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Thilo Koch

Tagebuch aus Washington 3

 

Saga

VORWORT

Ich sehe mich an der Pennsylvania Avenue stehen, dort, wo sie mit einer weiten Kurve zum Weißen Haus einbiegt. Im Zylinder der große alte Mann der Nation: Eisenhower; im Zylinder neben ihm der große junge Mann der Nation: Kennedy. Die jubelnde Fahrt zum Kapitol. Es war der 20. Januar 1961, ein ungewöhnlich kalter Wintertag.

Und ich sehe den Trauerzug kommen, sechs Grauschimmel ziehen eine Lafette. In dem Sarg unter dem Sternenbanner: der 35. Präsident der Vereinigten Staaten – ermordet. Vom Kapitol her, die Pennsylvania Avenue herunter, in umgekehrter Richtung diesmal, zum Weißen Haus, weiter zum Friedhof in Arlington. Es war der 25. November 1963, ein ungewöhnlich warmer Herbsttag.

Wieviel Zukunft wehte um den selbstbewußten Kopf mit dem unverkennbaren Haarschopf! Kennedy schien ein anderes, ein sich neu verstehendes Amerika zu sein – an der Spitze einer von alten Männern regierten westlichen Welt. Ich habe sie »Ken-ne-dy« rufen hören, die Berliner, rhythmisch, immer wieder, auf dem Rudolf-Wilde-Platz, der jetzt John-F.-Kennedy-Platz heißt. Mehr als ein Name war das – ein Programm, eine Vision. Die Hoffnung auf eine bessere Welt? Endlich einmal schien das keine bloße Phrase zu sein.

Die Schüsse von Dallas haben mehr getroffen als einen Mann in den besten Jahren. Ich hatte zum erstenmal hier in Amerika das Gefühl: weg, fort von hier. Wo dieser Mann auf diese Weise sterben mußte, da möchte man nicht mehr sein, nichts mehr beobachten, berichten, verstehen, lernen.

Die 1000 Tage des Präsidenten Kennedy sind die 1000 Tage dieser Notizen, Kommentare, Berichte für den Nord- und Westdeutschen Rundfunk, für DIE ZEIT. Unerwartet, weiß Gott, unvorhersehbar wurden die drei Tagebücher der drei Jahre 1961, 1962, 1963 eine Chronik der ganzen Ära Kennedy.

Es wird größere geben, schon bald – fundiertere. Diese ist frisch aus der Stimmung vieler einzelner der 1000 Tage heraus geschrieben – von einem der 100 Auslandskorrespondenten in Washington, deren ›job‹ es ist, das Weiße Haus zu ›covern‹, die Politik des Mannes dort im ›einsamsten Zimmer der Welt‹ Zug um Zug zu analysieren, zu kommentieren.

Das machte Spaß bei Kennedy. Selbst das gute alte White House erwachte zu ungeahntem Leben – dank Jacqueline Kennedy, der charmantesten First Lady, die jemals dieses Nationalmuseum mit der Adresse ›1600 Pennsylvania Avenue‹ bewohnte. Der Kennedy-Look, er war mindestens zur Hälfte ein Jackie-Kennedy-Look. Das neueste Bild von ihr: sie steht hinter der handbreit geöffneten weißen Tür ihrer neuen Wohnung im Washingtoner Stadtteil Georgetown, in Schwarz; die Andeutung eines Lächelns – allein.

Diese rasch wachsende, rasch sich wandelnde Nation wächst weiter. Der Kampf um die Bürgerrechte zwischen Schwarz und Weiß, das Rennen um den Arbeitsplatz, die 50-Milliarden-Rüstung, die weltweiten Verpflichtungen zwischen Berlin und Saigon – das alles ging nicht mit Kennedy zu Ende, fand keine ›Lösung‹ durch ihn. Aber neue Ziele und Wege zeigte er seinem Volk, und es begann zögernd zu folgen.

Das zu sehen, zu beschreiben war Teilnahme an einem Stück Geschichte aus nächster Nähe. Wie funkelnd und prickelnd, wie faszinierend und vielfältig es war, das merkt man erst jetzt, da plötzlich die Unruhe in dieser großen Uhr im Zentrum der Macht Washington zum Stillstand gekommen ist. Es lohnt sich nachzusinnen, ›wie es wirklich gewesen‹.

 

Washington, am 31. Dezember 1963

Thilo Koch