Astrid Fritz

Die Bettelprophetin

Historischer Roman

 

HAUPTMANN: Woyzeck, Er hat keine Tugend! Er ist kein tugendhafter Mensch.

WOYZECK: Ja, Herr Hauptmann, die Tugend – ich hab’s noch nit so aus. Sehn Sie: wir gemeine Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur; aber wenn ich ein Herr wär und hätt ein’ Hut und eine Uhr und eine Anglaise und könnt vornehm reden, ich wollt schon tugendhaft sein. Es muß was Schönes sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl!

Vorspann

März 1825, Landstraße in Oberschwaben

Der Mann hinter dem Haselbusch leckte sich die Lippen: Was hatte er da nur für zwei appetitliche junge Weibspersonen vor Augen. Nackt bis auf ein loses Hemd standen die beiden da, nur einen Steinwurf von ihm entfernt am Flussufer, und wuschen sich und zwei kleinen Buben Gesicht und Hände. Deutlich zeichneten sich die runden Brüste unter dem Leinen ab, die Haut ihrer bloßen Arme und Beine schimmerte hell im Licht der Märzsonne. Die Versuchung war groß, allzu groß, wäre da neben ihm nicht der junge Kerl gestanden, dieser Lorenz, der ihm erst vor kurzem aus der Residenzstadt Stuttgart geschickt worden war und dem er noch keinen Deut vertraute.

Ein andermal, dachte er und gab sich einen Ruck. Er musste dem Burschen Vorbild sein, schließlich war er, Anton Sipple, als langjähriger Oberlandjäger in königlichen Diensten erst neulich zum Stationskommandanten des Oberamts Ravensburg befördert worden und wusste, was er seinem Rang schuldig war. Und eben jetzt bestand seine Pflicht darin zu prüfen, ob es sich hier nicht ganz augenscheinlich um eine Vagantensippe handelte, um liederliche Weiber, die arbeitsscheu und ohne Moral durch die Lande stromerten und keinesfalls der sittlichen und geistigen Erziehung ihrer Blagen fähig waren. Erst vorgestern hatte er hier, an der alten Staatsstraße von Stuttgart an den Bodensee, eine Horde Bettler festgenommen. Deren verlauste Kinder hatten bei der Hanfreibe drüben in Staig Hühner stibitzt, um sie auf dem Ravensburger Markt zu verscherbeln.

Sipples Rechte griff nach dem Knauf seines Säbels. Dann reckte er Kreuz und Schultern, wobei sich seine Uniformjacke über dem mächtigen Bauch bedenklich spannte, und trat aus dem Gebüsch heraus.

«Halt! Keinen Schritt weiter!»

Die Frauen fuhren erschrocken herum.

«Mir habn nix verbrochen», stotterte die Ältere und legte schützend die Arme um die Knaben. Ganz offensichtlich war sie die Mutter der beiden, ihr hageres Gesicht war von Pockennarben gezeichnet. Dafür war die andere ausnehmend hübsch mit ihren langen, dunklen Locken, und Anton Sipple bedauerte erneut, nicht allein auf Patrouille zu sein.

«Eure Papiere!», donnerte er.

Die Frauen beeilten sich, ihre Kleider überzustreifen, dann kramten sie in ihren wenigen Habseligkeiten herum, die an einem Baumstamm abgelegt waren.

«Festnehmen?», flüsterte Sipples Begleiter.

«Nein, wart noch. Wir müssen die Instruktionen einhalten. Also, was ist?», wandte sich der Kommandant an die Frauen. «Sucht ihr die Stecknadel im Heuhaufen?»

«Irgendwer muss die Papiere geklaut haben», murmelte die Ältere mit hochrotem Kopf. «Mir sin Mägde, auf der Such nach Arbeit, keine Landstreicher. Das müsset Sie uns glauben.»

«Ich muss gar nix. Ihr wisst genau, dass es verboten ist, ohne Passierschein oder Heimatschein durch die Gegend zu vagabundieren. Reisegeld könnt ihr wahrscheinlich auch keins vorweisen.»

Die beiden Frauen blickten stumm zu Boden, während die Buben zu schluchzen begannen.

«Name und Herkunft! Und weh euch, ihr lügt!»

«Creszenz Schwende, aus Ulm», begann die Ältere.

«Und du?» Sipple stieß der anderen in die Rippen.

«Margarete – Margarete Weinhard aus der Schweiz.»

Dem Stationskommandanten entging nicht der erstaunte Blick der Älteren.

«Du lügst!»

Er schlug der Jungen mit der flachen Hand ins Gesicht.

«Maria, Maria Bronner», stammelte die nun unter Tränen. «Aus Eglingen auf der Rauhen Alb.»

«Maria Bronner also.» Sipple grinste. «Dann wollen wir mal in Erfahrung bringen, ob das der Wahrheit entspricht. Auf geht’s, Lorenz, legen wir den Weibern Handfesseln an. Damit uns die Täubchen nicht wegflattern.»

Grob packte Sipple die Dunkle bei den Handgelenken und drehte ihr die Arme auf den Rücken. Während er ihr mit geübtem Griff die Fesseln anlegte, presste er sie enger als nötig gegen seinen massigen Leib. Deutlich spürte er ihren Busen an seiner Brust, roch den Duft nach Erde und Wind in ihrem Haar. Sipple unterdrückte ein Stöhnen. Wie lange schon hatte er kein Weib mehr unter sich gehabt!

«Fertig, Herr Kommandant!», rief neben ihm Lorenz mit heller Stimme, und Alfons Sipple trat einen Schritt zurück.

«Sie könnet uns doch net einfach festnehmen», rief die, die sich Creszenz nannte. «Daheim warten Mann und Kinder auf uns.»

«Und ob wir das können. Nichts weiter als diebisches Gesindel seid ihr, das auf dem Bettel durchs Land zieht.»

In diesem Augenblick begann es wenige Schritte neben dem Baumstamm lautstark zu krächzen. Aus einem Lumpenbündel streckten sich zwei winzige Ärmchen und begannen zu zappeln.

«Ja, sabberlodd! Was ist das denn?»

Sipple stieß mit der Stiefelspitze gegen das Bündel. Das Kind, das ihn aus aufgerissenen Augen anstarrte, war höchstens vier, fünf Monate alt.

«Das ist mein Töchterle, die Theres.» Maria Bronner fiel auf die Knie. «Ich fleh Sie an: Lasset Sie uns gehn! Das Kind hat Hunger, und daheim im Dorf wartet mein Hannes auf mich, mein kleiner Bub.»

«Halt’s Maul und steh auf! Lorenz, du nimmst den Wurm und die beiden Rotzlöffel da. Ich kümmer mich um die Weibsbilder. Und jetzt ab marsch nach Ravensburg!»

«Warum nach Ravensburg? Was sollen wir da?», fragte die Ältere mit ängstlicher Stimme.

«Ins Arbeitshaus kommt ihr zwei beiden. Da macht man aus einer Bagasch wie euch anständige Leut.»

«Aber die Kinder – die kleine Theres?»

«Die seht ihr so schnell nicht wieder. Weiber wie ihr sollten erst gar keine Bälger in die Welt setzen.»

Teil 1

Selig sind, die da Leid tragen. 

1

Mai 1832, Eglingen auf der Rauhen Alb

«Ist das also dein letztes Wort, Nepomuk Stickl?»

Der alte Bauer nickte. «Gucket Sie sich die Theres doch an, Herr Stadtrat. Das Mädle verschafft’s ja net mal, die Wassereimer zu schleppen. Zu nix ist die zu gebrauchen, net mal zum Wollekrempeln. Der Bruder ist da von ganz andrem Schlag.»

«Vielleicht hast du sie ja auch zu knappgehalten?» Der Stadtrat runzelte die Stirn. «Sie schien mir schon beim letzten Besuch arg mager. Viel zu schmächtig für ihre acht Jahre.»

«Was – was wollet Sie damit sagen?»

«Nun, du weißt ja wohl noch, was du und deine Frau – Gott hab sie selig – damals beurkundet habt? Ihr hattet euch verpflichtet, gewissenhaft auf Moral und Physis eurer Pfleglinge zu achten, auf ausreichende Nahrung und Kleidung sowie regelmäßigen Schulbesuch. Stickl, Stickl …» Er seufzte. «Du glaubst gar nicht, was mir in meiner Eigenschaft als Pfleger schon alles untergekommen ist! Grad für euch Bauern ist das Geld von der Stiftung doch ein rechter Batzen, der euch ins Haus rollt. Da gibt’s Spitzbuben, die stecken das Geld ein, prügeln ihre Pfleglinge wie Sklaven zur Arbeit oder sogar auf den Bettel und lassen sie dabei halb verhungern.»

«Aber, Herr Stadtrat», stotterte der Alte. «Ich doch net. Ihr kanntet doch mein Weib, so eine herzensgute Frau. Aber jetzt, wo sie tot ist und meine leiblichen Kinder aus dem Gröbsten raus, muss ich doch auch schauen, wo ich bleib. Und vielleicht find ich ja wieder ein neues Eh’weib …» Er senkte die Stimme. «Das Mädle ist seltsam, mit dem ist nix Rechtes anzufangen. Man weiß nie, was der Theres im Kopf rumgeht. Vielleicht ist sie ja einfach ein bissle blöd.»

Theres kauerte hinter der zugigen Bretterwand, die ihre Schlafstelle von der Wohnküche trennte, und lauschte. Durch das Astloch in der Wand hatte sie ihren Pflegevater und den vornehmen Gast mit dem knielangen Gehrock und der fliederfarbenen Seidenhalsbinde genau im Blick. Vergangene Woche hatte ihnen dieser Herr vom Münsinger Kirchenkonvent schon mal einen Besuch abgestattet, und die ganze Zeit hatte Theres sich gefragt, was der Mann bei ihnen wollte. Nun aber wurde ihr schlagartig klar, dass es um sie ging. Und dass es nichts Gutes verhieß.

Sie ballte die Fäuste. Wie gemein der Alte war, sie vor einem Fremden dermaßen schlechtzumachen! Nur zu gut erinnerte sie sich noch an jenen Tag im letzten Herbst, als der junge Visitator des Armenkollegiums aufgetaucht war, unangekündigt wie immer, um nach dem Rechten zu sehen. Er hatte geschimpft damals, dass ihm die Theres von Mal zu Mal verwahrloster erscheine, und buchstabieren könne sie auch immer noch nicht. Ob sie denn nicht zur Schule gehe? Sehr wohl schicke er sie dorthin, hatte der alte Bauer geantwortet, aber sie sei halt wohl nicht gescheit genug für solcherlei Dinge. Theres war fassungslos gewesen: Sie durfte gar nicht zur Schule, weil sonst die Hausarbeit liegen blieb und das Garn für den Wollweber nicht fertig wurde.

«Stimmt das?», hatte der Beamte sie daraufhin gefragt. «Ja», hatte sie gestottert, mit einem Seitenblick auf den Pflegevater.– «Ist dir die Schule also zu schwierig?» – «Ja, Herr.» Und die Tränen waren ihr vor Scham übers Gesicht gelaufen.

«Jetzt hol das Mädchen her», hörte sie in diesem Augenblick den Stadtrat sagen. «Ich hab heute noch andres zu tun.»

Hastig sprang Theres auf, noch immer verwirrt von dem, was sie eben vernommen hatte. Da hörte sie schon die schlurfenden Schritte ihres Pflegevaters, und das Türchen zu ihrem Verschlag öffnete sich.

«Komm raus!», befahl der alte Bauer. «Der Herr Stadtrat will dich sehn. – Und sag ja nix Falsches», setzte er leise hinzu.

Theres ging mit gesenktem Kopf hinüber in den Wohnraum, gab dem Gast die Hand und machte einen artigen Knicks.

«Du weißt, warum ich hier bin?» Die Stimme des Mannes klang freundlich.

«Nein, Herr.»

Der Stadtrat warf Nepomuk Stickl einen missbilligenden Blick zu und fuhr fort: «Dein Pflegevater kann sich nicht mehr angemessen um dich kümmern, jetzt, wo die Bäuerin tot ist. Du sollst ins Staatswaisenhaus zu Weingarten gebracht werden, in die Vagantenkinderanstalt. Da lernst du alles, was du fürs spätere Leben brauchst. Mach also unserem Staat und unserem König keine Schande, hörst du?»

Sie nickte, während sie am ganzen Leib zu zittern begann. Sie hatte es geahnt, der Bauer wollte sie weggeben! Dann packte sie der nächste Schrecken: Von ihrem Bruder war mit keinem Wort die Rede gewesen.

«Was … Was ist mit Hannes?» Die Tränen schossen ihr in die Augen.

«Der Hannes bleibt hier», schnauzte Nepomuk Stickl.

Beruhigend strich der Stadtrat ihr übers Haar.

«Es ist zu deinem Besten, mein Kind.» Er wandte sich wieder an ihren Pflegevater. «Machen wir also Nägel mit Köpfen, Stickl. Unterschreib jetzt, dass du die Fürsorge für den Pflegling Theres Ludwig, Tochter der Landfahrerin Maria Bronner aus Eglingen und des Taglöhners Jakob Ludwig aus Ravensburg, zum heutigen Tage aufkündigst. Hier, an dieser Stelle.»

Mit einem verlegenen Räuspern setzte der Bauer drei Kreuze an die bezeichnete Stelle. Dann fragte er:

«Und wie kommt die Theres hernach ins Waisenhaus?»

«Ich schick auf morgen früh einen Stadtbüttel. Gib dem Kind ausreichend Essen und Trinken mit, es ist ein weiter Weg.»

Damit schien für den Mann alles besprochen. Er wandte sich zur Tür, nahm Zylinder und Stöckchen vom Haken und trat hinaus. Theres sah ihm nach, wie er unbeholfen zwischen den Pfützen hindurch in Richtung Straße stakte, wo sein Einspänner auf ihn wartete.

«Was glotzt du so?», fragte ihr Pflegevater. «Hast net gehört, dass es zu deinem Besten ist? Auf jetzt, versorg die Hühner und dann ab in die Küche.»

Doch Theres achtete nicht auf seine Worte. Kaum war die Kutsche um die nächste Wegbiegung verschwunden, rannte sie los.

«Bleibst wohl hier, du Saubangerd!», hörte sie den Bauern noch brüllen, da war sie schon die Böschung hinaufgeklettert, mitten hinein in das dunkle Tannenwäldchen, das an ihren Hof grenzte. Keine Viertelstunde später erreichte sie die sonnenbeschienene Wacholderheide, wo ihr Bruder dieser Tage die Schafe des Dorfes hütete.

«Hannes!», keuchte sie. «Ich soll fort!»

Schwer atmend lehnte sie sich neben ihn an das warme Felsgestein. Ihr Bruder starrte zu Boden und schwieg.

Theres wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. «Warum sagst du nichts?»

Hannes schüttelte den Kopf.

«Sag bloß … Sag bloß, du hast es gewusst!»

«Seit gestern», murmelte er so leise, dass sie ihn kaum verstand. «Hab mich nicht getraut, es dir zu sagen.»

«Aber warum soll ich fort und du nicht? Warum dürfen wir nicht zusammenbleiben?»

«Ich weiß es nicht.»

Jetzt erst merkte Theres, dass auch ihr Bruder weinte. Hinter einem Schleier von Tränen schweifte ihr Blick über die sanften Hügel mit ihren hellen und dunklen Waldstücken, den Schafweiden und Wacholderheiden. Wie vertraut ihr dieses Bild war, wie schön das alles aussah, so im warmen Licht der Maisonne! Sie kannte nichts andres, ihr Lebtag war sie nie weiter als bis in die nächsten Dörfer gekommen, nicht mal bis in die nahe Oberamtsstadt Münsingen.

Sie schloss die Augen und erblickte plötzlich einen riesigen, düsteren Saal mit vergitterten Fenstern rundum, sich selbst inmitten einer Horde verwahrloster Kinder von Landstreichern. Ein Aufseher durchmaß mit energischem Schritt die Reihen und verteilte Karbatschenhiebe nach rechts und links.

Erschrocken riss sie die Augen wieder auf.

«Ich hab Angst», stammelte sie.

«Das musst du nicht, Theres. Ich komm dich besuchen.» Hannes nahm ihre Hand und drückte sie fest.

«Weißt du denn, wo dieses – dieses Weingarten liegt?»

«Nein. Trotzdem.»

 

Am nächsten Tag erschien gleich nach dem Morgenessen der Büttel, ein maulfauler, dickbäuchiger Mensch namens Hufnagl. Theres hockte auf der Schwelle der offenen Haustür, ihr kleines Bündel zu Füßen, und wartete, bis der Mann sein Krüglein warmes Bier ausgeschlürft hatte. In ihrem Innern schwelte noch immer die unaussprechliche Angst vor dem, was auf sie zukam, und davor, Hannes vielleicht nie wiederzusehen.

Theres wandte sich um. Stumm saßen sich Hufnagl und ihr Pflegevater am Tisch gegenüber. Sie waren allein. Ihre Stiefschwester Berthe und ihr Stiefbruder Marx, beide um viele Jahre älter als sie, arbeiteten bereits draußen auf dem Acker, und auch ihr Bruder hatte kaum seinen Napf mit Schwarzem Brei ausessen dürfen, da hatte ihn der Bauer schon zum Schafspferch befohlen. Nur ganz kurz hatten sie und Hannes sich zum Abschied umarmen dürfen, und als Theres ihren Bruder nicht loslassen wollte, hatte der Alte ihr einen schmerzhaften Streich mit der Weidenrute versetzt.

Lautes Stühlerücken ließ sie auffahren. Sie hörte den Büttel nach den Papieren fragen, die er im Waisenhaus abgeben müsse, und unterdrückte ein Schluchzen. Sie wollte nicht weg, das hier war ihre Heimat! In diesem kleinen Häuschen mit seiner vom Herdfeuer dunkel gebeizten Wohnküche und den beiden Bretterverschlägen, die als Schlafkammern dienten, in diesem Dorf auf der Rauhen Alb hatte sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht, und wenn sie jetzt alles so bedachte, war dieses Leben nicht das schlechteste gewesen.

Nicht dass sie ihrem Pflegevater eine einzige Träne nachweinen würde. Dazu hatte sie viel zu oft seine Weidenrute zu spüren bekommen – vor allem, nachdem die Bäuerin gestorben war. Wie oft hatte sie hungrig zu Bett gehen müssen, wenn sie angeblich wieder den Musbrei hatte anbrennen oder das Feuer ausgehen lassen. Aber Hannes oder auch Marx hatten ihr dann heimlich einen Brocken Brot zugesteckt. Nur die Berthe, diese blöde Kuh, hatte sie immer wie Luft behandelt. Hatte sie bei der Hausarbeit herumgescheucht und als «Bettelbastard» beschimpft, wenn sie ihren Befehlen nicht schnell genug gefolgt war. Genauso jähzornig wir ihr Vater war Berthe. Und dabei hässlich und dumm.

Und dennoch – Theres hätte sich niemals beklagt. Schließlich kannte sie es nicht anders, diesen Wechsel aus Arbeit, Schlägen und Mahlzeiten, die einen nicht satt machten. Ihrem Bruder und den meisten andern Bauernkindern rundum erging es nicht besser und nicht schlechter als ihr. Alle mussten sie sich krummschaffen bei der Heimarbeit für irgendwelche raffgierigen Verleger oder auf den steinigen Äckern, die hier auf der Alb nicht viel mehr hergaben als Flachs oder Viehfutter. Trotz alledem war das hier ihre Familie. Und Eglingen ihr Dorf. Jedes Kind, jedes Stück Vieh kannte sie hier, jeder Winkel war ihr vertraut.

Hinzu kam: Hier war ihre Mutter aufgewachsen, in einer kleinen Kate am andern Ende des Dorfes, bevor sie den Ravensburger Taglöhner Jakob Ludwig geheiratet hatte. Ein ganz junges Ding musste sie damals gewesen sein. Die meisten hier ließen allerdings kaum ein gutes Haar an ihrer Mutter. Stolz und hoffärtig sei sie gewesen und habe den Jakob hintergangen. Manche behaupteten gar, sie, die Theres, sei gar nicht dessen leibliche Tochter, in fremden Betten habe sich damals das Luder herumgetrieben, bis der Jakob vor Gram gestorben sei! Und so habe man sich nicht verwundern müssen, dass die Bronnerin irgendwann als Landstreicherin und Bettlerin im Zuchthaus gelandet sei. Als Theres einmal gewagt hatte, ihren Pflegevater zu fragen, wo ihre Mutter jetzt sei und warum sie nie nach Eglingen zurückgekehrt sei, hatte der nur hämisch gelacht. «Vergiss dieses Weibsstück. Die ist längst außer Landes gejagt, falls sie nicht gar am Galgen gelandet ist. Kannst Gott danken, dass wir dich und deinen Bruder aufgenommen haben.»

Nächtelang hatte sie daraufhin geweint und fortan selbst geglaubt, dass ihre Mutter tot sein müsse. Denn warum sonst hatte sie ihre Kinder nie wiedersehen wollen? Jetzt war ihr nur noch der Bruder geblieben, der fast vier Jahre älter war und sie immer beschützt hatte, wenn die Kinder im Dorf frech geworden waren. Wie konnte der Herrgott es zulassen, dass sie für immer von ihm getrennt werden sollte?

 

Gut zwei Stunden lang marschierten sie querfeldein, das kleine barfüßige Mädchen neben dem schwergewichtigen Büttel, bis sie die Zwiefalter Alb und damit die Staatsstraße erreichten, die von Reutlingen her auf Ravensburg zuführte.

«Du stinkst wie ein elender Seichhafen!», hatte der Mann sie irgendwann angeschnauzt. «Kei Sau wird uns da mitnehmen wollen.»

Da waren Theres die mühsam unterdrückten Tränen wieder über die Wangen geflossen. Was konnte sie dafür, dass sie nicht mal ein sauberes Sonntagsgewand besaß und nur alle zwei Wochen in den Waschbottich steigen durfte – als Letzte wohlweislich, wenn das Wasser schon kalt und schlierig vom Dreck der andern war?

Doch entgegen Hufnagls Befürchtung ließ sie alsbald ein Fuhrmann auf die halbleere Ladefläche seines Wagens aufsteigen, wo ihr Bewacher so weit wie möglich von ihr abrückte und sein Vesperpaket auspackte. Theres musste mit ansehen, wie er sich Wurststück um Wurststück in den Mund stopfte. Sie selbst hatte nur Wasser und Brot dabei.

Der Büttel kniff die Augen zusammen. «Was glotzt? Hat dir der Bauer nix eingepackt?»

«Doch, doch. Aber ich heb’s mir auf, für später.»

Hufnagl nickte nur, und Theres überließ sich wieder ihrem Abschiedsschmerz und dem heftigen Gerüttel des Wagens auf der löchrigen Straße. Bis hierher hatte die Landschaft nicht viel anders ausgesehen als daheim. Jetzt aber begann sich die Straße in engen Krümmungen durch dichten dunklen Tannwald steil bergab zu winden, bis der Blick wieder frei wurde auf eine lichte Hügellandschaft, die sich im Dunst des weit ausladenden Donautals verlor. Theres wusste: Nun war sie in der Fremde angelangt. Brotbeutel und Trinkflasche waren leer, ihre Tränen versiegt, keine zehn Worte hatte Hufnagl bislang an sie gerichtet. Sie tastete in ihrer Schürzentasche nach dem Holzpferdchen, das Hannes ihr einst geschnitzt hatte und das schon ganz abgegriffen und speckig war, und fühlte sich so verlassen wie noch nie.

In der Oberamtsstadt Riedlingen am Donauufer nahmen sie ihr Nachtquartier. In Theres’ Augen wirkte die Stadt mit den hübschen Fachwerkhäusern riesig, gewiss hundertmal so groß wie ihr Heimatdorf. Und wie laut und voller Menschen dieses Riedlingen war: Allein auf dem Marktplatz drängte sich mehr Volk als bei ihnen im Dorf zur Kirchweih! Spielende Kinder tobten zwischen Fuhrwerken und Handkarren herum, Trödler boten den Inhalt ihrer Bauchläden feil und schrien dabei mit den Karrenbäckern und Zeitungsjungen um die Wette, aus den offenen Fenstern und Hoftoren drangen Gehämmer und Geklopfe. Niemals würde sie in solch einem Trubel wohnen können. Umso verwunderter war sie, als sie auf dem Dachfirst des Rathauses das schwarzweiße Federkleid eines Storchenpaars entdeckte, das hier seine Jungen aufzog.

Nachdem der Büttel sie beide bei der Ortspolizei angemeldet hatte, wies man sie in ein kleines Wirtshaus nicht weit vom Markt ein. Dort bestellte Hufnagl ihr einen Teller Erdäpfel in Milchsuppe, sich selbst vergönnte er eine Platte mit knusprig gebratenem Schinkenspeck. Derweil schleppte der Wirt zwei Strohsäcke ins Nebenzimmer.

«Wenn’s Wetter hält», der Büttel wischte sich den Bierschaum vom Mund, «bist morgen Abend im Waisenhaus.»

Theres erwiderte nichts, nur die Hand, mit der sie den Löffel hielt, begann zu zittern. Sie vermochte kaum, ihren Teller leer zu essen – allein das Wort «Waisenhaus» hatte ihr die Kehle zugeschnürt.

«Ich bin müde», flüsterte sie schließlich.

«Geh halt schlafen.» Hufnagl gab dem Wirt ein Zeichen, ihm den Bierkrug nachzufüllen. «Und weh dir, du machst Ärger.»

Als sich Theres auf ihrem schmalen Lager ausstreckte, hörte sie den Wirt nebenan fragen: «Was ist das für ein Balg, das Sie da mitschleppen?»

«Ein Vagantenkind. Soll nach Weingarten.»

«Ja, ja.» Der Wirt seufzte. «Die vermehren sich wie die Ratten, diese Landstreicher. Man sollt sie alle einsperren.»

 

Sie hatten Glück: Am nächsten Morgen nahm ein Tuchhändler sie bis in die nächste große Stadt namens Saulgau mit, wo sie ihre Wasserflaschen auffüllten und ihnen die Ortspolizei eine weitere Fahrgelegenheit auf einem Krämerkarren verschaffte. Theres hatte in der vergangenen Nacht kaum geschlafen, so oft hatte sie weinen müssen. Jetzt, am Nachmittag, begann sie der Hunger zu quälen. Bis auf einen Napf Hafergrütze in der Frühe hatte sie noch nichts gegessen, und sie wagte es nicht, den Büttel um ein Stück Wurst oder Brot zu bitten. Außerdem war ihr kalt. Ihre dünne Jacke schützte sie kaum vor dem kühlen Wind, der inzwischen aufgekommen war und über ihnen dunkelgraue Gewitterwolken zusammenschob.

Als sie schließlich bei einem Dorfbrunnen Halt einlegten und Theres vom Karren klettern wollte, gaben ihre Beine unter ihr nach, und sie sank zu Boden.

«Ist das Kind krank?», fragte der Krämer erschrocken. «Ich sag’s Ihnen offen: Wenn die krank ist, nehm ich euch nicht weiter mit.»

«Ja, Heidenei und Kruzifix!» Umständlich stieg der Büttel vom Kutschbock und half Theres wieder auf die Beine. «Jetzet reiß dich aber z’samme!»

«Ich will heim nach Eglingen», flüsterte sie.

«Spinnst völlig? Der alte Stickl tät dir die Tür vor der Nas zuschlagen. Hast net verstanden? Der will dich nimmer.»

«Soll ich Ihnen was sagen?» Der Krämer, ein hagerer Mann mit grauem Bart und Halbglatze, füllte seine Wasserflasche mit Brunnenwasser auf. «Das Kind hat Hunger. Dem sein Magen knurrt ja lauter, als mein Maultier wiehern kann. Geben Sie ihm denn nichts zu essen?»

Hufnagl zuckte die Schultern. «Der Bauer hätt ihr halt was Rechtes mitgeben müssen. Ich hab selber net genug.»

Kopfschüttelnd trat der Krämer an seinen Karren, öffnete eine Kiste und zog einen Kreuzerwecken und ein Stück Schwarzwurst heraus.

«Da, nimm!»

Theres stammelte ein «Vergelt’s Gott!» und mehrfaches Danke.

«Schon recht! Füll dein Wasser auf, damit wir rasch weiterkönnen. Ich will vor dem Regen in Ravensburg ankommen.»

Viel zu schnell hatte Theres ihre Brotzeit hinuntergeschlungen und war doch noch immer nicht satt. Aber Schwindel und Magenknurren waren wenigstens verschwunden, und sie fühlte sich wieder bei Kräften. Einen kurzen Augenblick dachte sie daran, jetzt, wo sie fast am Ziel ihrer Reise war, vom Wagen zu springen und davonzulaufen. Sich irgendwo zu verstecken, bis der Büttel nicht mehr nach ihr suchte. Aber dann verwarf sie den Gedanken wieder. Wohin sollte sie schon gehen? Wie sollte sie zu ihrem Essen kommen, wo übernachten? Ihr fiel ein, dass sie ja Angst hatte, allein in der Dunkelheit. Und außerdem würde es bald regnen, vielleicht gar gewittern.

Sie wandte den Kopf. Von Westen, von der Alb her, wurde das Dunkel immer bedrohlicher, und sie vernahm fernes Donnergrollen. Bei Sonnenschein hätte diese Landschaft um sie herum mit ihren weiten, saftigen Wiesen und den Seen und Weihern, die bald hinter jeder Baumgruppe auftauchten, bestimmt etwas Malerisches gehabt. Nun aber lag das Gras fast flach im böigen Wind, von graugrüner Farbe war es plötzlich, während die Waldstücke immer dunkler wurden und die Seen schwarz glänzten.

Da hörte sie ein Rauschen über sich. So tief, dass sie ihn fast hätte berühren können, zog ein Storch über sie hinweg. Sie wusste sofort: Es war derselbe, den sie am Morgen bei ihrer Abfahrt beobachtet hatte. Derselbe Storch, der droben auf dem Riedlinger Rathausdach die Flügel gespreizt und sich, als der Kaufmann seinen Rössern die Zügel auf den Rücken klatschte, in die Luft geschwungen hatte. Gerade so, als wolle er sich ebenfalls auf die Reise machen, hatte Theres da gedacht und sich trotz ihrer elenden Lage gefreut. Störche brachten nämlich Glück.

Jetzt war sie sich sicher, dass der riesige Vogel sie tatsächlich begleitet und beschützt hatte auf ihrer Reise nach Weingarten, denn als sie ihm nachschaute, hörte sie den Krämer sagen: «Wir sind bald da.»

Sie befanden sich am Rande einer Hochfläche, die hier jäh zu einem breiten Tal hin abfiel, und der Krämer deutete mit ausgetrecktem Arm auf die andere Seite, wo über einer bewaldeten Bergkette die blaugrauen Zacken der Alpen zu erkennen waren. «Heut ist Föhn, da ist weite Sicht. Seht ihr? Da drüben liegt Altdorf mit dem vormaligen Kloster Weingarten. Das war mal weitberühmt, wegen der Kirche und dem Heilig Blut. Jetzt verfällt’s und steht halb leer, bis auf den Teil mit dem Waisenhaus.»

Wie ein Fingerzeig schob sich in diesem Moment ein Strahlenbündel der Nachmittagssonne durch die Wolken und ließ Mauern, Kuppel und die beiden Türme der mächtigen Klosteranlage golden schimmern. Vielleicht ist das ein Zeichen, vielleicht wird alles doch nicht so schlimm, dachte Theres, während der Storch noch eine Runde über ihren Köpfen drehte, als wolle er sich verabschieden, und dann in Richtung Tal hinuntersegelte.

Vor ihrem inneren Auge sah sie das sommersprossige Gesicht ihres Bruders mit dem ewig zerzausten Haar in der Stirn. «Im Sommer komm ich dich besuchen», hörte sie ihn sagen. «Das schwör ich bei Gott und allen Heiligen.»

 

Eine halbe Stunde später hatten sie die gefährlich steile Steige hinter sich gebracht. Am Rande eines kleinen Dorfes zügelte der Krämer sein Maultier.

«Ab hier müsst ihr zu Fuß gehen. Es ist nicht mehr weit bis Altdorf. Nehmt am besten den Feldweg da vorn.»

Hufnagl bedankte sich. In diesem Augenblick verdunkelte sich der Himmel, als werde es gleich Nacht, und es begann zu schütten wie aus Eimern.

«Herrgottsdonnerblitz!», fluchte der Büttel und sah dem Karren nach, der hinter dem Regenvorhang in Richtung Ravensburg verschwand. «Nix als Malör hat man mit euch Landstreichern. Jetzt könnt ich gemütlich daheim im Wirtshaus hocken, und was mach ich stattdessen? Zieh bei diesem Sauwetter mit einem Vagantenbastard durch die halbe Weltg’schicht!»

Er packte Theres grob beim Arm. «Los, komm schon, beweg deine Haxen.»

Sie konnte kaum Schritt halten mit dem großen Mann. «Es tut mir leid», murmelte sie.

«Leid – leid – dummes Gschwätz!» Hufnagl begann sich in Rage zu reden, während ihm das Wasser übers Gesicht lief. «Man hätt dich grad hier im Schussental lassen sollen, damals, als die Landjäger deine Mutter und dich aufgegabelt hatten. Sackerment – wieso bleibst jetzt stehen?»

«Hier?»

In Theres’ Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Zeitlebens hatte sie geglaubt, ihre Mutter habe sie und Hannes in Eglingen einfach alleingelassen. Oder weggegeben wie einen alten löchrigen Schuh.

«Hier?», wiederholte sie.

«Was fragst so dumm? Hast net gewusst, dass du von der Straß kommst? Eing’sperrt hat man die Weiber und euch Blagen weggebracht.»

«Woher – woher wissen Sie das?»

«Weil mein Schwager Büttel in Ravensburg ist, darum. Und meine Schwester hat dich auf einem Eselskarren auf die Alb bringen müssen, die Arme. Die ganze Reise hast gebrüllt wie am Spieß. Die hätt dich am liebsten im nächsten Weiher versenkt!»

«Und … Und meine Mutter?»

«Was weiß ich? Jetzt halt endlich dei Gosch und komm!»

Theres blickte nicht nach links noch nach rechts, als sie die restliche Wegstrecke neben dem Büttel herstapfte und schließlich die Häuser der Ortschaft Altdorf erreichte. Sie konnte nicht fassen, was sie da eben erfahren hatte: Ihre Mutter war also gar nicht das herzlose Weib, dem seine Kinder gleichgültig waren. Bestimmt hatte sie bitterlich geweint, als sie eingesperrt werden sollte. Hatte um ihre Freiheit gefleht, darum, ihr kleines Mädchen behalten zu dürfen.

Ihre nackten Füße tappten über die regennassen Gassen, während der Büttel sich zum Rathaus durchfragte. Dort klopfte er mehrmals ungeduldig gegen das Tor, bis endlich jemand öffnete.

«Hufnagl mein Name, Büttel aus Münsingen. Sind Sie der Bürgermeister?»

«Seh ich so aus? Bin nur der Amtsbote. Der Herr Bürgermeister ist zu Tisch, im Löwen.» Der Atem des Mannes roch nach Branntwein, und der Unwillen über diese Störung war ihm deutlich anzusehen.» Was wollen Sie also?»

«Ich soll die Theres Ludwig ins Vagantenkinderinstitut bringen.»

Der Amtsbote musterte Theres und verzog das Gesicht.

«Ein Landstreicherkind also. Dacht ich mir’s fast. Haben Sie die nötigen Papiere dabei?»

«Selbstverständlich. Hier – ihr Heimatschein. Und hier die Anweisung vom Münsinger Kirchenkonvent an das hiesige Oberamt und ans Waisenhaus. Das Mädle soll künftig dem Oberamt Ravensburg zugesprochen sein.»

«Als ob wir nicht schon genug verwahrloste Kinder hätten», murrte der Amtsbote. «Immer noch mehr werden hier angeschleppt.»

«Sie kriegen das Mädle zurück, nix weiter. Schließlich haben Ihre Leut es vor acht Jahren hier aufgegabelt, drunten bei Niederbiegen.»

«Kommt dieser Entscheid aus Stuttgart?»

Hufnagl nickte. «Liegt schriftlich bei.»

«Gut. Warten Sie hier in der Diele, ich bin gleich zurück.»

Die Kälte des Steinbodens drang Theres durch den ganzen Körper. Kurz darauf kehrte der Mann zurück, in langem Regenumhang und Kapuze.

«Brauchen Sie eine Bleibe zum Übernachten?», fragte er Hufnagl.

«Nein, ich will noch nach Ravensburg, zu meinem Schwager. Wie weit ist’s bis dahin?»

«Eine Wegstunde.» Der Amtsbote nahm eine Laterne vom Wandhaken. «Hier, für Sie. Es wird bald dunkel. Geben Sie sie morgen beim Oberamt ab.»

Der Büttel bedankte sich, und sie traten hinaus in die Abenddämmerung. Es hatte zu regnen aufgehört.

«Nun dann, Theres …» Hufnagl wirkte mit einem Mal verlegen. Unbeholfen klopfte er Theres auf die Schulter. «Es wird schon werden. Halt dich immer nur schön brav, dann wird’s dir net schlecht ergehn. Behüt dich Gott!»

Theres krampfte es das Herz zusammen, als sie dem fremden Mann durch die Gasse folgte. Vor ihnen auf einem Berg, hoch über den Dächern und jetzt in schwefelgelbes Licht getaucht, thronte das alte Kloster Weingarten mit seiner Kirche. Über einen mächtigen steinernen Treppenaufgang gelangte man hinauf.

Sie legte den Kopf in den Nacken: Der Anblick des riesigen Gotteshauses dort oben, das kaum von Menschenhand gemacht sein konnte, erschreckte Theres. Erst recht der Gedanke, dass dort herinnen eine solch unheimliche Kostbarkeit wie das Blut Jesu Christi aufbewahrt wurde.

«Jetzt mach schon!» Der Amtsbote gab ihr einen Stoß. «Ich will endlich Feierabend haben.»

Zögernd stieg sie die Stufen hinauf und fühlte sich winzig und wehrlos wie eine Laus.