Der Autor

Jo Nesbø – Foto © Stian Broch

JO NESBØ, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Er gehört zu den renommiertesten und erfolgreichsten Krimiautoren weltweit. Jo Nesbø lebt in Oslo.
www.nesbo.de www.jonesbo.com
Übersetzt von GÜNTHER FRAUENLOB, Jahrgang 1965. Er arbeitet seit über 20 Jahren als literarischer Übersetzer für Norwegisch und Dänisch. Zu den von ihm übersetzten Autoren zählen u.a. Lars Mytting und Gard Sveen. Er lebt in Waldkirch in der Nähe von Freiburg.

Das Buch

Harry Holes Albtraum ist wahr geworden: Seine Frau Rakel hat ihn rausgeworfen. Dass er seitdem wieder trinkt, dass er seinen Job an der Polizeihochschule verloren hat ist Nebensache. Um halbwegs durch den Tag zu kommen, arbeitet Hole wieder bei der Polizei, als einfacher Ermittler. Als er auf die Spur eines Mannes stößt, den er nach wie vor für einen brutalen Vergewaltiger hält, erwacht sein Jagdinstinkt. Schon einmal hat Hole Svein Finne hinter Gitter gebracht. Doch Finne ist ein harter Gegner. Und plötzlich wird Hole selbst zum Gejagten.



Von Jo Nesbø sind in unserem Hause bereits erschienen:


Fledermausmann (Harry Holes 1. Fall)
Kakerlaken (Harry Holes 2. Fall)
Rotkehlchen (Harry Holes 3. Fall)
Fährte (Harry Holes 4. Fall)
Das fünfte Zeichen (Harry Holes 5. Fall)
Erlöser (Harry Holes 6. Fall)
Schneemann (Harry Holes 7. Fall)
Leopard (Harry Holes 8. Fall)
Larve (Harry Holes 9. Fall)
Koma (Harry Holes 10. Fall)
Durst (Harry Holes 11. Fall)
Messer (Harry Holes 12. Fall)


Außerdem:


Headhunter
Der Sohn
Blood on Snow. Der Auftrag · Blood on Snow. Das Versteck

Jo Nesbø

Messer

Ein Fall für Harry Hole

Kriminalroman

Aus dem Norwegischen
von Günther Frauenlob

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:
www.ullstein.de

ISBN: 978-3-8437-2007-6
© 2019 by Jo Nesbø
© der deutschsprachigen Ausgabe
2019 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Published by agreement with Salomonsson Agency
Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Titelabbildung: Shutterstock/© Le Panda (Ausfransung); plainpicture/©NaturePL/Erlend Haarberg (Fuchs im Schnee); © Archiv Büro Jorge Schmidt (Hintergrund)
Autorenfoto: © Stian Broch

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Teil I

kapitel 1

Das zerrissene Kleid an der morschen Kiefer führte die Gedanken des alten Mannes zu einem Lied aus seiner Jugend, über ein Kleid an einer Wäscheleine. Nur dass dieses Kleid hier nicht wie in dem Lied im Südwind wehte, sondern im eiskalten Schmelzwasser des Flusses trieb. Dicht über dem kiesigen Grund war es still, und obwohl an diesem Märztag die Sonne schien und es erst fünf Uhr nachmittags war, kam von dem Licht dort unten nicht viel an. Dafür sorgten die Eisschicht und das vier Meter tiefe Wasser. Trotzdem hoben sich das Kleid und die Kiefer von dem seltsam grünlichen Halbdunkel ab. Es war ein Sommerkleid, das hatte er erkennen können, weiß mit hellblauen Punkten. Vielleicht war es nicht immer weiß gewesen, er wusste es nicht, das kam sicher darauf an, wie lange das Kleid schon dort unten am Zweig hing. Es bewegte sich in dem nie endenden Wasserstrom hin und her. Langsam und sanft, wenn der Fluss wenig Wasser führte, hektisch und starr bei Hochwasser. Der Stoff war immer dünner, rissiger geworden. Wie er selbst, dachte der Alte. Irgendwann war dieses Kleid für jemanden wichtig gewesen, ein Mädchen oder eine Frau, für die Augen eines Mannes oder die Arme eines Kindes. Doch jetzt war es verloren wie er selbst, der Zeit übereignet, ohne Funktion, ausgesondert, stumm und still. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Strömung auch den letzten Fetzen Stoff abriss und fortspülte.

»Was gibt es denn da zu gucken?«, hörte er eine Stimme hinter seinem Stuhl fragen. Er trotzte den Muskelschmerzen, drehte den Kopf und hob den Blick. Ein neuer Kunde. Der Alte vergaß mehr als früher, nie aber Gesichter seiner Kunden, wann auch immer sie im Simensen Jakt & Fiske gewesen waren. Dieser Kunde wollte weder eine Waffe noch Munition. Mit etwas Training erkannte man an ihren Augen, ob sie Wiederkäuer waren und dem Teil der Menschheit angehörten, der den Instinkt zu töten verloren hatte. Sie verstanden das Geheimnis der anderen nicht, nicht die Magie, dass ein Mann sich durch nichts auf der Welt lebendiger fühlte, als den Abzug zu drücken und ein großes, warmes Tier niederzustrecken. Der Alte tippte darauf, dass der Mann sich für die Blinker oder eine der Angelruten interessierte, die an dem Regal über und unter dem großen Fernsehschirm an der Wand vor ihnen hingen. Oder vielleicht für eine der Wildkameras auf der anderen Seite des Ladens.

»Er guckt in den Fluss, den Haglebuelva«, sagte Alf an seiner Stelle. Sein Schwiegersohn war zu ihnen getreten. Er wippte auf den Fußballen stehend auf und ab und hatte die Hände tief in der langen ledernen Schießweste vergraben, die er immer trug, wenn er im Laden war. »Wir haben letzten Sommer in Zusammenarbeit mit dem Kameraproduzenten da eine Unterwasserkamera installiert. Wir senden seitdem rund um die Uhr live von einer Stelle etwas oberhalb der Fischtreppe am Norafossen und kriegen ganz genau mit, wann die Fische mit dem Aufstieg beginnen.«

»Und wann ist das?«

»Ein paar kommen schon im April oder Mai, aber so richtig los geht es erst im Juni. Die Forellen müssen abgelaicht haben, wenn die Lachse kommen.«

Der Kunde lächelte dem Alten zu. »Dann sind Sie aber doch ein bisschen früh dran? Oder haben Sie einen Fisch gesehen?«

Der Alte öffnete den Mund. Er dachte die Worte, hatte sie nicht vergessen. Aber es kam nichts, sodass er den Mund wieder schloss.

»Aphasie«, sagte Alf.

»Was?«

»Schlaganfall, er spricht nicht. Suchen Sie nach Angelzeug?«

»Nein, ich brauche eine Wildkamera«, sagte der Kunde.

»Dann sind Sie Jäger?«

»Jäger? Nein, Gott bewahre. Ich habe draußen vor meiner Hütte im Sørkedalen Exkremente gefunden, und das Zeug sah anders aus als alles, was ich bisher gesehen habe. Ich habe davon Bilder auf Facebook gepostet und gefragt, was das sein kann. Die Antwort kam prompt. Das sollen Bärenexkremente sein. Ein Bär, stellen Sie sich das mal vor. In einem Wald, der mit dem Auto gerade mal eine halbe Stunde vom Zentrum der norwegischen Hauptstadt entfernt ist.«

»Aber das ist doch fantastisch.«

»Kommt ganz darauf an, was Sie unter ›fantastisch‹ verstehen. Ich habe da eine Hütte, in die ich mit meiner Familie fahre. Ich will, dass dieses Vieh geschossen wird.«

»Ich bin Jäger, ich kann Sie sehr gut verstehen, aber Sie wissen ja selbst, wie das in Norwegen ist. Bis vor wenigen Jahren gab es noch richtig viele Bären, trotzdem ist in den letzten paar Hundert Jahren kaum ein Bärenangriff mit tödlichem Ausgang gemeldet worden.«

Elf, dachte der Alte. Elf Menschen seit 1800. Der letzte 1906. Er konnte nicht mehr sprechen und war auch motorisch nicht mehr auf der Höhe, aber sein Gedächtnis funktionierte noch. Und er konnte klar denken. Meistens jedenfalls. Manchmal war er etwas verwirrt, und hin und wieder sah er auch, wie sein Schwiegersohn und seine Tochter sich Blicke zuwarfen, denen er entnehmen konnte, dass er irgendetwas verwechselt haben musste. In den ersten Jahren nach der Übergabe des Ladens, den er vor fünfzig Jahren gegründet und seither betrieben hatte, war er noch eine Hilfe gewesen. Aber seit dem letzten Schlaganfall saß er nur noch in seinem Sessel. Was nicht schlimm war, da er seit Olivias Tod nichts mehr vom Leben erwartete. In der Nähe seiner Familie zu sein, jeden Tag ein warmes Essen, im Laden in seinem Sessel zu sitzen und das immer gleiche, stumme Fernsehprogramm, das reichte ihm. Das Tempo war wie ein Spiegel seines Lebens. Das Aufregendste, was passieren konnte, war der erste Fisch, der zur Laichzeit die Fischtreppe erklomm.

»Was natürlich nicht heißt, dass das nicht passieren könnte.« Der Alte hörte, dass Alf mit dem Kunden zu dem Regal mit den Wildkameras gegangen war. »Auch wenn die wie Teddybären aussehen, sollte man auf der Hut sein. Alle Fleischfresser töten. Es ist schon richtig, dass Sie sich eine Kamera anschaffen, dann wissen Sie ein für alle Mal, ob das Tier sich in der Nähe der Hütte niedergelassen hat oder nur vorbeigelaufen ist. Die Braunbären verlassen übrigens gerade ihre Winterhöhlen, und dann haben sie Hunger. Installieren Sie die Kamera dort, wo Sie die Exkremente gefunden haben, oder auch direkt an Ihrer Hütte.«

»In diesem Nistkasten steckt die Kamera?«

»Der Nistkasten, wie Sie den nennen, schützt vor Wind und Wetter und vor zu aufdringlichen Tieren. Die Kamera ist einfach, hat aber ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis. Sie hat eine Fresnel-Linse. Sie erkennt die infrarote Strahlung, also die Wärmestrahlung, die Tiere, Menschen oder auch andere Dinge abgeben. Ist diese Strahlung stärker als die der Umgebung, wird automatisch der Film gestartet.«

Der Alte hörte nur halb zu, etwas auf dem Bildschirm hatte seine Aufmerksamkeit gefesselt. Er konnte nicht genau erkennen, was es war, aber etwas in dem grünen Dunkel schimmerte.

»Der Film wird in der Kamera gespeichert – so können Sie ihn sich anschließend auf Ihrem PC ansehen.«

»Das ist fantastisch.«

»Ja, aber Sie müssen immer zur Kamera und die Speicherkarte entnehmen, um zu sehen, ob es neue Aufnahmen gibt. Andernfalls müssten Sie sich für dieses etwas teurere Modell entscheiden, das informiert Sie mittels SMS, wenn neue Bilder aufgenommen werden. Jedes Mal. Und dann gibt es noch das Spitzenmodell hier. Das hat auch eine Speicherkarte, sendet aber die Aufnahmen parallel an Ihr Handy oder Ihre Mailadresse. Dann können Sie zu Hause im Wohnzimmer alles live verfolgen. Sie müssen dann nur noch ab und zu die Batterien in der Kamera wechseln.«

»Und was, wenn der Bär nachts kommt?«

»Die Kameras verfügen über ein Black LED-Light, manche auch über ein White LED-Light. Dieses Licht ist für die Tiere nicht sichtbar, sodass sie nicht verscheucht werden.«

Licht. Natürlich, das war es. Der Alte verstand es jetzt. Irgendwo von rechts näherte sich ein Lichtkegel, der sich durch das grüne Wasser bohrte und auf das Kleid fiel. Schaudernd dachte er für einen Moment an ein junges Mädchen, das endlich zum Leben erweckt wurde und vor Freude tanzte.

»Das ist ja die reinste Science Fiction!«

Der alte Mann öffnete den Mund, als er das Raumschiff ins Bild gleiten sah. Es war von innen beleuchtet und schwebte etwa anderthalb Meter über dem Grund. Die Strömung trieb es gegen einen Stein und wie in Zeitlupe drehte es sich um die eigene Achse. Das Licht der Scheinwerfer streifte über den Kies und blendete den Alten für einen Moment. Schließlich blieb das schwebende Fahrzeug an einem dicken Ast der Kiefer hängen. Der Alte spürte sein Herz klopfen. Es war ein Auto. Drinnen brannte noch Licht, obwohl der Innenraum fast bis zur Decke mit Wasser gefüllt war. Und dann sah er, dass sich in dem Auto eine Person befand, die halb auf dem Fahrersitz aufgerichtet verzweifelt den Kopf an das Dach presste, wohl um Luft zu bekommen. Dann brach einer der morschen Äste, die das Auto gestoppt hatten, und trieb mit der Strömung ab.

»Die Bilder sind natürlich nicht so scharf wie bei Tageslicht, und die Aufnahmen sind auch nur in Schwarz-Weiß. Aber wenn kein Tau oder anderer Dreck auf der Linse ist, werden Sie den Bären schon erkennen.«

Der Alte stampfte mit dem Fuß auf den Boden, um Alfs Aufmerksamkeit zu erregen. Die Person im Auto schien noch einmal tief Luft zu holen und tauchte dann unter. Die kurzen Haare wogten in dem Wasser hin und her, die Wangen waren aufgeblasen. Der Mann versuchte jetzt mit beiden Händen gegen das Seitenfenster in Richtung Kamera zu schlagen, das Wasser nahm ihm jedoch alle Kraft. Der Alte umfasste die Armlehnen und wollte sich aus dem Sessel hochdrücken, aber seine Muskeln gehorchten ihm nicht. Er registrierte, dass ein Mittelfinger des Mannes irgendwie grau wirkte. Dann hörte er auf, die Fäuste gegen die Scheibe einzusetzen, und bearbeitete sie stattdessen mit der Stirn, es schien allerdings, als hätte er schon aufgegeben. Ein weiterer Ast brach, und die Strömung ruckte und zerrte an dem Auto, noch wollte die Kiefer es aber nicht freigeben. Der Alte starrte auf das gezeichnete Gesicht, das sich von innen gegen die Scheibe drückte. Die hervorquellenden blauen Augen. Eine Narbe, die sich in einem Bogen vom Mundwinkel bis zu einem Ohr zog. Der Alte hatte sich aufgerichtet und machte zwei vorsichtige Schritte in Richtung der Wildkameras.

»Entschuldigen Sie«, sagte Alf ungläubig und ging mit raschen Schritten am Alten vorbei in Richtung Fernseher. »Ein Fisch?«

Der Alte schüttelte den Kopf und drehte sich wieder zum Fernseher um. Das Auto. Es war verschwunden. Alles war wie zuvor. Der kiesige Grund, die tote Kiefer, das Kleid, das grünliche Licht, das durch das Eis fiel. Als wäre nichts geschehen. Der Alte stampfte noch einmal mit dem Fuß auf den Boden und zeigte auf den Fernseher.

»Immer mit der Ruhe, Vater«, sagte Alf und tätschelte die Schulter des Alten. »Die Laichzeit hat doch noch gar nicht angefangen.« Er ging zurück zu dem Kunden mit der Wildkamera.

Der Alte sah zu den beiden Männern hinüber, die ihm den Rücken zuwandten, und spürte Wut und Verzweiflung in sich aufkeimen. Wie konnte er erklären, was er gerade gesehen hatte? Der Arzt hatte gesagt, dass der Schlaganfall sowohl den vorderen als auch den hinteren Teil der linken Gehirnhälfte in Mitleidenschaft gezogen habe, weshalb vermutlich nicht nur das Sprachzentrum, sondern generell die Fähigkeit zu kommunizieren betroffen sei. Also auch das Schreiben und Gestikulieren. Der Alte schob seine Füße langsam zurück zum Sessel und setzte sich wieder. Starrte in den endlos strömenden Fluss. Als wäre nichts gewesen.

Nach ein paar Minuten hatte sich sein Herz wieder etwas beruhigt. Wer weiß, vielleicht war das alles ja gar nicht passiert. Vielleicht war es nur ein Hirngespinst, ein weiterer Schritt in die senile Dunkelheit. Oder ins grelle Reich der Halluzination. Er starrte auf das Kleid. Als das Scheinwerferlicht des Autos darauf gefallen war, hatte er für einen Moment Olivia darin tanzen sehen. Und geglaubt, das Gesicht zu kennen, das sich hinter dem Seitenfenster im beleuchteten Innenraum des Wagens abgezeichnet hatte. Aus dem Laden. Die einzigen Gesichter, an die er sich erinnerte, waren die, die er hier drinnen gesehen hatte. Und diesen Mann hatte er zweimal gesehen. Die blauen Augen und die leberfarbene Narbe. Beide Male hatte er eine Wildkamera gekauft. Die Polizei war erst kürzlich im Geschäft gewesen und hatte nach diesem Mann gefragt. Der Alte hätte ihnen aber nur sagen können, dass er groß war und ganz besondere Augen hatte. Einen Blick, der jedes Geheimnis zu kennen schien und der ihm verraten hatte, dass dieser Mann kein Wiederkäuer war.

kapitel 2

Svein Finne beugte sich über die Frau und legte ihr die Hand auf die schweißnasse Stirn. Ihre Augen starrten ihn direkt an, weit aufgerissen vor Schmerz. Oder Angst. Vermutlich Letzteres, dachte er.

»Hast du Angst vor mir?«, flüsterte er.

Sie nickte und schluckte. Er hatte sie schon immer schön gefunden. Egal, ob sie aus dem Haus ging oder wieder zurückkam, im Fitnessstudio war oder ein paar Meter von ihm entfernt in der U-Bahn saß. Nie aber hatte sie ihn so fasziniert wie jetzt, da sie so hilflos in seiner Gewalt war.

»Ich verspreche dir, dass es schnell gehen wird, Geliebte«, flüsterte er.

Sie schluckte. War wie gelähmt. Er fragte sich, ob er sie küssen sollte.

»Ein Stich in den Bauch«, flüsterte er. »Dann ist alles vorbei.«

Sie kniff die Augen zusammen, und zwei dicke Tränen bildeten sich auf ihren Augenlidern.

Svein Finne lachte leise. »Du wusstest doch, dass ich kommen würde. Dass ich dich nicht gehen lassen könnte. Ich hatte es dir versprochen.«

Er fuhr mit dem Zeigefinger über die Mischung aus Schweiß und Tränen auf ihrer Wange. Betrachtete eines ihrer Augen durch das große, klaffende Loch in seinem Handrücken, die Schwinge des Adlers. Das Loch stammte von der Kugel eines damals noch jungen Polizisten. Sie hatten Svein Finne wegen achtzehn sexuellen Übergriffen zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt. Er hatte die Taten nicht bestritten, sich aber gegen das Wort Übergriff gewehrt. Und gegen die Tatsache, dass ein Mann wie er für so etwas bestraft wurde. Der Richter und die Geschworenen waren jedoch der Meinung gewesen, dass die norwegischen Gesetze über denen der Natur stünden. So viel dazu.

Ihr Auge starrte ihn durch das Loch an.

»Bist du bereit, Liebste?«

»Nenn mich nicht so«, wimmerte sie. »Und bitte … kein Messer …«

Svein Finne seufzte. Warum hatten alle solche Angst vor Messern? Es waren die ersten Werkzeuge der Menschheit, die Menschen hatten zweieinhalb Millionen Jahre Zeit gehabt, um sich daran zu gewöhnen, und noch immer gab es Leute, die deren Schönheit nicht erkannten und nicht einsehen wollten, dass unsere Vorfahren nur dank des Messers von den Bäumen hatten herabsteigen können. Jagd, Hausbau, Landwirtschaft, Essen, Verteidigung. Das Messer nahm nicht nur Leben, es schenkte es auch. Das eine war ohne das andere nicht möglich. Nur wer das verstand, wer diese menschliche Seite konsequent akzeptierte, konnte das Messer lieben. Fürchten und lieben. Zwei Seiten derselben Medaille.

Svein Finne hob den Blick. Sah zu den auf der Anrichte bereitliegenden Messern. Er musste nur noch die Wahl treffen. Das richtige Messer für die richtige Tätigkeit war entscheidend. Die Messer waren gut, zweckdienlich, von herausragender Qualität. Trotzdem fehlte ihnen, was Svein Finne an Messern besonders schätzte. Persönlichkeit, Seele, Magie. Bevor der groß gewachsene junge Polizist mit den störrischen Haaren alles kaputtgemacht hatte, war Svein Finne der stolze Besitzer einer stattlichen Sammlung von insgesamt sechsundzwanzig Messern gewesen.

Das schönste war ein javanisches Messer. Mit langer, dünner, asymmetrischer Klinge, wie eine sich windende Schlange mit Griff. So schön wie eine Frau. Dieses Messer war in der Handhabung vielleicht nicht das beste, seine hypnotische Wirkung ließ die Menschen aber tun, was er sagte. Die wirkungsvollste Mordwaffe seiner Sammlung war ein Rampuri gewesen, das Lieblingsstück der indischen Mafia. Es hatte eine Eiseskälte ausgestrahlt und war von faszinierender Hässlichkeit gewesen. Ein Karambit, ein Messer in Form einer Tigerklaue, war effizient und schön. Aber die Schönheit war möglicherweise zu inszeniert, wie bei einer zu stark geschminkten Hure oder einem etwas zu engen Kleid mit tiefem Ausschnitt. Svein Finne hatte sich nie dafür begeistern können. Er mochte die unschuldigen, die jungfräulichen, auch die einfachen. Wie der Favorit in seiner Sammlung, das finnische Puukko-Messer. Der Griff war aus nussbraunem, glattem Holz gewesen, die Klinge kurz mit einer Vertiefung und einer nach oben gebogenen Spitze. Er hatte das Puukko in Turku gekauft und es zwei Tage später benutzt, um einem rundlichen, achtzehnjährigen Mädchen, das mutterseelenallein in einer Tankstelle vor Helsinki arbeitete, die Situation zu erklären. Schon damals hatte er – wie immer, wenn er sexuell erregt war – zu stottern begonnen. Aber das war kein Zeichen fehlender Kontrolle, sondern im Gegenteil eine Folge des Dopamins. Und heute die Bestätigung, dass seine Kraft auch jetzt noch nach siebenundsiebzig Jahren ungebrochen war. Er hatte exakt zweieinhalb Minuten gebraucht. Von der Tür zum Tresen, wo er sie festgehalten, ihr die Hose aufgeschlitzt, sie befruchtet, ihr den Ausweis abgenommen und sich ihren Namen und ihre Adresse notiert hatte. Maalin. Dann war er wieder draußen gewesen. Zweieinhalb Minuten. Wie viele Sekunden hatte die eigentliche Befruchtung gedauert? Wenn Schimpansen Sex haben, dauert dies im Durchschnitt acht Sekunden, in denen beide Affen einer bedrohlichen Welt voller Raubtiere und Gefahren ausgesetzt sind. Bei einem Gorilla, der weniger natürliche Feinde hat, kann der Genuss schon mal eine Minute andauern. Als disziplinierter Mann im Feindesland musste man den Genuss schon mal dem Zweck opfern: der Vermehrung. Und wie ein Bankraub nie länger als vier Minuten dauern durfte, durfte eine Befruchtung in der Öffentlichkeit nie länger als zweieinhalb Minuten in Anspruch nehmen. Die Evolution würde ihm irgendwann recht geben, das war nur eine Frage der Zeit.

Aber jetzt, hier, waren sie in Sicherheit. Außerdem hatte er es ja gar nicht auf die Befruchtung abgesehen. Wobei er durchaus Lust hatte. Aber diese hier wollte er mit einem Messer penetrieren; schließlich machte es keinen Sinn, eine Frau zu befruchten, wenn in der Folge keine Nachkommen entstanden. Als disziplinierter Mann sparte man dann seinen kostbaren Samen.

»Ich darf dich doch wohl Geliebte nennen, wenn wir schon verlobt sind«, flüsterte Svein Finne.

Sie starrte ihn mit schreckgeweiteten Augen an. Sie hatten bereits etwas Gebrochenes. Als könnten sie kein Licht mehr aufnehmen.

»Dabei sind wir doch verlobt«, sagte er leise lachend und drückte seine fleischigen Lippen auf ihre, um dann gleich mit dem Ärmel seines Flanellhemds die Speichelspuren abzuwischen.

»Und das hier … Ich habe es dir versprochen …«, sagte er und fuhr mit der Hand zwischen den Brüsten hindurch hinunter zu ihrem Bauch.