Danksagung

Dieses Buch wäre nicht möglich gewesen ohne das geduldige Ohr und den Rat meiner Frau Simone. Meinem Lektor Martin Wohlrab von Polarise danke ich dafür, dass er von Anfang an an das Buch geglaubt hat und für Beratung bei der Kunst des Weglassens. Seinen Kollegen Benjamin Ziech, Steffen Körber und Elena Kraus danke ich für ihr Wirken im Hintergrund, wie Testlesen, Korrektorat und das grafische Design des Buches. Dem brasilianischen Künstler Weberson Santiago danke ich für die tolle Grafik, die das Buch schmückt.

Ich danke Juliane Grüthner für das wertvolle Feedback vor der letzten Überarbeitungsrunde. Meinen weiteren Gefährten beim Schreibkurs »Oriri« bei Syntagma (Frankfurt/Main) danke ich für ihr Feedback zu den vielen kurzen Geschichten, die dort entstanden sind (die schonungslosen Kritiken waren die nützlichsten). Sie und die Kursleiterin Petra von Rhein haben meine temporäre Schreibhemmung soweit gelockert, dass ich einen ganzen Roman verfassen konnte.

Schließlich danke ich allen Wissenschaftlern, die mir in vielen Gesprächen geholfen haben, künstliche Intelligenz besser zu verstehen und ihr Potenzial einzuschätzen.

Christian J. Meier folgte nach Physikstudium und Promotion seinem Traum und wurde freier Journalist und Autor.
Der 51-Jährige schreibt Artikel über Forschung, Technik und Digitalisierung für verschiedene Medien, z. B. Neue Zürcher Zeitung, Süddeutsche Zeitung oder bild der wissenschaft.
Über einige seiner Lieblingsthemen wie Nanotechnologie und Quantenphysik hat er bislang drei allgemeinverständliche Sachbücher verfasst, zum Beispiel »Eine kurze Geschichte des Quantencomputers«. Seit ein paar Jahren schreibt er fiktional über Wissenschaft und Digitalisierung. Mehrere seiner Kurzgeschichten wurden veröffentlicht, etwa bei c’t. »K.I.« ist sein erster Techno-Thriller. Mehr zum Autor unter scicaster.de

Christian J. Meier

K.I.

Wer das Schicksal programmiert

© 2019 Polarise
Ein Imprint der dpunkt.verlag GmbH
Wieblinger Weg 17
69123 Heidelberg
www.polarise.de

1. Auflage 2019
Autor: Christian J. Meier
Lektorat: Martin Wohlrab
Copy–Editing: Elena Kraus
Covergestaltung: Weberson Santiago

Printed in Germany

ISBN (Buch) 978-3-947619-19-1
ISBN (PDF) 978-3-947619-20-7
ISBN (ePub) 978-3-947619-21-4
ISBN (Mobi) 978-3-947619-22-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über www.dnb.de abrufbar.

Gewidmet der natürlichen Intelligenz von 7,7 Milliarden Menschen

Die Entwicklung der künstlichen Intelligenz, von robusten Systemen, die in der Lage sind, enge Aufgaben zu erfüllen, bis hin zu allgemeinen Denkmaschinen, ist im Gange.

Amy Webb, amerikanische Zukunftsforscherin in The Big Nine – How the Tech Titans & Their Thinking Machines Could Warp Humanity, 2019

1

Shanghai, Juli 2031

Lu Meng lächelte, wie er gelernt hatte zu lächeln, trotz des Schmerzes. Der tätowierte Arm eines der Fischhändler in der Xi Jinping Straße blockierte ihm den Weg. Der Mann hielt einem anderen Passanten einen Fisch unter die Nase. »Fangfrisch!«, schrie er. Mengs künstliches Mittelohr regelte die Lautstärke herunter. Der Geruch nach Seewasser wehte Meng, der seine Tage in KI-Labors und an Konferenztischen verbrachte, in die Nase und kündete von der bevorstehenden Flucht, der nächste Baustein seines Plans.

Der Fischhändler bemerkte Meng, lächelte knapp zurück und gab ihm den Weg frei. Er hatte ihn übersehen, wie es alle taten. Ihn, den besten KI-Experten des Reiches der Neuen Seidenstraße, der wichtige Teile des Wegs programmiert hatte. Wie seine Mutter ihn stets übersehen hatte. Es quälte ihn immer wieder. Und es trieb ihn.

Meng eilte weiter, ein Schweißtropfen floss über seine Augenbraue. Shanghai glühte in der späten Abenddämmerung. Er heftete den Blick an das Wohnzimmerfenster am Ende der Straße. Während überall Vorhänge im heißen Wind flatterten, war es geschlossen. Dahinter war es dunkel, obwohl sich die Familie zu dieser Zeit zum Abendessen traf.

Erneut flammte Schmerz auf. Meng hatte nicht erwartet, dass es seine Liebsten treffen könnte. Zumindest heute noch nicht. Hätte er sie doch in die Fluchtpläne eingeweiht!

Warum hatte er die Alarmsignale nicht ernst genug genommen?

Wenn seine Frau ihrem Aerobictreff fernblieb, um halbe Nächte allein im Biotechlabor zu verbringen, der Sohn immer öfter beim Xiangqi verlor, und die Tochter stundenlang auf dem Sofa vor sich hinstierte, statt beim Karaoke zu glänzen, dann mussten alle Alarmglocken schrillen!

Noch heute wären sie dem digitalen Wirbelsturm entgangen, der sich anbahnte. Das Schiff wartete im Hafen. Eine Träne rann ihm über die Wange, als er die Haustüre erreichte und sie öffnete. Stille plärrte ihm entgegen. Er hielt den Atem an und bog ins Wohnzimmer.

Tief in das schwarze Ledersofa gesunken lagen drei Körper, wie Marionetten, deren Fäden durchtrennt worden waren. Rosiger Teint in den Gesichtern. Drei Porzellantassen standen vor ihnen auf der Glasplatte des niedrigen Wohnzimmertisches. Daneben ein Schraubglas, halbvoll mit einer klaren Flüssigkeit. Meng schielte in eine der Tassen: Ein gelblicher Überzug kleidete sie aus. Der Arm seiner Frau Lin hing schlaff über die Armlehne, die Finger berührten den Boden. Ihre Augen aufgerissen, als habe sie den Atem des Todesgottes Yama gerochen. Die Finger ihrer anderen Hand umklammerten einen Zettel. Der Kopf seines Sohnes Tao lag mit halb geöffnetem Mund auf der Couchlehne. Die Hand der Leiche drückte ein ähnliches Stück Papier auf die Brust. Das Gesicht seiner Tochter Aya starrte ihm in Bitterkeit gefroren entgegen. Ein weiteres Blatt lag auf ihrem Schoß.

Meng trat auf Aya zu, beugte sich zögernd über sie und griff nach dem Papier. Er atmete ein und drehte es um. Der Zettel war mit rotem Buntstift bekritzelt. Drei ungelenk geschmierte Ziffern.

379.

Er wandte sich Tao zu, zerrte am Papier. Widerwillig schlüpfte unter seiner Hand eine weitere Zahl hervor.

412.

Meng entriss den Bogen der Leiche seines Sohnes, knüllte ihn zusammen und feuerte ihn in die Ecke. Er beugte sich zu Lin und zog an ihrem Wisch, dem dabei eine Ecke abriss.

437 stand darauf.

Meng ballte die Fäuste und zog die Augenbrauen zusammen. Sein Körper erstarrte wie trocknender Zement.

Seine ganze Familie war weit unter den Punktestand gerutscht, bei dem ein Bürger des Reichs der Neuen Seidenstraße als vertrauenswürdig galt. Der Score, dem der Weg einem gab, war ein Urteil. Der Weg würde seiner Familie keinen Zugang zu Verkehrsmitteln gewähren, sie in längere Warteschlangen leiten, zu den schlechten Plätzen im Restaurant. Viel schlimmer als das wäre jedoch die soziale Isolierung. Denn Umgang mit Unaufrichtigen zog den eigenen Punktestand hinab. Freundschaften würden sang- und klanglos enden, die Kinder in der Schule alleine im Pausenhof herumstehen, Tanzpartner sich andere Tanzpartner suchen.

Diese drei auf Zettel geschmierten Zahlen: Sie klagten ihn an. Ihn, Lu Meng.

Sein inneres Feuer nahm die üppige Nahrung dankbar auf.

Das war gut. Der Schmerz war sein Instrument.

Er war sein Treibstoff.

Der Booster zündete. Meng erreichte Fluchtgeschwindigkeit.

Er raffte den wehenden Vorhang beiseite und schloss das Fenster. Dann zog er die Gardine wieder davor und schaltete das Licht an. Er eilte ins Schlafzimmer, holte die Reisetasche aus dem Schrank und warf ein paar Kleidungsstücke hinein. In der Hosentasche fingerte er nach seinem Schlüsselbund, wählte den kleinsten Schlüssel und schloss damit ein Fach an der Kommode auf. Daraus holte er ein flaches, silbrig glänzendes Kästchen, hielt es mit einer Hand und streichelte es mit der anderen. Dann steckte er den Behälter in die Tasche, zog am Reißverschluss und ging zur Wohnungstür.

»Infrarotflackern aktivieren«, murmelte Meng. Mit einem grünen Blinken im oberen Blickfeld bestätigten seine Kontaktlinsen den Befehl und emittierten ein unsichtbares Blinken. Für die künstlichen Intelligenzen, die die Bilder der öffentlichen Kameras auswerteten, würde er jetzt der Hafenarbeiter Wu Dong aus der Nachbarschaft sein, von dem Meng wusste, dass er seit gestern etwas später aus dem Haus ging, weil die Klangschalenmeditation verlegt worden war.

Als Experte kannte Meng die Tricks, um den Algorithmen der Personenerkennung ein X für ein U vorzumachen. Wenn die KI sagte: Das ist Wu Dong aus der Bashong Straße in Shanghai, musste das lange nicht stimmen. Auch ein Muster, das wie Rauschen aussah, konnte diese Entscheidung herbeiführen. Wenn man wusste, wie man es berechnete. Meng wusste es. Seine Kontaktlinsen führten die KI mit einem solchen Flackern in die Irre.

So gerüstet, trat Meng vor die Tür und schlenderte die Straße hinunter. Auf Höhe des Kaufhauses »Goldener Drache« widerstand er dem Impuls, den Kopf zu senken, als er zwei entgegenkommende Polizisten passierte. Sollten sie ihn überhaupt wahrnehmen, würden auch ihre Erkennungssysteme den in höchstem Maß vertrauenswürdigen Hafenarbeiter auf dem Weg zum feierabendlichen Meditieren anzeigen. Am Ende der Straße bog Meng nach rechts ab. Richtung Hafen, wo das Schiff wartete.

Bald würde er im Westen sein.

Die drei leeren Tassen auf dem Wohnzimmertisch drängten sich vor sein inneres Auge. Er sah seine Frau, wie sie die ihre austrank und wie die Kinder ihrem Beispiel folgten. Das Gift strömte in ihre Körper, drang in ihre Zellen und erstickte diese binnen Minuten.

2

Die Lichter von Frankfurts Skyline glommen hinter den Fensterscheiben des Krankenzimmers. Alexander Wenger lag bis auf Kopf, Schultern und den linken Arm unter einer weißen Decke. Eine Kanüle steckte in seiner Armbeuge. Der Schlauch daran führte in eine Apparatur mit der Aufschrift Gaia Health – Patient Terminal, von der dünnere Röhren zu einer Halterung voller Fläschchen liefen. Auf dem Monitor über der Maschine erschien eine grün blinkende Schrift, begleitet von einem sanften Piepsen:

Rezeptur 44A

Alexander Wenger

Mischung der Komponenten

Das Patient Terminal aktivierte sich, erkennbar am anschwellenden Sirren seiner Mikropumpen. Einige der Schläuche zuckten. Ein weiteres Piepsen bestätigte die Fertigstellung von Rezeptur 44A. Nun zitterte die Röhre, die zu Wengers Arm führte. Der Patient selbst schien davon nichts zu bemerken. Seine Augen blieben geschlossen, die Miene unverändert gleichmütig. Der Schmerzrepressor in 44A ermöglichte ihm einen friedlichen Schlaf, der andauerte, bis die Wolkenkratzer draußen im Morgenlicht aufglühten.

Jette Blomberg las die Nachricht, die halbtransparent in ihrem Blickfeld erschien, während ihre Schuhsohlen weiter auf dem Boden des Korridors klackerten. »Sofort zu mir!«, las die Ärztin der onkologischen Station des Klinikums Frankfurt. Seufzend machte sie kehrt, stapfte zum Aufzug und fuhr in den vierten Stock, in dem das Büro des Klinikdirektors Martin Sommer lag.

Dort angekommen, klopfte sie und trat ein.

Den massigen, stoppeligen Kopf gesenkt, mit dem feisten Zeigefinger auf der vor ihm ausgerollten Foil herumhackend, wies Sommer mit der freien Hand seine Besucherin an, sich zu setzen. Jette nahm auf dem gepolsterten Stuhl vor dem Schreibtisch Platz.

Minutenlang tippte und wischte ihr Boss weiter. Sie blickte sich im Büro um. Neben Sommers gerahmten Meriten hing ein Selfie des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden des Klinikverbunds Süddeutschland, Jörn Spiewalk. Arm in Arm, die Köpfe fast aneinander gelehnt, lächelten er und ein schmalbrüstiger, brillentragender Glatzkopf um die Vierzig dem Betrachter entgegen. Der Haarlose war Brent Scott, Gründer und Chef von Gaia, des konkurrenzlosen Cloudkonzerns des Westens. Dieser gutmütige Onkel hatte von seinem Bostoner Softwarebüro aus zuerst Amazon hinweggefegt, mit einer prognostischen KI, die den Kunden lieferte, was sie sich im Moment wünschten und die zugleich die Logistik verschlankte, also ein unschlagbar effizientes Geschäftsmodell schuf. Seine KI perfektionierte die vorausschauende Wartung und vernetzte Industriemaschinen optimal miteinander. Ein weiteres Feld, auf dem zuvor Amazon geglänzt hatte. Scotts nächster Coup war der nahtlose Zugang zur Cloud für alle gewesen. Das Technikgenie verschmolz die Kommunikationstechnik mit dem Körper und damit die digitale Welt mit der Wahrnehmung der Menschen. Dazu dienten etwa Kontaktlinsen mit eingebauten Displays, Kameras und einem automatischen Authentifizierungssystem, das die Netzhaut zum Ausweis der Person machte – niemand brauchte mehr zig Passwörter. Mit Gaias Technik und seinen Services schwamm man in einer neuen, weiten, bunten Welt, die zugleich saß wie ein Maßanzug. Alle wollten mitschwimmen. Millionen ließen sich die Körpertechnik, Linsen, Mittelohren, Gedankenschnittstellen, Rechenhubs sogar implantieren. Die Datenströme verlagerten ihre Flussbetten nach Boston, zu Gaias Firmen- zentrale und dem medienscheuen Boss Brent Scott. Wie ein galaktisches Gravitationszentrum sog Gaia Daten und Rechenpower an sich, bis nach Amazon die anderen Größen in der Bedeutungslosigkeit versanken: Google, Facebook, Apple, Microsoft.

Jette wandte den Kopf ab und sah aus dem Fenster hinter Sommer.

Draußen blitzte ein vorbeifliegendes Flugtaxi im Sonnenlicht, wie ein monströser Prachtkäfer. Jette wünschte sich, mit dem Luftfahrzeug wild herumzustreifen. Ein Hobby, das sie aufgegeben hatte.

Leider.

Die Option Flucht erschien ihr mit jedem neuen Tag in der Klinik attraktiver.

Sommers Tippen auf der Foil hörte auf, Jette wandte sich ihrem Chef zu. Der studierte die Ärztin mit schräg gelegtem Kopf und leicht zugekniffenen Augen, als habe er einen besonders komplizierten Fall vor sich.

»Sie sind auf der Kippe, Frau Doktor Blomberg«, sagte er. Jette hasste die drohende Art, mit der Sommer seine Untergebenen auf Linie hielt.

Sie setzte eine ahnungslose Miene auf.

»Es muss aufhören«, fuhr Sommer fort. »Sofort. Sonst können Sie nicht in unserem Team bleiben.«

Jette zuckte die Schultern. »Was muss aufhören, Herr Direktor?«, fragte sie.

Sommer schlug mit der Faust auf den Tisch. Der Totenkopf aus Plastik darauf wackelte. »Stellen Sie sich gefälligst nicht auch noch dumm! Ich meine natürlich ihren Aktivismus, wie jetzt dieses Interview im taz-Stream, das nun von vielen Streamern aufgegriffen wird! Was wollen Sie? Zum Team gehören oder ihm in den Rücken fallen?«

»Was ich will? Den Patienten helfen, Professor Sommer.«

Der Furor des Direktors stockte, als habe er mit vielem gerechnet, aber nicht mit dieser Entgegnung. »Verstehe ich Sie richtig? Sie wollen den Patienten helfen, indem Sie öffentlich Gaia verdächtigen, unsauber zu arbeiten?«

»Das habe ich nicht!«

»Ach nein?«

Sommer wischte auf der Foil herum, bis sie die Umrisse einer Tatze auf rotem Grund mit dem Schriftzug »taz« daneben zeigte. Darunter die Überschrift: »Frankfurter Ärztin beklagt Kontrollverlust« mit einem Bild von Jette und einem Text. »Sie haben also Folgendes nicht geäußert?«, fragte Sommer. »Ich zitiere: Die Medizin ist heute stark personalisiert. Für jeden Patienten stellen Gaias Algorithmen individuelle Wirkstoffmixturen zusammen. Wir können diese zwar analysieren. Aber wir können nicht nachvollziehen, warum sie wirken und wie, weil nur Gaia über ein vollständiges Tumorzellen-Modell verfügt. Wir mögen alle Patientendaten haben, aber das Wissen hat dieser allmächtige Konzern. Dieses Unternehmen ist eine unberechenbare Black Box. Niemand kontrolliert es. Wie können wir wissen, ob und wie sorgfältig es arbeitet? Die meisten Erkenntnisse hat Gaia mittels künstlicher Intelligenz automatisch generiert. Womöglich kontrolliert nicht einmal Gaia selbst, was die Maschinen für unsere Patienten zusammenmixen. Zitat Ende.«

Sommer sah Jette herausfordernd ins Gesicht.

»Das sind meine Worte«, sagte sie.

Empörung verhärtete Sommers Mimik, wie die eines Vaters gegenüber der trotzigen Tochter.

»Wissen Sie eigentlich, was Sie da unterstellen, Frau Doktor Blomberg?«

»Ich weise lediglich darauf hin«, entgegnete Jette, »dass wir Klinikärzte die Kontrolle verloren haben. An eine Maschinerie, deren Entscheidungen wir nicht verstehen. Ich behaupte nicht, dass es dem System an Sorgfalt fehlt. Nur, dass wir das nicht überprüfen können. Genauso gut könnten wir Gaias Logo über unseren Klinikeingang hängen.«

Sommer lehnte sich in seinem Ledersessel zurück. Sein fetter Körper verursachte dabei ein beträchtliches Knirschen. Er schnaufte, dann setzte er eine milde Miene auf.

»Frau Doktor Blomberg«, begann er in dem warmen Bariton, mit dem er im Bedarfsfall den nachsichtigen Patriarchen spielte. Jette kämpfte gegen eine aufwallende Übelkeit. »Mit Gaia Health haben wir unendlich viel mehr Behandlungserfolg«, dozierte Sommer. »Zu deutlich geringeren Kosten. Gaia least uns die modernsten Geräte, günstiger als es jeder der früheren Anbieter konnte. Es bekommt dafür die Daten. Das stimmt. Doch es hat sich gezeigt, dass das Teilen von medizinischen Daten eine ethische Pflicht ist. Denn es erhöht die Evidenz in unserer Profession, Frau Doktor Blomberg. Brent Scott hat seine künstliche Intelligenz mit Daten von Millionen Patienten aus fast allen Ländern des Westens trainiert. Nur so konnte sie auch noch die verstecktesten und verwickeltsten Krankheitsmechanismen erkennen. Sie weiß bei jedem Patienten, welche Schrauben sie anziehen muss. Doktor Blomberg, Gaia Health ist das, wovon wir noch vor zwanzig Jahren nicht zu träumen wagten! Unsere Krebsstation ist viel kleiner, weil Gaia den Krebs Jahrzehnte vorhersieht und ihn verhindert. Wenn jemand dennoch erkrankt, bekommt er die besten Medikamente. Der von Gaia geleaste OP-Roboter Vivaldi kann Tumoren operieren, die noch vor drei Jahren einem Todesurteil gleichkamen. Die Leute leben heute länger. Sehen Sie mich an. Ich bin 70 und will noch zehn Jahre arbeiten. Diese neue Medizin ist ein integraler Bestandteil des Gutlebens! Woher nehmen Sie eigentlich die Chuzpe, dieses, dieses... ja: heilbringende System derart aggressiv aufs Korn zu nehmen?«

Jette lehnte sich ebenfalls zurück.

»Es stimmt, dass in Summe mehr Menschen überleben und das ist gut«, sagte sie. »Aber meine Erfahrung und meine Intuition sagen mir, dass Menschen sterben, die leben sollten. Das ist nicht alles: Manchmal stirbt ein Patient, von dem ich auch unter Gaias Behandlung erwartet hätte, dass er überlebt.«

Sommer lachte in sich hinein. »Das ist ein ungeheuerlicher Verdacht, Frau Doktor Blomberg. Als Beleg haben Sie Ihr Gefühl. Somit nichts, was man über die Streams verbreiten dürfte. Und mehr werden Sie da auch nicht herausbekommen.«

Jette zuckte mit den Achseln. »Warum nicht?«

Sommer lachte zynisch auf und schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nicht, was Sie wollen, Frau Doktor. Es ist nun mal so, dass die Maschine den Krebs besiegt hat, nicht wir. Sie hat ein Zellmodell, das ist richtig. Aber keines, das ein Mensch kapieren könnte. Gut, man kann sich die Parameter der neuronalen Software anschauen, die sie selbst beim Lernprozess justiert hat. Aber genauso gut könnten Sie versuchen, die Relativitätstheorie aus den Nervenverbindungen in Einsteins Gehirn herauszulesen. Es ist sinnlos, Frau Blomberg. Alles, was Sie erreichen, ist das Vertrauen ins System zu unterminieren. Ich sage Ihnen zum letzten Mal: Sie beenden das. Oder Sie fliegen!«

Jette warf die Tür zu Sommers Büro zu und trat auf den Korridor. »Jette«, hörte sie eine sanfte weibliche Stimme. Es war Rhea, der Avatar Gaias, der den Nutzern stets zur Seite stand.

»Der letzte Therapieversuch bei Patient Alexander Wenger ist gescheitert. Die Prognose ist nicht gut. Bitte komm sofort ins Zimmer 208.« Jette stoppte ihren straffen Schritt. Ihr Atem mühte sich gegen den anschwellenden Druck des Brustkorbs.

Alexander? Nein, nicht Alexander!

Sie hätte schwören können, dass er es schaffen würde.

Nicht aus Wunschdenken. Nicht, weil er der erste Patient war, in den sie sich verliebt hatte.

Sie hatte Kranke mit weniger Kraft und Willen das Glioblastom, diesen verteufelten Hirntumor, überleben sehen. All ihre Erfahrung, ihre Intuition protestierten gegen die Nachricht. Genauer: Es rebellierte jener Teil von Jettes Instinkt, den sie in den zwei Jahrzehnten entwickelt hatte, bevor Gaia Health in ihr Berufsleben gedrungen war wie ein nicht eingeladener Gast, der einem ungefragt die Möbel umstellte und die Kochrezepte wählte. Sie drehte um und lief Richtung Zimmer 208.

Alexander Wenger durchdrang die kahle Decke des Krankenzimmers mit jenem Blick, den viele Patienten annahmen, sobald sie den Tod in unmittelbarer Nähe wussten.

»Ich kann es nicht glauben, Doktor Blomberg«, flüsterte er.

»Nenn mich Jette.« Sie legte ihre Hand auf seine.

Er lächelte wissend und sah sie an, als habe er diese Berührung schon vor geraumer Zeit erwartet.

»Schade, dass wir uns nicht früher kennengelernt haben, Jette. Wir hätten zusammen in die Villa ziehen können, die ich mir kaufen wollte. Sie hätte für eine Menge Kinder gereicht. Wirklich schade. Du hast eindeutig den falschen Job.« Ein röchelndes Lachen, das in Husten überging. Die Krankheit entstellte ihn nicht. Sogar in seinem Todeskampf gefiel er Jette. »Die letzte Ladung hat mir nicht gutgetan«, röchelte er und presste die Lippen zusammen. Er heftete den Blick an Jettes Gesicht. Warme Nässe verdrängte die Angst und die Leere aus seinen Augen. »Tut mir leid, dass du mich so sehen musst«, keuchte er.

Jette beugte sich über ihn, raffte die Bettdecke von seinem Oberkörper und legte ihm den Arm über die Brust. Ihre Lippen näherten sich Alexanders. Sie spürte die trockene, rissige Haut. Er umfasste sie und drückte sie sanft an sich. Ihre Münder umspielten sich. Dann löste Alexander den Kuss. Er hob den Oberkörper und stieß einen Seufzer aus, vor dem Jette erschrak. Er drückte sie fester an sich. Jette fühlte sich aufgehoben und von Stärke umhüllt. Alexanders Körper verströmte seine Reserven, als würde er im letzten Moment alles geben, womit er zuvor sparsam gehaushaltet hatte. Dann brach die Spannung, seine Umarmung löste sich. Alexanders Körper sackte zurück auf die Matratze.

Rhea informierte Jette darüber, dass der Patient Alexander Wenger seine Lebensfunktionen beendet hatte.

Jette richtete sich auf und sah die Leiche an.

Gaia hatte Alexander auf dem Gewissen.

Jette stand auf und trat vor das Patient Terminal, fixierte das grüne Symbol, ein stilisierter Globus, der wie ein G aussah, Gaias Logo, als stünden sie sich zum Duell gegenüber. Sie löste den Schlauch, der zu Alexanders Arm führte, klickte den Behälter mit Rezeptur 44A heraus und steckte ihn in die Tasche an ihrem Kittel.

Die Entscheidung war gefallen: Kampf statt Flucht.

Sie würde ihr Gefühl in Fakten verwandeln.

Und damit Gaia entlarven.

3

Patrick Reinerts beugte sich über das Bassin eines der Springbrunnen auf dem Stuttgarter Schlossplatz. In den sanften Wellen spiegelte sich ein blasses Gesicht. Die trocken-heiße Julibrise spielte mit dem halblangen dunkelblonden Haar. Einzelne Strähnen baumelten vor den eisblauen Augen. Ein auf struppig getrimmter, spitzer Kinnbart gab dem länglichen Gesicht das noble und gleichzeitig kraftvolle Aussehen eines Ritters.

Eines toten Ritters, erschrak Patrick.

Woher kam diese Blässe? Sein Gesicht strotzte sonst vor Bräune. Es lag sicher an dem Termin mit Rektor Bohn, dem er seit Wochen entgegenfieberte, beruhigte sich Patrick. Er pokerte um die Zukunft seiner Forschung.

»Macht euch frei, Mitmenschen!«, tönte ein durchdringender Bass in der Manier eines Predigers über den Schlossplatz.

Patrick richtete sich auf und sah durch den Wasserschleier des Springbrunnens hinüber zum Musikpavillon. Unter einem der maurischen Bögen ragte ein bärtiger Hüne auf wie ein Baum und redete mit ausgebreiteten Armen zu Menschen, die gleichgültig an ihm vorbeischlenderten.

»Euer Gott nimmt euch alles ab: jede Entscheidung, jeden Gedanken, jede Idee!«, dröhnte er. »Lasst eure smarten Augenlinsen herausoperieren, eure Kehlenelektroden, entfernt eure Ohrknöpfe. Das, was sie ›Gutleben‹ nennen, ist nichts weiter als ein Gefängnis für euren Körper und für euren Geist! Kehrt zu euch zurück, zu eurem Selbst. Zur Freiheit!«

Freiheit.

Davon hatte sein Vater auch immer schwadroniert, vor über zwanzig Jahren, kurz bevor dessen Bankerwelt in Trümmer fiel und ihn, samt seiner kleinen Familie, unter sich begrub. Seitdem hatte es keinen solchen Crash mehr gegeben. Das war wichtig: Stabilität.

Das Gutleben hielt den Westen zusammen.

Das Gutleben, entstanden dank Brent Scotts selbstloser Einsicht, Ökologie und Profit gleichermaßen zu optimieren, garantierte erst die Freiheit!

Patrick schüttelte den Kopf und eilte Richtung S-Bahnhof Stadtmitte, um schnell außer Hörweite des Eiferers zu kommen.

»Du kannst dir Zeit lassen, Patrick«, erklang eine warme, mütterliche Stimme in seinem Kopf. »Deine S-Bahn verspätet sich um acht Minuten«, ergänzte Rhea, digitale Assistentin fast aller Menschen im Westen. Die allgegenwärtige Stimme Gaias. »Alternativ könntest du einen Robobus nehmen. Immer mehr Nutzer nehmen Robobusse, Patrick. Sie sind sehr umweltfreundlich und sicher. Er wird in sechs Minuten dort vorbeikommen und ist direkt zum Vaihinger Campus gebucht.«

Vor der sanftgrünen Fassade des Gaia Bookstore schwebend erschien ein Straßenplan. Rhea spielte ihn auf Patricks Kontaktlinsen. Der Plan zeigte seine Position an und einen rot blinkenden Punkt an der Ecke Theodor-Heuss/Klienestraße, Gehzeit drei Minuten. »Soll ich einen Halt anfordern?«, fragte Gaias Mädchen für alles.

»Ja, bitte, Rhea«, antwortete Patrick.

»Aber gerne«, quittierte die Stimme.

Patrick verlangsamte seinen Schritt, bog in die Königsstraße ein und studierte die entgegenkommenden Passanten. Eine Frau trug eine Datenbrille, wie man sie nur selten sah. Die meisten Leute trugen Kontaktlinsen. Viele Jüngere ließen sich die Technologie, die sie mit dem lückenlosen Funknetz verband, implantieren. Die Menschen verwoben sich unterschiedlich fest mit der Cloud. Sie tauchten mehr oder weniger tief ins Gutleben. Patrick studierte die Gesichter. Etwas darin hatte sich verändert in den letzten zehn, fünfzehn Jahren. Sie waren entspannter, freundlicher, trugen öfter den Hauch eines zufriedenen Dauerlächelns; sie wirkten aber leerer, gleichgültiger, hündischer.

»Hast du einen Riegel für heute Vormittag?«, fragte Rhea, als Patrick einen Gaia Snacks passierte. Rhea blendete einen grün blinkenden Pfeil ein, der ihn zum Eingang der Riegel-Boutique wies. Der Wegweiser leitete Patrick zweimal links und einmal rechts durch die Regale des Ladens, bis ein Stoppsignal aufleuchtete. Er erwachte, wie aus einem Automatismus. In dem Fach vor ihm lagen weißlich braune Proteinriegel mit Stevia und lokalen Nüssen und Mandeln vom Otthof bei Esslingen. Kurze Transportwege, keine Verpackung. Patrick war aufgefallen, dass Rhea ihn seit ein paar Wochen nicht mehr zu Zuckerhaltigem lenkte. Womöglich maßen die Kontaktlinsen einen zu hohen Glucosewert in seiner Tränenflüssigkeit und Rhea bewahrte ihn davor, Diabetes zu entwickeln. Ob das stimmte, interessierte Patrick nicht. Niemand kümmerte sich um seine Stoffwechselwerte. Rhea agierte geschickt. Denn er liebte Nüsse und Mandeln. Flink fischte er zwei der Snacks aus dem Behälter, biss in den einen hinein, steckte sich den anderen in seine Hosentasche und verließ den Laden. Rhea buchte fünf Euro von Patricks digitaler Geldbörse ab.

Auf halbem Weg zum Treffpunkt mit dem Robobus holte Patrick den zweiten Riegel aus der Tasche und verschlang ihn, während er weiterschlenderte. »Ein bisschen schneller darf’s sein«, flötete Rhea. Er folgte.

Im Augenwinkel bemerkte er, wie auf der anderen Straßenseite eine Gruppe Passanten stehenblieb. »Rhea?«, rief eine Männerstimme so laut, dass sie von den Häuserwänden widerhallte. Patrick blieb stehen und sah hinüber. Frauen und Männer, die nicht aussahen, als gehörten sie zusammen, drehten ihre Köpfe suchend herum, nach links, rechts, oben. Zwei sahen sich an und zuckten gleichzeitig mit den Schultern. »Sie ist weg«, sagte der eine. Im nächsten Moment entspannte sich sein Körper. Auch die anderen schienen erleichtert. »Ah, Rhea, da bist du ja wieder«, sagte eine junge Frau. Alle gingen weiter ihres Weges.

Auch Patrick.

Ein Ausfall Rheas! Das habe ich noch nie gesehen!

Als Patrick an der Ecke ankam, stoppte fast lautlos ein lindgrüner Kleinbus. Die Aufschrift Gaia Mobile auf der Tür glitt zur Seite. Freundlich nickten ihm die Mitfahrer zu, als er eintrat. Eine gut aussehende junge Frau lächelte ihn offen an und machte ihm neben sich Platz. Er wünschte sich einen etwas weniger flüssigen Stadtverkehr, denn er unterhielt sich anregend mit seiner Nachbarin. Sie interessierte sich sehr für prognostische KI, Patricks Spezialgebiet – und für seine blauen Augen. Tanja, so hieß sie, studierte in Karlsruhe Kernkrafttechnik. Sie leuchtete, als sie von ihrer Beteiligung am Bau von Stuttgarts dritter Atombatterie berichtete. Endlich wusste Patrick, wozu der Schiffscontainer neben der Mensa diente. Er hatte auf einen Quartierspeicher für Solarstrom getippt, doch das Ding enthielt einen Mini-Reaktor und Kernbrennstoff für 30 Jahre, wie Tanja berichtete. Nach zwölf Minuten erreichten sie den Pfaffenwaldring, Patricks Arbeitsort. Bevor er ausstieg, blinzelten sie sich jeweils zweimal mit dem rechten Auge zu und die Linse bestätigte den Austausch der Kontakte.

Patrick stieg aus, ging in das Unigebäude und nahm den Aufzug in den fünften Stock. In seinem Büro angelangt, sah er aus dem Fenster. Er liebte die sanften Hügel des Pfaffenwaldes. Ihre Konstanz und Ruhe gaben ihm Sicherheit, milderten die diffuse Angst, und hielten seinen Herzschlag im Zaum. Nicht einmal die nagelneuen Holzhochhäuser der neuen Waldstadt fand er störend. Das Grün ihrer Fassadengärten, ihre sich nach oben verjüngende Form und die unregelmäßigen Konturen ließen sie wie Riesenbäume aussehen. Patrick drehte sich um und setzte sich an den Schreibtisch, um sich auf seinen Besucher vorzubereiten.

Die Aufzugtür öffnete sich ruckelnd. Ein hochgewachsener Mann im blauen Nadelstreifenanzug schritt zwischen die Graffitis in der Aufzugskabine, trommelte mit einem Briefumschlag an den Oberschenkel und drückte die »5«. Während die Tür sich quietschend schloss und der Aufzug losfuhr, hielt sich Erik Bohn das Kuvert vors Gesicht und drehte es um.

Bitte am 16. Juli 2031, 11.30 Uhr zur Besprechung ins Büro von Patrick Reinerts mitbringen. UNGEÖFFNET!

Bohn rief die Uhrzeit ab. Elf Uhr fünfundzwanzig. Er verzog das Gesicht, als habe er etwas Saures gekostet, und schüttelte den Kopf.

»Meine Güte, wie theatralisch«, murmelte er.

Patrick Reinerts griff nach der Tasse mit Lupinenkaffee, die auf der zerkratzten Schreibtischplatte stand.

»Rhea«, sagte er, setzte die Tasse an seine Lippe, schlürfte und verzog den Mund ob des bitteren Geschmacks.

»Ja, Patrick?«

»Ich würde gleich meinem Besuch das Video Nummer 12 zeigen.«

»Ich bereite gerne alles vor, Patrick«, quittierte Rhea.

Mit einem leisen Surren rollte sich der Großbildschirm an der freien Wand gegenüber dem Schreibtisch auf. Auf dem Bildschirm erschien das Logo von Gaia Viewer. Das Fenster verdunkelte sich wie eine Sonnenbrille. Die Website auf dem Schirm gewann an Konturen.

»Dann würde ich mich gerne für eine Weile von dir verabschieden, Rhea.«

»Wie du wünschst, Patrick«, erklang es mit wohldosierter künstlicher Pikiertheit. »Erlaube mir bitte jedoch den Hinweis«, fuhr die Assistentin fort, »dass ich alles vertraulich behandle. Die Daten werden auf dem Weg zu mir verschlüsselt. Es ist schlicht nicht nötig, zeitweise auf meine Dienste zu verzichten.«

Das konnte sich Gaias digitale Stimme nicht verbeißen. Gaia verzichtete ungern auf Daten aus dem Alltag der Konsumenten. Zwar folgte Rhea jeder expliziten Ausladung, unabhängige Messungen von Datenströmen bestätigten dies. Doch wer verzichtete schon freiwillig auf die perfekten Dienste? Ohne Rhea musste man jedes Hausgerät einzeln ansprechen, statt sich pauschal einen netten, gemütlichen Abend zu wünschen und die Details von Rhea regeln zu lassen. Für Bürogeräte und Industrieroboter galt ähnliches. Alles wurde von Gaia vertrieben, gewartet und upgedatet.

Gaia war die Benutzeroberfläche der Welt.

Doch Patrick ließ sich nicht umstimmen.

Er nahm einen weiteren Schluck Kaffee. Aus dem Gang hörte er ein Quietschen und das scharfe Klackern von Ledersohlen auf Linoleumboden. Er schwang den Stuhl zum Schreibtisch, rollte seine Foil auf, beugte sich über sie, tippte und wischte darauf herum. Die Schritte verlangsamten sich. Es klopfte.

»Doktor Reinerts?«, tönte eine klare Stimme.

Patrick mimte ein Aufschrecken, wandte den Kopf zur Tür und lächelte.

»Herr Rektor Bohn! Kommen Sie doch herein.«

Bohn trat ein, gab Patrick einen flüchtigen Händedruck, während er sich mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck in dessen Büro umsah.

»Schön ruhig haben Sie’s hier.«

Patrick nickte. »Am Stuttgarter Campus tätig zu sein ist ein Privileg«, sagte er.

Bohn musterte ihn. »Sie sagen es, Doktor Reinerts. Umso mehr, da wir seit gestern, dank der jüngsten Erweiterung, den größten neuromorphen Computercluster der Welt haben. Zu dessen Auslastung, da bin ich mir sicher, Sie ebenfalls nicht unerheblich beizutragen beabsichtigen.«

Patrick nickte zögernd. Ja, tatsächlich beabsichtigte er das.

Er bot Bohn einen Stuhl und einen Kaffee an. Dieser lehnte beides ab.

»Nun, Herr Rektor, der Termin steht ja schon länger. Ich nehme an, Sie möchten über mein Forschungsprojekt sprechen.«

»In der Tat. Ihr außergewöhnliches Vorhaben ist seit Tagen Thema im Rektorat. Viele halten es für ein Hirngespinst. Budenzauber.«

4

Vor der filigranen Gebirgslandschaft des Malers Dong Qichang an der Rückwand reckte der Vorsitzende der Digital Defense Unit of China die rechte Faust zur kirschholzroten Holzdecke.

»Den Chinesischen Traum für die Welt!«, rief er.

Die Führungskader, die stramm um den Lagebesprechungstisch in der Pekinger DDC-Zentrale herumstanden, hoben ihre Fäuste zur Antwort.

Wie auf Kommando setzten sich die elf Männer auf ihre knarzenden ledergepolsterten Holzstühle.

Einer der Stühle blieb leer.

»Die Lage, Genosse Lien«, sagte der Vorsitzende an einen schmalen Mittzwanziger gewandt. Der Angesprochene schob sich seine Brille zurecht. Kontaktlinsen und andere Körpertechnik blieben vor den Türen dieses Saales. Kein Kader des DDC trug Implantate, anders als die meisten ihrer Landsleute. Lien blätterte in den Unterlagen, die vor ihm auf der lackglänzenden Tischplatte lagen. Der Vorsitzende trommelte mit den Fingern. Die anderen schielten zu Lien.

Nachdem dieser sechs Bögen umgeblättert hatte, räusperte sich der Vorsitzende.

»Die Löcher in der Großen Firewall nehmen mit der bekannten Rate zu«, sagte Lien schließlich.

Der Vorsitzende spitzte den Mund. »Und die Selbstmorde?«, fragte er.

»Die Zahl der Suizide hat sich weiter erhöht«, antwortete Lien. »Dreizehntausenddreihundertzwölf in der letzten Woche. Ein Plus von achtzehn Prozent. Damit ist die Suizidrate über fünfmal so hoch wie normal. Es fällt immer schwerer, die Sache unter der Decke zu halten.«

Vielstimmiges Murren rund um den Tisch. Der Vorsitzende reckte das Kinn und zog die schmalen Mundwinkel nach unten.

»Bedauerlicherweise gehört zu den Betroffenen auch die Familie eines unserer verdientesten KI-Experten. Lu Meng, einer der Väter der KI hinter dem Weg. Meng hat die Motivations-Module des Wegs entwickelt«, fuhr Lien fort. »Seine Frau Lin, sein Sohn Tao und seine Tochter Aya haben sich vergiftet.«

Der Vorsitzende starrte zu dem leeren Stuhl. Sekundenlang sagte er nichts. Mühsam gelang es ihm, Überraschung und Sorge nicht an die Oberfläche steigen zu lassen.

»Und Meng?«, fragte er, um einen geschäftsmäßigen Ton bemüht.

Der Berichterstatter fuhr sich mit der Handfläche über die Stirn. »Er ist... verschwunden!«

»Verschwunden?! Wie könnte er verschwinden

»Vergiss nicht, Genosse Vorsitzender«, mischte sich ein grauhaariger Mann mit sanften Gesichtszügen ein. »Meng ist Experte genug, um sich unsichtbar zu machen. Er kennt die Hintertüren und Tricks.«

»Unsichtbar, Genosse Zhao?«, blaffte der ranghöchste Offizier im Raum zurück. »Besitzt er eine Tarnkappe?«

»Natürlich nicht«, gab Zhao zurück. »Aber er schlüpft in fremde Identitäten. Seine Linsen gaukeln unserer KI etwas vor. Ich vermute, dass er sein Verschwinden von langer Hand geplant hat. Seine Vertrauenswürdigkeit hat sich um zehn Prozent vermindert in den letzten vier Monaten. Er hat sich von uns entfernt. Wahrscheinlich ist er außerhalb des Reiches der Neuen Seidenstraße. Es ist auf dem Seeweg nicht allzu weit von Shanghai nach Japan.«

Der Vorsitzende schüttelte den Kopf. »Wie soll das mit dem Selbstmord an seiner Familie zusammenpassen? Wahrscheinlich ist er am Boden zerstört und betrinkt sich in einer Spelunke.«

Einige in der Runde sahen sich an, befremdet von der untypischerweise persönlich verletzenden Aussage ihres Bosses.

»Könnte es sein, dass er in den Westen will, um sich zu rächen?«, fragte ein Mann mittleren Alters, der ganz am Ende des langen Tisches saß.

»Rächen? An wem?« Der Vorsitzende zuckte demonstrativ die Achseln und setzte einen verständnislosen Blick auf.

»An uns«, antwortete der Mann verhalten. »Am Weg, weil er denkt, er ziehe Bürgern willkürlich Sozialkreditpunkte ab. Das System hat seine Familie in den Tod getrieben.«

»Gut möglich, dass er uns vom Westen aus attackieren will«, sagte Zhao. »Einen privaten Cyberkrieg führen. Das wäre ihm durchaus möglich. Er kennt unsere Systeme.«

Der Vorsitzende schnaubte, schüttelte vehement den Kopf.

»Was soll das? Der Weg macht keine Fehler! Dahinter stecken Hacker aus dem Westen!«

»Das wissen wir nicht«, meinte ein weiteres Mitglied des DDC, das Zhao gegenübersaß.

»Woher kommen die Löcher in der Großen Firewall der Neuen Seidenstraße dann?«, wollte der Vorsitzende wissen.

»Schwer zu sagen«, gab Zhao zurück. »Unser digitaler Eiserner Vorhang wehrt westliche Angriffe immer noch zuverlässig ab. Möglicherweise ist es ja doch ein Fehler unserer KI.«

Der Vorsitzende schlug mit der flachen Hand auf die Tischfläche. Alle erschraken. Er reckte das Kinn und fixierte denjenigen, der die Perfektion der Herrschaftstechnologie anzweifelte, aus engen Augenschlitzen.

»Ich sagte doch schon: Der Weg macht keine Fehler!«, stieß er scharf aus. »Es sind Angriffe aus dem Westen!«

Sein Blick wanderte nun streng über die Runde und landete bei Lien.

»Wir entwickeln doch die ganze Zeit Gegenmaßnahmen für mögliche Schläge. Wie ist der Stand, Genosse?«

»Es ist nicht leicht«, antwortete Lien. »Die Große Firewall wirkt bekanntlich in beide Richtungen. Aber wir sind am Problem dran.«

Der Vorsitzende zog die Mundwinkel nach unten.

»Es ist nicht leicht!?«, sagte er. »Natürlich ist es nicht leicht, Genosse! Finden Sie einen Weg! Wir müssen dem Westen die Zähne zeigen, ihm vorführen, dass wir das Gutleben kippen können, wenn wir es wollen.«

Er stützte die Hände auf den Tisch und deutete, vorgebeugt, ein Aufstehen an, wobei er nochmal in die Runde blickte.