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Frank Rudkoffsky, 1980 in Nordenham geboren, lebt in Stuttgart. Er ist Autor, Journalist, Blogger und seit 2011 Mitherausgeber der Literaturzeitschrift ]trash[pool. Sein Debütroman »Dezemberfieber« erschien 2015 im Verlag duotincta, im selben Jahr war er auch Teil des Herausgeberteams der E-Book-Anthologie »Willkommen! Blogger schreiben für Flüchtlinge« bei Mikrotext. Auf seinem Blog www.rudkoffsky.com schreibt er über Gegenwartsliteratur.

Verlag Voland & Quist GmbH, Berlin, Dresden und Leipzig, 2019

Korrektorat: Kristina Wengorz

www.voland-quist.de

eISBN 978-3-86391-247-5

Für meine Eltern

Inhalt

November 2013

Januar 2014

März 2014

Mai 2014

Juli 2014

7/14

8/14

11/14

12/14

Januar 2015

Februar 2015

2/15

März 2015

Juli 2015

8/15

August 2015

Dank

November 2013

Eine Katze! Ernsthaft? »Jetzt, wo ich den Moritz habe, verstehe ich dich endlich.« Jule war entweder naiv oder beschränkt. Eine Katze! Eine Katze ließ man nicht auf seinen wunden und entzündeten Brustwarzen herumbeißen, bis sie bluteten. Einer Katze massierte man nicht nachts um drei den Bauch und schob ihr Kümmelzäpfchen in den Po, damit sie endlich furzen konnte. Um eine Katze zu kriegen, musste man sich nicht erst buchstäblich den Arsch aufreißen. Eine Katze kaufte man, stellte ihr Essen und ein Klo vor die Nase und ließ sie dann machen, was Katzen eben so machen. Man rang ihr dann und wann etwas Nähe ab, und ansonsten lebte man nebeneinanderher, gab für sie weder seinen Job, seine Freiheit noch seine Träume auf. Eine Katze, die, wenn sie nicht gerade schlief, mindestens sechs Stunden am Tag schrie und dabei klang wie ein kaputter Mixer, würde man einschläfern, auf einer Kreuzung aussetzen, an die Wand schmeißen. Aber: Jetzt, wo ich den Moritz habe, verstehe ich dich endlich. Ha ha, Max und Moritz – das fällt mir jetzt erst auf! Jule verstand einen Scheiß. Ständig schickte sie mir Videos ihres neuen Mitbewohners, cat content mit vermeintlich lustigen Hinweisen, dass keine Tiere bei den Dreharbeiten zu Schaden gekommen seien. Ganz anders bei kid content: Aus der Nummer kommt keiner heile raus. Hinter den Kulissen der Traumfabrik ist jedes süße Babyglucksen mit Blut, Tränen und Erschöpfung erkauft. Aber das sagte ich nicht. Ich sagte, dass ich mich für sie freue. Und dass wir ganz bald wieder telefonieren müssten. Ich meinte das ehrlich. Jule war meine beste Freundin seit der Schulzeit. Sie fehlte mir, seit ich von zu Hause weggezogen war, und noch viel mehr fehlte sie mir, seit wir auf unterschiedlichen Planeten wohnten. Mit ihr über das Muttersein zu sprechen, war wie ein Sextalk mit einer Jungfrau. Umgekehrt war es jedoch genauso. Nach nicht einmal drei Monaten auf dem Planeten Max war mir das Leben auf meinem Heimatplaneten fremd geworden, unvorstellbar. Ich war neidisch auf Jule und die anderen Erdlinge. Keine meiner Freundinnen hatte Kinder, ihnen stand die ganze Welt noch offen. Und ich? Saß fest und war zutiefst gelangweilt. Jeder Tag war gleich. Alles, was ich tat, diente bloß der Selbsterhaltung, der Mission. Abends kam manchmal ein Astronaut vorbei und wollte Sex. Doch Sex, das war etwas für Erdlinge, ich war trocken wie der Mars.

Plötzlich hatte es Jule eilig, unser Gespräch zu beenden: »Du, der Moritz kratzt an der Tür, bestimmt hat er Hunger – der war ja auch den halben Tag in der Nachbarschaft unterwegs.«

Die Stille nach dem Auflegen war viel zu satt. Draußen eine Sirene, der Kirchturm, die Müllabfuhr. Drinnen das Sirren des Deckenfluters, weil es im Herbst auch tagsüber deprimierend dunkel in der Wohnung blieb, das Rascheln von Hosenbeinen über nervösen Füßen und Atmen durch verschnupfte Nasenlöcher. Zu laut für mich, zu leise für Max. In der Babywanne des Kinderwagens, die ich nach dem Spaziergang unters Fenster gestellt hatte, wurde es unruhig. Eine Hand zuckte unkoordiniert nach oben, die andere zur Seite. Max rieb mit dem Kopf an der Matratze, bis sich seine Mütze über die Augen schob, und verzog das Gesicht. Er sah aus wie ein Boxer vor dem Knock-out. Ich nahm ihm die Mütze ab und stimmte ein Lied an, aber es war zu spät. Max war wach, und wenn Max wach war, dann schrie er. Es war ein Wunder, dass sich unter seinem Babyspeck noch kein Sixpack ausgebildet hatte, ausdauernder und lauter wurde nicht einmal in Wacken geschrien. Auf einem Metalfestival hätte Max vermutlich durchgeschlafen, doch Stille machte ihn nervös. Wenn ich wollte, dass er tagsüber schlief, musste ich entweder etwas laufen lassen – das Radio, den Fernseher, Musik – oder permanent sprechen. Dabei sehnte ich mich, wenn Max schlief, bloß noch nach Ruhe. Und mit wem hätte ich auch reden sollen? Meine Freunde arbeiteten. Meine Mutter nervte dagegen mit unzeitgemäßen Ratschlägen, für die sie in Babyforen als Hexe gebrandmarkt worden wäre, oder beneidete mich säuselnd ums große Glück.

Max schrie noch immer, doch ich regte mich nicht. Sondern sah auf die Uhr. Der große Zeiger machte einen Schritt nach vorne, dann noch einen. Der kleine ließ sich Zeit. Er hatte den ganzen Tag noch vor sich, kein Grund zur Eile. Der Kirchturm ermahnte mich schließlich. Gott sah alles – im Gegensatz zu mir konnte er sich aber auch ganz hervorragend taub stellen. Ich nahm Max auf den Arm und versuchte, ihn zu beruhigen. Bei Daimler hatte ich Delegieren gelernt. Auf dem Planeten Max war ich jedoch meist auf mich allein gestellt, auch jetzt: Der Astronaut war gerade joggen und würde nachher wieder seine verschwitzten Kompressionsstrümpfe über die Heizung hängen. Als wäre ich mit dem Geruch des Windelmülls nicht schon bedient genug gewesen. Ich sprach leise zu Max und ertrug meine eigene Stimme nicht. Manchmal hasste ich, was das Muttersein aus meiner Stimme gemacht hatte: das, was sie sagte, und wie sie es sagte. Max verwandelte mich in eine Piñata, je kaputter mich sein Geschrei machte, desto mehr Süßigkeiten ließ ich auf ihn hinabregnen. Auf Deutsch war es am schlimmsten, die ungelenke, sperrige Sprache vertrug sich einfach nicht mit dem beruhigenden Singsang, dem Max so gerne lauschte. Auf Französisch klang es natürlicher, wenn auch an der Grenze zur Parodie. Immerhin war es eine gute Auffrischung: Seit ich bei meinen Eltern ausgezogen war, sprach ich nur noch Deutsch mit ihnen. Natürlich ärgerte das Papa. Ich würde meine Herkunft verleugnen, hatte er mir einmal vorgeworfen. Ich komme aus Wilhelmshaven, entgegnete ich bloß. Willst du, dass ich dich mit Moin begrüße?

»Au!«

Max riss die Augen auf und löste den Mund von meiner Brust, begann sofort wieder zu schreien. Ich hatte ihn erschreckt. Das Stillen schmerzte, vor allem das Anlegen. Meine linke Brustwarze war schon seit Wochen entzündet. Die rechte Brust verschmähte er meist, weshalb ich sie fast täglich abpumpen musste. Ich ließ es drauf ankommen und drehte ihn um. Vergebens. Max brüllte die Brust an, als wäre sie eine Zumutung, eine offene Milchtüte nach einem Gewitter. Also links. Ich drückte ihm die Brust in den Mund, sanft, aber unnachgiebig. Endlich begann er zu trinken, ich biss die Zähne zusammen und kniff mir in den Oberschenkel. Max trank gierig, verzweifelt fast, wurde dann aber endlich ruhiger. Seine Fäuste lösten sich. Kaum ruhten die winzigen Finger des Boxers warm auf meiner Haut, trat der Schmerz in den Hintergrund. Er sah mich aus verquollenen Augen an, ein klassischer Dackelblick von unten, und ich liebte ihn dafür. Liebte, wie sich seine Gesichtszüge in Geborgenheit entspannten. Liebte, wie er blinzelte und gleich wieder meinen Blick suchte. Ich musste ihn nicht stillen. Ich wollte es. Das waren die Momente, in denen wir ganz beieinander waren. Ein Waffenstillstand. Ein Luftholen, das wir beide brauchten. »Wir schaffen das«, sagte ich leise. »Vertrau mir.«

Die Haustür fiel ins Schloss, der Astronaut war zurück. In letzter Zeit dauerten seine Expeditionen immer länger. Er nahm genügend Sauerstoff für zehn Kilometer und mein Firmenticket mit, um sich treiben zu lassen und sich in anderen Stadtteilen zu verlaufen. Irgendeine U-Bahn fuhr immer zurück. Während ich die Stellung hielt und Furchen ins Parkett schlurfte, wurde sein Radius ständig größer. Er lief zu schnell für einen Anfänger. Als hätte er es eilig. Ich konnte es ihm nicht verübeln: Im All gab es keinen Schall, dort war man frei und eben allein, bis einem die Puste ausging.

»Ich hatte gehofft, dass er länger schläft und du etwas Pause hast«, sagte er beim Hereinkommen, das Gesicht noch immer rot vor Anstrengung, und lächelte sein Schlechtes-Gewissen-Lächeln. Jan setzte sich neben mich und legte eine Hand auf Max. »Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Heute passte einfach alles – ich hab’s bis zum Max-Eyth-See geschafft, fast dreizehn Kilometer!«

»Glückwunsch!«, sagte ich ein wenig zu enthusiastisch und schob deshalb einen kleinen Dämpfer nach: »Morgen stirbst du beim Treppenlaufen sicher wieder tausend Tode.«

»Ich dachte, du trägst mich?«

»Die Manduca ist schon voll, sorry.«

Jan pikste Max behutsam in die Seite. »Kleiner Mann, ich war zuerst da!«

Er stand auf und dehnte sein Bein am Sofa. »Ich würde dann jetzt duschen gehen. Brauchst du irgendwas? Wasser, Tee, hast du Hunger?«

»Danke, ich brauche nichts«, sagte ich und log.

Und ob ich etwas brauchte. Einen Gin Tonic und eine Zigarette zum Beispiel, einen Halbmarathon und eine Auszeit. Einen guten Fick oder wenigstens die Lust auf einen. Schlaf. Ein Around-the-world-Ticket, das ich auf halbem Wege verfallen lassen würde. Ein bisschen von dem großen Glück, zu dem mir alle andauernd gratulierten. Ein zufriedenes Baby. Das Gefühl, nicht zu versagen.

An Jan lag es kaum. Er war, wie es gerne heißt, stets bemüht. Letzte Woche ließ er mich mit Tobias und Frauke auf ein Konzert gehen und blieb mit Max zum ersten Mal abends alleine. Obwohl ich ständig auf mein Handy schaute, schrieb er mir nicht eine Nachricht. Keine Fragen, kein Hilferuf, keine Wasserstandsmeldung. Schlimmer als meine Sorge, dass zu Hause womöglich gerade etwas so gewaltig schiefging, dass Jan nicht einmal zum Handy greifen konnte, waren bloß meine Brüste. Ich musste dringend Milch abpumpen und konnte nicht. Die Klos waren eine solche Zumutung, dass sie wahrscheinlich selbst Fixer abgeschreckt hätten; die Milchpumpe, die ich zu Tobias’ Amüsement und meiner Demütigung beim Türsteher hatte vorzeigen müssen, war nutzlos. Der Druck wurde schnell unerträglich. Ich tanzte wie in einer Sprengstoffweste, panisch, dass meine überspannten Brüste schon bei der kleinsten Berührung explodierten. Während des zweiten Abpumpversuchs wurde mir beim Anblick schlecht. Meine Brüste waren deformiert und fahl, durchsetzt mit hässlich hervortretenden Adern. Die Angst vor einem Milchstau und die Sorge um Max trieben mich bereits nach der Hälfte des Konzerts nach Hause. Ich war auf alles vorbereitet, Ground Zero im Kinderzimmer, ein Schlachtfeld aus Kotze und Kacke, eine Katastrophe biblischen Ausmaßes. Doch als ich atemlos ins Wohnzimmer kam, schliefen beide auf dem Sofa und schnarchten friedlich im Einklang. Anstatt sie zu wecken, stellte ich mich unter die Dusche und ließ alles raus, was sich an Milch und Tränen aufgestaut hatte. So viel zum Thema Auszeit.

Max war eingeschlafen. Er nuckelte noch, trank aber nicht mehr. Vorsichtig ersetzte ich die Brustwarze durch einen Schnuller, ein hochriskanter Vorgang, ein bisschen wie Jenga. Sein Mund schnappte zu, schmatzte erst schnell und dann ganz langsam. Ein kurzes Zucken, als Jan im Badezimmer fluchte, binnen Sekunden aber wieder entspannte Gesichtszüge. Der Countdown war zurückgesetzt, und ich traute mich wieder zu atmen. Ich nahm mein Handy in die Hand, keine neuen Benachrichtigungen. Früher war das anders gewesen. Da war manches so dringend, dass ich selbst nachts und an Wochenenden sofort reagieren musste. Wie oft hatte Jan mir vorgeworfen, ein Workaholic zu sein? Noch vor Monaten liefen alle Fäden bei mir zusammen, und nun warfen meine Kollegen das Knäuel einfach über mich hinweg. Vor Max’ Geburt hatte ich mich für unverzichtbar gehalten, aber anscheinend kamen sie im Controlling genauso gut ohne mich aus. Ich war nun überflüssig wie ein Blinddarm. Dafür sei ich, tröstete mich Jan, immerhin das Herz der Familie. Keine große Hilfe. Ich sehnte mich nach Updates, wollte eingebunden bleiben. Es war doch in ihrem eigenen Interesse, dass ich nach meiner Rückkehr gleich vom Fleck weg durchstarten konnte, oder nicht? Ich überflog die Nachrichten, wischte mich durch meinen Facebook-Feed, likte Jans Training bei Endomondo. Aber mich langweilte das alles. Die Welt drehte sich einfach ohne mich weiter, während mein eigenes Leben bloß noch konzentrisch um Max kreiste. Manchmal war das schön. Viel zu oft gab es jedoch Tage wie diesen, an denen ich mich abgeschnitten von der Außenwelt fühlte und gelähmt vor Klaustrophobie. Nur, dass ich nicht allein war. In den Tiefen des Alls gab es viele andere, die einsam die Stellung in neu gegründeten Kolonien hielten. Sie tauschten sich in Dutzenden Mütterforen aus, vernetzten sich. Mit einer Konföderation hatte das allerdings nur wenig gemein, in den Foren ging es eher zu wie bei Star Wars. Manchmal bildeten sich Fraktionen, meistens gingen sich aber alle gegenseitig an den Hals. Es gab die panischen Mütter, die ständig Angst hatten, etwas falsch zu machen und deshalb ihr Kind verhätschelten. Militante Mütternazis, die alles besser wussten. Tiefenentspannte Latte-Macchiato-Mamas, denen alles egal war, solange sie sich mit ihren Freundinnen zum Brunchen treffen konnten. Ökorebellinnen, die vorm Impfen warnten und stattdessen auf Zuckerkügelchen und Heilwolle schworen. Glücksfaschistinnen, die Dauerseligkeit zum Diktat erhoben und mich vermutlich am liebsten in ein Umerziehungslager geschickt hätten. Man stritt sich ums Impfen, Stillen oder Ferbern, warf einander Durchschlaflügen und Rabenelterntum vor, verschliss eine entnervte Moderatorin nach der anderen. Kurzum: Es war durchaus amüsant. Anfangs hatte ich noch mitdiskutiert und mich bemüht, den rauen Ton in so manchem Thread zu mäßigen. Schnell sah ich aber ein, dass das bloß Zeit, Kraft und Nerven kostete. Trotzdem hatte ich vor zwei Tagen erstmals selbst eine Frage gestellt – eine Verzweiflungstat, weil Max auch nach fast drei Monaten noch ein Schreibaby war. Erst jetzt traute ich mich, die Antworten zu lesen. Babylove empfahl mir Globuli, Schneewittchen86 einen Gang zum Osteopathen. So weit, so gewöhnlich. Jennifer schob Max’ Probleme auf meine Ernährung, während Mummyforlife, die auf ihrem Profilbild tatsächlich etwas von einer lebenden Mumie hatte, ein Geburtstrauma vermutete. Zuletzt hatte mir Agnes geantwortet, Forumsurgestein mit 3.258 Beiträgen und einem Ruf wie Kim Jong-un: Schätzchen, du bist nicht die erste Frau, die ein Kind großziehen muss. Wäre es wirklich so schwer, wäre die Menschheit längst ausgestorben. Fass dir mal lieber an die eigene Nase: Ist es nicht vielleicht dein Stress, der auf das Baby abfärbt?

Was für eine dämliche Kuh! Ich unterdrückte ein Lachen und schüttelte den Kopf. Das war doch lächerlich. Agnes war lächerlich. Und doch riss ihr Kommentar direkt unter Max’ warmem Körper ein klaffendes schwarzes Loch mit der Sogkraft von tausend sterbenden Sonnen in meinen Bauch. Ich hielt Max fest und meine Tränen zurück. Aber er schien Agnes unbedingt recht geben zu wollen: Mein Puls war auf hundertachtzig, und plötzlich krümmte Max seinen Oberkörper und erbrach auf meiner Bluse einen Schwall aus wässriger, lauwarmer Milch mit Blutschlieren von meinen Brustwarzen. Er brüllte sofort los, und ich hätte es ihm am liebsten gleichgetan. Stattdessen rief ich nach Jan. Der war jedoch auch nach einer Viertelstunde noch in der Dekontaminationskammer und förderte seine Durchblutung mit Wechselduschen. Ich drückte Max eng an mich, damit die Kotze nicht an mir hinunterlief, und eilte mit ihm zum Wickeltisch. Ein wütendes Kind umzuziehen war Routine, genau wie kleinere oder größere Unfälle mit Körperflüssigkeiten unterschiedlichster Couleur und Konsistenz. Diesmal war ich jedoch hektisch und fahrig, hatte Schwierigkeiten mit den einfachsten Handgriffen. Als ich vergaß, die Knöpfe am Halsausschnitt des Bodys zu öffnen und seinen Kopf nicht durch das Loch bekam, verlor Max endgültig die Fassung. Ich herrschte ihn an stillzuhalten und schämte mich sofort. Nach dem Boxenstopp warf ich meine nasse Bluse auf den Boden und trug ihn barbusig durchs Zimmer, auf den Lippen eines dieser Chansons, die mein Vater so liebte und ich deshalb hasste. Offenbar hatte Max nicht nur die Halbglatze mit seinem Opa gemein.

Endlich kam auch Jan aus dem Bad, genau wie ich mit nacktem Oberkörper. Er hatte abgenommen, seitdem er lief, zusammen brachten wir allerdings trotzdem noch mehr auf die Waage als früher. Bei einem schlüpfrigen Kommentar hätte ich ihm meine vollgekotzte Bluse vermutlich ins Gesicht geschleudert. Stattdessen fragte er mich doch tatsächlich, wo das Lansinoh sei, die Salbe für meine entzündeten Brustwarzen.

»Kaum zu glauben«, stöhnte er, »aber meine Nippel sind seit dem Laufen total wund – die haben sogar geblutet! Das muss am neuen Funktionsshirt liegen, es hat die ganze Zeit gerieben.«

Ich sagte es ihm.

»Willkommen im Club, was? Endlich verstehe ich dich. Wie hältst du das nur aus, Sophia?«

»Tja«, sagte ich. Jeder weitere Kommentar erübrigte sich. »Kannst du mir Max gleich bitte ein bisschen abnehmen?«

»Musst du aufs Klo?«

»Ich dachte da eher an eine Pause.«

Jan seufzte. »Reichen zehn Minuten? Du weißt doch, dass Martin und ich heute unbedingt diesen Artikel fertig kriegen müssen.«

Ich hatte es tatsächlich vergessen. Jan und Martin, das dynamische Volontärsduo. Seit Monaten spielten sie sich als Dream-Team auf, obwohl beide um dieselbe Redakteursstelle bei der Stuttgarter Zeitung kämpften. Max und ich standen in Konkurrenz zu einer Freundschaft mit festem Ablaufdatum. »Dann fang lieber gleich an, so bist du schneller fertig. Ich gehe vielleicht noch mal mit Max spazieren, das Viertel unsicher machen.«

»Tut mir echt leid«, sagte Jan, »es ist Sonntag, und ich habe kaum Zeit für euch. Aber ich beeile mich und mache es heute Abend wieder gut, versprochen!«

Jan gab mir einen Kuss, streichelte Max über den Kopf und ging aus dem Zimmer. Selbst durch die geschlossene Tür konnte ich ihn stöhnen hören, als er sich die Salbe auftrug und seine Klamotten anzog, um zu Martin zu fahren. Ich dagegen blieb zurück, allein mit Max’ Geschrei und dem Geräusch einsetzenden Regens.

Abends endlich die Ablösung. Eine Auszeit nur für mich – egal, was passiert, hatte Jan gesagt. Viel mit mir anzufangen wusste ich nicht, obwohl es mindestens tausend Dinge gab, zu denen ich tagsüber nicht kam. Ich versuchte zu lesen, aber meine Augen wurden schon nach zwölf Seiten schwer. Ohne zu wissen, worum es darin überhaupt ging, legte ich das Buch zur Seite. Max schien zu schlafen, zumindest hörte ich keinen Mucks. Auch ich sehnte mich nach Schlaf, fand im Bett aber einfach keine Ruhe. Ich wälzte mich hin und her. Schüttelte das Kissen aus. Versuchte es mit Atemübungen, bis mir wieder die Nase lief. Als ich nach zwei Stunden endlich wegdriftete, setzte nebenan das Geschrei ein. Egal, was passiert. Ich blieb liegen, versuchte es weiter. Zehn Minuten. Zwanzig. Max weinte noch immer, und ich gab es auf. Nahm das Handy vom Nachttisch und bot Jan meine Hilfe an. Er antwortete nicht. Im Forum war inzwischen ein Streit um meine Frage entfacht. Manche nahmen mich in Schutz, andere schlossen sich der Meinung von Agnes an. Ich hielt mich raus und las stattdessen lieber die neuesten Themen. Essensrituale mit Trotzkind. Hilfe – Schlafsack-Dilemma! Sab Simplex oder doch lieber Bauchmassage? Meine Hebamme ist zu grob! Grüner Stuhl normal?!

Bei einem Thema blieb ich schließlich hängen. Kugelbauch19 , ein Forumsnewbie mit nur drei Beiträgen, wandte sich an uns mit einem Schlafproblem: Ich weiß wirklich nicht mehr weiter! Nachts ist mein Süßer immer hellwach, und am Tag ratzt er fast 6 Stunden. Ich hab mal gelesen, der Schlaf ist bei uns Menschen genetisch veranlagt. Ist das so?? Gibt es auch bei Babys schon Lerchen und Eulen??!

Ich tippte eine Antwort. Löschte sie wieder. Hörte Max beim Schreien zu. Und tippte sie erneut. Wenn das auf deinem Profilbild dein »Süßer« ist, dann ist die Antwort leicht: ganz klar Eule. Wart ihr wegen des Kopfumfangs schon beim Arzt?

Kugelbauch19 war noch online. Sie antwortete sofort. WILLST DU DAMIT SAGEN, MEIN KIND SIEHT AUS WIE EINE EULE??!

Ich musste lachen, zum ersten Mal seit Wochen. Und fühlte mich gleich viel freier. Sei froh, dass es nachts dunkel ist! Wie putzt du ihm eigentlich die Halsfalte? Q-Tipp?

Ich steckte das Handy ein und ging ins Wohnzimmer. Jan trug Max an der Schulter und tigerte sichtlich gestresst auf und ab. »Was machst du hier? Ich sagte doch, du hast heute Abend frei!«

Er meinte es gut, und ich wusste das zu schätzen. Aber ich hatte das Gefühl, dass es meine Aufgabe war. Ich war es schließlich gewesen, die das Baby unbedingt hatte bekommen wollen. »Ist schon okay, ich habe mich ausgeruht. Sieh zu, dass du Schlaf bekommst – du musst morgen arbeiten.«

Als Jan zu Bett gegangen war, setzte ich mich mit Max aufs Sofa und stillte ihn. Diesmal nahm er sogar dankbar meine rechte Brust an und trank zufrieden, bis er einschlief. Ich schaute wieder aufs Handy, keine Reaktion bislang. Natürlich war ich gemein gewesen. Ein schlechtes Gewissen hatte ich aber nicht. Im Gegenteil. Endlich wusste ich, was ich mit dem nächsten Tag anfangen wollte: Agnes rausekeln. Und da waren noch so einige andere, die mich schon seit Wochen nervten. Ich hatte Lust, Troll zu spielen und den Laden ein bisschen aufzumischen. Der Gedanke gefiel mir. Er gefiel mir sogar richtig gut. Und so fing es an.

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Über Nacht war der Stuttgarter Westen entlang der U2 offenbar um etliche Attraktionen reicher geworden. An allen Scheiben Fettflecken platt gedrückter Nasen, auf den Fensterplätzen Menschen mit gereckten Hälsen, die gebannt auf Highlights wie das leer stehende Olgahospital, die gegenüberliegende Tankstelle oder eine an Schauwert kaum zu übertreffende Lidl-Filiale starrten. Die Fahrgäste am Gang blickten stur auf ihr Handy, verfolgten Breaking News über das Wetter oder den neuesten Topscore bei Candy Crush. Andere studierten dagegen ihre Schuhe, das Polstermuster, den Notknopf. Sie alle gaben ihr Bestes, um das Offensichtliche zu ignorieren: die sprichwörtliche Elefantenkuh im Raum. Die Mutter mit dem schreienden Baby, die es wagte, ihnen auf der Fahrt zum Einkaufen, zur Arbeit, zum Kaffeeklatsch den letzten Nerv zu rauben.

Alle schauten weg. Niemand sah, wie ich unter dem dicken Mantel und der Zwangsjacke, mit der ich den strampelnden Max um meinen Bauch geschnürt hatte, in der Heizungsluft schwitzte. Niemand sah mich stehend auf und ab wippen, um ihn zu beruhigen, sah mich den wütend herumfuchtelnden Elefantenrüssel, seinen befreiten Arm, zurück in die Trage stecken und dafür einen blutigen Kratzer am Hals kassieren. Wie sehr mich das Muttersein überforderte, wollte keiner mit ansehen. Wozu auch? Alle hörten, alle wussten es.

»Der arme Kerl. Was hat er denn?«

Die alte Dame war eben erst zugestiegen und freiwillig neben uns stehen geblieben, anstatt gleich die Flucht ans andere Ende des Waggons zu ergreifen. Ich erwiderte ihr Lächeln und zuckte mit den Achseln, schob dann den Träger der Manduca zur Seite, damit sie einen Blick auf Max werfen konnte. Es kostete mich Überwindung, mein unglückliches Kind zu präsentieren, und ich schämte mich dafür. Babys weinen, na und? Ich hätte stolz sein müssen. Wie eine ganz normale Mutter. »Er mag eben keine Montage«, sagte ich laut genug, dass mich auch die Fahrgäste in den angrenzenden Reihen verstanden.

Die Dame legte den Kopf schief und strich Max mit den Fingern im Lederhandschuh unbeholfen über die Backe. Eine aufdringliche, zumindest aber nette Geste. Max drehte sich weg und brüllte nur noch lauter.

»Bestimmt hat er Hunger.«

Ehe ich antworten konnte, dass ich ihn erst vor einer halben Stunde gestillt hatte, säuselte sie zu Max: »Du Armer, schau nur, wie rot dein Kopf ist. Kein Wunder, mir wäre das auch zu warm dadrin!«

Mein Lächeln wurde sofort zu einem Kraftakt, die hochgezogenen Mundwinkel wie mit Gewichten beschwert. Ich holte tief Luft und musterte die besserwisserische Alte genauer. Die offenbar frisch frisierten, weißen Haare waren noch lang für ihr Alter, Boss-Mantel und Breuninger-Tasche sprachen für Stuttgarter Geldadel, bestimmt traf sie sich gleich mit aufgebrezelten Freundinnen in der Markthalle, um sich bei einem Viertele Trollinger über die karrieregeilen Mütter von heute zu echauffieren. Mit mir als Anekdote. Dabei hatte sie nicht die geringste Ahnung, so plump, wie sie Max gestreichelt hatte. Eine wie sie hatte keine Kinder großgezogen, sondern bestenfalls ein paar Pudelgenerationen zerschlissen.

Zu gerne hätte ich ihr das an den Kopf geworfen, das und vieles mehr. Doch als die U-Bahn am Berliner Platz hielt, spürte ich im eisigen Luftzug aus der geöffneten Tür den Schweiß auf meiner Stirn – und sagte leise: »Vielleicht haben Sie recht.« Dann stieg ich aus, eine Haltestelle zu früh. In die Stadt hatte ich mit Max gewollt, den ersten sonnigen Nachmittag seit Wochen genießen und endlich auch die Elternzeit. Ein wenig über die Königstraße und den Schlossplatz schlendern, im Buchladen stöbern, vielleicht auch ins Museum oder einen Kaffee trinken gehen. Stattdessen lief ich zu Fuß nach Hause und fühlte mich ohnmächtig und erniedrigt. Vor gerade mal fünf Monaten hatte ich mich als angehende Führungskraft bei Daimler in den Mutterschutz verabschiedet. Jetzt war ich wieder in der ersten Klasse und stand zur Strafe in der Ecke, bloßgestellt, weil ich zwar trotz guter Noten nicht als Streberin abgestempelt werden wollte, mich aber dann doch immer dafür schämte, mit meinen Streichen übers Ziel hinausgeschossen zu sein. Ich saß wieder als Vierzehnjährige am Esstisch, an dem mich mein Vater zum Aufessen zwang und mir dann Gabel für Gabel dabei zusah, wie ich unter Würgen die ungewollten Kalorien und das verhasste Fleisch hinunterschluckte. Fühlte mich zurückversetzt in den Hörsaal, wo mich Professoren und männliche Kommilitonen abkanzelten und auflaufen ließen, nur weil ich Brüste hatte. Angesichts einer derart konsequenten Regression war es nur folgerichtig, dass ich mit Max nun offensichtlich unter Hausarrest stand.

Oder von Moderatoren gesperrt wurde. Ich las die automatisierte Mail vom Mütterforum noch im Gehen. Aufgrund wiederholt gemeldeter Verstöße gegen die Netiquette sei mein Account für sieben Tage stillgelegt: Vielleicht ja eine gute Gelegenheit, um in der Auszeit ein bisschen über dein Verhalten in unserer Community nachzudenken! Nach gerade mal siebzehn streitlustigen Stunden musste ich mich als Trollin bereits geschlagen geben. Fuck you, Agnes.

Ein Kissen, das einem jemand Stärkeres mit aller Kraft aufs Gesicht presst. Eine Sauna mit von außen verriegelter Tür. Eine Meeresströmung, gegen die man nicht ankommt. Aus solchen Albträumen erwacht man wieder. Der Albtraum eines Schreibabys ist dagegen erst vorbei, wenn es eingeschlafen ist. Und das kann dauern. Seit einer Stunde fixierte ich die Digitaluhr neben dem Bett und erlebte jede verstrichene Minute als Niederlage, die die Uhr mit scharfen neongrünen Kanten in die Dunkelheit schnitt. Anfangs war ich noch wippend im Raum auf und ab gelaufen, hatte gesummt und gesungen, es mit beruhigenden Geräuschen und sämtlichen Tragepositionen bis hin zum Fliegergriff mit gefährlicher Kamikaze-Verlockung probiert. Ich hatte Max so oft gestillt, dass ihm die Milch wieder hochgekommen war, trotzdem konnte er nicht genug bekommen. Ich wollte ihm nichts mehr geben, aber er roch, dass sein Geschrei die Milch weiter aus meinen Brüsten triefen ließ. Verfluchter Reflex, ein Wunder fast, dass es nicht schon lief, wenn nachts im Hinterhof die Katzen schrien.

Es war aussichtslos, für beide von uns. Max klebte an meinem Shirt, sein Gesicht verschmiert von Milch, Rotze, Speichel und Schweiß, und schnappte verzweifelt nach Luft, während ich so ruhig wie möglich zu atmen versuchte und sein Geschrei bloß noch regungslos über mich ergehen ließ. Seit 21:28 Uhr war ich vor lauter Babytränen zu einer Salzsäule erstarrt. Seit 21:44 Uhr zitterten meine Arme. Seit 21:52 Uhr war mein linkes Bein eingeschlafen. Seit 21:54 Uhr brannte mir der Schweiß in den Augen. Seit 22:01 Uhr raste mein Herz, keine zwei Minuten später atmete ich bereits so schnell und unregelmäßig, dass ich zu hyperventilieren drohte. Um 22:04 Uhr brüllte ich Max schließlich an: »Merde! Was willst du noch von mir?«

Die Tür ging auf. Jan. Ich hatte ihm verboten, mich abzulösen, schließlich musste er noch zwei Artikel redigieren und konnte, da Max das Fläschchen verweigerte, ohnehin nichts ausrichten. Aber ich sah in seinem Blick, dass er nicht gekommen war, um mich vor Max zu retten, sondern umgekehrt. »Du brauchst eine Pause, Sophia«, sagte er ruhig, aber so entschlossen, dass eine Diskussion zwecklos gewesen wäre. Ich ließ ihn mir Max abnehmen und ging wortlos aus dem Zimmer. Vielleicht ja eine gute Gelegenheit, um in der Auszeit ein bisschen über dein Verhalten in unserer Community nachzudenken!

Auf dem Sofa bemühte ich mich, im Internet Ablenkung zu finden, klickte, während Max nebenan weiterschrie, aber bloß mechanisch meine Favoriten durch, ohne auch nur eine Seite wirklich anzusehen. Obwohl ich es besser wusste, versuchte ich mich vergeblich im Mütterforum einzuloggen. Noch immer dieselbe Sperrnachricht. Also legte ich mein Handy weg und starrte im dunklen Fenster auf die halbtransparente Spiegelung von mir im Wohnzimmer. Alles war in Auflösung begriffen. Die Fotos an der Wand – Jan und ich gemeinsam in Andalusien, auf einem Festival, bei einer Party: nur noch als Schemen erkennbar. Mein Oberkörper wurde vom Gestänge des Baugerüsts am gegenüberliegenden Haus durchbohrt, die Schultern an Querstreben fixiert, darüber mein aufgespießter Kopf. Jan hatte gerade erst einen Artikel über die Bauarbeiten geschrieben: eine aufgezwungene Aufwertung, die sich die aus dem Haus gedrängten Mieter nicht leisten konnten. Inzwischen waren es drüben nur noch Fassadenarbeiten, ich aber fühlte mich geradezu entkernt.

Im Kinderzimmer wurde es still, kurz darauf kam Jan heraus und konnte nur mit Mühe den Stolz über seinen Triumph verbergen. Max war vor Erschöpfung eingeschlafen. Jan ging sofort wieder zur Norm über, er schaltete das große Wohnzimmerlicht aus und ließ die Spiegelung beinahe verschwinden, setzte sich dann neben mich auf die Couch und arbeitete einfach weiter. Das war typisch für ihn. Jan war allein deshalb ein unerschütterlicher Optimist, weil er imstande war, alles Negative einfach auszublenden. Ich dagegen starrte weiter aus dem Fenster und suchte draußen nach dem dunkelsten Punkt.

»Wie findest du das Bild?«

Jan drehte den Bildschirm seines MacBooks in meine Richtung. And now for something completely different: Wenn er mich in schlechten Momenten auf andere Gedanken bringen wollte, probierte er es gerne mit einem thematischen Hakenschlag. Er zeigte mir das Foto einer Frau in Rückansicht, sie war weder dick noch dünn, vielleicht Mitte fünfzig, und trug über ihrer roten Windjacke einen grauen Schal. Eine Durchschnittsfrau. Im unteren Drittel des Bilds prangte ein dilettantisch platziertes Banner gegen Stuttgart 21.

»Tindern wir jetzt offen voreinander?«, fragte ich und versuchte zu lächeln. »Wer ist das überhaupt?«

alte Frau von hinten