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Thilo Koch

Zwischen Grunewald und Brandenburger Tor

 

Saga

WUNDER DAUERN ETWAS LÄNGER

Nach längerer Abwesenheit von zu Hause grüßt man am Tag der Rückkehr die vielen bestimmbaren und unbestimmbaren Dinge, die zusammen das ausmachen, was wir »Heimat« nennen. Unbewußt wartet der Heimkommende auf eine Begegnung, in der ihm blitzlichtartig und wie in einem Brennpunkt deutlich würde, worin das Besondere, Unverwechselbare dieses Stückchens Erde und seiner Menschen liegt, dem er sich zugehörig fühlt – mag es anderswo auch tausendmal schöner sein.

Nun, in dem ersten Berliner Laden, den ich nach dem Urlaub betrat – es war ein Autoersatzteilegeschäft –, hing ein kleines Schild über dem Ladentisch, auf dem stand: »Unmögliches erledigen wir sofort. Wunder dauern etwas länger.«

DAS SCHÖNE LIEGT SO NAH

Es ist ein Wunder: zwei zierliche Stahlkufen unterm Fuß, und schon ist das kein Mensch mehr. Feuerrotes Trikot und Federkleid machen diesen anmutig-kraftvollen, geschmeidigvollkommenen Mädchenkörper zu einem phantastischen Zwischenwesen in dem Eis-Ausdrucks-Tanz »Der Feuervogel«. Die Arme, die Hände, die Finger, sie greifen in die Höhe, ins Freie, Leichtere, ins andere Element. Das ist der Ansatz zum Vogel, wenn diese überirdisch bewegte Gestalt um die eigene Achse kreiselt oder wie ein Strauß pfeilschnell über die weite Fläche schießt.

Mit beiden Beinen fest auf der Erde stehen – das, sagt man, ist unsere, des Menschen Sache. Aber wir haben den Antrieb und das Talent, uns von der Erde, der festgegründeten, zu lösen, uns aufzuschwingen in andere Elemente. Auch körperlich, offenbar. Wenn’s einem Esel zu wohl wird, geht er aufs Glatteis und rutscht darauf aus. Gundi Busch dagegen bewegt sich auf dem kalten Spiegel wie unsereins im Wohnzimmer. Wenn’s ihr zu wohl wird, so fürchtet man – erhebt sie sich vom Boden des Berliner Sportpalasts in die freie Luft und ward nie mehr gesehen.

Ein silbernes Ornament aus feinster Spur graben die Schlittschuhe ins Eis, Linien und Kurven von ausgewogener Harmonie. Wenn längst die Schwünge und Sprünge nur Erinnerung sind, spricht diese geprägte Musik, diese rhythmische Graphik auf der spiegelnden Fläche noch von dem schönsten Versuch eines Menschen, die Schwerkraft in sich und für sich aufzuheben, tanzend, gleitend, lächelnd frei zu werden. Auch wenn er immer wieder durch eine stolze Verbeugung abgebrochen wird, der Versuch – es macht unser Entzücken aus, daß wir ihn eine beseligende Minute lang ernst nehmen dürfen.

Der Grunewaldsee ist zugefroren, und am letzten Sonntag gehörte er den Schlittschuhläufern. Der See ist klein, aber tief; das Eis war dünn, aber es trug. Sogar ein recht umfänglicher Herr glitt arglos über den weißgrauen Spiegel. Mit Fahrrädern waren sie gekommen oder zu Fuß von der Straßenbahnhaltestelle »Hundekehle«; mit roten Backen von der ersten Kälte dieses Winters, dem sie sonst dankbar sind für seine Milde. Das Bild ist nicht bunt, nicht hell, nicht strahlend. Die Ufer des Grunewaldsees waren früher dicht bewaldet. Der Holznot der Blockadezeit aber fielen auch hier viele Bäume zum Opfer. Was noch steht an märkischen Kiefern, ragt etwas unvermittelt nackt in den kühlblauen Winterhimmel. Und doch ist dies Natur, für Leute vom Hohenzollerndamm und aus Schmargendorf.

Ums Jagdschloß Grunewald herum stehen noch die alten Kastanien, freundliche Boten aus dem südlichen Europa; noch entblättert zeigen Stamm und Geäst eine Silhouette von wunderbarer Feingliedrigkeit und harmonischem Umriß. Starkes braungelbes Schilfrohr steht wie ein grobes herbstliches Stoppelfeld an der anderen Seite des Sees, hinter dem neu befestigten Steg, einem der vielen nützlich-angenehmen Ergebnisse der Notstandsarbeiten. Das Schilf ist etwas für Vogelliebhaber. Der Cockerspaniel zieht mit aller Kraft hinein ins Entenparadies; aber er kann nicht stöbern – wieder ist Leinenzwang für Hunde in Berlin. »Tollwut in Ostberlin«, so steht es ganz sachlich – und ohne politische Ironie – in den Zeitungen. Hoffentlich, hört man die Spaziergänger, kommt nicht der Maulkorbzwang dazu. Die Berliner sind Hundenarren, und an die Kette gelegt zu werden oder gar einen Maulkorb tragen zu müssen, das mögen sie durchaus nicht – nicht einmal bei ihren Hunden.

Die Schlittschuhläufer auf dem Eis und die Spaziergänger rund um den kleinen See passen zu der kargen Landschaft. Die Kleidung ist vorwiegend schwarz, braun, grau, keine Garmisch-Eleganz, nur manchmal ein knalliges Grün-Rot-Blau: Schal, Mütze, Handschuhe eines jungen Mädchens, eines Kindes. Und doch liegt über dem Bild diese eigene kühl-sparsame Anmut, die einmal preußisch hieß. Weit ausgreifend fliegt ein junger Mann hinaus auf die Mitte der Eisfläche. Es kümmert ihn nicht, daß die harte Oberfläche des Wassers eine zerbrechliche Basis ist, unter der unbekannte Gefahren schlafen mögen. Es kümmert ihn nicht, daß das Eis schon morgen verschwunden sein kann. Er hat es gelernt, auch die kleinste Chance zu nutzen, das geringe, unsichere Glück des Augenblicks ganz zu genießen – er ist ein Kind dieser Zeit, ein Kind dieser Stadt.

Gestern abend war der »rush«, die große Bewegung einer Großstadt nach Geschäfts- und Fabrikschluß, ein Tanz auf dem Glatteis. Regen auf Schnee, dann Frost, das kann nicht gutgehen. Die Autobusse blieben stecken, die Personenwagen tasteten sich mit Eisblumen an den Fenstern über spiegelnde Kreuzungen. Fußgänger schlitterten, strauchelten, schwankten auf den Gehsteigen wie Betrunkene. Soweit ich selbst auf meinem Heimweg sah, nahmen die Berliner das alles mit Humor. Sie zeigten viel Anpassungsfähigkeit an die neue Straßenlage. »Is doch nischt Neuet für uns«, sagte einer und sprang auf die Straßenbahn, das einzige noch sichere Fahrzeug, weil es auf Schienen läuft. »Berlin is nu schon so lange jlatt und einjefrorn . . .« »Höchste Zeit, daß’t mal wieda taut«, murmelte die Schaffnerin und zog die Leine.

Die landschaftlichen Schönheiten von Rio, Neapel, Hawai werden oft beschrieben, besungen, gepriesen. Hat nicht jeder einmal davon geträumt, unter Palmen zu wandeln, an weißen Küsten zu weilen und südlichen Meeren, majestätische Berge zu erklimmen?

Aber warum eigentlich in die Ferne schweifen, denn das Schöne liegt so nah! Wir übersehen es nur. Gestern lag rosa-goldene Wintersonne auf den beschneiten Ästen der Kiefern. Die Havel, an den Rändern leicht vereist, zeigte ein hartes Schieferblau; der Himmel über allem war von einer lichten Heiterkeit, die es nur hier gibt in unseren mäßigen Zonen, und auch hier nur ein-, zweimal im Jahre. Zwischen den rotbraunen Stämmen der hohen, einzeln ragenden Föhren verdämmerte bald nach Mittag der Horizont im duftigsten, sanftesten Violett. Die hartgefrorenen bambusgelben Schilfhalme mit ihren dunkelgrauen Mähnen ragten starr auf zwischen Schneeland und See. Weißestes Weiß, unberührt, hatte alle dunklen Töne der Erde ausgelöscht; um so leuchtender das Rot im Gefieder des Spechts, der hellgrüne Anstrich des Kahnes und das tiefe Grün der Kiefernadeln, deren würziger Duft in der ganz reinen Winterluft zu riechen ist, die einem die Brust weitet und den Kopf klärt.

An warmen Sommertagen sind Havel und Grunewald ein Ameisenhaufen. Gestern zogen nur ein paar Skiläufer zu den wenigen Hügeln, und Kinder mit Schlitten belebten die Wege. Er ist nicht süß und einladend, der Reiz der winterlichen Randlandschaft von Berlin; er erschließt sich nicht gleich, und man darf nasse Füße und kalte Ohren nicht scheuen. Aber steht man dann dort zwischen Schilf und Wald, Wasser und Winterhimmel im Schnee und blinzelt in die trotz allem wärmende Mittagssonne, sieht den Tauchern und Bleßhühnern zu, muß sich Hände und Nase reiben, und überläßt man sich ganz einem solchen Augenblick – dann gäbe man nicht um Neapel und Rio und alle exotischen Schönheiten der Welt dieses Gefühl eines nahezu vollkommenen Glücks hin, inmitten dieser kargen märkischen Umgebung von Berlin.

Eine rote Sonne stand heute früh zwischen den Bäumen der Vorstadtstraße, ein eisig blaß-blauer Himmel über Berlin; die Autos schlingerten vorsichtig über die spiegelnden Straßen; viele Kinder mit Schlitten zogen trappelnd zum Grunewald und rutschten unterwegs schon jede meterhohe Bodenerhebung mit lautem »Bahn frei!« hinunter. Die Eichhörnchen sehen doppelt so dick aus im aufgeplusterten Winterpelz; zum Frühstück kletterte eines aufs Balkongitter und spähte sogar einen ängstlichen Augenblick lang ins Fenster. Die Straßenarbeiter stehen händereibend um ihre glühenden Koksöfen, mit Ohrenschützern und Thermosflasche bewaffnet. Der Nachbar, dessen Wagen immer draußen steht, läßt heute den Motor minutenlang anlaufen; der Auspuff speit große, kreiselnde Dampfwolken aus, und die Windschutzscheibe muß mit Hauchen und Handauflegen erst enteist werden. Vollkommene Windstille, die entlaubten Bäume frosterstarrt; klirrend zerbrechlich sehen ihre Zweige aus und stehen vor dem Himmel wie zierlichste Filigranarbeit. Es ist die reinste Wintersportluft, klar und trocken. Hartes, gesundes Kontinentalklima. Das neue Jahr zeigt sich in bester Form.

WAR DÄDALUS EIN BERLINER?

»Ein neuer Dädalus«, so stand unter einem Foto, das diese Woche in Berliner Zeitungen zu sehen war. Auf dem Bild balanciert ein seltsam in Leder gekleideter Herr auf seinen Schultern einen Flugapparat. Er stürmt auf federnden Ballen einen Abhang hinunter; adlergleiche Schwingen sind ausgebreitet – aber die Unterschrift belehrt uns, daß auch dieser neueste Dädalus bisher immer wieder scheiterte: seine Versuche, sich aus eigener Kraft, vogelgleich, von der Erde zu erheben, blieben Versuche.

In diesem Berliner Dädalus könnte man, wenn man will, eine Allegorie sehen für die Tragikomik der ganzen Stadt Berlin. Es gibt heute zwei- und dreistöckige Flugmaschinen, die Ozeane überqueren, während die Passagiere an einer Bar sich bequem über Fortschritt und Geschäft unterhalten können: unser Berliner Dädalus dagegen möchte sich autark sehen, unabhängig von den Segnungen einer Zivilisation, die für ihn hinter einem Vorhang versteckt ist.

So begann man während der Blockadezeit im Westberliner Stadtgebiet nach Kohle zu schürfen. Ein Miniaturbergwerk inmitten einer Weltstadt, das hätte wohl nie rentabel werden können. Aber die absurde Lage Berlins gebiert absurde Ideen; die Tragik dieser Situation tritt oft recht komisch in Erscheinung. Die Einwohner einer lange belagerten Stadt entwickeln zweifellos seltsame Eigenschaften.

Es ist für normale Leute von draußen manchmal schwierig, sich mit den Belagerten zu verständigen. Soll man über deren Komplexe sich amüsieren oder ärgern? Der an die enge Erde gefesselte Mensch verfertigt aus Schrauben und Schnallen, Stangen und Hebeln eine zerbrechliche Maschine, mit der er ins Weite, Freie, Offene zu entfliehen hofft. Es gelingt ihm nicht, immer und immer wieder nicht – er bastelt trotzdem weiter. Wir wollen hoffen, daß wir mindestens so lange noch herzhaft lachen können über unseren Dädalus-Komplex, bis wir ihn nicht mehr nötig haben.

DER ROMAN BERLIN

In einer schweizerischen Zeitung las ich einen Artikel über Berlin. Der wohlmeinende Autor schrieb: Berlin – das ist ein Fortsetzungsroman mit zu vielen Fortsetzungen. Er will mit dieser hübschen Formulierung wohl sagen, die merkwürdige Sonderstellung Berlins nach dem Kriege sei ein zu altes, abgedroschenes Thema, werde allmählich langweilig für den Betrachter von draußen.

Wenn der Schweizer Journalist recht hätte, wäre es das beste, man stellte den Fortsetzungsabdruck ein, man schriebe diesen Roman »Berlin« nicht weiter. Das liegt aber nicht in unserer Macht; denn diesen Roman schreibt die große Politik, und die ehemaligen Alliierten sind seine Verleger. Die andere Möglichkeit wäre, man macht die kommenden Fortsetzungen wieder interessanter, wenn denn schon der weitere Abdruck nicht unterlassen werden kann. Aber was heißt hier interessant! Von Sensationen wie der Blockade stand genug in dem Roman »Berlin«. Angenehme Sensationen aber, scheint es, hat dieses seltsame Buch nicht zu bieten, von einem happy-end ganz zu schweigen, wenigstens vorläufig.

Wie wäre es also, wenn man die Vorstellung, Berlin sei ein Roman, ganz aufgäbe? Wenn man es als ein Stück Wirklichkeit unserer Welt nähme? Als einen Modellfall, ein Stück, wo im kleinen die zwangsläufigen Folgen der gegenwärtigen Machtkonstellation zu überblicken sind, nicht aber als eine Sage, ein nicht mehr spannendes Buch, das man aus der Hand legen kann? Wir wünschten uns, daß alles, was wir aus Berlin heraus sagen, verstanden werde als Nachricht von einem Geschehen, das alle betrifft, auch wenn das nicht sofort spürbar wird.

»Brücke der Einheit« steht in großen, schmutzig-weißen Buchstaben auf einem eisernen Querträger der grau-schwarzen Glienicker Brücke, die über die Havel hinweg den südwestlichsten Zipfel von Berlin mit Potsdam verbindet. Verbindet? »Au milieu du pont vous quittez le secteur américain«; »You are leaving the American sector in the middle of the bridge«; dann dasselbe in kyrillischen Buchstaben und klein darunter deutsch: »Auf der Mitte der Brücke verlassen Sie Westberlin«. Neben der rot-weißen Barriere steht der Westberliner Schupo. Aus der hölzernen Wachbaracke lehnt ziviler ein Zollbeamter in grasgrünem Rock. Ein Dutzend Autos parken auf der Königstraße, deren südlicher Bürgersteig schon sowjetische Zone ist. Vespas knattern, und drei blasse Jungen auf neuen Fahrrädern fragen den Zollbeamten, ob sie mal rüberfahren können. »Müßt ihr doch wissen, Jungs, Westberliner können nur mit Passierschein in die Zone.« »Den kricht ja keena!« »Eben!« sagt der Beamte. Die Jungen schieben ihre bewimpelten Räder zur Pfaueninsel-Chaussee, gehen am Jungfernsee entlang, rechts der schönste Park von Berlin, der Schloßpark von Klein-Glienicke, angelegt unter Humboldt, mit dem Schlößchen, an dem Schinkel gebaut hat; links das klarblaue Wasser des Sees, gegenüber Sakrow.