Ruben Schwarz

Astern und Designermode

Mord ist der Normalfall

ASTERN UND DESIGNERMODE

1

„Bleib unten, verdammt!“

Das geht schief, dachte Manuel verzagt und übergab die Pistole nervös von der rechten in seine linke Hand. Ihm war viel zu heiß unter der kratzigen, roten Wollmütze. Als er zusammen mit Angel vorgestern mit der stumpfen Nagelschere die Sehschlitze in ihre beiden Mützen geschnitten hatte, eine günstige Anschaffung vom Wühltisch im Kaufhof, war er noch davon ausgegangen, damit später ein bisschen wie Spiderman auszusehen. Leider lagen die Löcher nicht auf gleicher Höhe und waren auch unterschiedlich groß geraten, so dass er ständig an den Maschen zupfen musste, um überhaupt hindurchschauen zu können. Die losen, fransigen Wollfäden des zerstörten Materials perfektionierten zusätzlich den Eindruck der Maskierung eines schon vor langer Zeit verstorbenen Bankräubers, der keinen Frieden findet und als Zombie umherirrt.

Trotzdem, oder gerade deshalb, war die Dame mittleren Alters im blauen Kostüm, die bäuchlings in der Schalterhalle der Sparkasse lag, eingeschüchtert und senkte ihr Gesicht so tief auf den Boden, dass ihre Nase fast die anthrazitfarbigen Fliesen berührte.

„Jetzt machen sie schon!“, rief Angelique, neben der Drehtür stehend, dem Kassierer hinter der Glasscheibe zu. Sie hatte sich ebenfalls eine rote Mütze über das Gesicht gezogen. Ihre Stimme wirkte schrill, fast hysterisch. Manuel bewegte sich mit schnellen Schritten auf den Kassierer zu und drückte den Lauf der Pistole gegen die Scheibe. „Mach schon, Arschloch, alles da rein! Wieviel hast du überhaupt hier?“

„Etwas über Neuntausend“, antwortete der Kassierer ruhig und legte ein Päckchen Fünfziger und eins mit Zwanzigern sorgfältig und bedächtig in die graue Sporttasche, die der Räuber ihm über die Glasscheibe geworfen hatte.

„Was? Mehr nicht!“, rief der junge Mann mit der Maske schockiert, „das ist doch hier ne Bank, oder nich? Ihr müsst doch Kohle ohne Ende hier haben. Doch wohl mehr als lumpige Neuntausend!“

„Na, klar, aber unten im Tresorraum natürlich. Hier oben brauchen wir normalerweise nicht so viel.“

Der ältere Mann, der nicht weit von der Frau im blauen Kostüm entfernt auf dem Boden lag und auf Grund seiner Korpulenz Probleme gehabt hatte, überhaupt in diese Position zu kommen, stemmte sich stöhnend mit den Händen hoch und schlug vor: „Das hat doch hier keinen Sinn, lassen sie das doch. Bestimmt kommt jeden Moment die Polizei. Wer überfällt denn heutzutage noch eine Sparkasse?“

„Wer hat dich denn gefragt, Fettsack!“, keifte der junge Mann und kratzte sich durch die Maske hindurch im Gesicht. Warum muss das bloß so scheißeheiß sein, hier drin, dachte er. Er ging auf den am Boden Liegenden zu und zielte mit der Waffe auf ihn. „Halt´s Maul und runter mit dir, klar? Oder es kracht!“

„Schon gut, schon gut“, beschwichtigte der Ältere. Irgendwie schien er nur mäßig beunruhigt.

„Mensch, Manu, lass den Alten, kümmer dich um das Geld und mach hinne!“, rief Angelique vom Eingang her. Nervös blickte sie durch die Glasfassade nach draußen, wo sich zum Glück weder neue Bankkunden noch die Polizei näherte.

„Verdammt, Angel, du sollst keine Namen nennen!“, herrschte Manuel sie an. „Los, Arschloch, komm da raus und bring mich zum Tresorraum!“, wandte er sich dann wieder an den Kassierer. Der kramte in seiner Anzugtasche umständlich nach einem Schlüsselbund.

„Wir haben keine Zeit mehr!“, schrie Angelique, „los, her mit der Tasche!“

„Genau, her damit, wirf sie oben drüber!“, ergänzte der Bankräuber. Er spürte, dass ihm der Schweiß vom Kinn abtropfte. Und er bereute plötzlich, dass er auf Angel gehört hatte. Einfach abhauen mit den Taschen voller Geld und auf Ibiza ein neues Leben anfangen, das war ihre Idee gewesen.

Der Kassierer zog den Reißverschluss der Sporttasche zu und brachte sich in Position. Beim ersten Versuch prallte die Tasche am oberen Rand der Glasbarriere ab und fiel nach innen zurück auf den Tresen des Kassenraums.

„Bist du lebensmüde?“, brüllte Manuel. Der Kassierer holte mit einer annähernd kreisrunden Armbewegung Schwung und die kaum gefüllte Tasche schwebte wie gewünscht über den Glasrand. Manuel fing sie mit einer Hand auf. Sie war federleicht. Draußen ertönte das Signalhorn eines Polizeiwagens. Zwei Signalhörner. Oder drei.

„Manu, komm schnell!“, kreischte Angelique panisch.

„Nenn mich nicht … Ach, fick dich doch!“ Er rannte, die Tasche in der linken, die Knarre in der rechten Hand, zu seiner Freundin. Hektisch schob er diese vor sich her in die gläserne Drehtür und stolperte dabei über ihre Füße. Mit der rechten Hand stieß er gegen den Rand der Drehtür und verlor die Pistole. Als er sich bückte, um sie aufzuheben, stieß die nachfolgende Glaswand gegen sein Hinterteil. Strauchelnd taumelte er nach draußen. „Komm schon“, fauchte er seine Freundin an, „hier entlang!“ Beide wandten sich nach links, wo sie hinter einem Kiosk in eine Nebenstraße abbogen, die mehr eine Art Hinterhofdurchgang war. Passanten auf der Hauptstraße waren stehengeblieben und starrten ihnen hinterher. Was glotzen die so blöd, dachte Manuel. Dann fielen ihm die Mützen ein, die sie beide noch über ihren Gesichtern trugen. Er steckte die Pistole, eine Jaguarmatic, hinten in seinen Hosenbund und riss die Mütze vom Gesicht. Er warf sie achtlos auf den Boden und herrschte Angelique an: „Angel, die Mütze!“ Die Polizeisirenen klangen plötzlich beängstigend nah.

Die Giebelwände der hohen Backsteinhäuser, die nur einen engen Durchgang von nicht einmal drei Metern gewährten, hatten im Untergeschoss keine Fenster. Hier reihten sich diverse Mülltonnen, flankiert von zerdrückten Pappkartons, Müllsäcken und verschiedenen, offensichtlich seit längerer Zeit vor sich hingammelnden Sperrmüllexponaten und Autoreifen, in lockerer Folge aneinander. Die Vespa ET lehnte an einer Hauswand, und der Zweitakter knattere noch immer unregelmäßig im Leerlauf. Manuel war das Risiko eingegangen, weil die Mühle in letzter Zeit immer dann nicht anspringen wollte, wenn er es eilig hatte. Und dass sie es heute eilig haben würden, davon war er einfach mal kühn ausgegangen.

„Au, verdammt!“, jammerte Angelique hinter ihm. Sie war anscheinend umgeknickt und hüpfte auf einem Bein. Die pinkfarbenen Stiefeletten mit den Strasssteinen fand Manuel ohnehin unpassend für eine Bankräuberin.

„Komm, Schatzi, stell dich nicht so an, wir haben´s ja gleich!“, rief er tröstend hinter sich. Er klemmte die Tasche unter den Spannbügel des Gepäckträgers, ergriff den Lenker der Vespa und schwang sein rechtes Bein über den Sitz. Angelique humpelte fluchend heran und setzte sich hinter ihn. Als er spürte, wie ihre Arme sich um seinen Bauch schlangen, gab er Gas und kuppelte ein. Mit einem hellen Jauchzen machte die Vespa einen Satz nach vorn. Eine weiße Wolke verließ den rostigen Auspuff. Manuel lenkte das Gefährt aus der Gasse heraus in den fließenden Verkehr auf der Altendorfer Straße. Die Wumme in seinem Hosenbund drückte gegen seinen Hüftknochen. Die Waffe war uralt, und Manuel hatte sie mal in einer Kiste auf dem Dachboden zusammen mit anderen Spielsachen gefunden. Die schwarze Pistole mit dem braunen Plastikgriff sah täuschend echt aus, wenn man nicht zu genau hinsah, und Manuel bezweifelte, dass er mit den Zündplättchen ernsthaft jemanden hätte verletzen können. Es war für Angel und ihn von Anfang an klar gewesen, dass eine echte Schusswaffe nicht in Frage kam. Sie hätten auch nicht gewusst, wie man an sowas herankommt. Manuel hatte zwar mal gehört, dass man sowas ohne Probleme am Hauptbahnhof kaufen konnte. Aber wie hätte man das anstellen sollen? Schließlich konnte man nicht einen xbeliebigen Typen vorm Bahnhofsklo ansprechen und fragen, ob er nicht vielleicht eine Knarre zu verkaufen hätte.

Der kühle Fahrtwind trocknete die verschwitzten Haare. Angel hatte die ihren zweckmäßigerweise zu einem Knoten gebunden, damit sie unter der Mütze Platz fanden. Der Knoten hatte sich allerdings gelöst, und das Gebilde, welches sie nun auf und an ihrem Kopf trug, hatte mit einer Frisur nur sehr wenig gemeinsam.

Es erforderte einiges an Geschick, die Vespa zwischen Straßenbahnschienen und geparkten Autos hindurch zu manövrieren, ohne von vorbeidrängelnden Autos erfasst zu werden. Auf mehr als vierzig Sachen brachte es die alte Mühle ohnehin nicht mehr, aber für das Tempo entwickelte sie immerhin einen Höllenlärm. Der Fahrtwind drückte die dünnen Blousons, die beide trugen, gegen die verschwitzten Körper. Manuel spürte, wie seine Freundin sich von hinten eng an ihn presste, und seltsamerweise vermittelte ihm diese Nähe trotz der Ausnahmesituation, in der sie sich befanden, ein Gefühl der Geborgenheit.

2

Heute gab es Erbseneintopf. Das war schon immer eine von Gerds Lieblingsspeisen gewesen. Eigentlich musste es bei ihm ja immer Fleisch sein. Beilagen wie Kartoffeln und Gemüse waren bestenfalls notwendige Dekoration, aber Fleisch und Wurst waren die dominierenden Bestandteile von Gerds Ernährung. Bei Erbseneintopf machte er jedoch eine Ausnahme, obwohl auch darin Mettwurst oder Schweineschwarte schwimmen musste. Am besten beides. Leonie rührte mit dem hölzernen Kochlöffel die dicke, sämige Suppe im Topf um. Man musste aufpassen, dass am Topfboden nichts anbrannte. Manchmal war ihr das passiert, und fast immer hatte es Prügel gegeben, wenn Gerd eins der angebrannten Kartoffelstücke in seinem Teller gefunden hatte. Eigentlich konnte Gerd nichts dafür. Er war immer schon leicht erregbar gewesen. Das lag in seiner Natur. Konnte auch sein, dass er die Impulsivität von seinem Vater geerbt hatte. Mehr als einmal hatte er sie derart zugerichtet, dass sie für Tage nicht ins Geschäft konnte. Dann hatte sie ausschließlich hinten in den Gewächshäusern gearbeitet, die Pflanzen gewässert, umgetopft, und für den Verkauf vorbereitet.

Den direkt an die Gärtnerei angrenzenden Friedhof hatten sie früher auch betreut, aber dann hatte die Friedhofsverwaltung sich einen anderen Gärtner gesucht. Das lag nicht zuletzt daran, dass Gerd manchmal tagelang nicht arbeiten konnte. Nämlich in den Phasen, in denen Johnny Walker kam, sobald der Tag ging. Für Gerd war die Tageszeit dabei allerdings kein entscheidendes Kriterium. Beim Saufen war er flexibel. Allerdings nicht so sehr, wenn im Alltag, sei es im Geschäft, im Gewächshaus oder in der Wohnung, etwas nicht nach seinem Kopf ging. Dann konnte er manchmal blitzschnell mit seinen schwieligen Händen zuschlagen. Da war er auch treffsicher, selbst wenn Johnny Walker ihm die Hand führte.

Zu Anfang, damals in den 1990er Jahren, den ersten Jahren nach ihrer Heirat, hatte er noch darauf geachtet, dass Außenstehende ihr nichts ansehen konnten. Dieses Prinzip hatte sich im Laufe der Jahre aber aufgeweicht, und Gerd hatte blaue Augen, aufgeplatzte Lippen und verstauchte Handgelenke gelegentlich billigend in Kauf genommen, wenn es die Situation erforderte. Als Grund dafür reichte es manchmal schon aus, wenn Leonie ein Klümpchen feuchter Erde an der Außenseite eines Geranientopfes übersah, der in den Verkaufsraum gelangte. Oder wenn er an einem Alpenknöterich einen abgebrochenen Trieb entdeckte. Oder wenn eins der Stiefmütterchen nicht richtig angewachsen war, weil Leonie die Erde nicht fachgerecht angedrückt hatte. Manchmal reichte es aber auch schon aus, wenn Gladbach ein Heimspiel verlor. Klar, für Letzteres konnte Leonie wirklich nichts, aber ihre anderen Fehler fand sie ja selbst ärgerlich. Und irgendwie war es ja dann auch kein Wunder, wenn Gerd ausrastete. Wie auch immer, früher waren solche Prügelstrafen fast an der Tagesordnung gewesen, aber zum Glück hatte das nachgelassen. Präziser ausgedrückt hatte es sogar ganz aufgehört. Darüber war Leonie auch heilfroh, denn seitdem sie immer häufiger diese Kreislaufprobleme hatte, war ihr manchmal Angst und bange geworden, wenn sie nach einem Schlag in die Magengrube oder einem wohlgesetzten Nierenhaken unter Schmerzen aus einer Bewusstlosigkeit aufgewacht war.

Sie hatte Gerd an einem Abend, das musste an einem Adventsonntag 2016 gewesen sein (der zweite oder dritte, das wusste sie nicht mehr genau), in einer stillen Stunde während eines Tatorts dringend darum gebeten, sie nicht mehr so hart zu schlagen, weil sie Angst um ihr Leben hatte. Er hatte ihr das sogar fest versprochen. Überhaupt sei er ja eigentlich keiner, der Frauen schlägt. Er sei nur manchmal ein bisschen impulsiv, und sie solle nur mehr aufpassen, dass sie nicht so viel Mist baue.

In die Gärtnerei Breuning verirrte sich zu dem Zeitpunkt ohnehin kaum noch ein Kunde, und sie hatten große Mühe, einigermaßen über die Runden zu kommen, was sie zum Teil mit der Hilfe von Rücklagen aus besseren Zeiten und einer Hypothek auf das Wohnhaus und die Gewächshäuser bestritten. Gerd hatte leider eine robuste Art, mit Leuten umzugehen.

Mehrfach hatte er Kunden, für die sie anscheinend nicht das Richtige im Sortiment hatten, mit Hinweisen wie „Wenn sie nicht mit dem zufrieden sind, was sie hier sehen, dann verpissen sie sich doch dahin, wo der Pfeffer wächst!“ zum Ausgang begleitet. Heute wusste Leonie, dass auch in diesen Fällen Johnny Walker Gerds Verkaufstrainer gewesen war.

Jedenfalls war das Leben im Hause Breuning viel harmonischer geworden, seit Gerd sich von seinen Prügelattacken verabschiedet hatte. Das ging jetzt schon seit über einem Jahr gut.

Leonie stellte die Herdplatte aus und nahm zwei Suppenteller aus einem der Hängeschränke. Vorsichtig füllte sie die Teller mit dem dampfenden Eintopf, darauf bedacht, dass keine Kleckse auf das Ceranfeld fielen. In dieser Hinsicht ging sie immer noch auf Nummer sicher. Sie nahm die Schürze ab, legte sie auf den Heizkörper unter dem Küchenfenster und ging dann mit den beiden Tellern hinüber zur Essecke. Einen Teller stellte sie vor Gerds Stammplatz auf die Wachstuchdecke, den anderen gegenüber.

„Ach, du trinkst doch sicher ein Bier.“ Das fiel ihr spontan ein. Es war immerhin Freitag, und da tranken sie immer zum Mittagessen ein Bier. In der Küche holte sie noch eine Flasche Stauder und zwei Pilsgläser. Sie setzte sich gegenüber von Gerds Platz auf einen Küchenstuhl und goss beide Gläser voll, bis der Schaum an den Rand stieg. „Prost, Gerd“, sagte sie und nickte dem leeren Platz auf der Eckbank zu. Dass außer ihr niemand am Tisch saß, fand Leonie nicht weiter ungewöhnlich. Gerd war mittags am Tisch fast immer ein großer Schweiger vor dem Herrn gewesen. Langsam führte sie Löffel um Löffel zum Mund und leerte ihren Teller Suppe mit Wursteinlage. Danach räumte sie den Tisch ab und leerte Gerds noch unberührtes Glas in der Spüle. Die ebenfalls verschmähte Suppe aus seinem Teller goss sie ins Klo und spülte gründlich nach. Nachdem alles unter fließendem Wasser abgespült war, räumte sie Teller und Besteck in den Geschirrspüler. Für eine Weile hatte Gerd ihr noch beim Essen gegenübergesessen, etwa für die Dauer von vier Wochen. Dann war es beim besten Willen nicht mehr gegangen. Er hatte umziehen müssen.

Es war jetzt kurz nach zwei, da hatte sie noch eine knappe Stunde, bis sie den Laden wieder öffnen musste. Dass tatsächlich Kunden kamen, darüber musste sie sich keine Gedanken machen. Das lag nicht zuletzt daran, wie abgelegen die Gärtnerei an der wenig befahrenen Landstraße lag. Früher, als die Buslinie noch hier entlanggeführt hatte, und das Zementwerk noch in Betrieb gewesen war, hatte es hier mehr Verkehr gegeben. Aber seit der Eröffnung des neuen Autobahnzubringers herrschte in dieser Gegend Totentanz. Aber das machte nichts, Gerd und sie brauchten nicht viel. Sie würde sich um die Beet- und Balkonpflanzen kümmern, um Stauden und Sträucher, würde dort gießen, wo es nötig war, und evtl. vertrocknete Blüten entfernen. Draußen war es immer noch heiß und trocken. Wie schon seit Mai fast durchgehend. Wenn es endlich regnen würde, wäre es schon gut. Für die Sträucher und Obstbäume im Außenbereich. Und für die jungen Koniferen, die auf der anderen Straßenseite in einer eigenen kleinen Schonung standen. Leonie entschloss sich dazu, mit dem Wassertank, den Gerd auf einen kleinen Karren montiert hatte, dort ein bisschen zu wässern. Gerd hatte das Teil früher bei Trockenperioden immer mit auf den Friedhof genommen. Der transparente Kunststoffzylinder fasste fünfhundert Liter. Vollgetankt konnte Leonie ihn kaum ziehen, deshalb füllte sie ihn immer nur zu etwa zwei Dritteln. Eine oder zwei Reihen der Bäumchen würde sie vielleicht noch schaffen, bevor es drei Uhr wurde.

3

Das war genau ihr Wetter. Valerie Bensheim liebte die Sonne. Auch wenn dunkle Sonnenbräune schon lange nicht mehr in war, sie achtete sehr auf die Pflege ihres Teints und trug große Sonnenbrillen, war es das optimale Wetter dafür, mit offenem Verdeck zu fahren. Der Z4 schnurrte wie ein Raubkätzchen, als sie an der Ausfahrt Kettwig die A52 verließ und auf der Verzögerungsspur verlangsamte. Das Navi hatte vorgeschlagen, die Autobahn hier zu verlassen, weil es Richtung Essen-Süd einen Stau gab. Kurz hinter der Ausfahrt musste sie sich rechts halten und gelangte auf eine zweispurige Landstraße, die keinen Mittelstreifen besaß und ungewöhnlich schmal war. Die Strecke war kurvenreich, und Valerie kam kurz in den Sinn, dass sie vielleicht besser auf der Autobahn geblieben wäre, aber die kleine energische Dame im Navigationsgerät beharrte weiter auf der Route und war sich damit offenbar sehr sicher.

Seit sie den neuen Extrajob hatte, diente der alte ihr zunehmend nur noch als Alibibeschäftigung. Harry Lehnert, ein drittklassiger Stimmungs- und Schlagersänger, der früher mal im Bierkönig auf Mallorca seine musikalischen Plattitüden zum Besten gegeben hatte, war für den Sonntag in der Essener Grugahalle gebucht. Valerie Bensheim war eine One-Woman-Künstleragentur. Sie machte Termine für ihre „Stars“, buchte deren Hotelzimmer, sorgte für punktgenaues Catering und nahm ihren Schäfchen bei Bedarf auch die Beichte ab, sprich: Sie hörte zu, wenn einer seinen Melancholischen hatte, einer großen Karriere hinterher weinte, die nicht richtig Fahrt aufnehmen wollte, oder weil ihn die große Liebe verlassen hatte, obwohl ihm auf der Bühne doch alle zujubelten. Nach ein paar Hundert Metern entdeckte Valerie tatsächlich am Straßenrand ein Plakat, auf dem, zusammen mit anderen mehr oder weniger bekannten Künstlern, Harry Lehnert abgebildet war. Die weißen Zähne strahlten im prallen Sonnenlicht. Warum die Idioten ausgerechnet dort plakatierten, wo es garantiert niemand sah, blieb wohl deren Geheimnis. Da würde sie gleich noch mit der Druckerei sprechen. Die organisierten nämlich auch die Außenwerbung. Das sollten sie ihr mal erklären.

Valeries neuer, zweiter Job, den sie noch nicht so lange machte, gehörte zu einer ganz anderen Branche, zu einer, über die man nicht gerne spricht. Öffentlich schon gar nicht.

Das Hamburger Kennzeichen auf ihrem dunkelblauen BMW-Cabrio rührte daher, dass ihr eigentlicher Wohnsitz Hamburg war. Meistens legte sie die Reisen zu den weiter entfernten Eventlocations in München, Berlin, Stuttgart oder Dresden mit dem Flieger zurück. Aber in den nächsten Tagen brauchte sie das Auto vor Ort. Sie musste ein bisschen flexibel sein. Sich bewegen können, ohne Spuren zu hinterlassen. Woher sie ihr Talent für diesen Zweitjob hatte, wer wusste das schon. Aber er lag ihr irgendwie. Wahrscheinlich schon immer. Da war sie wohl ein Naturtalent. Vielleicht hatte auch alles mit ihrem Vater angefangen. Oder erst mit Jürgen. Das Café Mozart in Hamburg kam ihr in den Sinn. Mit Jürgen war sie dort oft gewesen. Das war jetzt mindestens zwei Jahre her. Und das Wetter war an dem Tag nicht ganz so toll gewesen, wie jetzt.