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1     Zusammen arbeiten: im Team und mit Eltern

Diese 4. Auflage beschreibt unsere beinahe zwanzigjährige Erfahrung als Dialog zwischen den Fachdisziplinen der Psychiatrie, Psychologie und Heilpädagogik und dem immer stärker werdenden Fokus auf die gemeinsame Zusammenarbeit mit den Eltern, und zwar mit dem Ziel der frühen präventiven Förderung von Kleinkindern im Kontext psychisch verletzlicher Eltern. Dabei haben sich sowohl unser Arbeitsstil, die verwendeten Begriffe als auch die Fragen, die an uns als Team herangetragen wurden, in den letzten Jahren deutlich verändert.

In der Kommunikation mit Eltern ersetzte der Begriff der „psychischen Verletzlichkeit“ dabei mehr und mehr jenen der „Krankheit“. Die neu verwendeten Begrifflichkeiten „Belastbarkeit“ und „Verletzlichkeit“ verwiesen dabei auf überschaubare, definierte Zeiträume (die eigene Belastbarkeit kann in einzelnen Lebensphasen unterschiedlich ausgeprägt sein), Möglichkeiten des Schutzes und verringerter Stigmatisierung.

Weitere Tendenzen, die unsere Arbeit maßgeblich beeinflussten, waren die beginnende Internationalisierung des Themas (siehe unsere Trainingsmaterialien im Rahmen des EU-Projekts www.strong-kids.eu). Der Austausch in Europa über die Bedürfnisse „vergessener Kinder“ brachte dabei eine Fülle von neuen Ideen und Ansatzpunkten in unsere Arbeit: angefangen bei Notfallkoffern und Notfallbriefen, wie dies analog zu Patientenverfügungen in der Arbeit von Katja Beeck in Berlin forciert wird (www.netz-und-boden.de), bis hin zur systematischen Erhebung der Bedürfnisse von Kindern im Kontext psychischer Verletzlichkeit im Rahmen gesetzlicher Vorgaben, wie dies z. B. in Finnland im Programm „Let‘s talk about Children“ zu beobachten ist.

Ein zweiter großer Impuls lag in der verstärkten Sensibilisierung verschiedenster Netzwerkpartner: Nicht nur, dass im deutschen Sprachraum neue Projekte entstanden (Elterncafés, Peergruppen für Kinder suchterkrankter Eltern u.v.m.), die sich auch verstärkt zu vernetzen beginnen. Die erhöhte Sensibilität spiegelt sich auch in unzähligen Fort- und Weiterbildungsaktivitäten wider, maßgeblich seitens der Jugendämter, Frühförderstellen, Kindergärten, Gesundheitsbehörden, aber auch z. B. in Fernseh- und Radiobeiträgen.

In unseren gemeinsamen Seminaren stand dabei häufig die Frage des gegenseitigen Respekts im Vordergrund: sowohl psychisch verletzlichen Eltern gegenüber als auch im Team selbst. Gerade die gemeinsame Arbeit mit unserer Kollegin Tytti Solantaus aus Finnland verdeutlichte uns die Wichtigkeit, das hervorzuheben, was in Familien „funktionierte“. Der Frage vorhandener Ressourcen in Familien wird somit besondere Aufmerksamkeit in dieser 4. Auflage gewidmet.

Daneben stellte sich auch die eigene fachliche Sicherheit der Fachkräfte (das Wissen über psychische Verletzlichkeit) als wichtiger Faktor in der Betreuung oder Unterstützung der Familien heraus: Je fachlich fundierter das eigene Arbeitsmodell und die angewandten Methoden nachvollziehbar beschrieben werden konnten, desto leichter fiel den Fachkräften die Zusammenarbeit mit den Eltern. Dies erforderte auch Klarheit der Kommunikation – sowohl gegenüber Eltern als auch gegenüber Auftraggebern oder im Team.

Hilfreich war dabei die Entwicklung unserer (internetbasierten) Resilienzlandkarte, die unsere Kommunikation im Team (aufgrund der gleichzeitigen Zugänglichkeit von Information für alle Teammitglieder als auch für Eltern) veränderte. Letztere erhielten (sofern sie dies wünschten) Leserechte in Bezug auf unsere Dokumentationsprozesse. Wir konnten auch an uns selbst beobachten, wie sich unsere Dokumentationssprache dabei veränderte, wenn wir wussten oder annahmen, dass Eltern in unsere Dokumentation Einblick nehmen konnten.

Interpretierte (bisweilen bewertende) Zuschreibungen unsererseits („Der Vater erscheint wenig einfühlsam“) wurden sehr schnell durch dokumentierte konkrete Verhaltensbeobachtungen ersetzt: „Als Max seinem Vater ein Auto zeigte, reagierte dieser erst beim dritten Versuch seines Sohns“.

Dabei wandelte sich auch zunehmend unser Unterstützungsverständnis: Fokussierten wir in unseren ersten beiden Auflagen einen Großteil unserer Interventionsvorschlägen auf Grundprämissen einer klassischen Frühförderung, zeigte sich doch, dass frühe präventive Hilfen für Kinder psychisch verletzlicher Eltern sehr viel weiter gefasst werden sollten. Somit hebt diese 4. Auflage auch stärker die Bedeutung weniger formalisierter Hilfsangebote (Unterstützung im familiären Netzwerk mittels Tagesmütter, Kinderkrippen, Kindertagesstätten u.a.) hervor. Es geht in der frühen präventiven Förderung von Kindern psychisch verletzlicher Eltern nicht primär um behinderte oder von Behinderung bedrohte Kinder (als klassisches Betätigungsfeld der Frühförderung in Deutschland), sondern um das Gesamtkonstrukt an Fördermaßnahmen, die auf der Basis unterschiedlicher Rahmenbedingungen beispielsweise auch aus der Kinder- und Jugendhilfe oder der Betreuung in Kindertagesstätten kommen können. Eine klassische „interdisziplinäre Frühförderung“ würde hier in ihrem notwendigen Selektionsdruck (behinderte oder von Behinderung bedrohte Kinder) zu kurz greifen und die meisten Kinder nicht erreichen.

Im Zentrum dieses Buches steht die Wahrnehmung von Bedürfnissen von Kleinkindern, die aufgrund der psychischen Verletzlichkeit ihrer Eltern Gefahr laufen, „vergessen“ zu werden. Der Fokus liegt dabei auf den Kindern, da wir davon ausgehen, dass die Unterstützungsbedürftigkeit psychisch verletzlicher Eltern selbst nicht primär die Aufgabe (heil)pädagogischer Fachkräfte sein kann. Dies führt genau zu jener Überforderungssituation, die wir zurzeit in diesem Feld häufig erleben, wenn sich Fachkräfte in der Frühförderung auch für die Depression, Manie, Schizophrenie usw. der Eltern oder der primären Betreuungspersonen verantwortlich fühlen. Die Fachkräfte argumentieren natürlich häufig mit Recht, wer denn sonst zuständig sei, der familienorientiert so nahe am Familiensystem arbeite. Wie noch zu zeigen sein wird, ist es jedoch genau diese Vereinzelung des Fachwissens, die dazu führt, dass jeder irgendetwas nach bestem Wissen und Gewissen tut, keiner jedoch so recht zufrieden damit ist und jeder das Gefühl hat, hier „fehle“ etwas. Kinder, die im Lebenszusammenhang psychisch verletzlicher Eltern jahrelang übersehen wurden, sind Bestandteil unserer gemeinsamen Arbeit geworden: Wir haben dabei ein eigenes Betreuungsangebot für „vergessene Kinder“ – und zwar die so genannte Ressourcen- / Belastungsanalyse – vor allem in Kooperation mit Jugendämtern ins Leben gerufen (www.sinnevaluation.at).

Dabei geht es um das gemeinsame Erfassen bestehender Ressourcen und Herausforderungen in individuellen Familiensystemen, unter Einbeziehung relevanter Kooperationspartner. Das Produkt eines solchen Unterstützungsprozesses stellt die Einschätzung unterschiedlichster Aspekte psychischer Widerstandskraft des Kindes und der Familie dar, repräsentiert über eine so genannte Resilienzlandkarte.

Manfred Pretis und Aleksandra Dimova

Graz, im Februar 2019

Hinweis:

Aus Gründen der Lesbarkeit verwenden wir im Text bei Personenbezeichnungen in der Regel nur die männliche Form, womit jedoch selbstverständlich jeweils beide Geschlechter gemeint sind.

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Fragen zur Selbstevaluation der Fachkräfte

  Wie würde sich meine gegenwärtige Kommunikation und Dokumentation verändern, wenn Eltern Einblick in mein Dokumentationssystem hätten?

  Wie sicher bin ich mir in meinem eigenen fachlichen Modell und welche Begrifflichkeit verwende ich dafür?

  Was hilft mir, mich in der Kommunikation mit fachpsychiatrischen Diensten sicher zu fühlen?

  Wie vermittle ich Respekt vor der Meinung des anderen, und welchen Respekt fordere ich für meine Arbeit als Fachkraft in der Frühförderung ein?

  Wo liegen für mich die Grenzen der Zusammenarbeit mit anderen Professionen, wie erkenne ich nichtkooperatives Verhalten und wie schütze ich mich davor?

  Wie gehe ich vor, wenn ich die Hypothese habe, dass das „Problem“ des betreuten Kindes mit einer psychischen Verletzlichkeit eines Elternteiles zusammenhängen könnte?

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2     Vergessene Kinder

2.1    Auffällige Unauffälligkeit

Peter, beim ersten Kontakt zehn Monate alt, wurde über Initiative der Sozialarbeiterin bei unserem Dienst vorstellig, weil seine Mutter die vom zuständigen Jugendamt empfohlene Förderung abgebrochen hatte. Es wurde gemutmaßt, dass bei der Mutter eine depressive Erkrankung vorliegen könnte. Die Vorgangsweise der eingesetzten Pädagogin in der Fördersituation zuhause, Peter kleine, Geräusche erzeugende Gegenstände anzubieten, damit dieser selbstwirksame Erfahrungen machen konnte, führte zur Eskalation in der Familie: Nach Ansicht der Mutter war zu befürchten, dass Peter das Fördermaterial verschlucken könnte und somit die Fachkraft bewusst die Gesundheit ihres Sohnes gefährde. Dieser Vorwurf von Seiten der Mutter führte zum Abbruch.

Noch dazu habe die behandelnde Kinderärztin der Mutter auch versichert, mit Peter sei – auf der Basis der U-Untersuchungen – alles in Ordnung. Da die Mutter selbst Pflegekind war, massive Konflikte zur eigenen Herkunftsfamilie bestanden und die eigene (Pflege)Großmutter Zweifel beim Jugendamt anmeldete, ob die Kindesmutter fähig sei, ihren Sohn zu erziehen, entschied sich die Sozialarbeiterin, unseren Dienst anzubieten. Eine mögliche Fremdpflege stand im Raum, da sich das Jugendamt Sorgen um das Interaktionsverhalten und die Bindung machten.

Anfangs nahmen die Eltern widerwillig unser „freiwilliges“ Serviceangebot einer Ressourcen-Belastungsanalyse in Anspruch, vor allem in der Hoffnung, bestätigt zu bekommen, dass mit Peter alles in Ordnung sei.

Nach einer Vorstellung unsererseits, unserer Arbeitsweise, der Fragestellung (welche Förderbedürfnisse bei Peter vorlagen) sowie möglichen Zweifeln der Eltern, was mit Daten und Informationen geschehe, wurden Vater und Mutter gebeten, so wie zuhause mit ihrem Sohn zu spielen, auch um die Stresssituation für beide Elternteile zu vermindern. Im Vordergrund sollte das gemeinsame Eingehen auf die Bedürfnisse von Peter liegen.

Peter wurde in diesen Erstkontaktsituationen von den beiden anwesenden Elternteilen auf eine Decke am Boden unseres Zentrums gelegt. Sein Vater setzte sich am Fußende vor seinen Sohn, ergriff kurzfristig Fördermaterialien, die er für wenige Sekunden schüttelnd vor der Brust von Peter bewegte. Aufgrund der Rückenlage war jedoch zu vermuten, dass Peter diese Gegenstände nicht sehen konnte. Die meiste Zeit, in der die Eltern unsererseits gebeten wurden, so wie zuhause zu spielen, wirkte Peter sich alleine überlassen. Er lag auf dem Rücken, lautierte, versuchte beide Hände in seine Mittellinie zu bekommen, folgte sporadischen visuellen Angeboten des Vaters, der ein Plüschtier außerhalb der Reichweite von Peter auf der rechten Seite bewegte. Ein einziges Mal kam es während dieser ersten 20 Minuten zu körperlichem Kontakt zwischen dem Vater und Peter, indem der Vater die Füße Peters leicht bewegte. Die sprachliche Kommunikation des Vaters mit seinem Sohn beschränkte sich dabei auf das Imitieren von Schnalzlauten.

Aufgrund ihrer ausgeprägten Adipositas (Fettleibigkeit) und damit einhergehenden Problemen mit ihren Knien war es der anwesenden Mutter nicht möglich, sich auf den Boden hinab zu begeben, um mit Peter in körperlichen Kontakt zu treten. Peters Mutter beobachtete die Spielsituation stehend aus ungefähr zwei Meter Entfernung. In der ersten Einheit gelang es Peter nach 15 Minuten, sich aus der Rückenlage ohne Unterstützung der Eltern in die Bauchlage zu drehen. Danach begann Peter, den Spielteppich robbend zu explorieren. Der Junge griff nach allen erreichbaren Gegenständen. Er untersuchte den Teppich, auf dem er lag, lautierte häufig, und es entstand der Eindruck, als ob er sich durch heftiges asymmetrisches Strampeln selbst aktivierte.

Für uns als Untersucher erwiesen sich diese 20 Minuten der „Kaum-Interaktion“ als sehr belastend und nur wenig ertragbar. Wie konnte es sein, dass die Eltern – zumindest auf der beobachtbaren Verhaltensebene – sich vorwiegend teilnahmslos verhielten (obwohl sie natürlich ihren Sohn beobachteten) und obwohl sie wussten, dass sie sich in einer diagnostischen Situation befanden und Spielsequenzen sogar videoaufgezeichnet wurden. Peter hingegen schien sich sehr anzustrengen, seine Umwelt aktiv zu erforschen.

Methodisch versuchten wir, in dieser diagnostischen Phase trotzdem die Ressourcen und all das, was in der Familie funktionierte, hervorzuheben:

1    Die Familie nahm die Termine wahr (wie auch andere Arzttermine).

2    Vater und Mutter erschienen gemeinsam zu den Terminen.

3    Vor allem die Kindesmutter zeigte hohes Interesse an einem Austausch darüber, wie weit ihr Sohn entwickelt sei.

4    Der Vater konnte sich für kurze Zeit auf Spielsituationen mit seinem Sohn einlassen.

5    Peter wirkte gepflegt, sauber und wohlgenährt.

6    Alle U-Untersuchungen wurden durchgeführt.

7    Die Mutter hielt aktiv Kontakt zur Sozialarbeiterin.

8    Peter beschäftigte sich beinahe 20 Minuten mit sich selbst.

9    Es gelang ihm sogar, sich ohne Hilfe des Vaters von der Rückenlage in die Bauchlage zu drehen.

10  Peter wirkte auf den ersten Blick sehr autonom, aktiv, kommunikativ und selbstwirksam.

11  Peter schien über ein „einfaches Temperament“ zu verfügen, er wirkte ausgeglichen und zeigte kaum forderndes Verhalten (z. B. durch Schreien).

12  Die Mutter kümmerte sich in der Vergangenheit aufgrund einer von der Kinderärztin gestellten Verdachtsdiagnose „Seitenschwäche“ zuerst um Physiotherapie und stimmte in weiterer Folge einer häuslichen Förderung zu, die jedoch – wie zuvor beschrieben – in weiterer Folge abgebrochen wurde.

Daneben waren in diesen ersten diagnostischen Phasen auch deutliche Belastungsfaktoren zu beobachten:

1    Aufgrund ausgeprägter Adipositas konnte sich die Mutter kaum zu Peter bücken oder ihn hochnehmen.

2    Die Mutter befand sich während der Spielsituationen meist stehend zwei Meter von Peter entfernt, sodass die Frage des körperlichen Kontaktes und der Bindung offen war.

3    Die Mutter fand zu jedem Argument (z. B. der Wichtigkeit sprachlicher Nachahmung oder motorischer Aktivitäten) ein Gegenargument oder verwies auf ihre Ärztin, Internet oder Elternratgeber. Der Hauptfokus lag dabei auf möglichen Gesundheitsgefährdungen ihres Sohnes.

4    Die Mutter stand mehrmals in der Nacht auf, um nachzusehen, ob ihr Kind noch atme (sie wandte sich im Laufe eines Pseudokrupp-Anfalles an die Kinderklinik, die ihr zur Prävention des plötzlichen Kindstodes ein Atmungsüberwachungsgerät mit nach Hause gab). Ihr gesamtes Pflege- und Betreuungsverhalten konnte arbeitshypothetisch als ängstlich und teilweise überbehütend beschrieben werden (häufiges Doctor-Hopping, teilweises Übertreiben möglicher Gefahren, Vermeidung der Auseinandersetzung mit als bedrohlich interpretierten Informationen).

5    Bei Peter waren aufgrund eines Entwicklungsscreenings Risiken im Bereich seiner motorischen Entwicklung zu sehen (fehlendes freies Sitzen mit zehn Monaten) sowie Risiken im Bereich Sprachentwicklung.

6    Der Vater bezeichnete sich selbst als ehemaliges ADHS-Kind, wobei sich dies im Erwachsenenalter in vermuteter Automatenspielsucht und stundenlangem Computerspielen zuhause widerspiegelte.

7    Die Interaktionssequenzen zwischen dem Vater und Peter wirkten zeitlich sehr kurz und machten es Peter schwer, die Angebote des Vaters wahrzunehmen.

8    Die finanzielle und häusliche Situation erschien schwierig (Hartz-IV-Empfang, teilweise nicht adäquat eingerichtete Wohnung).

9    Das Verhältnis zu den Großeltern (eigentlich Pflegeeltern der Mutter) erschien immer wieder angespannt.

10  Die häusliche Förderung (organisiert über Frühe Hilfen) wurde aufgrund des Konfliktes in Bezug auf eine mögliche Gefährdung der Gesundheit durch das Fördermaterial (Überraschungsei gefüllt mit Reiskörnern) abgebrochen.

11  Die Fachkraft vermutete bei der Mutter eine ausgeprägte Angststörung oder Depression, teilweise mit überbehütenden Verhalten gegenüber ihrem Sohn.

12  Sobald die Mutter eine kleinste somatische Veränderung bei ihrem Sohn wahrnahm, kontaktierte sie Ärzte, setzte jedoch empfohlene Maßnahmen kaum um, da sie glaubte, alles besser zu wissen.

13  Vorliegen einer psychischen Krankheit bei der Mutter im Sinne einer Störung der Persönlichkeit, Mischtypus mit Fokus ängstlich-vermeidend), da aus der Anamnese Hinweise auf ein durchgehendes Muster seit ihrer Kindheit vorlagen.

Abb. 1 zeigt dabei die nach unserer transdisziplinären Diagnostikphase (teilweise erfolgten Beobachtungen in gemeinsamen Sitzungen) eingeschätzte Ressourcen / Belastungssituation (im Sinne eines Ampelsystems):

Der grüne Bereich spiegelt dabei als „ausreichend“ eingeschätzte Resilienzprozesse als „Bewältigungskapital“ (Fingerle 2011) wider. Im Beispiel Peters betraf dies seine Ausdauer, seine soziale (kommunikative) Kompetenz, seine Selbstwirksamkeit, sein „einfaches“ Temperament, seine gesamtgesundheitliche Situation. Diese Resilienzprozesse dürfen dabei als Ressourcen für die weitere Hypothesenbildung angesehen werden.

Der gelbe Bereich bezieht sich auf zu diesem Zeitpunkt „nicht einschätzbare oder stark wechselhafte“ Informationen, wie z. B. die Compliance der Eltern, die einerseits in Bezug auf ärztliche Leistungen sehr hoch war, gleichzeitig aber hinsichtlich der Kooperation mit der Fachkraft krisenhaft schien. Dies betraf auch die Einschätzung der Entwicklung von Peter, die zum Zeitpunkt der Diagnostik zwar in manchen Bereichen altersentsprechend, jedoch im Bereich der Motorik und der Bindung durchaus bedroht war. Trotz der Aufmerksamkeit der Eltern bezüglich der gesundheitlichen Aspekte, erschien auch im Spielverhalten die Verfügbarkeit der Eltern stark wechselhaft. Im Sinne der weiteren Vorgangsweise würde dies bedeuten, verstärkt diese Aspekte zu beobachten.

Der rote Bereich verweist auf Bereiche, die im Rahmen des diagnostischen Screenings als „kaum ausreichende“ Resilienzbereiche eingeschätzt wurden. Im konkreten Beispiel von Peter betraf diese Einschätzung z. B. die Frage der Einfühlsamkeit der Eltern, mögliche psychische Symptomatik, die ökonomische Situation der Familie, aber auch die Beziehung der Mutter zu ihrem Herkunftssystem. Im Zusammenhang mit den wahrgenommenen Ressourcen verdeutlichen diese Bereiche möglichen Handlungs- oder Unterstützungsbedarf.

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Abb. 1: Resilienzlandkarte von Peter im Kontext psychisch verletzlicher Eltern

Unsere Arbeitshypothese im Team zielte darauf ab, vorerst eine Vertrauensbasis zu den Eltern aufzubauen. Gerade bei Eltern mit der Verdachtsdiagnose einer möglichen Angststörung stellt die Vermeidung der Auseinandersetzung mit möglichen angstauslösenden Reizen (dass z. B. mit Peter etwas nicht in Ordnung sein könnte, dass er mehr Therapie brauche, dass eine Fremdpflege drohe) ein hohes Risiko in Richtung Abbruch der Kontakte dar. Als Ressource durfte jedoch auch wahrgenommen werden, dass die Mutter prinzipiell Interesse an der Entwicklung ihres Sohnes zeigte und Termine wahrnahm.

Die zweite Arbeitshypothese betraf das Interaktionsverhalten, vor allem des Vaters. Die Mutter erschien durch ihre Adipositas in höherem Maße beeinträchtigt, sich körperlich Peter zuwenden zu können. Diese zweite Arbeitsannahme ging davon aus, dass dem Vater möglicherweise konkrete Ideen fehlten, wie er mit seinem Sohn altersgerecht spielen konnte. Als Ressource erwies sich dabei, dass der Vater mit seinem Sohn spielen wollte und sich Peter selbst sehr selbstwirksam, kommunikativ und interessiert an seiner Umwelt verhielt.

Unsere darauf folgenden Interventionen vermittelten den Eltern

1    positive Rückmeldungen z. B. in Bezug auf die Autonomie Peters, sein Interesse bzw. sein Lautieren.

2    Möglichkeiten des Ausprobierens neuer Spielmöglichkeiten: Gemeinsam mit dem Vater wurden sehr lustvolle Interaktionsspiele erarbeitet, wie z. B. die Verwendung eines Tuches zum Verstecken des eigenen Kopfes (im Sinne der Förderung der Objektpermanenz), was Peter sehr genoss. Dem Vater gelang es hier auch, dieses Spiel zu variieren.

3    Input in Bezug auf feinfühliges Wahrnehmen der Bedürfnisse von Peter: dass es vorerst wichtig war, a) den Kontakt zu Peter herzustellen (Rapport), b) die gemeinsame Aufmerksamkeit (joint attention) auf ein Objekt zu richten und c) eine Aktivität durchzuführen. Den Eltern wurde dies plakativ als „Dreieck des Spielens“ vermittelt. In gemeinsamen Spielsequenzen, vor allem mit dem Vater, wurde diesem immer wieder dieses „Dreieck des Spiels“ (Prinzip der Triangulation) rückgemeldet:

  Kontaktaufnehmen mit Peter (ansprechen, Augenkontakt herstellen, möglicherweise leichte körperliche Hinweisreize geben),

  Referenz herstellen zum Objekt („Schau mal, da ist ein Ball!“) und

  Aktivitäten ankündigen und durchführen.

4    Input bezüglich der Nachahmung von Verhalten: Wenn Peter lautiere, dass die Eltern dies wiederholen mögen; wenn Peter ein Auto anfasste, dass die Eltern dies „reverbalisieren“ können (Förderung responsiven Verhaltens) etc.

Die nächsten Einheiten bestanden darin, den Eltern Möglichkeiten zu geben, Neues mit Peter auszuprobieren: So lernte der Vater, dass es beim Ballspiel (Peter begann kurz nach der ersten Einheit frei zu sitzen) wichtig war, immer wieder auf das „Dreieck des Spielens“ zu achten. Der Vater lernte, den Ball erst dann Richtung Peter zu rollen, wenn sein Sohn aufmerksam war.

Die Mutter konnte erleben, dass Peter Aktivitäten leichter nachahmte, wenn sie diese verbalisierte. Der Vater durfte ausprobieren und erleben, wie sehr sich Peter freute, wenn der Junge mit einem Tuch bedeckt wurde und sich dieses selbst vom Kopf zog.

Damit war es über mehrere Einheiten möglich, eine Vertrauensbasis aufzubauen, durch die bewirkt wurde, dass die Untersucher nicht als Bedrohung erlebt wurden.

In weiterer Folge gelang es uns, die Eltern zu überzeugen, dass die Fortsetzung der (abgebrochenen) häuslichen Förderung für Peter entwicklungsförderlich wäre, da sowohl den Eltern weitere Ideen gegeben werden konnten und Peter seine Entwicklungsfortschritte festigen konnte. Seine Sprachentwicklung erwies sich in weiterer Folge noch immer als verletzlich. Eine weitergehende ärztliche Therapie ihrer (von uns rückgemeldeten) Sorge bzw. Ängstlichkeit lehnte die Mutter jedoch kategorisch ab. Auch die Einleitung einer Tagesmutterbetreuung wurde abgelehnt, da sich die Mutter in ihrer Erziehungskompetenz angegriffen fühlte.

In Bezug auf die zu beobachtende Mühe der Eltern, passende Spielsituationen für Peter zu schaffen, akzeptierten sie jedoch die vorgeschlagene neue Frühförderin, die in höherem Maße den Wünschen und Fähigkeiten der Eltern folgte als dies vorher der Fall war: Die von der Fachkraft orchestrierten Interaktionen zwischen Mutter und Kind fanden nicht mehr am Boden statt, sondern auf einer Decke auf dem Tisch, sodass auch die Mutter Körperkontakt zu Peter aufnehmen konnte. Responsives Verhalten und Triangulation wurden auch von der Fachkraft als methodischer Zugang eingesetzt. Im Austausch erlebten die Eltern, dass sowohl unsererseits als auch von Seiten der neuen Frühförderin die gleiche Strategie verfolgt wurde.

Die gemeinsam mit den Eltern durchgeführten Einheiten zeigten – in Rücksprache mit der Fachkraft, die mobil bei den Eltern arbeitete –, dass sie die Angebote gut annehmen konnten, sodass sowohl der Resilienzbereich „Unterstützung für das Kind“ als auch die „Unterstützung der Eltern“ als neue Ressourcen aufgenommen werden konnten.

Durch die konkreten Ideen zu Spiel und Interaktion konnte auch der Bereich der „elterlichen Einfühlsamkeit“ als verbessert und nicht mehr als bedroht angesehen werden. Damit erschienen jedoch auch die im Hintergrund stehenden Fragen eines bedrohten Kindeswohles und einer Fremdpflege nicht mehr relevant, was zu einer Gesamtentspannung der Familiensituation und einer Verbesserung der Zusammenarbeit mit dem Jugendamt führte.

Da jedoch weiterhin Sorgen bestanden, dass das Förderangebot für Peter (trotz häuslicher Unterstützung) zu gering sein könnte, da der Transfer in die Familie auch von der Tagesverfassung der Eltern abhing, konnte nach einem weiteren halben Jahr mit der Mutter vereinbart werden, dass Peter dreimal wöchentlich eine Tagesmutter besuchte. Da die Mutter jedoch kaum einsah, warum ihr Sohn dies aufgrund ihrer eigenen Verfügbarkeit benötigte, ähnelte der Prozess einem Aushandeln „wie am Basar“. Die Mutter wurde jedoch in der Zwischenzeit wieder schwanger und nahm in weiterer Folge das Angebot dieser Tagesmutter „zur Entlastung“ gerne in Anspruch. Die häusliche Unterstützung lief parallel neben der Tagesmutterbetreuung und verfolgte in Abstimmung mit uns ähnliche Strategien (z. B. Dreieck des Spiels, Nachahmen, Verbalisieren).

Wir hatten das Glück, Peter zwei Jahre später nochmals sehen zu können. Er befand sich zu diesem Zeitpunkt fünfmal pro Woche bei der Tagesmutter; die eingesetzte mobile Fachkraft betreute die Familie weiter einmal wöchentlich, mit einem zusätzlichen Fokus auf das Neugeborene. In Anwesenheit seiner Mutter erschien Peter noch immer sehr aktiv, beschäftigte sich bei der Tagesmutter intensiv mit den Fördermaterialien, zeigte jedoch einige Verzögerung im Bereich der expressiven Sprache. In der Untersuchungssituation konnte seine Differenzierungsfähigkeit in Bezug auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse beobachtet werden: Wenn er Durst hatte oder getröstet werden wollte, lief er zu seiner Mutter (die an diesem Tag bei der Tagesmutter zu Besuch war). Wenn er Unterstützung beim Spiel benötigte, wandte sich Peter an die Tagesmutter. Peter hatte offensichtlich gelernt, seine Bindungs- und Förderbedürfnisse deutlich zu differenzieren und konnte durch die Angebote der Tagesmutter vor dem Hintergrund seiner Ressourcen neue Erfahrungen (mit Fördermaterialien, in der Interaktion) machen. Grobklinisch erschein seine Entwicklung – mit Ausnahme der expressiven Sprache – alterstypisch.

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Abb. 2: Einschätzung von Resilienzprozessen nach 15 Einheiten

Die am Beginn der Förderung drohenden Erfahrungs- und Übungsdefizite konnten durch die Zusammenarbeit zwischen häuslicher Förderung, Jugendamt, Tagesmutter und unserem spezialisierten Service – mit Ausnahme des Bereiches seiner expressiven Sprache – vermieden werden.

Die Familiensituation hatte sich grundsätzlich nicht verändert. Der Vater erhielt weiterhin Hartz-IV-Unterstützung, teilweise gelang es ihm, kurzfristige Beschäftigungsverhältnisse zu erlangen, die er aufgrund seiner verringerten Ausdauer jedoch schnell wieder verlor; eine medikamentöse Begleitung seiner Symptome lehnte er ab. Die Mutter zeigte sich auch nach beinahe drei Jahren wenig einsichtig in Bezug auf ihre eigene psychische Verletzlichkeit. Eine psychotherapeutische bzw. begleitende medikamentöse Behandlung lehnte sie weiterhin ab, da sie dies (aus ihrer Sicht) nicht benötigte. Durch die Ermöglichung gesunder förderlicher Entwicklungsumwelten (Frühförderung, Tagesmutter) konnte jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit a) eine deutlichere Entwicklungsstörung und b) Fremdpflege von Peter vermieden werden.

Die Situation von Peter ist kein Einzelfall: Peter erschien zwar zum Zeitpunkt unseres Erstkontaktes im Alter von zehn Monaten nicht klinisch auffällig (die behandelnde Kinderärztin neigte eher zum Abwarten) und zeigte gute Entwicklungspotenzen (Autonomie, Selbstwirksamkeit, Kommunikation), war jedoch einer Vielzahl von potenziellen Stressoren ausgesetzt: Die somatische und psychische Verletzlichkeit seiner Mutter (Verdachtsdiagnose im Sinne einer ängstlichen Persönlichkeit) sowie ADHS von Seiten des Vaters konnten als massive chronische Stressoren für die Entwicklung Peters angesehen werden. Die Auffälligkeit lag primär im Interaktions- und Beziehungsverhalten der Eltern zu Peter, nicht so sehr im Verhalten Peters. Glücklicherweise erfolgte unser präventives Ressourcen-Belastungsscreening sehr früh. Ein Nicht-Intervenieren hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit zu massiven Erfahrungsdefiziten und Bindungsproblemen geführt, die entweder eine Fremdpflege gerechtfertigt hätten oder aber das Auftreten einer Entwicklungsstörung begünstigten, die langfristig möglicherweise einer Behinderung entsprochen hätte. Gerade die beiden großen deutschen Längsschnittstudien zu Entwicklungsrisiken (Frankfurter und Bielefelder Studie) beschreiben eindrucksvoll den Einfluss einer elterlichen (mütterlichen) psychischen Erkrankung als Hauptprädiktor späterer kindlicher Entwicklungsstörungen, wie dies auch bei Peter zu erwarten gewesen wäre.

Peter verdeutlicht auch, dass der frühen präventiven Förderung Beschränkungen auferlegt sind: Weder die Mutter noch der Vater ließen sich behandeln, und eine allzu konfrontative Auseinandersetzung oder die massive Infragestellung ihrer elterlichen Kompetenzen hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Abbrüchen der notwendigen Fördermaßnahmen geführt, gepaart mit Entwicklungsrisiken für das kleine Geschwisterkind, das durch die Fachkraft mitbetreut wurde. Der Weg, respektvoll die elterlichen Kompetenzen zu würdigen und die Eltern mit klarer transparenter, verständlicher Sprache zum Ausprobieren neuer Fähigkeiten (Spielideen) zu motivieren, führte bei Peter und seiner Familie zum präventiven Erfolg, wenigstens im Bereich der kindlichen Förderung, nicht jedoch im Bereich der Behandlung der psychischen Verletzlichkeit. Angemerkt werden muss bereits vorwegnehmend, dass die Behandlung von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen ein äußerst herausfordernder langwieriger Prozess ist, sodass auch keine substanzielle Veränderung bei der Mutter zu erwarten war.

Epidemiologisch erscheint die Situation Peters als kein Einzelfall: Das Leben im Kontext psychischer Verletzlichkeit im weiteren Familienkontext betrifft bis zu 20 % aller Kinder und Jugendlichen (Maybery et al. 2005, BKK / BApK 2010). Jacobi et al. (2004b) gehen sogar von einer Einjahresprävalenz im Erwachsenenalter (d. h. von der Wahrscheinlichkeit innerhalb eines Jahres an einer psychischen Störung zu erkranken) von 33 % aus. Auch neuere Zahlen belegen diese Werte zwischen 27,8 % (Knudsen et al. 2018) und 31,1 % (Jacobi et al. 2014). Strukturierte Unterstützungssysteme für minderjährige Kinder bzw. klar definierte Zuständigkeiten (wer überweist, wer diagnostiziert Ressourcen und Belastungen, wer bietet Förderung und Unterstützung an) sind selten; häufig beruht das Erfassen der Kinder schlichtweg auf Zufällen oder der Zivilcourage von Menschen, die sich um das Kindeswohl sorgen: Vor allem das Zusammenspiel verschiedenster Strukturen (der Meldung durch die Pflegegroßeltern, die Jugendämter, was von den Eltern jedoch meist hoch ambivalent sowohl als Kontrolle als auch als Unterstützung erlebt wird, durch Frühe Hilfen, Frühförderung, begleitende Dienste) ermöglichte wenigstens für Peter Angebote, um mit vorhandenen Risikofaktoren besser umgehen zu können. Peters „Bewältigungskapital“ (hohe Autonomie, Selbstwirksamkeit, Kommunikation, Interesse an Exploration, einfaches Temperament) konnte „vermehrt“ werden und pufferte somit das Risiko eines Verlustes dieser Ressourcen. Im videosupervidierten Förderprozess konnte dies eindrucksvoll belegt werden.

Obwohl Prognosen aus der Retrospektive schwierig erscheinen, darf gerade bei Peter davon ausgegangen werden, dass er ohne entsprechende frühe Förderung deutlichere Auffälligkeiten zeigen und möglicherweise als behindertes Kind etikettiert würde. Das zuständige Kreisamt ersparte sich somit eine spezifische Unterbringung in einer integrativen Kindertagesstätte mit monatlichen Mehrkosten bis zu 2000 Euro pro Monat (die österreichische Situation betreffend). Zum Zeitpunkt der Erfassung wirkte Peter relativ unauffällig (im Sinne einer auffälligen Unauffälligkeit). Erste Anzeichen eines Deprivationssyndroms konnten jedoch glücklicherweise durch das Kooperationsnetzwerk Großeltern-Frühe Hilfe-Jugendamt-Begleitdienst „entdeckt“ werden. Aufgrund der Familienorientierung gelang es der Fachkraft auch, „ein Auge“ auf das Geschwisterkind zu werfen und in die Fördersituationen einzubeziehen. Das Geschwisterkind (wie häufig bei jüngeren Kindern aufgrund der kürzeren Zeitdauer im belasteten Familiensystem) zeigte ausgeprägtere Bereiche resilienten Verhaltens und benötigte keine weitere fachliche Förderung (Pretis / Dimova 2016).

Die soziale Akzeptanz des Rückzugs

Dazu kommt, dass psychisch verletzliche oder vulnerable Familien in hohem Maße versuchen, ihre Verwundbarkeit „geheimzuhalten“. Noch immer ist eine große Angst vor Etikettierung bzw. Stigmatisierung, als „verrückt“ oder „irre“ zu gelten bzw. vor sozialer Abwertung der Kinder durch Gleichaltrige („Deine Mutter war ja in der „Klappsmühle.“) zu beobachten. Die Angst vor dem Stigma und vor Marginalisierung führt häufig zu sozialem Rückzug, begünstigt durch den demografischen Wandel (wo es bisweilen schwierig erscheint, passende Spielkameraden in der Nachbarschaft zu finden, da kaum gleichaltrige Kinder verfügbar sind).

Vor allem Mädchen, die sich für jüngere Geschwisterkinder verantwortlich fühlen, sind hier bedroht, sich aus altersadäquaten sozialen Kontexten mit Gleichaltrigen zurückzuziehen (Pretis / Dimova 2011), um Elternfunktionen für ihre kleineren Geschwister zu übernehmen: Oder wie es eine Elfjährige selbst im Rahmen einer Ressourcen-Belastungsanalyse einmal ausdrückte: „Ich möchte endlich wieder Kind sein dürfen, nicht meinen Bruder in den Kindergarten bringen und nachmittags für ihn sorgen müssen.“ Auf der Verhaltensebene hatte sie ihre Belastung jedoch kaum gezeigt. Bereits im Kindergarten wirkte sie als verantwortungsvolles Mädchen; auch in der Schule zeigten sich für die Klassenlehrerin – mit Ausnahme einer gewissen erlebten Ernsthaftigkeit des Mädchens – keine Auffälligkeiten. Auch der obsorgeberechtigte Vater konnte die erlebte Belastung seiner Tochter kaum wahrnehmen. Er hatte sich zwar von der Mutter im Zusammenhang mit einer ärztlich nie bestätigten Verdachtsdiagnose „Alkoholabusus“ (möglicherweise in Zusammenhang mit einer schizophrenen Grunderkrankung) getrennt, wollte jedoch seinen Kindern in guter Absicht den Kontakt zur Mutter nicht vorenthalten. So wenigstens interpretierte er die Aussagen des Gerichts bzw. des Jugendamtes. Auch wusste der Vater nicht genau, woran die Mutter litt.

Der Auslöser unserer Intervention in dieser Familie war ein Vorfall, bei dem die damals mit hoher Wahrscheinlichkeit hoch psychotische Mutter (ihre Kinder hatten Umgang mit ihr) den vierjährigen Bruder aufgefordert hatte, sich vor ein Auto zu werfen, damit er „in den Himmel komme“. Sie als Mutter könnte dann jeden Tag eine Kerze anzünden und an ihn denken, wenn sie sich ihn als Engel vorstelle. Im Rahmen dieses Besuchskontaktes gelang es der elfjährigen Schwester im letzten Augenblick, ihren auf eine stark befahrene Straße eilenden Bruder zurückzuhalten. Der vierjährige Bruder hatte seiner Mutter einfach geglaubt. Möglicherweise wollte er dem Wunsch seiner Mutter entsprechen und (im Sinne kindlicher Loyalität und fehlenden Realitätschecks) seiner Mutter „helfen“. Gerade Solantaus et al. (2002) verweisen immer wieder darauf, dass im Regelfall alle Kinder ihren Eltern „helfen“ wollen, wobei die Grenze zur inadäquaten Übernahme von Erwachsenenrollen (Parentifizierung) bzw. selbstgefährdendem Verhalten der Kinder bisweilen schwierig einzuschätzen ist. Aufgrund des doch funktionierenden Familiensystems, der Übernahme elterlicher Funktionen durch die ältere Schwester und fehlender Informationen für den Vater, wie die Situation der Mutter einzuschätzen sei, wurde die Brisanz der Situation lange unterschätzt – auch von Fachleuten. Häufig ist in diesem Zusammenhang zu beobachten, dass das Diktat der ärztlichen Schweigepflicht (die Kindesmutter befand sich in einer Art „Behandlung“) mit der Wichtigkeit, zu wissen und zu verstehen, was in Familiensystemen vorgeht, kollidiert. Nicht selten ist der andere Elternteil kaum darüber informiert, worunter der betroffene Elternteil leidet, welche Prognosen zu erwarten sind bzw. welche Unterstützungsmöglichkeiten sinnvoll wären; ein Leid, das häufig auch Selbsthilfegruppen Angehöriger Psychisch Erkrankter (www.hpe.at) schildern.

Im Rahmen unserer Ressourcen-Belastungsanalyse wurde dringend davon abgeraten, der Mutter Kontakt zu ihren Kindern zu ermöglichen, solange diese sich nicht adäquat medizinisch behandeln ließ, was diese verweigerte. Das Mädchen zeigte als Ressourcen gute sportliche Interessen, Sozialkontakte zu Gleichaltrigen sowie soziale Kompetenzen u.a. Aufgrund ihrer Interessen und Offenheit gegenüber Angeboten war somit (als Arbeitshypothese) der Kontakt zu einer spezifisch ausgebildeten Fachkraft empfehlenswert. Es wurde dringend eine emotionale Entlastung ihrer Situation und die Möglichkeit des bedürfnisorientierten Beziehungsaufbaus zu einer stabilen erwachsenen weiblichen Identifikationsfigur vorgeschlagen.

Dass in den zwei dargestellten authentischen Beispielen Mütter häufiger von psychischer Verletzlichkeit betroffen waren (bei Peter waren es beide Elternteile), beruht zwar auf Zufall, verweist jedoch auf drei wichtige Zusammenhänge:

a    Die Auswirkungen einer mütterlichen psychischen Verletzlichkeit auf Kinder sind höher als jene eines Vaters (Meyer et al. 2001).

b    Die Wahrscheinlichkeit, dass die verletzliche Mutter die Hauptbezugsperson für das Kind repräsentiert, ist viermal höher als dass der Vater die Hauptbindungsperson ist (Pretis / Dimova 2011). Nicht zu vergessen ist auch, dass von beiden Eltern auch ein hohes genetisches Risiko ausgeht: Bei Zwillingsstudien ergaben sich z. B. bei Borderline-Störungen Konkordanzwerte im Bereich von durchschnittlich 33 Prozent (Maier / Hawellek 2011).

c    Aus der täglichen Arbeit erleben wir im Sinne des Inanspruchnahmeverhaltens von Hilfe und der Behandlungsmitwirkung (Compliance), dass es herausfordernder erscheint, Väter mit psychischen Problemen zu erreichen bzw. zur Inanspruchnahme von Hilfe zu motivieren.

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Abb. 3: Die Resilienzsituation eines elfjährigen Mädchens im Kontext einer an Schizophrenie erkrankten Mutter

Inwiefern es Unterschiede in der Gesamtauftretenswahrscheinlichkeit von psychischen Erkrankungen (im Sinne des medizinischen Kontextes werden diese auch bewusst als solche bezeichnet) gibt, mag hier offen blieben. Generell zeigen sich jedoch deutliche Unterschiede in Bezug auf Diagnosen. Suchterkrankungen sind dabei z. B. deutlich überrepräsentiert bei Männern.

In der Betreuungssituation von Kleinkindern spielen die Väter zwar eine immer größere Rolle. So ist der Anteil der Väter in Deutschland, die Elterngeld bezogen (in Österreich: Väterkarenz nehmen) bis 2012 auf ca. 25,4 % angestiegen (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2012) – in Österreich sind ca. 4,9 % der Eltern, die Elterngeld in Karenz beziehen, Väter – trotzdem ist jedoch die Mutter in den meisten Fällen noch die Hauptbezugsperson. Daher erscheint der Stellenwert der psychischen Erkrankung der Mutter für die Entwicklung des Kindes insgesamt höher und findet somit auch häufiger Eingang in Falldarstellungen.

Das große Risiko, dass kleine Kinder psychisch erkrankter Eltern vergessen werden, liegt einerseits in ihrer unauffälligen Auffälligkeit. Andererseits – wie im Eingangskapitel beschrieben – liegt der Fokus der Erwachsenenpsychiatrie noch immer sehr auf den Patienten (Eltern) und nicht so sehr auf komplexen Familien. Deswegen werden sie auch häufig als „vergessene Kinder“ (Küchenhoff 2001) bezeichnet:

  Ihre Botschaften werden von Seiten der Erwachsenen, auch der Fachkräfte, erst sehr spät wahr- und ernst genommen.

  Fachkräfte, vor allem Psychiater im Erwachsenenbereich, schenken der Entwicklung von Kindern der Patienten kaum Beachtung: sei es, dass die Behandlung selbst sehr viel Energie bindet, sei es, dass das professionelle Wahrnehmungssystem Angehörige erst im Zuge der Öffnung der Psychiatrie langsam zu integrieren beginnt, jedoch noch nicht die Kinder psychisch Erkrankter erreicht hat.

  Mit Ausnahme des Bereichs der Alkoholerkrankungen sind bis auf beginnende Modellprojekte kaum institutionalisierte Strukturen für Kleinkinder vorhanden, die für diese auch selbständig zugänglich sind. Im Schulkind- und Jugendalter sind leichter erreichbare Angebote zu beobachten, auch mittels neuer Medien, z. B. Internetnotrufe, Telefonhotlines, Kummernummern oder -netze).

  Kinder psychisch kranker Eltern nehmen über lange Zeit ihre Situation nicht als „verstört“ und „krankmachend“ wahr, da die Lebenssituation mit ihrer Familie meist ihre einzig „reale“ ist und erst durch den sozialen Vergleich Leidensdruck entsteht. Dies geschieht oftmals erst im Schulalter, dann jedoch häufig geprägt von Scham, keine „normale“ Familie oder adäquate Hilfe zu haben (Dunn o. J.). Viele Kinder wissen nicht einmal, was mit dem Vater oder der Mutter los ist. Sie spüren etwas und schweigen instinktiv, möglicherweise auch, um ihre Eltern durch Fragen nicht noch weiter zu belasten. So war ein Geschwisterpaar über ein Jahr lang informiert, dass ihr Vater an Internetsucht (Download von kinderpornografischem Material) litt. Keines der Kinder stellte jedoch Fragen. Befragt nach dem Grund ihres Verhaltens verwiesen sie darauf, dass sie ihren Vater nicht noch weiter belasten wollten. Entdeckt hatten sie die Sucht des Vaters über zufällige Zettel, die sie beim Telefon fanden oder über Gespräche der Eltern, die sie mithörten.

  Sie verfügen meist kaum über Möglichkeiten, ihren Leidensdruck zu artikulieren, da die belastenden Situationen atmosphärisch spürbar, jedoch kaum aus ihrer kindlichen Sicht beschreibbar sind oder nicht ernst genommen werden.

  Häufig herrscht ein (aktives) Kommunikationsverbot in der Familie: Die Kinder bekommen das Gefühl, mit niemandem über ihre Familie sprechen zu dürfen, und befürchten, ihre Eltern zu verraten, wenn sie von den Schwierigkeiten zu Hause erzählen (Mattejat / Lisofsky 1998). Deswegen leben viele Kinder isoliert und haben niemanden, mit dem sie über ihre Probleme sprechen können.

  Von Seiten der gesamten Familie können Kinder mit einem Kommunikationsverbot belegt werden, da die Eltern befürchten, dass ihnen bei Bekanntwerden des „Geheimnisses“ die Kinder „weggenommen“ werden.

  Vor allem Kleinkinder psychisch verletzlicher Eltern zeigen sehr unspezifische Symptome, wobei internalisierende Störungen oder die frühe Übernahme von Erwachsenenrollen (Parentifizierung s. Kap. 3) kaum als mögliches „Störungsbild“ diagnostiziert werden. Weder der österreichische Mutter-Kind-Pass noch die deutschen Untersuchungshefte erscheinen als valides Instrument, diskrete Veränderungen bei Kindern zu messen. Meist war zum Zeitpunkt der Erstvorstellung „alles in Ordnung“.

  Kinder psychisch verletzlicher Eltern haben kaum eine Lobby in der Gesellschaft, da sie in höherem Maße sozialer Stigmatisierung und Ausschluss ausgesetzt sind als z. B. Menschen mit Behinderung. Psychische Symptome werden noch immer sehr stark mit persönlicher Schuld in Verbindung gebracht. Als negatives Paradebeispiel seien Ratschläge an Patienten mit Depression zu erwähnen, sich nicht „gehen zu lassen“ und sich endlich „zusammenzureißen“. Psychische Erkrankung darf als das letzte große Tabu unserer „Spaßgesellschaft“ angesehen werden. Die Kinder in den authentischen Beispielen konnten zu jeweils unterschiedlichen Zeitpunkten Hilfe in Anspruch nehmen, wobei deutlich ist, dass die frühe Förderung eine Unterstützungsmaßnahme darstellt, keineswegs jedoch die fachärztliche, psychotherapeutische oder fachpsychologische ersetzen kann. Dies setzt jedoch im Regelfall Freiwilligkeit und minimale Krankheitseinsicht betroffener Eltern voraus. Mit Ausnahme akuter Kindeswohlgefährdung können frühe präventive Fördermaßnahmen keine Zwangs- oder Kontrollmaßnahmen darstellen, auch wenn Jugendämter eine solche Funktion gerne delegieren möchten. Jeweils im Einzelfall ist somit abzuklären, welche Unterstützungsmaßnahme am besten zu den Bedürfnissen der Familie passt und angenommen werden kann – ganz im Sinne moderner Effizienz und Effektivitätsforschung sozialer Dienstleistungen (Guralnick 1997). Sind psychisch verletzliche Familien einmal „identifiziert“ oder sind Jugendämter mit akuten Eskalationen konfrontiert, ist auch als Gegenstrategie zu beobachten, dass in solchen Situationen relativ unreflektiert so viele Hilfen wie möglich eingesetzt werden, was wiederum die Effizienzfrage auslöst. Es droht dann eher die Gefahr, dass Familien zu viel des Falschen erhalten (Dunst 2012).

Trotz des Verweises auf die Freiwilligkeit des Angebotes sollte die Förderung der seelischen Gesundheit und der psychischen Entwicklung von Kindern nicht nur auf Zufällen beruhen. Frühe Förderung von Kleinkindern psychisch verletzlicher Eltern bedarf einer strukturierten Vorgangsweise und nachvollziehbarer Zugänglichkeit zu Unterstützungsstrukturen. Ein solches Vorgehen ist zurzeit in Europa kaum zu beobachten. In der Ottawa-Charta (1986) werden drei Handlungsstrategien der Gesundheitsförderung beschrieben, die in verstärktem Maße auch für Kinder von psychisch erkrankten Eltern gelten:

  die Anwaltschaft auf Gesundheit

  das Befähigen und Ermöglichen gesundheitsfördernden Verhaltens

  die Vermittlung und Vernetzung fördernder Strukturen