders Bjornsen. Nun, er bleibt nicht lange attraktiv, denn als ihn seine Freunde am nächsten Tag im Wald finden, heißt es: »Der war ein gut aussehender Mann gewesen, aber nun fehlte ihm das ganze Gesicht. Das Fleisch war bis zum Knochen abgeschält … Als die anderen rüberblickten, sahen sie, dass das Tuch zu Boden geglitten war und Anders Bjornsens Augen nach oben ins Leere starrten.« Ich würde das kaum als »Understatement« bezeichnen. Für mich ist das eine der erschütterndsten Szenen in der Geschichte des Horrors. (Außerdem nehme ich stark an, dass H. P. Lovecraft – der ein großer Fan von James war – dieses blutige Bild für seine eigene Erzählung Die lauernde Furcht »ausgeborgt« haben könnte. James kann sich durch diesen Diebstahl geehrt fühlen!) Wenn man sich heutige Splatterfilme ansieht, in denen Opfern das Gesicht weggerissen wird, erreichen all die Computeranimationen und Spezialeffekte nicht mal annähernd den Eindruck, den James vor fast einem Jahrhundert mit Worten erzeugt hat.

In einer weiteren von James’ Erzählungen, Eine Herzenssache (ein tolles Werk, das James selbst nicht besonders mochte), treffen wir die halb körperlichen, wiederbelebten verwesten Leichen zweier Kinder mit tiefen Löchern in der Brust, weil ihnen ein Zauberer die Herzen herausgeschnitten hat. Diese beiden Kinder wandern nachts durch ein unheimliches Herrenhaus. Das ist nun wirklich kein »Understatement«, Leute!

In Eine Warnung für die Neugierigen verfolgen zwei ewiggestrige Professoren an einem nebligen Strand Fußspuren, die »mehr Knochen als Haut« abbilden. Nicht zu vergessen Eine Schulgeschichte, wo jemand nachts aus der Schlafzimmertür schaut und einen Kerl mit einem heraushängenden Augapfel sieht, der über den Boden kriecht. Cool! Aber nicht annähernd so cool wie das halb verweste Ding, das am Ende auftaucht.

Das sind nur ein paar Beispiele dafür, wie schockierend drastisch James werden konnte, während er gleichzeitig behauptete, explizite Bilder zu verachten. Dasselbe gilt für Sex, jedermanns Lieblingsthema. James verurteilte die sexuellen Anspielungen in Arthur Machens Der große Pan und Die weißen Gestalten (und nannte Machen daher auch »skrupellos«, wenn ich mich nicht irre), und ich bezweifle stark, dass James es gut fand, dass Lovecrafts kosmischer Dämon in Das Grauen von Dunwich die arme Lavinia Whateley schwängerte oder Fischmenschen in Schatten über Innsmouth mit menschlichen Frauen Kinder zeugten. Tatsächlich war James nicht besonders angetan von Lovecraft, obwohl dieser James in seinem Buch Die Literatur der Angst eine länger andauernde und positivere Presse verschaffte als jeder andere. Typisch britisch, hm? Ein Amerikaner tut dir einen Gefallen, und du machst ihn immer noch runter! Nun gut, ich schätze, in ihrem Leben nach dem Tod ist das alles vergeben und vergessen.

Aber zurück zum Thema Sex. Einige brandmarkten James als viktorianischen Frauenhasser, weil in seinen Erzählungen niemals Frauen vorkämen. (Was übrigens nicht stimmt.) Außerdem war er nie verheiratet und machte in seinem Werk niemals Andeutungen hinsichtlich sexueller Aktivitäten.

Moment! Was höre ich denn da für ein Quietschen? Da ist doch jemand mit voller Wucht auf die Bremse getreten!

Kein Sex in seinen Erzählungen? Verzeihung, aber da muss ich widersprechen. Einige seiner Andeutungen sind nicht mal besonders subtil, wenn man sie genau betrachtet; James schmuggelt sie einfach da rein, wo man sie nicht erwarten würde. Zum Beispiel?

Nun, ich sollte meine Kommentare zu diesem Thema lieber in ein Nachwort packen; ansonsten könnten meine Analysen die Enden einiger der Geschichten in diesem Band verderben. Lesen Sie also zuerst das Buch und meine Meinung dazu am Ende, wenn Sie durch sind.

Zum Thema James und Sex in seinen Geschichten und wie er das selbst betrachtet haben mag, will ich es also hierbei belassen: Nein, James war nie verheiratet und ich wüsste auch von keinerlei Romanzen. Ich meine mich zu erinnern, dass es einige höhergestellte Damen gab, die an ihm interessiert waren, aber daraus wurde wohl nie etwas. Tatsächlich gibt es auch nur sehr wenige bedeutende weibliche Figuren in seinem Werk, wenn man nicht die xanthippenhafte Vogelscheuche Mrs. Anstruther aus Der Rosengarten dazuzählen will, oder Mr. Dentons sogar noch viel schlimmere Tante aus Das Tagebuch des Mr. Poynter. Dennoch finde ich es ziemlich dumm, wenn Kritiker James deshalb, und weil er nie geheiratet hat, als »Frauenhasser« verdammen.

Hier also meine Meinung zu James und den Frauen. Sie beginnt mit der Aussage einer Schriftstellerfigur (zweifellos eine Version von James selbst) gegenüber einem Freund hinsichtlich der viktorianischen Anklänge in seiner Arbeit: »Schließlich bin ich ja auch als Viktorianer geboren und erzogen worden. Und von einem viktorianischen Stammbaum darf man aus guten Gründen erwarten, dass er auch viktorianische Früchte trägt.«

Das ist James’ Ebenbild. Und wenn ich sage, dass er Viktorianer war, meine ich nicht all die großartigen Fortschritte der Ära unter der Herrschaft von Queen Victoria (1832–1901), sondern den Ruf der Zeit als sexuell repressiv. Das waren ganz schön verklemmte Zeiten, in denen die Menschen davon besessen waren, sich »anständig« zu benehmen. Es schickte sich nicht, dass sich ein Mann auf einen Platz setzte, den eine Frau gerade verlassen hatte. Es war flegelhaft, wenn ein Mann, der einen Strand entlangspazierte, aus Versehen in den bloßen Fußabdruck einer Frau trat. Und Sex? Das war unter den Akademikern ein mit einem Tabu belegtes Thema. James war Gelehrter der Cambridge University und kein Dandy! Sollte er je eine Frau zu einem Date ausgeführt haben, wäre ich erstaunt; wenn die Männer der niederen Schichten ausgingen, um zu zechen und Frauen abzuschleppen, blieb James in seinem Wohnheimzimmer und studierte bei Kerzenschein alte Manuskripte. Oder er spielte mit seinen Berufskollegen Karten und trank Brandy mit Wasser.

James wuchs in einer Zeit, in der Kindern Familienwerte und Religiosität strikt eingebläut wurden, in einer streng protestantischen Familie als Sohn eines Pfarrers auf. Ich nehme an, dass James (oder »Monty«, wie ihn seine Freunde nannten) genau wie Lovecraft Frauen gegenüber extrem schüchtern war. Sollte je eine heiße Braut ihre Hand in seine Hose gesteckt und gesagt haben »Lass uns ficken«, hat er garantiert sofort schockiert abgelenkt und gesagt: »Welch herrliches Wetter wir haben, nicht wahr? Oho, wie ich sehe, hat Ihre Hand aus Versehen den Weg in meine Hose gefunden. Ausgerechnet! Wenn Sie sie nun bitte freundlichst wegnehmen würden, das würde mich sehr freuen. Wissen Sie, ich komme zu spät zu meinem Symposium zur Verbreitung christlicher Lehren und muss nun wirklich los.«

Ja, das ist die Art Mann, die James bestimmt war: stets der englische Gentleman, stets das Produkt viktorianischer Werte. (Googeln Sie ein Bild von Queen Victoria und Sie werden sofort verstehen, warum ihre Ära zum Synonym für prüde, sittsame Menschen wurde, die nichts mit Sex zu tun haben wollten. Glauben Sie mir, kein männlicher Teenager von damals hätte sich auf ihre Bilder einen runtergeholt!) Nichts würde ich lieber glauben, als dass James in Wahrheit ein Hengst war und die »Torten« und »Keksdöschen« im Dutzend abschleppte, aber, ach, ich bezweifle es doch stark. Es würde mich nicht mal überraschen, wenn James sein Leben lang überhaupt keinen Sex gehabt hätte.

Dementsprechend postuliere ich, dass es Indoktrination ist, die den Mangel an weiblichen Figuren in seinen Erzählungen erklärt, nicht Misogynie!

Doch ehe ich Sie nun zum Kern dieser Sammlung vorstoßen lasse, will ich noch ein paar Dinge sagen, also haben Sie Geduld mit mir.

Die James-Fans unter Ihnen haben vielleicht bereits beim ersten Blick auf das Inhaltsverzeichnis genervt aufgestöhnt. Aber ich habe die Mehrheit von James’ besonders berühmten Erzählungen mit Absicht nicht aufgenommen. Geschichten wie Graf Magnus, Die Macht der Runen, Pfeif nur, dann eil ich zu dir, mein Freund! und so weiter. Nicht nur sind das James’ bekannteste Erzählungen, sie werden auch am häufigsten neu aufgelegt. Natürlich sind das alles großartige Geschichten, aber ich bleibe dabei, dass nahezu jede von James verfasste Geschichte großartig war (bis auf Zwei Ärzte. Überspringen Sie die, sie ist Mist. Monty muss betrunken gewesen sein, als er sie geschrieben hat), und ich gehe davon aus, dass Sie einige seiner weniger verbreiteten Arbeiten, wie sie hier versammelt sind, noch nirgends gefunden haben. Ich mag sie alle sehr.

Es sind Geschichten, die mir besser gefallen als alle anderen von irgendeinem anderen Schriftsteller. Es sind Geschichten, die ich mit auf die sprichwörtliche einsame Insel nehmen würde. Und sollte ich sterben und im Himmel oder der Hölle die Erlaubnis bekommen, für den Rest der Unendlichkeit nur ein einziges Buch zu lesen, dann würde ich dieses Buch wählen, das Sie gerade in der Hand halten.

Vielen Dank, dass Sie es gekauft haben. Und viel wichtiger: Vielen Dank, dass ich meine Liebe zu M. R. James mit Ihnen teilen darf!

Edward Lee

Largo, Florida, USA