Marie Hermanson

Der Sommer, in dem Einstein verschwand

Roman

Aus dem Schwedischen von Regine Elsässer

Insel Verlag

Otto

Mai 2002

Mir ist etwas Eigenartiges passiert.

Meine Erinnerung, die lange Zeit dunkel und stellenweise ganz leer war, ist auf einmal glasklar. Allerdings nicht in Bezug auf die jüngste Vergangenheit; ich suche immer noch ständig meine Brille und schaue auf dem Speiseplan nach, was es zum Mittagessen gibt, obwohl ich es vor drei Minuten schon einmal gelesen habe. Nein, die glasklare Schärfe beschränkt sich auf einen lange zurückliegenden Zeitabschnitt: einen Sommer, als ich dreizehn war und in Göteborg die große Jubiläumsausstellung stattfand.

Einstein sagt, die Zeit ist nicht das, was wir glauben, sie ist etwas ganz anderes. Sie ist nichts Absolutes. Sie ist eine Illusion, ein Zaubertrick für unseren gutgläubigen Blick.

Das habe ich schon immer gewusst. Bella wusste das auch. Alle Tiere wissen das. Sie leben nicht im Gefängnis der Zeit, so wie wir Menschen.

Und das Vergessen ist auch nicht das, was wir glauben: eine ätzende Flüssigkeit, die alles auflöst und vernichtet. Es ist reine Dunkelheit. Alles Geschehene ist noch da, wenn auch unsichtbar, wie Möbel in einem Zimmer in der Nacht.

Diese Dunkelheit hat sich nun aufgelöst und ein Teil meines Lebens ist hell erleuchtet. Das als Erinnerung zu bezeichnen, ist nicht ganz richtig, da denkt man vielleicht an eine verblasste Fotografie. Was ich erlebe, ist so viel mehr. Es hat nichts Plattes oder Steifes, sondern eine lebendige Welt, mit Tiefe und Bewegung, Farben und Schatten, Stimmen und Gerüchen.

Ich stehe im Menschengetümmel der Ausstellung, spüre den warmen Atem von Bellas Schnauze und höre entfernte Musik. Ich kann den Blick zu Boden richten und bemerke eine Bananenschale im weißen Sand. Sehe die bräunlichen Fasern, die Sandkörner und all die Füße, die vorbeilaufen, frisch geputzte Stiefel und Riemchenschuhe. Ich kann mich frei durch die Ausstellung bewegen, nirgends ist es dunkel oder leer. Es ist alles da. Und deutlicher als je zuvor. Ich erinnere mich sogar an Situationen, in denen ich physisch nicht präsent gewesen sein kann. Ich sehe, wie alles zusammenhängt.

Warum sehe ich das alles erst jetzt? Es war schließlich die ganze Zeit da. Vielleicht liegt es daran, dass mein Dasein in letzter Zeit zu einem blinden Fleck geworden ist. Meine Gegenwart hat nichts zu bieten.

Ich vermute, das Gehirn kann normalerweise nicht alle Eindrücke der Vergangenheit verarbeiten, es muss sich aufs Heute konzentrieren. Große Teile des Lebens müssen einfach ausgeblendet werden. So funktioniert die Zeit. Wie der Strahl einer Taschenlampe, der umherschweift und nur die nächste Umgebung erleuchtet.

Genau, so muss es sein. Alles ist eine Frage des Lichts.

Viele haben sich gefragt, wie ich, ein armer Junge vom Land, zu der berühmten Ausstellung reisen und von Mai bis Oktober meine ganze Zeit dort verbringen konnte. Dass ich, der bisher nur Kartoffeläcker, Meerrettichfelder und Misthaufen gesehen hatte, auf einmal Luftakrobaten, elegante Restaurants, Seiltänzer und gewaltige Maschinen zu sehen bekam, dass ich den König treffen und hören würde, wie der große Albert Einstein über den gekrümmten Raum sprach. Wie konnte es dazu kommen?

Beginnen wir am Anfang.

Ich wurde 1910 auf einem Gutshof in Halland geboren, der sich im Besitz eines Grafen und seiner Familie befand. Meine Mutter war in Deutschland geboren worden und als Kindermädchen für die Kinder des Grafen auf das Gut gekommen. Sie war in Leonie Hartmanns Schule für fortschrittliche Kindererziehung in Frankfurt ausgebildet worden, einer angesehenen Institution, von der reiche schwedische Familien oft Kindermädchen holten, damit die Kinder schon frühzeitig die deutsche Sprache sprechen und verstehen lernten.

Ich besitze ein Foto von meiner Mutter und den vier gräflichen Kindern. Zum ersten Mal sah ich es in den 1970er Jahren in einer Zeitung. Es war ein Artikel über den Gutshof und die Familie des Grafen. Ich rief in der Redaktion an und sagte, die junge Frau auf dem Foto sei meine Mutter, und sie besorgten mir eine Kopie.

Meine Mutter und die Kinder stehen in einer Reihe nebeneinander auf dem Gartenweg. Das Kleinste sitzt in einem Kinderwagen. Mutter trägt eine Bluse mit Halskrause unter der Schwesternschürze, sie ist schlank und sehr hübsch. Sie lächelt selbstbewusst, als sei sie die Herrscherin des Guts und nicht eine der Dienstboten.

Das ist das einzige Foto, das ich von ihr besitze. Zusammen mit den Grafenkindern. Von ihr und mir habe ich kein Foto.

Im zweiten Jahr als Kindermädchen wurde sie schwanger und musste ihren Dienst quittieren. Meine Mutter wurde gut behandelt und durfte auf dem Gut bleiben. Sie wohnte nicht mehr in einer Kammer neben dem Kinderzimmer, sondern bekam eine kleine Dienstwohnung auf dem Gutsgelände für sich und ihren Sohn (das war ich). Die feinen Salons durfte sie jedoch nicht mehr betreten, wurde zum Küchenmädchen degradiert, mit sehr viel härteren Aufgaben als zuvor. Während der langen Arbeitstage wurde ich von zwei älteren Frauen betreut, ausrangierten Dienstboten, die die schwere Arbeit in der Küche und in den Ställen nicht mehr schafften und die zusammen in einer kleinen Hütte wohnten.

Meine arme Mutter. Sie war ausgebildete Erzieherin und wusste deshalb genau, wie ein empfindlicher Säugling gehoben und getragen werden musste, welche Temperatur das Badewasser haben sollte, wie die Schleifen der kleinen Schürzen gebunden wurden, damit sie nicht rieben, und wie man die Kissen arrangierte, wenn ein Kind sitzen lernte. Ihr eigenes Kind musste sie halb dementen, schmutzigen alten Frauen überlassen. Abends holte sie mich nach Hause, wusch mich und legte mich ins Bett, dabei flüsterte sie liebevoll und sang leise kleine Lieder in ihrer Muttersprache. Als ich größer wurde, las sie mir aus einer illustrierten Ausgabe der Märchen der Gebrüder Grimm und aus anderen deutschen Kinderbüchern vor. Sie versuchte, so gut es ging, mir eine gute Erziehung angedeihen zu lassen, sie sprach ausschließlich deutsch mit mir, sie lernte nie richtig Schwedisch.

Ich habe nie erfahren, wer mein Vater war. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es der Graf selbst war. Seine Ehe mit der Gräfin war nicht glücklich, und sie ließen sich später scheiden. Mutters Gesicht auf dem Foto – das Kinn nach oben gereckt, damit der schmale Hals hervorgehoben wurde, das Lächeln keck in die Kamera gerichtet. Man sieht deutlich, dass sie sich geschätzt und schön fühlte. Hat der Graf selbst das Bild gemacht?

Meine Mutter starb in dem Jahr, als ich neun Jahre alt wurde, an der spanischen Grippe. An einem Dienstag bekam sie Fieber, am Montag darauf war sie tot. Es ging so schnell, dass ich es überhaupt nicht begreifen konnte. Ich dachte die ganze Zeit, dass sie gleich aus dem Bett aufstehen würde und wieder gesund wäre. Als ich an diesem Montag aus der Schule nach Hause kam, war die Tür zum Schlafzimmer verschlossen und die Nachbarin stand mit dem Doktor in der Küche. Sie sagte, ich solle mit ihr nach Hause kommen. Ihr Sohn war ungewöhnlich nett zu mir, ich durfte mit seinem Holzpferd, das einen Wagen zog, spielen und er schaute mir mitleidig zu. Ich zog das Pferd und den Wagen über den Boden und schnalzte wie zu einem richtigen Pferd, die Nachbarin flüsterte mit einer anderen Frau, die gekommen war: »Der arme Junge, jetzt ist er allein.«

Ich konnte bei der Nachbarsfamilie bleiben. Der Mann war Stallbursche und ich ging oft mit ihm in den Stall. Eigentlich wollte man mich dort nicht haben, aber ich schlich dennoch hin. Die eleganten Rassepferde faszinierten und erstaunten mich. Wie konnten diese großen, starken Geschöpfe sich den viel schwächeren Menschen unterordnen? Warum warfen sie die Menschen nicht ab, zermalmten sie unter ihren Hufen und galoppierten in die Freiheit? Kannten sie die eigene Stärke nicht? Den kleinen Esel dagegen fand ich viel klüger.

Der Esel Bella war, genau wie meine Mutter, aus Deutschland geholt worden, um den Kindern des Grafen Gesellschaft zu leisten. Aber, im Gegensatz zu Mutter, wollte Bella kein folgsames Streicheltier für die Oberschicht sein. Sie verschaffte sich sofort Respekt, indem sie biss.

Der Graf hatte hübsch geschmücktes Geschirr mit Troddeln und einen kleinen Einspänner für die Ausfahrten der Kinder gekauft. Der Esel wollte sich jedoch vor keinen Wagen spannen lassen. Beim ersten Versuch trat er den Einspänner kaputt, der blieb dann in der Remise stehen. Der Graf kaufte ein ordentlich dressiertes Pony, das bald der Liebling der Kinder war, und Bella hatte ihre Ruhe. Sie war auf ihrer Weide und graste, allein und vergessen, außer in den allerkältesten Winterwochen, wenn jemand sich daran erinnerte, dass sie auch noch existierte, und sie aus dem Schnee schaufelte und in eine Box im Stall brachte.

Mir wurde gesagt, ich solle mich von dem Esel fernhalten, man hielt Bella für gefährlich, aber ich ging heimlich doch zu ihr auf die Weide. Ich saß auf einem Grasbüschel und schaute ihr beim Fressen zu. Manchmal machte sie eine Pause und schaute zurück. Eines Tages kam sie von allein zu mir und ließ sich streicheln. Der Schmutz stand wie eine Rauchwolke um sie herum, ihr dickes Fell war voller getrockneter Lehmklumpen. Ich holte im Stall eine Bürste und fing sehr vorsichtig an, sie zu bürsten. Sie hielt ganz still, stand mit geschlossenen Augen da.

Ich bürstete sie jeden Tag, und eines Tages merkte der Stallmeister, dass der Esel gestriegelt und schön war, und fragte, wer das getan habe. Ich kroch aus meiner Ecke hervor und gab es zu, aber er glaubte mir nicht. Ich striegelte Bella insgeheim weiter, und als er feststellte, dass wirklich ich es war, der sie sauber hielt, ließ er mich machen.

Ich kümmerte mich immer mehr um Bella. Ich ritt sie ohne Sattel. Dann suchte ich heimlich das mit Troddeln geschmückte Geschirr, legte ihr vorsichtig die Trense ins Maul und spannte sie auf der Weide an. Als der Stallmeister das sah, ließ er den Einspänner reparieren. Ich spannte Bella ein und fuhr auf kleinen Wegen mit ihr. Sie trippelte so nett und freundlich daher, dass sie ohne Zweifel eingefahren war, genau wie der deutsche Verkäufer behauptet hatte, obwohl alle meinten, er habe gelogen. Die Kinder des Grafen fuhren ein paar Mal mit, aber sie hatten jetzt noch ein Pony, mit dem der älteste Sohn Springreiten übte, und waren nicht mehr am Esel interessiert. Meistens kutschierte ich also allein mit dem bunten Wagen umher.

Zu Weihnachten fuhren wir nach Göteborg, da nahm Bella am Krippenspiel auf dem Platz vor dem Dom teil. Ich durfte auch mitmachen, als Hirte verkleidet. Viele Menschen drängten sich um Bella und wollten sie streicheln, sie ließ es geschehen, solange ich in der Nähe war. Eigentlich machte Bella alles, wenn ich nur dabei war. Wenn nicht, machte sie überhaupt nichts. Wenn man versuchte, sie zu zwingen, dann biss sie, bäumte sich unter schrecklichem Wiehern auf oder trat nach hinten aus.

Ein Mann, der mich und Bella beim Krippenspiel gesehen hatte, nahm später Kontakt mit dem Grafen auf und bat, den Esel für die kommende Jubiläumsausstellung mieten zu dürfen. Man brauchte nämlich kleine Zugtiere für das Kinderparadies und suchte nun Ponys, Ziegenböcke und Esel.

Der Graf fand, es sei eine Ehre, dass sein Esel an der großen Jubiläumsausstellung teilnehmen durfte und lieh ihn gerne umsonst aus. Aber die Bedingung war, dass ihr Pfleger, also ich, auch mitkam. Ohne mich war der Esel wertlos.

Ellen

5. April 1923

Göteborg rüstet sich für die Ausstellung. Überall in der Stadt kämpfen fleißige Arbeiter mit Spaten und Hämmern. Straßen werden gepflastert und verbreitert, was von der wachsenden Schar der Automobilisten sehr begrüßt wird.

Am Östra Hamnkanalen werden die Gaslaternen ausgetauscht und Elektriker ziehen Stromkabel in die Säulen. Die neuen Laternen sehen überhaupt nicht wie solche aus. Im Tageslicht ähneln sie großen Kugeln, die oben auf den Masten balancieren, man meint, sie könnten jeden Augenblick herunterkullern. Im Kungspark sind diese Wunderwerke bereits installiert, am Abend wirkt es, als schwebten die Lichtkugeln mit ihrem kalten elektrischen Schein zwischen den Baumkronen wie eine luftige Armada aus der Zukunft.

Der Redakteur hörte auf zu lesen, schob die Brille in die Stirn und schaute Ellen an. Er war über sechzig, hatte einen großen Bauch, trug ein verblichenes Hemd und Ärmelhalter aus federndem Metall.

»Diese Leuchten haben es mir angetan«, sagte er. Er sprach laut, um den Lärm der Bauarbeiten zu übertönen. »Sie haben einen guten Blick für Details. Das hat Humor und Esprit. Eine luftige Armada aus der Zukunft. Hm. Gar nicht schlecht.«

Ellen spürte, wie sie errötete.

»Ich habe schon einen männlichen Journalisten angestellt. Aber wir brauchen noch eine Frau. Eine junge Frau, habe ich mir gedacht. Die all das Neue der Ausstellung ein wenig augenzwinkernd betrachtet.«

Sie nickte eifrig. Genau das wollte sie machen.

Ellen hatte die Anzeige für ein Volontariat bei der Zeitung der Jubiläumsausstellung gelesen und sich direkt angesprochen gefühlt. Als Probe ihres Talents hatte sie einerseits einen alten Schulaufsatz eingeschickt, für den sie sehr gelobt worden war, Eine Reise nach Kinnekulle, sowie einen neu geschriebenen, mehr journalistischen Text. Letzterer schien das Interesse des Redakteurs geweckt zu haben.

»Es ist ein wenig ungewöhnlich, dass eine junge Dame sich für das Austauschen von Straßenlaternen interessiert«, sagte der Redakteur und schaute Ellen forschend an.

»Mein Vater hat mir erzählt, dass sie ausgetauscht werden sollen. Er sitzt im Vorstand des Gas- und Elektrizitätswerks. Und außerdem gefallen sie mir.«

Ein lautes Quietschen ließ beide zum Fenster schauen. An einem Kran schaukelte eine riesige Säule. Überwacht von einigen Bauarbeitern glitt sie langsam über die Ausstellungsstraße zu dem halb fertigen Gebäude daneben. Der Redakteur wandte sich wieder an Ellen.

»Ihr Vater war in die Vorbereitungen zur Ausstellung eingebunden, ja? Sie haben sich also schon ein wenig mit der Ausstellung bekannt gemacht?«

Wenn das kein Einstellungsgespräch gewesen wäre, hätte Ellen die Augen verdreht und müde geseufzt.

Ihre komplette Kindheit über hatte sie von der Ausstellung gehört. Ihr Vater und ihre beiden Brüder sprachen ständig über die Wunderwerke, die in der großen Maschinenhalle gezeigt werden würden; gigantische stahlglänzende Maschinen und neu erfundene elektrische Apparate. Axel studierte an der Technischen Hochschule Chalmers. Ture war bereits fertiger Ingenieur und hatte kürzlich eine Anstellung bei der Kugellagerfabrik SKF bekommen. Bei jedem Essen war über diese Ausstellung gesprochen worden, die nie fertig zu werden schien.

Seit Beginn des Jahrhunderts hatte es Überlegungen gegeben, das dreihundertjährige Jubiläum der Stadt Göteborg mit einer Ausstellung zu feiern. Dann war alles wegen des Weltkriegs aufgeschoben worden. Während dieser Zeit waren die Pläne stetig gewachsen und hatten unfassbare Proportionen angenommen. Ellen hatte den Eindruck bekommen, dass diese Ausstellung eine Art Märchenland für Erwachsene war. Eine Erscheinung, die sich immer weiter entfernte, je näher man ihr kam. Es sollte eine Stadt in der Stadt werden, mit eigenen Straßen und Plätzen, Restaurants, Banken, Postämtern und einer Krankenstation. Erst als sie hörte, dass es auch eine Tageszeitung geben sollte, war das Ganze real geworden, auch für sie.

»Ein wenig weiß ich darüber«, sagte sie bescheiden und fügte hinzu: »Aber ich kann mir natürlich nicht vorstellen, wie es in Wirklichkeit sein wird.«

»Nein«, sagte der Redakteur. »Das kann niemand. Es ist ein Abenteuer. Etwas völlig Neues. Deswegen wünsche ich mir, dass es durch den offenen und frischen Sinn eines jungen Menschen geschildert wird. Und Sie, Fräulein Grönblad, scheinen mir genau die richtige Person dafür zu sein.«

»Oh«, mehr brachte Ellen nicht heraus.

»Sie haben … so eine Frische. Wie alt sind Sie?«

»Neunzehn.«

»Neunzehn Jahre. Ein wunderbares Alter.« Der Redakteur schwieg ein paar Sekunden, lächelte und schien in Erinnerungen versunken zu sein.

Die Tür öffnete sich, und er wurde wieder munter.

»Ja, also dann willkommen bei Krone und Löwe, der Ausstellungszeitung«, sagte er schnell zu Ellen und dann zu einem großen mageren Mann, der gerade ins Zimmer gekommen war:

»Das kleine Ding da behalten wir, Hansson. Das ist ausgezeichnetes Material.«

Für einen Moment dachte Ellen, er meine sie, aber dann sah sie, dass er mit ihrem Artikel wedelte. Der magere Mann nickte schweigend und setzte sich an einen Schreibtisch.

»Wie schön, dass er Ihnen gefällt. Ich liebe das Schreiben«, sagte Ellen. »Ich mache immer ‌…«

Aber der Redakteur war schon aufgestanden und streckte die Hand zum Abschied aus.

Ellen mochte gar nicht glauben, dass es wahr sein könnte. Sie würde als Journalistin arbeiten, ihre Arbeiten würden in einer richtigen Zeitung gedruckt und von ganz vielen Menschen gelesen werden. Sie würde einen Presseausweis für die Ausstellung bekommen und sich jeden Tag frei auf dem Gelände bewegen können! Ihr Traum war Realität geworden. Oder war es umgekehrt und alles nur ein Traum? Als sie die Kungsportsaveny hinunter zum Bahnhof ging, erschienen ihr die Farben unwirklich intensiv, und sie bewegte sich irgendwie anders. Leicht, ohne Widerstand. Ihre Füße in den neuen Riemenschuhen schritten zielbewusst und rasch voran, wie von alleine. Sie kam sich größer, schlanker, fröhlicher und schneller vor. Wie die Neue Frau.

Ellen hatte viel über die Neue Frau gelesen. La garçonne wie im Roman von Victor Margueritte. Die Flapper, die Jazz hörten, kurze Haare hatten, rauchten und tranken. Die Flapper. Die Zeitungen beschrieben sie als eine ganz neue Art des Frauengeschlechts. Ihr Wesen war widersprüchlich und ihr Ursprung in mystisches Dunkel gehüllt. Es heißt, sie sei »aus der modernen Zeit geboren«. Wie Venus aus dem Schaum, dachte Ellen. Aber sie änderte sofort ihren Vergleich: wie ein glänzendes Objekt, ausgespuckt von einer automatischen Maschine.

Ellen wäre gern so eine Neue Frau. Aber das schien schwierig. Man musste so vieles auf einmal sein:

Ein unschuldiges Kind und eine weltgewandte Dame. Knabenhaft mit flacher Brust und gleichzeitig weiblich grazil mit rotem Kirschmund. Man musste dekadent sein und Zigaretten mit langem Mundstück rauchen, jede Menge Champagner trinken – oder sogar Whisky – und die ganze Nacht tanzen. Um am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe aufzustehen und, gesund und sportlich, lange Wanderungen im Wald zu unternehmen, vom Springbrett zu springen und Gymnastik zu machen. Man musste sprudelnd fröhlich und keck sein. Und gleichzeitig eine Kratzbürste, eine Katze mit heißem Temperament. Zielbewusst und willensstark. Aber auch launisch und unberechenbar wie das Aprilwetter.

Die Neue Frau hatte einen Beruf und war finanziell von niemandem abhängig. Sie hatte aber nicht irgendeinen Beruf; es musste etwas Freies und Kühnes sein, wie Künstlerin, Schauspielerin oder Journalistin. Sie flirtete unablässig und nahm sich gerne mal zum Spaß einen Liebhaber. Sie durfte jedoch auf keinen Fall billig oder ausschweifend werden. Oder – Gott bewahre! – schwanger.

Ellen brachte das alles nicht so recht zusammen. Die Neue Frau zu sein, das war bestimmt schrecklich anstrengend.

Aber jetzt hatte sie wenigstens ein Kriterium erfüllt: Sie hatte eine Arbeit als Journalistin gefunden. Zwar nur für ein halbes Jahr und ganz ohne Bezahlung. Aber was für ein Arbeitsgebiet! Die Jubiläumsausstellung war bestimmt der modernste Arbeitsplatz, den man momentan in Schweden finden konnte.

Ellens Eltern waren nicht ganz so glücklich mit ihrer neuen Arbeit, sie bedeutete ja Kontakte mit »allen möglichen« Menschen und viele Spätschichten. Es gehörte sich mit Sicherheit nicht, dass sie allein durch die Stadt ging und den letzten Vorortzug nach Hause nach Lerum nahm. Und was war, wenn sie den Zug verpasste und die Nacht auf der Straße zubringen musste! Nein, das konnten sie nicht zulassen.

Aber Ellen flehte und weinte, und der Vater schien ein wenig nachzugeben. Ihm war Tante Ida eingefallen, sie wohnte in einer großen Wohnung in der Vasagatan, zehn Minuten zu Fuß vom Eingang der Ausstellung. Vielleicht konnte sie Ellen in einem ihrer vielen Zimmer unterbringen?

Tante Ida war Vaters Tante, nicht Ellens, aber nur ein wenig älter als er. Sie war mit einem wohlhabenden Geschäftsmann aus der Textilbranche verheiratet gewesen. Seit sie Witwe war, hatte sie sich der Religion zugewandt und interessierte sich lebhaft für mystische Lehren wie die Theosophie und den Spiritismus. Ellen hatte sie ein paar Mal mit ihrem Vater besucht. Sie erinnerte sich an große Zimmer mit vielen Möbeln, Bildern und Samtvorhängen. Das eigenartige Gerede der Tante über Gott und Engel hatte sie sowohl fasziniert als auch abgeschreckt.

»Sie ist ein bisschen eigen«, sagte der Vater. »Aber du hättest es am Abend nicht weit nach Hause.«

Tante Ida hatte nichts dagegen, dass Ellen das halbe Jahr während der Ausstellung bei ihr wohnte. Man entschied, dass sie Ende April einziehen würde.

Tante Idas Wohnung war dunkel und durch den Überfluss an Möbeln wirkte sie eng, obwohl sie so groß war. An den Wänden hingen Bilder mit dramatischen Szenen aus dem Alten Testament. Ellen erinnerte sich an sie von früheren Besuchen: Abraham, der das Schlachtermesser über dem kleinen Sohn erhebt, während Gott hinter einer Wolke hervorschaut, in gespannter Erwartung, wie weit Abraham für ihn zu gehen bereit ist. Die Kinder Israels auf der Wanderung durchs Rote Meer, zwischen Wänden aus Wasser. Fische starren sie wie durch eine Glasscheibe an. Ein kleiner roter Fisch ist aus dieser Wand geschleudert worden und fällt in einem Schwall Wasser auf Moses herunter, der mit seinem Stab die Richtung weist. »Der wird sich wundern, wenn er einen Fisch auf den Kopf bekommt«, hatte Ellen gedacht.

In ihrem Zimmer hing nur ein Bild, eine unangenehm realistische Reproduktion des gekreuzigten Jesus. Die Grundfläche des Zimmers war im Verhältnis zur Höhe so klein, dass es ihr vorkam wie ein Aufzugsschacht. Es gab ein Eisenbett, einen Kleiderschrank aus Eiche und einen schmalen Stuhl mit hohem Rücken. Es war kein gemütliches Zimmer.

Als die Tante ihr den Raum zeigte, wies sie auf das Bild mit dem gefolterten Jesus und drückte die Hoffnung aus, dass er eine Stütze für Ellen sein würde, falls sie sich allein oder niedergeschlagen fühlte.

»Es ist nicht leicht, so weit weg von zu Hause zu sein, wenn man jung ist«, sagte die Tante und legte ihre kalte, adrige Hand auf Ellens, »aber er hört immer zu. Er ist der Einzige, der weiß, was ich gelitten habe. Er sieht in mein Herz.« Die Tante tupfte sich vorsichtig im Augenwinkel, mit einem Spitzentaschentuch, das sie immer parat hatte, und fuhr mit einem ärgerlichen Schluchzen fort: »Die Juden haben ihn umgebracht!«

Ellen wusste, dass es Leute gab, die das jüdische Volk der Hinrichtung von Jesus beschuldigten.

»Aber Pontius Pilatus war doch Römer?«, wandte sie diplomatisch ein.

Doch die Tante schien nicht zuzuhören. Sie drückte streitlustig ihr Taschentuch zu einem kleinen Ball zusammen und fuhr fort:

»Die Juden haben ihn in Konkurs getrieben!«

»Jesus?«, rief Ellen erstaunt aus.

»Nein, Gustav«, sagte die Tante.

Gustav war Tante Idas verstorbener Mann, und die Verwechslung war nicht verwunderlich, denn in ihrer Welt war der Unterschied zwischen ihm und Jesus nicht sehr groß. Für sie hatte der Gatte ein Leben in heiliger Reinheit und Güte geführt, und im Salon war ihm zu Ehren ein kleiner Altar mit Foto, Kerze und Blumen aufgebaut.

Die Tante erzählte, dass die Juden Gustavs Firma große Konkurrenz gemacht hatten, indem sie ihre Waren zu Schleuderpreisen verkauften. Natürlich schlechte Waren. »Der Händler an der Vallgatan verkaufte Kaninchenfelle und nannte sie Zobel. Und der Schneider in der Storgatan verwendete Stoffe, die man nicht waschen konnte. Natürlich konnten sie so die Preise niedrig halten. Diese Juden haben Gustav so viele Sorgen bereitet, dass er einen Herzanfall bekam. Sie haben ihn in den Tod getrieben.«

Von Tora, der Haushälterin der Tante, bekam Ellen eine andere Version zu hören:

»Der Alkohol hat ihn umgebracht. Und das viele Essen. Er aß für drei und war dick wie ein Elefant. Kein Wunder, dass das Herz so einen Fleischkloß nicht mehr in Gang halten konnte. Da musste es am Ende aufgeben. Will Ellen sehen, wie dick er war?«

Die Tante hatte alle Kleider von Gustav aufgehoben, und Tora musste sie im Frühjahr und Herbst immer ausbürsten und im Hof lüften, damit keine Motten hineinkamen. Sie ging mit Ellen zum Schrank und zeigte ihr triumphierend Fräcke und Hosen in fast unmenschlicher Größe.

»Die Kleider dürfen nicht weggegeben werden, das hat er selbst so verfügt.«

»Er selbst?«

»Die gnädige Frau hat Kontakt mit seinem Geist. Ein Medium ruft ihn, wenn sie eine Séance halten«, erklärte Tora.

»Ich kann gut verstehen, dass er ihr in geistiger Form lieber ist«, sagte Ellen lachend und kniff, widerwillig fasziniert, in die riesigen Kleidungsstücke.

Sie wäre gerne einmal bei einer Séance dabei gewesen, aber Tora sagte, die Spiritistische Gesellschaft mache gerade Sommerpause.

»Die Geister brauchen wohl auch mal Ferien. So wie die herumfliegen müssen und klopfen und alles. Manchmal sind sie ganz wild, und diese Séancen können bis tief in die Nacht gehen«, sagte Tora und hängte die Fräcke sorgfältig in den Schrank zurück.

»Aber Ellen kann sicher einmal an einem anderen Treffen teilnehmen, die gnädige Frau ist in vielen Gesellschaften Mitglied.«

Albert

Februar 1923

Nach sechs Monaten des Herumreisens in der Welt war das Ehepaar Einstein endlich wieder in seiner großen Wohnung in der Haberlandstraße in Berlin. Alberts Geschenke und Elsas Einkäufe waren ausgepackt und lagen in einem einzigen Durcheinander in der Bibliothek. Ein japanisches Teeservice, Kunstgegenstände aus Jade und Bronze, prachtvolle Bücher, maßgeschneiderte Seidenkleider aus Shanghai und handgeklöppelte spanische Spitzentücher bedeckten den Tisch, die Stühle und den Boden.

Wie sollten sie all das nur in der jetzt schon übervollen Wohnung unterbringen? Nun ja, das war Elsas Problem, dachte Albert. Er setzte sich ans Klavier und spielte ein kleines Stück von Schubert, Elsa packte weiter aus. Sie redete ununterbrochen. Albert biss auf den Pfeifenschaft und murmelte einsilbige Antworten, ohne zuzuhören.

Ein halbes Jahr lang hatten sie all ihre Zeit gemeinsam verbracht und waren einander ziemlich leid. Das Programm war beinahe unmenschlich anstrengend gewesen, lange, ermüdende Reisen und mehrere Vorträge an einem Tag. Bei den Mahlzeiten hatte Albert die Relativitätstheorie mit eigens eingeladenen Physikern diskutieren müssen und war fast nicht zum Essen gekommen. Abends Empfänge mit erstaunlich ahnungslosen Menschen der besseren Gesellschaft, die ihm ihre persönliche Deutung seiner Theorie mitteilen wollten. Und wenn er sich dann gerade mit einem höflichen »Gute Nacht« zurückziehen wollte, holte jemand eine Geige hervor! Es half auch nichts, wenn er sagte, er sei müde, er sei aus der Übung, er spiele nur für sich allein. Jemand war in sein Hotel geschickt worden und hatte die Geige geholt, und man erwartete von ihm, um ein Uhr nachts, fast ohnmächtig vor Müdigkeit, als Geiger aufzutreten.

Aber vielleicht würde er so die nächsten Jahre zubringen müssen. Als reisender Unterhalter und Salonlöwe. Der wandernde Jude.

Im April vorigen Jahres war er von einem hochrangigen Polizeibeamten kontaktiert worden, der sagte, er habe sichere Beweise dafür, dass Albert auf der Todesliste der Ultranationalisten stehe. Er hatte ihm den Rat gegeben, Berlin möglichst schnell zu verlassen. Er hatte es damals nicht sehr ernst genommen. Aber der Mord an seinem Freund Walter Rathenau zwei Monate danach hatte ihn sehr erschüttert.

Berlin war eine gefährliche Stadt. Die Menschen waren hungrig und verzweifelt. Die Lebensmittelpreise stiegen täglich, Frauen plünderten die Läden, Arbeiter streikten. In der Stadt wimmelte es von verwirrten ehemaligen Soldaten, die sich nach dem Krieg nicht zurechtfanden. Kämpfen und marschieren, das war alles, was sie konnten, aus Mangel an Beschäftigung machten sie damit weiter. Sie hatten ihre Uniformen und Waffen behalten, sich zu Gruppen zusammengeschlossen, Kommunisten oder Nationalisten, in den Seitenstraßen trugen sie kleine, gemeine Kriege gegeneinander aus.

Überall waren lautstarke Diskussionen zu hören, Parolen, Stiefelgetrampel und die Trillerpfeifen der Polizisten. Mord war an der Tagesordnung: politische Morde, antisemitische Morde, Raubmorde; seit Kriegsende hatte es mehrere hundert gegeben, und die Polizei hatte nicht einmal die Hälfte aufklären können. Ein Menschenleben war nicht mehr das Gleiche wert wie vor dem Weltkrieg.

Albert hatte aufgehört, Vorlesungen an der Universität zu geben. Er wollte sich nicht öffentlich zeigen, und durch die Inflation war sein Gehalt nur noch ein Witz.

Er verdiente seinen Unterhalt stattdessen mit Vorlesungen und Vorträgen im Ausland. Da fehlte es nicht an Angeboten. Er war fast lächerlich populär. Alle interessierten sich für die Relativitätstheorie. Dass niemand sie verstand, schien keine Rolle zu spielen. Er konnte nicht Taxi fahren, ohne sich die Meinung des Fahrers zur »Relativität« anhören zu müssen. Französische Philosophen sahen ihn als Humanisten und disputierten begeistert über die logischen und moralischen Konsequenzen der Theorie. Moderne Künstler und Komponisten bejubelten seine »Auflösung der Zeit«, sie ließen sich inspirieren zu Collagen mit Uhren ohne Zeiger und atonalen Musikstücken, bei denen Alberts musikalisches Ohr sich vor Entsetzen zusammenkrümmte. Anarchisten und Kommunisten schlugen ihm auf den Rücken und nannten ihn Kamerad. Für sie war die Relativitätstheorie das logische Ende der alten Gesellschaftsordnung. Die Frauen sahen den Schalk in seinen samtbraunen Augen, den dunklen ungebändigten Locken und der sinnlichen Unterlippe unter seinem Schnurrbart. In seiner Theorie glaubten sie Elemente aus der Poesie und der Erotik zu erkennen: das Licht, die Masse, die Kraft, die rasante Geschwindigkeit und den geheimnisvollen gekrümmten Raum.

Albert Einstein war ein Star. Er war à la mode.

Und gleichzeitig so verhasst, dass er sich in seiner Heimatstadt kaum auf die Straße traute.

Er war gezwungen, immer weiter durch die Welt zu reisen und über seine Theorie zu sprechen, vor Menschen, die sie liebten, ohne sie zu verstehen. Eine bewegliche Zielscheibe war nicht so leicht zu treffen. Reisen und Geduld. Das war seine Strategie.

Manchmal dachte er, der Grund für das alles sei der Name seiner Theorie. Es zeigte sich, dass das Wort Relativität ausgesprochen kontrovers war, das hatte er sich nicht vorstellen können. Es erzeugte das Bild einer fließenden und veränderlichen Welt, eines Zustands, der entweder Hoffnung oder Angst weckte. Je nachdem, wo in dieser Welt man sich befand.

Am Anfang hatte er überlegt, seine Theorie »Invarianztheorie« zu nennen. Was wäre passiert, wenn er diesen Namen gewählt hätte? Vermutlich wäre er jetzt ein respektierter Wissenschaftler, völlig unbeachtet von der großen Masse. Er würde nicht zu Cocktailpartys mit amerikanischen Filmstars eingeladen, die Klatschreporter würden sich nicht für seine Kleidung, seine Frisur und sein Liebesleben interessieren. Man würde ihn als harmlosen Langweiler betrachten und niemand käme auf den Gedanken, ihn auf eine Todesliste zu setzen. Und höchstwahrscheinlich hätte er schon lange seinen Nobelpreis bekommen.

Albert spielte die letzten Takte des Musikstücks. Das Klavier musste gestimmt werden. Er würde Elsa bitten, einen Klavierstimmer zu bestellen, bevor er sich zur nächsten Vortragsreise aufmachte. Er klappte den Deckel über der Tastatur zu und ging hinauf in sein Turmzimmer.

Eigentlich lag es nicht in einem Turm. Es war einfach ein eingerichtetes Dachzimmer ohne Verbindung zur Wohnung. Aber es gefiel ihm, es Turmzimmer zu nennen. Es evozierte ein Gefühl von erhabener Einsamkeit.

Nur wenige Menschen wussten von der Existenz dieses Zimmers. Der Aufzug ging nicht bis nach oben, nur eine schmale Treppe führte hinauf. Hier saß er dann in seinem Sessel, las oder schaute aus dem Fenster und dachte nach. Die Aussicht gefiel ihm, sie bestand aus Hausdächern, Himmel und vielleicht einem Vogel. Keine Straße, keine Menschen.

In wolkenlosen Nächten richtete er sein Teleskop ins All, das sich über der flachen Stadt wölbte. In den Kriegsjahren war Leuchtreklame verboten gewesen, erst kürzlich war das Verbot aufgehoben worden, aber nur wenige Geschäftsleute konnten sich die Energiekosten leisten. Trotz seiner Größe war Berlin nachts immer noch so dunkel wie ein Bauerndorf, tausende von Sternen glitzerten ohne störende Konkurrenz.

Manchmal war er mehrere Tage ohne Unterbrechung dort oben. Da mussten dann Elsa oder die Haushälterin mit dem Essen zu ihm kommen.

Albert ließ sich in den alten Sessel unter der Schräge sinken und schmauchte an seiner Pfeife. Erst jetzt spürte er, dass er wirklich wieder zu Hause war. Offiziell war er immer noch im Ausland. Nur seine Freunde wussten, dass er in Berlin war. Er wollte eine Weile in der Haberlandstraße bleiben und Kräfte sammeln, bevor er sich wieder auf Reisen begab. Er vermied den Blick auf den Berg mit ungeöffneter Post auf seinem Schreibtisch.

Sein Problem war, dass er im Moment keine Sekretärin hatte. Bisher hatte seine Stieftochter Ilse diese Tätigkeiten übernommen. Sie hatte ihre Schreibmaschine im Turmzimmer gehabt, und wenn Albert sie brauchte, musste er nur den Telefonhörer des Haustelefons abheben und sie bitten, nach oben zu kommen. Das war sehr praktisch gewesen.

Aber nun hatte Ilse geheiratet und war aus der Haberlandstraße ausgezogen. Er brauchte eine neue Sekretärin. An eine Annonce war nicht zu denken. Er würde in Antworten ertrinken. Er hatte bei seinen Bekannten herumgefragt, und einer hatte die Nichte seiner Frau empfohlen, die einundzwanzigjährige Betty Neumann aus guter jüdischer Familie. Sie hatte auch ihrem Vater bei der Büroarbeit geholfen.

Das Haustelefon im Turmzimmer klingelte. Es war Elsa. Betty Neumann war da.

»Schon?«, sagte Albert.

»Es ist zwei Uhr«, bemerkte Elsa. »Wenigstens ist sie pünktlich.«

»Ist es wirklich schon zwei?«

Albert besaß keine Uhr. Früher hatte er eine Taschenuhr an einer Eisenkette gehabt. Er hatte sie von seinem Vater geerbt. Seit sie kaputtgegangen war, hatte er keine mehr. Bei seinen Vorlesungen wusste er deshalb nicht, wie lange er redete und musste ab und zu das Publikum fragen, wie spät es war. Das war natürlich immer ein Anlass für Gelächter und scherzhafte Antworten, die immer das Wort »relativ« enthielten.

Elsa fand es nicht lustig, dass er keine Uhr hatte. Im Gegenteil, es ärgerte sie kolossal. Sie hatte eine Wanduhr aus der übermöblierten Wohnung ins Turmzimmer geschleppt. Albert hatte sie umgehend wieder nach unten getragen.

»Möchtest du Fräulein Neumann treffen oder nicht?«, fragte Elsa.

Sie klang heute ungewöhnlich scharf.

»Ja, ja. Schick sie hoch.«

Dann hörte er Stimmen auf der Bodentreppe. Eine helle, angenehme Mädchenstimme, die in Elsas grellem Gelächter unterging. Direkt vor der Tür ging Elsas Stimme in ein vertrauliches Gemurmel über. Vermutlich erzählte sie etwas Lustiges über ihren berühmten Ehemann. Eine kleine Eigenheit, die nur sie als seine Ehefrau kannte. Sie erzählte liebend gern Anekdoten über seine Schwächen. Auch Journalisten. Aber nur Bagatellen, nichts Wichtiges, und sie machte es sehr liebevoll und geschickt. Albert hatte nichts dagegen. Im Gegenteil, diese kleinen Geschichten ließen ihn in den Augen der Welt als menschlich und sympathisch erscheinen, und er vermutete, dass sie vor allem im Ausland sehr zu seiner großen Popularität beitrugen.

Wie es ihre Angewohnheit war, klopfte Elsa erst, als sie die Tür schon geöffnet hatte und über die Schwelle getreten war. Sie lachte immer noch über einen ihrer Scherze, drehte sich um und sagte ein klein wenig ungeduldig: »Aber kommen Sie doch herein, meine Liebe, er beißt nicht.«

Als das junge Mädchen im Zimmer stand, wusste er, warum Elsa am Telefon so scharf geklungen hatte. Das Mädchen war hübsch. Elsa hatte schlechte Erfahrungen mit Albert und hübschen Mädchen gemacht.

Seine Frau sprach noch ein paar Minuten schnell und laut, dann verließ sie das Zimmer. Sie schloss die Tür ein wenig lauter als nötig. Isaac Newton zitterte in seinem Rahmen an der Wand, und die Stimmung im Turmzimmer beruhigte sich, wie eine Wasserfläche nach heftigem Wellengang.

Mit gesenktem Blick, als würde sie ein peinliches Geheimnis preisgeben, sagte das Mädchen:

»Ich weiß eigentlich überhaupt nichts über die Relativitätstheorie.«

»Das freut mich zu hören«, sagte Albert. »Ansonsten scheint ja jeder seine Meinung dazu zu haben.«

Das Mädchen hatte große dunkle Augen und wohlgeformte Augenbrauen.

Albert wusste nicht, was er sonst noch sagen sollte, also bat er sie, einen Brief mit der Schreibmaschine abzutippen.

»Ist das eine Probe?«, fragte sie.

»Probe?«

»Ja, Sie wollen mich natürlich testen, bevor Sie mich einstellen? Das ist sehr verständlich.«

»Aber Sie sind doch eingestellt«, sagte Albert erstaunt. »Habe ich das nicht gesagt?«

Er hatte sich bereits an das Mädchen gewöhnt. Obwohl sie gerade erst zur Tür hereingekommen war, kam ihre Anwesenheit ihm schon ganz selbstverständlich vor.

Albert schaute sie an, während sie schrieb. Die schnellen Hände über den Tasten, der lange Hals, die weich hochgesteckten Haare, die sich bewegten, wenn sie den Kopf rasch zwischen der Maschine und dem handgeschriebenen Blatt drehte. So eigenartig wohlbekannt, es kam ihm so natürlich und richtig vor, sie hier zu haben.

Als sie fertig war, bat er sie, eine Notiz in seinen Kalender einzutragen. Bisher hatte Ilse ihn geführt und alle seine Termine und Reisen vermerkt. Jetzt überreichte er ihn Betty mit einer scherzhaft hochtrabenden Geste.

»Mein Leben ruht in Ihren Händen, Fräulein Neumann.«

Sie nahm das längliche Buch entgegen, drückte es an ihre kleinen, aber deutlich hervortretenden Brüste und nickte ernst.