Mykorrziha

 

 

Kurzgeschichte

 

von

Martina Kald

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© 2019 Martina Kald
Verlag: Littera Magia, Martina

A-1160 Wien

Korrektorat: Daniela Schubert

Cover-Illustration: Archv/Shutterstock.com

Covergestaltung: Martina Mozelt
 

 

1. 07.07.2012 23:00

 

»Hast du von den Spritzen gehört? Die, die mit Aids infiziert sein sollen! Die versteckt jemand in Kinositzen und wenn du dich dann draufsetzt, stichst du dich. Und dann hast du auch Aids!« Während sie erzählte, versuchte meine Cousine ein Pokerface aufrecht zu erhalten, scheiterte dabei kläglich. Das Zittern in ihrer Stimme verriet, dass sie sich mittlerweile ganz schön gruselte und auch, dass sie diesen Schwachsinn sogar selbst glaubte.

»Als ob. Und in Schokolade ist Pferdeblut drinnen, oder was? Mit so alten Großstadtmythen kannst du nicht einmal Großmutter erschrecken«, antwortete ich gelangweilt und gähnte demonstrativ.

Da nun eine neue Runde unseres Spiels begann, pustete ich die vorletzte, noch verbleibende Kerze aus und überlegte, mit welcher Geschichte ich nun meinen Triumph besiegeln wollte.

* * *

Da unsere Mütter Zwillinge waren, besuchten wir jedes Jahr meine Tante übers Wochenende. Natürlich im Beisein unserer gesamten Verwandtschaft.

Samstag früh fuhren wir los, zweieinhalb Stunden lang, gefühlt durch halb Österreich. Wie jedes Jahr kamen alle engeren Verwandten und da wir eine große Familie hatten, waren das nicht gerade wenige Personen. Ich schätze die Meute auf dreißig oder fünfzig Menschen, zählen wollte ich sie nicht.

Da so viele Leute nicht in die Küche, geschweige in das Einfamilienhaus passten, in dem Hanna mit ihrer Familie lebte, wurde schon immer beim Gastwirt im Dorf gefeiert. Natürlich hatte alles seinen geregelten Ablauf. Großtanten und Omas verteilten Küsschen und kniffen in Wangen mit einer Kraft, die man den alten Damen gar nicht zugetraut hätte. Onkel und Opas mussten ihre viel zu festen Händedrücke unter Beweis stellen, so dass einem die Finger noch eine ganze Weile weh taten. All das, bevor die Vorspeise serviert wurde. Nach drei Gängen, bestehend aus bodenständiger, österreichischer Küche und mehrfachen, lieb gemeinten »Kind, hast du keinen Hunger mehr? Iss doch noch etwas! Du bist doch so dünn!« und leicht spöttischen »Dich kann man ja mit einer Kerze röntgenisieren!« endete das große Gelage am späten Nachmittag.

Genau die richtige Zeit für mich und meine Cousine, um zu Fuß den Rückweg anzutreten. Was nun folgte, war für uns das Highlight des Sommers. Immerhin sahen wir uns nur zweimal im Jahr und es gab so viele Dinge, die wir uns seit dem letzten Treffen noch erzählen wollten. Auch wenn uns durch WhatsApp, Facebook und Co. die Themen relativ schnell ausgingen, war es ein schönes Gefühl, sie zu sehen und mich mit ihr live und in Farbe unterhalten zu können. Social Media konnte echten, menschlichen Kontakt doch nicht ersetzen.

Während wir es uns also mit Chips und Schokolade vor dem Fernseher gemütlich machten, zog unsere Verwandtschaft weiter in die Kneipe, um dort die nächsten Stunden zu versaufen.

Mein Bruder, der uns früher immer begleitet hatte, fühlte sich mit seinen 16 Jahren mittlerweile alt genug, um sich wie ein gestandener Mann in Bier zu tränken. Nicht, dass es einen großen Unterschied gemacht hätte. Während wir auf der Couch saßen und einen Pferdefilm nach dem anderen sahen, las er normalerweise Comics oder spielte auf seinem Gameboy. Ich konnte ihm nicht verübeln, dass er sich damals zurückgezogen hat. Warum auch? Als Junge konnte man sich spannendere Dinge vorstellen, als mit zwei kichernden Mädchen auf der Couch zu sitzen und sich einen Pferdefilm nach dem anderen anzusehen.

* * *

Auch wenn sich manche Dinge im Laufe der Jahre geändert hatten, blieb vieles gleich. Dazu zählte unsere Abendplanung. Seit Jahren schon erzählten wir uns Gruselgeschichten, bis wir einschliefen, und hatten uns im Laufe der Jahre ganz besondere Regeln ausgedacht und diese kontinuierlich verfeinert.

Dabei versuchten wir, ihr Kinderzimmer etwas gruseliger zu gestalten. So düster und schaurig, wie es eben in einem rosa Zimmer ging, in den man von allen Seiten her von niedlichen Tierbabys und Boyband-Mitgliedern angestarrt wurde, für die meine Cousine schwärmte.

Heute Nacht hatten wir das Licht ausgemacht und saßen erneut in einem Kreis von roten Kerzen – diesmal solchen in Gläsern. Letztes Jahr hatte Hanna Ärger bekommen, weil sie lose Kerzen genommen hatte und das heiße Wachs auf den neuen Teppich getropft war. Leider trug der Duft nach roten Beeren nicht zur Spannung bei, ich konnte ihr natürlich nicht verübeln, dass sie die billigsten Kerzen genommen hatte. Genauso wie ich, ging sie noch zur Schule und hatte nur wenig Taschengeld zur Verfügung. Wir hatten wieder die Regel eingeführt, dass nach jeder Runde eine Kerze ausgeblasen wurde. So wurde es immer dunkler im Raum, während wir uns immer gruseligere Geschichten erzählten.

»Du bist dran«, erinnerte mich Hanna, während ich alle meine Möglichkeiten durchging. Geschichten durften nur ein einziges Mal erzählt werden. Wenn einem keine mehr einfiel, hatte man ebenfalls verloren. Ich hatte nun sechsmal in Folge gewonnen. Ob es daran lag, dass ich kreativer war, mein Cousinchen ein Feigling oder sie mich gewinnen lassen wollte, wusste ich nicht. Vielleicht nahm sie es nicht so ernst wie ich, denn ich durchforstete Wochen im Voraus verschiedene Foren, YouTube-Videos über Verschwörungstheorien und verschlang eine Creepypasta nach der anderen. Und alles nur, um sie zu erschrecken. Übertreiben durfte ich es nicht, denn dann würde sie wieder Albträume bekommen.