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www.lenos.ch

Julie Otsuka

Als der Kaiser ein Gott war

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Irma Wehrli

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Die Autorin

Julie Otsuka, geboren 1962 in Palo Alto (Kalifornien), lebt in New York City. Sie studierte Kunst an der Yale und Creative Writing an der Columbia University. 2002 erschien ihr Debütroman When the Emperor Was Divine, der u.a. mit dem ALA Alex Award und dem Asian American Literary Award ausgezeichnet und bisher in elf Sprachen übersetzt wurde. 2004 war sie Guggenheim-Stipendiatin. Ihr zweiter Roman, The Buddha in the Attic (deutsch Wovon wir träumten, mareverlag, 2012), wurde mit dem PEN/Faulkner Award ausgezeichnet. www.julieotsuka.com.

Die Übersetzerin

Irma Wehrli, geboren 1954 in Liestal. Studium der Anglistik, Germanistik und Romanistik. Schwerpunkt ihrer Übersetzungstätigkeit sind englische und amerikanische Autoren des 19. Jahrhunderts und der klassischen Moderne (Hardy, Wilde, Kipling, Mansfield, Hawthorne, Whitman, Cather, Wolfe u. a.). Für ihre Übertragung des Romans Of Time and the River von Thomas Wolfe wurde ihr 2011 das Zuger Übersetzer-Stipendium zugesprochen, 2017 wurde ihr die Ehrendoktorwürde der Universität Basel für ihr Gesamtwerk als Kulturvermittlerin verliehen.

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

When the Emperor Was Divine

Copyright © 2002 by Julie Otsuka, Inc.

E-Book-Ausgabe 2019

Copyright © der deutschen Übersetzung

2019 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Lenos Verlag, Basel

Coverbild: Valentino Sani / Arcangel Images

eISBN 978 3 85787 976 0

Dieses Buch ist meinen Eltern
und dem Andenken an Toyoko H. Nozaka gewidmet

Dank

Mein Dank geht an Nicole Aragi, die so geduldig gewartet hat, und an Jordan Pavlin für ihre redaktionelle Kompetenz und Sorgfalt. Ich danke auch Maureen Howard, die mich von Anfang an ermutigt und unterstützt hat.

Inhalt

Evakuierungsbefehl Nr. 19

Im Zug

Als der Kaiser ein Gott war

Im Hinterhof eines Fremden

Geständnis

Quellenangaben

Anmerkungen der Übersetzerin

Evakuierungsbefehl Nr. 19

Die Bekanntmachung war über Nacht aufgetaucht. An Anschlagbrettern und Bäumen und an den Rückenlehnen der Bushaltestellen. Sie hing bei Woolworth im Schaufenster. Sie hing beim Eingang zur YMCA. Sie war an die Tür des städtischen Gerichts geheftet und auf Augenhöhe an jeden Telefonmast an der University Avenue genagelt. Die Frau wollte ein Buch in die Bibliothek zurückbringen, als sie die Bekanntmachung in einem Fenster des Postamts sah. Es war ein sonniger Frühlingstag des Jahres 1942 in Berkeley, und weil sie eine neue Brille hatte, konnte sie seit Wochen zum ersten Mal alles deutlich erkennen. Sie musste nicht mehr blinzeln, blinzelte jedoch aus Gewohnheit trotzdem. Sie las die Bekanntmachung von oben bis unten durch, zog immer noch blinzelnd einen Kugelschreiber hervor und las die Bekanntmachung von oben bis unten noch einmal. Die Schrift war klein und dunkel, manches davon winzig. Sie kritzelte einige Worte auf die Rückseite einer Bankquittung, machte auf dem Absatz kehrt und ging nach Hause, um zu packen.

Als neun Tage später die Mahnung der Bibliothek eintraf, war sie noch immer nicht mit Packen fertig. Die Kinder waren gerade zur Schule gegangen, und im ganzen Haus standen Kisten und Koffer herum. Sie schob den Briefumschlag in den nächstbesten Koffer und trat durch die Tür.

Draussen schien warm die Sonne, und Palmwedel schlugen an der Seite träge gegen das Haus. Sie streifte sich ihre weissen Seidenhandschuhe über und ging auf der Ashby Avenue nach Osten. Sie überquerte die California Street und kaufte in der Rumford-Apotheke einige Stangen Lux-Seife und eine grosse Dose Gesichtscreme. Sie ging am Secondhandshop und am mit Brettern vernagelten Lebensmittelladen vorbei, ohne unterwegs einer Bekannten zu begegnen. Am Zeitungskiosk an der Ecke Grove Street kaufte sie eine Berkeley Gazette. Rasch überflog sie die Schlagzeilen: Die Burma Road war abgeschnitten, und eine der Dionne-Fünflinge – Yvonne – litt immer noch an den Folgen einer Operation am Ohr. Ab Dienstag würde der Zucker rationiert. Sie faltete die Zeitung und gab acht, dass die Druckerschwärze nicht auf ihre Handschuhe abfärbte.

Vor Lundys Eisenwarenhandlung blieb sie stehen und begutachtete die Schaufeln für den Victory-Garten* in der Auslage. Es waren robuste Schaufeln mit solidem Metallgriff, und sie überlegte sich flüchtig, eine zu kaufen – der Preis stimmte, und sie liess sich ungern ein Schnäppchen entgehen. Aber dann fiel ihr ein, dass sie zu Hause im Schuppen schon eine Schaufel hatte – ja sogar zwei. Eine dritte brauchte sie nicht. Sie strich ihr Kleid glatt und betrat das Geschäft.

»Schöne Brille«, sagte Joe Lundy, kaum war sie hereinspaziert.

»Finden Sie?«, fragte sie. »Ich bin sie noch nicht gewohnt.« Sie nahm einen Hammer und packte ihn fest am Griff. »Haben Sie keinen grösseren?«, fragte sie. Joe Lundy antwortete, der Hammer in ihrer Hand sei der grösste, den er habe. Sie legte den Hammer auf das Gestell zurück.

»Was macht Ihr Dach?«, fragte er sie.

»Ich glaube, die Schindeln faulen allmählich. Es leckt wieder.«

»Es ist ein nasses Jahr gewesen.«

Die Frau nickte. »Aber wir hatten auch ein paar schöne Tage.« Sie ging an den Jalousien und Verdunkelungsrollos vorbei in den hinteren Teil des Ladens. Dort nahm sie zwei Rollen Klebeband und einen Schnurknäuel und brachte sie zur Kasse. »Jedes Mal wenn es regnet, muss ich den Eimer unterstellen«, sagte sie. Sie legte zwei Vierteldollar auf die Theke.

»Ein Eimer ist nie falsch«, sagte Joe Lundy. Er schob die Vierteldollar wieder über die Theke zu ihr zurück, jedoch ohne sie anzusehen. »Sie können später bezahlen«, sagte er und begann die Kasse an der Seite mit einem Lappen blank zu reiben. Da war ein dunkler Fleck, der einfach nicht weggehen wollte.

»Ich kann jetzt bezahlen«, sagte die Frau.

»Ist schon gut«, sagte Joe Lundy. Er griff in seine Hemdtasche und gab ihr zwei in Goldfolie eingewickelte Karamellen. »Für die Kinder«, sagte er. Sie steckte die Karamellen in ihre Handtasche, liess aber das Geld liegen. Sie dankte ihm für die Bonbons und verliess das Geschäft.

»Hübsches rotes Kleid«, rief er ihr nach.

Sie drehte sich um und warf ihm über den Brillenrand einen kurzen Blick zu. »Danke«, sagte sie. »Danke, Joe.« Dann fiel die Tür hinter ihr zu, sie stand allein auf dem Gehsteig und erkannte, dass sie in all den Jahren, da sie nun schon bei Joe Lundy einkaufte, ihn noch nie mit seinem Vornamen angesprochen hatte. Joe. Es klang seltsam und fast falsch in ihren Ohren. Und doch hatte sie es gesagt: laut. Sie wünschte, sie hätte es früher getan.

Sie fuhr sich mit ihrem Taschentuch über die Stirn. Die Sonne schien hell, und sie mochte nicht in der Öffentlichkeit schwitzen. Sie nahm ihre Brille ab und wechselte auf die schattige Strassenseite. Bei der Ecke Shattuck Avenue nahm sie die Strassenbahn ins Stadtzentrum. An der Kittredge Street stieg sie aus, ging ins Warenhaus J. F. Hink und fragte den Verkäufer dort nach Seesäcken, aber sie hatten keine, die seien ausverkauft. Den letzten habe er erst vor einer halben Stunde verkauft. Er verwies sie an J. C. Penney, aber auch dort waren alle Seesäcke verkauft. In der ganzen Stadt waren Seesäcke ausverkauft.

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Als die Frau nach Hause kam, zog sie ihr rotes Kleid aus und streifte sich ein verwaschenes blaues über – ihr Hauskleid. Sie steckte ihr Haar zu einem Knoten auf und schlüpfte in ein Paar alte, bequeme Schuhe. Sie musste jetzt fertigpacken. Sie rollte den Orientteppich im Wohnzimmer auf. Sie hängte die Spiegel ab. Sie nahm die Vorhänge und Rollos ab. Sie trug den winzigen Bonsaibaum in den Hof hinaus und stellte ihn unter der Dachrinne ins Gras, wo er weder zu viel Schatten noch zu viel Sonne abbekommen würde, sondern beides genau im richtigen Mass. Sie brachte das Kurbelgrammophon und die Uhr mit Westminsterschlag in den Keller hinunter.

Im Zimmer des Jungen droben nahm sie die grosse Weltkriegskarte ab und legte sie sorgsam in ihre Falten. Sie wickelte seine Briefmarkensammlung ein und die bemalte Holzfigur eines Indianers mit langem Federschmuck, die er am Jahrmarkt von Sacramento gewonnen hatte. Sie zog die Joe Palooka-Comics unter seinem Bett hervor. Sie leerte die Schubladen. Einige seiner Kleider – die noch benötigten – liess sie liegen, damit er sie später einpacken konnte. Seinen Baseballhandschuh legte sie auf sein Kopfkissen. Dann verstaute sie seine übrigen Sachen in Kisten und trug sie auf die Glasveranda.

Die Tür zum Mädchenzimmer war zu, und über dem Türgriff hing ein Zettel, der am Vortag noch nicht da gewesen war. BITTE NICHT STÖREN stand darauf. Die Frau machte die Tür nicht auf. Sie ging die Treppe hinunter und nahm die Bilder von den Wänden. Es waren bloss drei: das Porträt der Prinzessin Elizabeth, das im Esszimmer hing, das Jesusbild in der Diele und ein gerahmter Druck von Millets Ährenleserinnen in der Küche. Sie legte Jesus und die kleine Prinzessin zusammen in eine Kiste, Gesicht nach unten. Sie achtete darauf, dass Jesus zuoberst war. Dann nahm sie die Ährenleserinnen aus dem Rahmen und warf einen letzten Blick auf das Bild. Sie fragte sich, warum sie es so lange in der Küche hängen gelassen hatte. Es störte sie, wie diese Bäuerinnen ewig über das endlose Weizenfeld gebeugt waren. »Schaut auf«, wollte sie zu ihnen sagen. »Schaut auf, schaut doch auf!« Die Ährenleserinnen mussten weg, beschloss sie. Sie stellte das Bild zum Müll draussen.

Im Wohnzimmer räumte sie alle Bücher aus den Regalen, bis auf Audubons Birds of America. In der Küche räumte sie die Schränke aus. Ein paar Sachen, die sie am Abend noch brauchen würde, stellte sie beiseite. Alles Übrige – das Porzellan, die Kristallgläser, die Essstäbchen aus Elfenbein, die ihr die Mutter vor fünfzehn Jahren aus Kagoshima zur Hochzeit geschickt hatte – verstaute sie in Kisten. Sie verschloss sie mit dem Klebeband, das sie in Lundys Eisenwarenhandlung gekauft hatte, und trug sie eine um die andere die Treppe hoch auf die Veranda. Als sie fertig war, verschloss sie die Tür mit zwei Vorhängeschlössern, setzte sich mit über die Knie hochgezogenem Kleid auf den Treppenabsatz und zündete sich eine Zigarette an. Morgen würden sie und die Kinder weggehen. Sie wusste nicht, wohin oder für wie lange, und auch nicht, wer unterdessen in ihrem Haus wohnen würde. Sie wusste nur, dass sie morgen gehen mussten.

Es gab Dinge, die sie mitnehmen konnten: Bett- und Tischwäsche, Gabeln, Löffel, Teller, Schüsseln, Tassen, Kleider. So hatte sie es auf der Rückseite der Bankquittung notiert. Haustiere waren nicht erlaubt. Das hatte in der Bekanntmachung gestanden.

Es war Ende April, in der vierten Woche des fünften Kriegsmonats, und die Frau, die nicht immer alle Regeln befolgte, befolgte die Regeln. Sie gab die Katze den Greers nebenan. Sie fing das Huhn ein, das sich im letzten Herbst in den Hof verirrt hatte, und brach ihm unter einem Besenstiel das Genick. Sie rupfte es und legte den Rumpf in einen Topf kaltes Wasser im Spülbecken.

Schon frühnachmittags war ihr Taschentuch durchnässt. Sie atmete schwer, und es juckte sie in der Nase vom Staub. Der Rücken tat ihr weh. Sie schlüpfte aus den Schuhen und massierte sich die Fussballen, dann ging sie in die Küche und drehte das Radio an. Enrico Caruso sang wieder La donna è mobile. Seine Stimme war voll und schmelzend. Sie öffnete den Kühlschrank und nahm einen Teller Reisbällchen heraus, die mit Salzpflaumen gefüllt waren. Sie ass sie langsam und hörte dabei dem Tenor zu. Die Pflaumen waren dunkel und sauer. Genau so schmeckten sie ihr.

Als die Arie vorüber war, stellte sie das Radio ab und legte zwei Reisbällchen in eine blaue Schüssel. Sie schlug ein Ei über der Schüssel auf und gab etwas Lachs dazu, den sie am Vorabend gekocht hatte. Sie trug die Schüssel zur hinteren Veranda und stellte sie auf die Stufen. Ihr Rücken schmerzte, aber sie richtete sich auf und klatschte dreimal in die Hände.

Ein weisses Hündchen kam aus den Bäumen herbeigehumpelt.

»Friss schön, Weisser Hund«, sagte sie. Weisser Hund war alt und schwach, aber er frass manierlich, und sein Kopf hüpfte über der Schüssel auf und ab. Die Frau setzte sich neben ihn und schaute zu. Als die Schüssel leer war, blickte er zu ihr auf. Eins seiner Augen war trübe. Sie kraulte ihn am Bauch, und sein Schwanz schlug gegen die Holzstufen.

»Braver Hund«, sagte sie.

Sie stand auf, ging über den Hof, und Weisser Hund folgte ihr. Die Narzissen im Garten waren weiss vom Mehltau, und die Iris begann zu welken. Überall wucherte Unkraut. Die Frau hatte den Rasen seit Monaten nicht mehr gemäht. Das tat sonst ihr Mann. Ihren Mann hatte sie seit seiner Verhaftung im letzten Dezember nicht wiedergesehen. Erst war er mit dem Zug nach Fort Missoula, Montana, geschickt und dann nach Fort Sam Houston, Texas, verlegt worden. Alle paar Tage durfte er ihr einen Brief schreiben. Für gewöhnlich erzählte er vom Wetter. Das Wetter in Fort Sam Houston war schön. Jeder Briefumschlag war auf der Rückseite gestempelt: »Zensiert, Kriegsministerium« oder »Postsendung, feindlicher Ausländer in Gewahrsam«.

Die Frau setzte sich auf einen Stein unter dem Dattelpflaumenbaum. Weisser Hund lag zu ihren Füssen und drückte die Augen zu. »Weisser Hund«, sagte sie, »schau mich an.« Weisser Hund hob den Kopf. Die Frau war seine Herrin, und er tat alles, was sie von ihm wollte. Sie streifte sich ihre weissen Seidenhandschuhe über und nahm einen Schnurknäuel hervor. »Schau mich einfach die ganze Zeit an«, sagte sie. Sie band Weisser Hund an den Baum. »Du bist ein braver Hund gewesen«, sagte sie. »Ein braver weisser Hund.«

Irgendwo in der Ferne klingelte ein Telefon. Weisser Hund bellte. »Still!«, sagte sie. Weisser Hund verstummte. »Jetzt Platz«, sagte sie. Weisser Hund legte sich hin und blickte mit seinem guten Auge zu ihr auf. »Stell dich tot«, sagte sie. Weisser Hund drehte den Kopf zur Seite und schloss die Augen. Seine Pfoten erschlafften. Die Frau nahm die grosse Schaufel, die am Baumstamm lehnte. Sie hob sie mit beiden Händen hoch in die Luft und liess das Schaufelblatt auf seinen Kopf niedersausen. Weisser Hund zuckte zweimal am ganzen Leib und stiess mit den Hinterbeinen in die Luft, als ob er weglaufen wollte. Dann regte er sich nicht mehr. Blut sickerte aus seinem Mundwinkel. Sie band ihn vom Baum los und seufzte tief. Die Schaufel war die richtige Wahl gewesen. Besser als ein Hammer, dachte sie.

Sie fing an, unter dem Baum ein Loch zu graben. Der Boden war hart an der Oberfläche, aber darunter lehmig und weich. Er gab mühelos nach. Wieder und wieder stiess sie die Schaufel in die Erde, bis das Loch tief genug war. Sie hob Weisser Hund auf und liess ihn hineinfallen. Sein Körper war nicht schwer. Er schlug mit einem dumpfen Poltern auf. Sie zog sich die Handschuhe aus und musterte sie. Sie waren nicht mehr weiss. Sie warf sie dazu, nahm wieder die Schaufel und füllte das Loch auf. Die Sonne brannte heiss, und ein wenig Schatten gab es nur unter den Bäumen. Die Frau stand unter den Bäumen. Sie war einundvierzig und müde. Ihr Kleid war am Rücken schweissnass. Sie strich sich das Haar aus den Augen und lehnte sich gegen den Baum. Alles sah aus wie sonst, bloss dass die Erde dort, wo das Loch gewesen war, ein wenig dunkler war. Dunkler und feuchter. Sie zupfte ein Blatt von einem der unteren Äste und ging ins Haus zurück.

Als die Kinder von der Schule nach Hause kamen, erinnerte sie sie daran, dass sie am nächsten Morgen früh aufbrechen würden. Morgen würden sie verreisen. Und sie könnten bloss mitnehmen, was sie tragen konnten.

»Das weiss ich schon«, sagte das Mädchen. Sie trug ein weisses Baumwollkleid mit winzigen blauen Ankern, und ihr Haar war nach hinten gekämmt und in zwei straffe schwarze Zöpfe geflochten. Sie warf ihre Bücher auf das Sofa und erzählte der Frau, ihr Lehrer, Mr. Rutherford, habe eine ganze Stunde lang von Primzahlen und Koniferen gesprochen.

»Weisst du, was eine Konifere ist?«, fragte das Mädchen.

Die Frau musste ihr Unwissen eingestehen. »Sag es mir«, antwortete sie, aber das Mädchen schüttelte den Kopf.

»Ich erzähl es dir später«, sagte das Mädchen. Sie war zehn Jahre alt und wusste, was ihr gefiel: Jungs und schwarze Lakritze und Dorothy Lamour. Ihr Lieblingslied im Radio war Don’t Fence Me In. Sie liebte ihren Ara-Papagei heiss. Sie ging zum Bücherregal und nahm die Birds of America herunter. Sie balancierte das Buch auf dem Kopf, hielt den Rücken gerade und ging langsam die Treppe hoch in ihr Zimmer.

Einige Sekunden später rumste es laut, und das Buch kam die Treppe heruntergepoltert. Der Junge blickte zu seiner Mutter auf. Er war sieben, und ein kleiner schwarzer Filzhut sass ihm schräg auf dem Kopf. »Sie muss noch gerader stehen«, sagte er leise. Er ging zum Fuss der Treppe und starrte auf das Buch. Es war aufgeschlagen gelandet, und dort war das Bild eines kleinen braunen Vogels zu sehen: ein Sumpfzaunkönig. »Du musst noch gerader stehen«, rief er.

»Das ist es nicht«, kam die Antwort des Mädchens, »es ist mein Kopf.«

»Was ist mit deinem Kopf?«, rief der Junge.

»Zu rund. Er ist oben zu rund.«

Er klappte das Buch zu und wandte sich an seine Mutter. »Wo ist Weisser Hund?«, fragte er.

Er trat auf die Veranda hinaus und klatschte dreimal in die Hände.

»Weisser Hund!«, schrie er und klatschte wieder. »Weisser Hund!« Er rief noch ein paarmal, dann ging er wieder ins Haus und stellte sich in der Küche neben die Frau. Sie schnitt Äpfel in Scheiben. Ihre Finger waren lang und weiss und wussten, wie man ein Messer hält. »Dieser Hund hört jeden Tag schlechter«, sagte er.

Er setzte sich und machte das Radio an und aus, an und aus, während sie die Apfelspalten auf einem Teller verteilte. Das Radiosinfonieorchester spielte den letzten Satz von Tschaikowskys Ouvertüre 1812. Becken krachten aufeinander, Kanonen donnerten. Sie stellte den Teller vor den Jungen hin. »Iss«, sagte sie. Er griff nach einer Apfelspalte, als das Publikum gerade heftig zu applaudieren begann. »Bravo«, riefen sie, »bravo, bravo!« Der Junge drehte am Skalenknopf, um vielleicht Speaking of Sports zu finden, aber er fand bloss die Nachrichten und eine Sammy-Kaye-Serenade. Er schaltete das Radio aus und nahm noch eine Apfelspalte vom Teller.

»Es ist so heiss hier drin«, sagte er.

»So nimm deinen Hut ab«, sagte die Frau, aber der Junge wollte nicht. Der Hut war ein Geschenk seines Vaters. Er war zu gross für ihn, aber der Junge trug ihn jeden Tag. Sie goss ihm ein Glas kaltes Gerstenwasser ein, und er stürzte es in einem Zug hinunter.

Das Mädchen kam in die Küche und ging zum Papageienkäfig neben dem Ofen. Sie beugte sich darüber und hielt ihr Gesicht an die Stäbe. »Sag etwas zu mir«, bat sie.

Der Vogel plusterte seine Flügel auf und wippte von einer Seite zur anderen auf seiner Stange. »Baaaak«, sagte er.

»Das ist nicht, was ich hören wollte«, sagte das Mädchen.

»Nimm deinen Hut ab«, sagte der Vogel.

Das Mädchen setzte sich, und die Frau gab ihr ein Glas kaltes Gerstenwasser und einen langen Silberlöffel. Das Mädchen leckte den Löffel ab und fixierte sein Spiegelbild. Ihr Kopf war verkehrt. Sie tauchte den Löffel in die Zuckerdose.

»Stimmt etwas nicht mit meinem Gesicht?«, fragte sie.

»Warum?«, sagte die Frau.

»Die Leute haben mich angestarrt.«

»Komm her«, sagte die Frau.

Das Mädchen stand auf und ging zu seiner Mutter hinüber.

»Lass mich dich anschauen.«

»Du hast die Spiegel abgehängt«, sagte das Mädchen.

»Ich musste es tun. Ich musste sie wegräumen.«

»Sag mir, wie ich aussehe.«

Die Frau liess ihre Hände über das Gesicht des Mädchens spazieren. »Du siehst gut aus«, sagte sie. »Du hast eine schöne Nase.«

»Was noch?«, fragte das Mädchen.

»Du hast schöne Zähne.«

»Zähne zählen nicht.«

»Zähne sind sehr wichtig.«

Die Frau begann die Schultern des Mädchens zu massieren. Sie forderte es auf, sich zurückzulehnen und die Augen zu schliessen, dann presste sie ihre Finger tief in den Nacken des Mädchens, bis sie spürte, dass es sich langsam entspannte. »Wenn etwas wäre mit meinem Gesicht«, fragte das Mädchen, »würdest du es mir dann sagen?«

»Dreh dich um«, sagte die Frau.

Das Mädchen drehte sich um.

»Und jetzt schau mich an.«

Das Mädchen schaute sie an.