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Frank Joseph

DER UNTERGANG VON ATLANTIS

Beweise für das jähe Ende einer legendären Zivilisation

Aus dem Amerikanischen von Ingrid Riedel-Karp

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Amerikanische Originalausgabe:

The Destruction of Atlantis. Compelling Evidence
of the Sudden Fall of the Legendary Civilization

Deutsche Erstausgabe im AMRA Verlag

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Herausgeber & Lektor

Michael Nagula

Textredaktion

Juliane Molitor

Einbandgestaltung

Guter Punkt

Layout & Satz

Birgit Letsch

Druck

CPI books GmbH

ISBN Printausgabe 978-3-939373-16-2

ISBN eBook 978-3-95447-063-1

Copyright © 2002/2018 by Frank Joseph

Copyright © Germany 2019 by AMRA Verlag

Published by Arrangement with Inner Traditions

International Limited, Rochester, Vermont 05767, USA.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, Hohenzollernstr. 56, D-30161 Hannover.

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Inhalt

Vorwort von Zecharia Sitchin

Einleitung: Der Atlantis-Wahn

1»In nur einem Tag und einer Nacht«

2Wo liegt Atlantis?

3Die Königin unter den Legenden

4Feuer vom Himmel

5Wie wurde Atlantis zerstört?

6Wann wurde Atlantis zerstört?

7Das Leben in Atlantis

8Die Entdeckung von Atlantis

9Die Geschichte von Atlantis – kurz und bündig

Schlusswort: Die Atlanter sind wir

Quellenhinweise

Register

Für Kenneth Caroli,
Atlantisforscher extraordinaire

Vorwort von Zecharia Sitchin

Bestsellerautor der »Anunnaki-Chroniken«

Atlantis! Das Wort allein ruft schon Faszination, Neugier und Ungläubigkeit hervor – sowie den Wunsch, alles, was man je darüber gelesen hat, möge wahr sein. Generationen von Suchern und Forschern waren von dieser untergegangenen Zivilisation geradezu besessen, und Millionen Leser unzähliger Bücher zu diesem Thema haben sich gefragt, ob die kurze Geschichte von einer versunkenen Stadt, wie Platon sie erzählt, am Ende vielleicht doch nicht mehr ist als das, was viele vermuten – ein »Mythos« und demnach per definitionem etwas Eingebildetes, von dem man spricht, als ob es existiere oder existiert habe.

Meine eigenen Bücher beruhen auf Texten, die vor Jahrtausenden von Sumerern auf Tontafeln geschrieben wurden, und sie hatten auch mich bereits vor eine Aufgabe gestellt, die eines Herkules würdig gewesen wäre: zu dokumentieren und zu beweisen, dass es sich bei den Ereignissen, die von den alten Völkern überliefert wurden, um reale Vorkommnisse handelt, von Menschen mit eigenen Augen gesehen, und eben nicht um »Mythen«, die von einer allzu blühenden Fantasie hervorgebracht worden sind.

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Römische Kopie einer griechischen Büste, die Platon zeigt, der nach wie vor als wichtigster Denker der westlichen Zivilisation gilt und in seinen Schriften die historische Realität von Atlantis hervorhob.

Frank Joseph hat sich des Themas Atlantis angenommen und es entmystifiziert – mit beneidenswerter Einfachheit. Er nimmt uns mit an diesen legendären Ort, indem er ihn neu erschafft. Der Leser begleitet den Kapitän eines Schiffes bei seiner aufregenden Ankunft im berühmten Hafen, und durch seine Schilderung, wo, wann und wie Atlantis seinem Schicksal begegnete, nimmt Joseph der Debatte »Mythos gegen Realität« fast unmerklich ihre Schärfe. Dadurch, dass er sich mit dem Untergang von Atlantis beschäftigt, überzeugt er den Leser davon, dass der Inselstaat wirklich existiert hat, und indem er einen plausiblen Ort, eine Zeit und einen Grund für die Katastrophe anbietet, verleiht er jedem noch so kleinen Beweis, der nach so vielen Jahrtausenden gefunden werden kann, Glaubwürdigkeit.

Der Untergang von Atlantis beschreibt eine Stadt, einst die Hauptstadt eines Inselreiches, die sich einer Flut und kosmischen Katastrophe stellen musste. Angesichts der globalen Erwärmung und des steigenden Meeresspiegels, denen wir uns heute gegenübersehen, dürfte Frank Josephs Erklärung der Vergangenheit gerade in der heutigen Zeit für den Leser von ganz besonderem Interesse sein.

Zecharia Sitchin ist der Begründer der Anunnaki-Forschung. Sein Buch Der zwölfte Planet machte die Welt im Jahre 1976 (US-Ausgabe) mit dem Wirken dieser heimlichen Herrscher der Erde bekannt. Unmittelbar nach seinem viel zu frühen Tod erschien als seine wichtigste Hinterlassenschaft Die Annunaki Chroniken, ein umfangreiches Werk, das die Essenz seiner insgesamt zwölf Anunnaki-Sachbücher enthält. Ebenfalls postum erschien sein einziger Roman Der König, der sich weigerte zu sterben, der den Anunnaki-Hintergrund des Gilgamesch-Epos offenlegt. Eine ausführliche Biografie des Forschers und seines Werks bietet Zecharia Sitchin und die außerirdische Herkunft des Menschen, verfasst von seiner engen Mitarbeiterin M. J. Evans. Auf www.AmraVerlag.de finden Sie Leseproben aus den drei letztgenannten Büchern.

EINLEITUNG

Der Atlantis-Wahn

Das Lesen hat Don Quichotte zum Gentleman
gemacht. Der Glaube an das Gelesene machte
ihn wahnsinnig
.

GEORGE BERNARD SHAW, IRISCHER DRAMATIKER

Der grauhaarige Araber in seiner bodenlangen, schwarzen Galabiya grunzte und machte eine ungeduldige Geste in Richtung meiner Feldflasche. Ich zögerte. In Nordafrika sind frisches Wasser und Leben ein und dasselbe, und ich war allein, ein gottloser Amerikaner in einer gottverlassenen Gegend des islamischen Marokko – gekommen, um in den Ruinen einer längst verlassenen Stadt nach den Spuren einer noch älteren Zivilisation zu suchen. Mein Freund, der kaum weniger antik als diese Ruinen zu sein schien, sprach kein Englisch. Ich konnte kein Arabisch. Dennoch hatte er sich selbst unaufgefordert zu meinem Fremdenführer nach Lixus ernannt.

Sein fast zahnloser Mund verzog sich zu einem Grinsen, als ich ihm zögernd meinen Wasserbehälter aus Armeebeständen überließ. Er drehte ihn um, das kostbare Nass plätscherte auf den Boden. Dann kauerte er neben der Pfütze auf dem uralten Kopfsteinpflaster. Leise murmelnd, als leiere er ein Mantra herunter, legte er seine rechte Handfläche auf die staubbedeckten Steine und machte eine kreisförmige Bewegung. Nach und nach erschienen die schwachen Umrisse eines Mosaiks auf der grauen Oberfläche.

Während der alte Mann unter ständigem Gemurmel immer weiter rieb, begannen Farben auf dem porösen Stein aufzutauchen: helle Rottöne, korngoldenes Gelb, Wasserblau, Meergrün – ein Gesicht nahm Formen an. Als Erstes sah man große, blaue, herrische Augen mit buschigen Augenbrauen, dann eine kraftvolle Stirn, gefolgt von langen goldenen Locken, einer kühnen Nase, einem wie zum Rufen geöffneten Mund. Bald war das Porträt als Teil einer lebendigen Szene zu erkennen. Ein Meer voller Delfine tat sich dahinter auf, und eine Gestalt in allen Schattierungen und in ihrer ganzen Brillanz wurde sichtbar: ein Stiernacken, breite Schultern und ein enormer Dreizack. Das war der lebendige Meeresgott, der römische Neptun, der griechische Poseidon, dargestellt in einem Meisterwerk der Mosaikkunst, über zweitausend Jahre alt, aber bestens erhalten, vollständig und in all seiner Farbenpracht.

Der alte Mann, der diese Erscheinung heraufbeschworen hatte, hörte auf zu reiben, und fast augenblicklich verblasste die Vision wieder. Die leuchtenden Farben verloren ihren Glanz. Das Gesicht wurde undeutlich, erst wie im Nebel, dann wie von Wolken verhangen. Im nächsten Moment war es kaum noch zu erkennen. Und während mein vergossenes Wasser in der afrikanischen Sonne verdunstete, verschwand das Mosaik völlig und wurde wieder zu einem Teil des bräunlich grauen Pflasters. Der kostbare Inhalt meiner Feldflasche hatte sich als Trankopfer erwiesen, als kleines Opfer an den Gott des Wassers, der sein zeitloses Gesicht nur für die kurze Dauer der Opferzeremonie enthüllte.

Meine Begegnung mit Neptun schien die Verkörperung jener Suche zu sein, die mich aus Colfax, Wisconsin, hierher geführt hatte. Wie dieses Mosaik lag auch der Gegenstand meiner Suche im Verborgenen, konnte aber mit der geeigneten Methode zum Vorschein gebracht werden. Ich war hierher an die Küste Marokkos gekommen, um Nachforschungen anzustellen und Fotos zu machen. Ich wollte Lixus – die »Stadt des Lichts« – so erfahren, wie die Römer es verlassen hatten. Die Ruinen der Stadt liegen nicht weit entfernt vom verfallenen Larache, das auf einen dunkelblauen Atlantischen Ozean hinausblickt, und nur die obersten und jüngsten Ruinen des Ausgrabungsfelds stammen aus römischer Zeit. Die identifizierbaren Säulen und Bögen der Römer ruhen auf den Mauern früherer, unbekannter Architekten.

Ich spürte einem dieser massiven, vollkommen rechteckig geformten Monolithen mit der Hand nach und hatte plötzlich eine Art Déjà-vu: Die Verarbeitung erinnerte auf unheimliche Weise an andere, ebenfalls massive antike Steine, die ich in den südamerikanischen Anden und auf dem Meeresgrund nahe der Insel Bimini, einhundertzwei Kilometer östlich von Florida, berührt hatte. Bevor die Römer Nordwestafrika zu ihrer Kolonie machten, war dies das unabhängige Königreich Mauretanien gewesen. Phönizier aus Karthago waren den weißhäutigen Mauretaniern vorausgegangen. Aber wer hatte diese Städte gebaut, bevor sie kamen?

Eine Frage von Leben oder Tod

Marokko lag im Zentrum meiner Suche nach den Wurzeln einer Besessenheit. Wochen zuvor war ich in einem roten Ledersattel auf einem schwarzen Pferd durch den Wüstensand im Schatten der Großen Pyramide geritten. Im oberen Niltal hatte ich das Echo meiner Schritte im Siegestempel Ramses III. gehört. In der Türkei hatte ich von den Befestigungen von Ilios auf die weite Ebene hinausgeblickt, in der Griechen und Trojaner miteinander gekämpft hatten. Und überall hatte ich Teile eines verlorenen, prähistorischen Puzzles gesammelt, das viel größer war als jeder einzelne dieser Orte.

Ich war ein Getriebener, und es hatte mich vom ältesten der Welt bekannten Grab in Irland über die unterirdischen Tempel des etruskischen Italien weiter nach Athen getrieben, wo der griechische Philosoph Platon jene Geschichte, die mich vierundzwanzig Jahrhunderte später auf die Wanderschaft schickte, zum ersten Mal erzählt hatte. Wohin ich auch reiste, fühlte ich mich vor potenziell bedrohlichen Menschen und Ereignissen weitgehend beschützt, und stets wurde ich zu den Antworten geführt, die ich suchte. Aber es waren nie genug Antworten. Sie waren verstreut wie Brotkrümel, die man einem hungrigen Vogel hingeworfen hat, und lockten mich von einer heiligen oder bemerkenswerten Stätte zur nächsten.

Ich erstieg den Berg Ida auf Kreta und besuchte die Höhle, in der Zeus, der König der olympischen Götter, geboren worden war. Es gab aber noch andere Inseln, die ich aus gutem Grund besuchte: Santorin in der Ägäis, deren sichelförmige Gestalt allein übrig geblieben ist von jener vulkanischen Explosion, die einen ganzen Berg verdunsten ließ, und Delos, den Geburtsort des Apollo, Gott des Lichts und der Erleuchtung. Im weiten Atlantik besuchte ich Teneriffa, wo ein unheilvoller Berg noch immer vor seismischer Wut zittert, und Lanzarote, auf der hohe, konische Pyramiden nach wie vor den Lauf der Sonne nachzeichnen, und auf Gran Canaria fand ich die Signatur von Atlas selbst.

Meine Nachforschungen beschränkten sich jedoch keineswegs auf die Alte Welt, sondern schlossen die kolossalen Geoglyphen fantastischer Tiere und Riesen in der Wüste Perus ebenso ein wie Boliviens geheimnisvollste Stadt hoch oben in den Bergen. Mexikanische Pyramiden besieg ich, und in der Nähe meiner Heimat suchte ich, von Wisconsin bis Louisiana, nach den Bilderhügeln von Vögeln und Schlangen.

Der Preis, den ich für diese und viele weitere Reisen bezahlte beschränkte sich nicht auf Geld. Sie veränderten in vieler Hinsicht mein Leben. Auf Lanzarote wäre ich beinahe ertrunken, als die steigende Flut mich in eine Höhle am Meer einschloss. Später, aber noch am selben Tag, rettete mein Wanderstock mich davor, in den Schlund eines Vulkans zu stürzen. In Tanger entkam ich einer Bande von Halsabschneidern, doch in Peru hatte ich weniger Glück, als drei Männer mich bis zur Bewusstlosigkeit würgten und mich dann, scheinbar tot, in den Straßen von Cuzco liegen ließen.

Sie lesen dieses Buch zwar gerade, aber glauben Sie mir, es ist noch nicht abgeschlossen und wird es auch niemals sein, denn ich reise immer noch und entdecke auf meiner endlosen Suche ständig neue Dimensionen einer Geschichte, die sich nie vollständig wird erschließen lassen. Alle diese Abenteuer verdanken sich nämlich einer einzigen Absicht: sich wieder mit dem zu verbinden, was verloren ging. Warum ich das möchte? Ich könnte Ihnen jetzt eine Anzahl vernünftiger Gründe nennen, die in unserer Welt anerkannt sind: dass es mir darum geht, die Wurzeln der Zivilisation zu entdecken, den alchemistischen Nervenkitzel zu erfahren, eine alte Legende in historische Wahrheit zu verwandeln. Ich könnte vernünftige Rechtfertigungen dafür vorbringen, warum ich so viel Zeit, Energie und Geld dafür aufwende und sogar mein Leben in Gefahr bringe. Aber das wären nur partielle Erklärungen. Es gibt einen tieferen Grund jenseits aller Worte, die beschreiben, was die freudvolle Besessenheit meines Lebens geworden ist – jenseits der bloßen intellektuellen Neugier.

Es ist eine fixe Idee, aber nicht nur meine. Andere Forscher waren und sind gleichermaßen von ihr erfüllt. Und meine größte Hoffnung ist, dass die Leser dieses Buches zumindest ein wenig von diesem Fieber angesteckt werden – zu ihrem eigenen Besten natürlich!

Mich überfiel es ganz sanft. Als ich im Frühjahr 1980 in einem Chicagoer Buchladen herumstöberte, fiel mir ein Exemplar von L. Sprague de Camps Versunkene Kontinente1 in die Hand, mein erstes Buch über Atlantis. Ich wusste nichts über dieses Thema und betrachtete es zunächst vor allem als legendäres Beiwerk von nebensächlichem Interesse. De Camp schrieb überzeugend und unterhaltsam gegen die Befürworter der tatsächlichen Existenz von Atlantis und entlarvte deren Behauptungen mit vernünftigen geologischen und historischen Argumenten. Mir gefiel sein nüchternes Vorgehen. Dennoch warf er mehr Fragen auf, als er beantwortete, und ließ mich mit dem Gefühl zurück, dass mehr an dieser Geschichte dran sei als seine anmaßende Zurückweisung eines Mythos, der sich immerhin vierundzwanzig Jahrhunderte lang gehalten hat. Ich las Versunkene Kontinente noch einmal und besorgte mir dann jedes Buch, das in der Bibliografie genannt war. Einige waren lächerlich, andere glaubwürdig, aber alle boten etwas, was mich zum Nachdenken anregte. Obwohl ich Atlantis immer noch als Ausgeburt der Fantasie betrachtete, konnte ich die Möglichkeit, dass hinter dem Mythos irgendeine Wahrheit verborgen lag, nicht mehr von der Hand weisen.

Die Vergangenheit zu finden heißt, sich selbst zu finden

Vielleicht findet sich eine Antwort in den Schriften, die der griechische Philosoph Platon im vierten Jahrhundert vor Christus verfasste. Seine Dialoge enthalten den ersten bekannten Bericht über Atlantis. Als ich Timaios und Kritias untersuchte, hatte ich – wie viele andere Leser vor mir – den Eindruck, das sei eine direkte Wiedergabe tatsächlicher Geschehnisse an einem wirklichen Ort mit Personen aus Fleisch und Blut. Platon schreibt über ein ozeanisches Reich auf einer schönen Insel, bewohnt von geistreichen Menschen, die in ihren strahlenden Tempeln und Palästen schwelgten, bis die ganze Insel plötzlich durch ein geologisches Ereignis vom Ausmaß einer nuklearen Katastrophe ausgelöscht wurde.

Die meisten modernen Wissenschaftler tun diese Erzählung als Allegorie ab, aber wie so viele Leser hatte auch ich den Eindruck, dass mehr dahintersteckte. Ich nahm Platons Dialoge Punkt für Punkt auseinander und baute dabei eine umfassende Bibliothek von Quellenmaterial auf. Ich machte mich mit der Bewegung der Kontinentalplatten vertraut, der Vulkanologie, Unterwasser-Archäologie, vergleichenden Mythologie, Archäobiologie, Archäoastronomie und Geschichte, besonders der Geschichte. Ich tauchte ein in das Studium der Vergangenheit, vom Auftauchen des Homo erectus und dem Beginn des paläolithischen Zeitalters über das prähistorische Ägypten und frühe Mesopotamien bis zu den amerikanischen Kulturen im Tal von Mexiko und in den Anden. Je mehr ich lernte, desto mehr wollte ich wissen. Die Beschäftigung mit Atlantis war frustrierend und schlecht greifbar, aber auch bereichernd, denn die Antwort auf eine Frage brachte ständig zahlreiche weitere hervor.

Nach Jahren des Forschens spitzten meine Untersuchungen sich nicht etwa zu, sondern wurden immer ausgedehnter. Ich fühlte mich herausgefordert und war entschlossener als je zuvor, das Rätsel zu meiner eigenen Zufriedenheit zu lösen. Und noch vor Ablauf eines Jahrzehnts lieferten meine gesammelten Informationen schlüssige Beweise für Platons versunkene Stadt. Es lässt sich allerdings unmöglich sagen, an welchem Punkt genau mir die Gewissheit dämmerte, dass Atlantis historische Realität war. Kein einzelner der maßgebenden Beweise überzeugte mich. Erst beim Durchsehen des gesammelten und geordneten Materials und beim Entdecken gemeinsamer Themen und sich wiederholender Muster begann sich ein alles umfassendes, objektives Bild dieser gesamten Zivilisation zu zeigen.

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Das Reich von Atlantis. Seine Könige, wie sie in Platons Dialogen genannt werden, entsprechen bestimmten geografischen Orten und sind in Wahrheit die Namen von Kolonien.

Wie die verschiedenen Stücke im Mosaik von Neptuns Kopf, die der alte Marokkaner erneut zum Leben erweckt hatte, tauchte Atlantis allmählich als vollständiges Bild auf, das nur aus der korrekten Perspektive gewürdigt werden konnte. Diese Perspektive entstand dadurch, dass die verschiedenen Informationsfragmente ordentlich miteinander verbunden wurden. Ich zwang sie nicht, sich meiner vorgefassten Meinung zu fügen. Im Gegenteil, ich zog meine Schlussfolgerungen allein aus den verfügbaren Daten. Ich hatte mich nicht aufgemacht, die Existenz von Atlantis zu beweisen oder zurückzuweisen. Vielmehr hatte ich verstehen wollen, warum die Vorstellung von diesem Ort die menschliche Fantasie nie losgelassen hatte. Entsprechend erschütternd war es, schließlich herauszufinden, dass es Atlantis offenbar gegeben hatte. Sicher, die naturwissenschaftlichen Beweise für seinen Untergang sind spärlich und fragwürdig. Aber wenn ich diesen Fall vor einem Gericht zu vertreten hätte, wüsste ich, dass ich mehr als genug Beweise hätte, um ein gültiges Urteil zu erwirken.

Ich hatte mir anfangs bestimmt nicht träumen lassen, dass meine Neugier zu einem solchen Ergebnis führen könnte. Und zunächst hatte ich auch Hemmungen gehabt, ein Buch über Atlantis zu schreiben. Ich bin kein professioneller Archäologe, und der Gegenstand meiner Forschungen schien für jeden, der auf ein Gebiet spezialisiert ist, viel zu umfassend zu sein.

Mein Dilemma glich dem, das die Astronomen Clube und Napier in ihrem Untersuchungsbericht The Cosmic Serpent (»Die Kosmische Schlange«) ansprechen:

Kein einzelner Mensch verfügt über so viel Wissen, um in voller wissenschaftlicher Tiefe mehr als einen Bruchteil der möglichen Beweise zu diesem Thema analysieren zu können. Andererseits ist die zunehmende Spezialisierung des Wissens ein sicheres Rezept für Einfallslosigkeit und Irrtum: Einfallslosigkeit, weil das zusammenhängende Bild vielleicht nicht erkannt wird, und Irrtum, weil der Spezialist möglicherweise dazu neigt, die Bedeutung dieser oder jener Daten aus seinem eigenen Fachgebiet zu hoch einzuschätzen. Es ist zwar das gute Recht des Spezialisten, dem Detail eine Bedeutung beizumessen, aber man beurteilt die Evolutionstheorie ja auch nicht einfach nur danach, inwieweit sie auf die Flughörnchen in Ostasien zutrifft.

Keinem hauptberuflichen Archäologen wäre es heutzutage erlaubt, sich mit dem Thema Atlantis zu beschäftigen, es sei denn, er würde es in der Luft zerreißen oder herabsetzen. Ein weiteres, sehr trauriges Buch wäre erforderlich, um Lesern, die nicht mit dem irgendwie beklagenswerten Zustand der modernen amerikanischen Archäologie vertraut sind, die Gründe dafür zu erklären. Tatsächlich wurde so ein Buch bereits geschrieben: Verbotene Archäologie.2

An dieser Stelle genügt es zu sagen, dass ein mächtiges Dogma die heiligen Hallen der akademischen Welt beherrscht, welches verlangt, dass gewisse Tabu-Themen von niemandem ernsthaft in Betracht gezogen werden.

Jeder Ort, nur nicht Atlantis

Es gibt legitime Gründe für ernsthafte Forscher, professionell oder nicht, das Wort mit dem Anfangsbuchstaben A zu vermeiden. Ihnen wurde erzählt, Atlantis sei von Wesen aus dem Weltraum gegründet worden, sein magischer Strahl versenke noch immer Schiffe und lasse Flugzeuge im Bermudadreieck abstürzen. Auch wird behauptet, dass seine außerirdischen Einwohner immer noch leben und sich unter dem Nordpol aufhalten. Diese und viele andere Fantasien genügen, um jeden vernünftigen Forscher dazu zu bringen, eine ernsthafte Betrachtung der versunkenen Stadt als reine Zeitverschwendung abzutun.

Atlantis wurde schon mit dem antiken Troja, den Bahamas, den Hebriden, mit Norddeutschland, ja sogar mit einem anderen Planeten in Verbindung gebracht. Etablierte Wissenschaftler meinen nach genauer Untersuchung der Atlantis-Geschichte, sie habe sich auf Kreta abgespielt, während die »Diffusionisten« für die Antarktis sind. Die Verwirrung darüber, wo Atlantis denn nun gelegen hat, ist nicht neu. Schon 1841 schrieb ein verärgerter T. H. Martin in seinen Études sur le Timée de Platon (»Studien über Platons Timaios«):

Viele Gelehrte, die sich mit einer mehr oder weniger schweren Fracht aus Gelehrsamkeit auf die Suche machen, mit keinem anderen Kompass als ihrer Einbildungskraft und ihren Grillen, sind ins Ungefähre gefahren. Und wo sind sie angekommen? In Afrika, in Amerika, in Spitzbergen, in Schweden, auf Sardinien, in Palästina, in Athen, in Persien und in Ceylon, sagen sie.3

Meine Nachforschungen lassen darauf schließen, dass die Atlanter alle diese Orte und noch viele mehr beeinflusst haben. Deshalb sollte es nicht überraschen, dass sich Schlüssel zu der verlorenen Zivilisation an weit auseinander liegenden Orten finden. Einige dieser Orte mögen atlantische Kolonien oder Zufluchtsorte für seine Überlebenden gewesen sein, aber die Stadt selbst kann mit keiner von ihnen identifiziert werden. James Bramwell, einer der vernünftigeren Atlantisforscher des vergangenen Jahrhunderts, bemerkt lakonisch:

Man muss davon ausgehen, dass Atlantis im Atlantischen Ozean gelegen hat, andernfalls handelt es sich nicht um Atlantis.4

Angesichts der unsinnigen Ansprüche, die auf den »versunkenen Kontinent« erhoben werden, ist es kein Wunder, dass die meisten Experten die bloße Erwähnung von Atlantis schon mit Verachtung strafen. Die vielen Spekulationen um Platons Geschichte bilden einen Hindernisparcours, den jeder ehrliche Forscher durchlaufen muss, um zur Wahrheit zu gelangen. Und nur jemand, der weder Archäologe noch Okkultist ist, könnte gewillt sein, diese Hindernisse zu überwinden und die Wahrheit von den Spekulationen zu trennen.

Vielleicht haben meine Ausbildung an der Journalistenschule der Southern Illinois University und meine spätere Tätigkeit als ermittelnder Reporter beim Winnetka Paper mich darauf vorbereitet, Fakten und Fantasie voneinander zu trennen, um Sinn in das alte Geheimnis zu bringen. Ich hatte jedenfalls das Gefühl, dass die Wahrheit herauszufinden wäre, wenn ich Atlantis wie eine archäologische Detektivgeschichte behandelte. Schließlich ist es Aufgabe eines Reporters, so viele Beweisstücke wie möglich zu sammeln und sie der Öffentlichkeit dann als zusammenhängendes Bild zu präsentieren.

Atlantis lebt!

Die erste Fassung des vorliegenden Buchs, die ich ebenfalls The Destruction of Atlantis (»Der Untergang von Atlantis«) nannte, erschien bereits im Jahr 1987. Mit den Einkünften, die ich dadurch erzielte, finanzierte ich in den nächsten acht Jahren meine Nachforschungen in Übersee. Auf meinen ausgedehnten Reisen sammelte ich Beweise, die nicht nur die meisten meiner ursprünglichen Schlussfolgerungen bestätigten, sondern sie noch erweiterten, und als sich mir die Möglichkeit bot, das Buch erneut zu veröffentlichen, entschied ich, den ursprünglichen Text um das neu hinzugekommene Material zu ergänzen. Das Ergebnis ist eine wesentlich erweiterte Darstellung, fünfmal umfangreicher, die einzigartige Nachweise erbringt, von denen die meisten noch nie einer allgemeinen Leserschaft zugänglich gewesen sind. Sie werden sogar jenen neu sein, die sich schon sehr lange mit dieser versunkenen Zivilisation beschäftigten.

Atlantis wird hier in einen glaubwürdigen Zusammenhang mit der Bronzezeit im Nahen Osten gebracht und nicht, wie es gewöhnlich geschieht, fünfundsechzig Jahrhunderte in der Vergangenheit angesiedelt, weit vor der uns bekannten Geschichtsschreibung. Beweisstücke, die bereits in verschiedenen Veröffentlichungen behandelt wurden, werden in einem neuen Licht gezeigt. Einige wurden verworfen, weil die moderne Forschung sie für unstimmig erklärt hat, andere fügen sich in eine neue Betrachtungsweise von Atlantis ein.

Die Dogmen der Vergangenheit geraten ins Wanken, während immer mehr Forscher, einige mit hervorragender wissenschaftlicher Reputation, öffentlich ernsthafte Zweifel an ihnen äußern. Etablierte Meinungen über die angeblich ersten menschlichen Zivilisationen in Mesopotamien und im Niltal, die Annahme, es sei antiken Seefahrern nicht möglich gewesen, die Ozeane von Europa, dem Nahen Osten, Afrika oder Asien nach Amerika zu überqueren, das angebliche Fehlen jeglichen Kontakts zwischen den alten Völkern in Mexiko und Peru – diese und ähnlich engstirnige Standpunkte lassen sich nicht mehr halten angesichts der hartnäckigen Fragen, die von einer neuen Forschergeneration gestellt werden. Das Wissen um Atlantis steht als Nächstes auf der Liste jener Themen, die noch zu radikal sind, um überhaupt in Erwägung gezogen zu werden. Atlantis ist ein höchst explosives Thema und wäre, wenn gezündet, durchaus in der Lage, die offizielle Doktrin aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft zu verjagen. Vielleicht sind die Verteidiger des »Mythos Atlantis« deshalb so unnachgiebig. Nach so vielen Jahrzehnten des Leugnens haben sie viel zu verlieren.

Beim Schreiben des vorliegenden Buches ging es mir vor allem darum, die versunkene Zivilisation in der Vorstellung des Lesers lebendig werden zu lassen. Es bringt nichts, über Fakten zu streiten, sie müssen so präsentiert werden, dass sie als Schlüssel zu diesem faszinierenden Geheimnis dienen können, und deshalb versuche ich Atlantis vor dem geistigen Auge des Lesers wieder zum Leben zu erwecken. Wir benötigen ein Gesamtbild auf faktenreicher Basis. Daran können wir dann unsere Theorie prüfen, die alle Beweise in einer gemeinsamen Lösung vereint. Darum habe ich mich in diesem Buch bemüht, und herausgekommen ist eine Nachschöpfung dessen, wie es gewesen sein könnte, durch die Straßen von Atlantis zu gehen, seine Tempel und Paläste zu besuchen und durch die Augen der Atlanter Zeuge des letzten Tages zu werden. Ich hoffe, dass diese Nachschöpfung das Thema neu belebt.

In dieser Untersuchung wird nichts behauptet und über nichts spekuliert, was nicht vom heutigen Verständnis der Vergangenheit gestützt wird. Auch vermeide ich jene okkulten und außerirdischen Theorien, die das historische Atlantis bei Profis und in der Öffentlichkeit gleichermaßen in Misskredit bringen, und verlasse mich ausschließlich auf besser begründete Informationen und vernünftig abgeleitete Schlussfolgerungen aus den modernen Naturwissenschaften, der Geschichte und der vergleichenden Mythologie. Wenn die Atlantissage nicht glaubwürdig mit einer allgemein zugänglichen, rationalen Theorie in Einklang gebracht werden könnte, die weitgehend auf dokumentierten Fakten beruht, wäre sie eben doch nur eine Legende und unserer Neugier nicht wert.

Ich will übrigens nicht behaupten, dass Atlantis keine mystische Dimension hat. Es war sogar erfüllt von Mystik. Die gesamte atlantische Kultur zielte darauf ab, durch die mystischen Künste spirituelle Befähigung zu erlangen, wie die wissenschaftliche Forschung es vom alten Ägypten und von vielen indigenen Völkern weiß. Nicht von ungefähr wurde die wichtigste mythische Gestalt im Zusammenhang mit Atlantis – Atlas – als Begründer der Astrologie verehrt. Sicher kann selbst eine rationale Untersuchung die andersweltlichen Aspekte von Atlantis nicht gänzlich ignorieren. Sie nicht mit einzubeziehen hieße die Existenzgrundlage des geschichtlichen Atlantis zu ignorieren – und die Ursache seiner Vernichtung. Aber die Mystik, die auf den Seiten dieses Buches zu finden ist, wurde nicht »gechannelt« oder durch einen Kristall heraufbeschworen. Was auch immer an Magie hier zum Ausdruck kommen mag, ist aus eigenem Antrieb hervorgetreten. Die wahre Sensation hat nichts mit paranormaler Ungewissheit zu tun.

Warum sollte es von Belang oder auch nur interessant sein, dass es Atlantis gegeben hat? Abgesehen von seiner Bedeutung als eigentlicher Wiege der Zivilisation repräsentiert Atlantis eine Warnung – eine Warnung, die wir aus tiefstem Herzen annehmen müssen. Seit die Gesellschaft der Atlanter ihren Zenit erreichte, hat die Welt nie mehr eine ähnliche Zivilisation hervorgebracht. Aber die Atlanter missbrauchten ihre Größe und wurden so arrogant und habgierig, dass ihre Gesellschaft schließlich auf entsetzliche Weise in Vergessenheit stürzte.

Das sollte uns Heutigen eine Lehre sein. Wir haben kein Recht anzunehmen, dass unsere Zivilisation unbegrenzt andauern wird, besonders nicht, wenn wir Kräften zu wuchern erlauben, die das Überleben unserer Gesellschaft bedrohen. Wir müssen über unser Verhalten nachdenken, nicht nur auf nationaler Ebene, sondern als menschliche Rasse, bevor wir alle von den Folgen unserer Missetaten in den Untergang getrieben werden. Atlantis bietet uns eine äußerst wichtige Lektion. Wir ignorieren sie auf eigene Gefahr.

Im Schatten von Atlantis

Atlantis kann durch das Sammeln und Vergleichen von Spuren zu neuem Leben erweckt werden. Da die Zerstörung der Hauptstadt von so verheerender Natur war, können wir die Geschichte nur noch anhand der literarischen, historischen und mythologischen Belege nachvollziehen, die uns jene Menschen hinterlassen haben, mit denen die Atlanter in Berührung kamen. Wenn etwa Rom auf der Höhe seiner imperialen Größe plötzlich verschwunden wäre und uns keinen materiellen Beweis für seine Existenz hinterlassen hätte, so wüssten wir doch durch das Zeugnis der Nationen, die von Rom direkt beeinflusst wurden, immer noch viel über Rom selbst. Das Zeugnis von Völkern, die von Atlantis berührt wurden, ist nicht weniger erhellend. Wenn wir zielstrebig forschen, tut seine physische Abwesenheit der Wahrscheinlichkeit seiner historischen Realität keinen Abbruch.

Ein Beispiel ist auch die Entdeckung des Planeten Pluto: Gesichtet wurde er erst 1930, als die Erfindung stärkerer Teleskope seine Beobachtung möglich machte. Dennoch wurde seine Existenz seit der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert stark vermutet, weil Astronomen bereits wussten, dass die Bewegungen seiner Nachbarn Uranus und Neptun Störungen der Schwerkraft zeigten, die keinem anderen Planeten zugeordnet werden konnten. Mit anderen Worten: Obwohl er selbst jahrelang unsichtbar war, glaubte man wegen seiner beobachteten Auswirkungen auf Uranus und Neptun an die Existenz von Pluto, und diese physikalischen Gesetze von Ursache und Wirkung sind auch auf die menschliche Gesellschaft übertragbar. Selbst wenn noch kein materieller Nachweis für Atlantis gefunden worden wäre, könnten wir die Wahrheit über seine Existenz erfahren, indem wir andere Kulturkreise beobachten, die es beeinflusst hat. Dadurch gäben wir unserer Untersuchung eine Richtung, bis sie irgendwann durch die Entdeckung von Artefakten aus Atlantis bestätigt würde.

Aber Atlantis ist weit mehr als ein archäologisches Problem. Es ist sogar mehr, als wir mit Worten ausdrücken können: Es ist das kollektive Trauma unserer Rasse. Atlantis ist der Geburtsort der irdischen Zivilisation und ging unter so viel Entsetzen und Schuldgefühlen zugrunde, dass dieses Ereignis die Erinnerung der Menschheit bis heute geprägt hat. Diese entsetzliche Massenvernichtung klingt seitdem in den Albträumen unseres kollektiven Unterbewusstseins nach, zum Ausdruck gebracht in den Mythen aller menschlichen Gesellschaften. Es ist Zeit, aus dem Albtraum zu erwachen. Heilen wir die fehlende Erinnerung an unseren Ursprung, indem wir uns an die große Herrlichkeit erinnern, die wir erlangt, aber durch Unachtsamkeit wieder verloren haben, bevor wir den Prozess der Selbstzerstörung durch denselben furchtbaren Fehler erneut in Gang setzen.

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EINS

»In nur einem Tag und einer Nacht«

Eine Nachschöpfung

Und wenn, unter unirdischen Klagen, jene Stadt sich tief, tief dort unten niederlässt, wird die Hölle sich von tausend Thronen erheben und ihr die Ehre erweisen.

EDGAR ALLAN POE: DIE STADT IM MEER

Ein einsames weißes Segel mit dem Bild einer schwarzen Eule, die ihre Beute ergreift, entrollte sich mit lautem Flattern, um bei Sonnenaufgang den ersten Wind in sich aufzunehmen. Hinter dem hoch aufragenden Bug verschwand die alte Hafenstadt Elasippos im rosigen Morgenlicht. Indigofarbene Frauenaugen, die genau über der Wasserlinie zu beiden Seiten des Bugs aufgemalt waren, blickten gelassen über die ruhige Wasserfläche, durch die sich das Schiff wie die dunkle Brust eines Titanen schob. Das Schiff war ein Frachter, ein Einmaster mit viereckigem Segel, und seine Ladung – Bronzewaren – war zwischen Zweigen verpackt und mit Hanf an den Planken festgebunden. Sie bestand aus Kelchen für sakrale Trankopfer, mit Schlangenmotiven verziert, wie Kronen geformte Kessel, Statuen von Göttern und Ungeheuern.

Die Besatzung, zweiunddreißig Mann, war genauso bronzefarben wie die Ladung. Sie hatte diese Strecke in der Kronos-See schon viele Male befahren und wusste, dass das gute Wetter andauern würde, denn ihr Kapitän hatte Poseidon am Kai einen jungen Stier geopfert. Das meiste Fleisch hatten sich die Opferpriester genommen. Der Mannschaft waren nur ein paar Bröckchen erlaubt worden.

Als die Sonne sich jetzt zum Zenit erhob, rief der Junge im Ausguck: »Schiffe voraus!« Jene, die gerade nicht mit wichtigen Aufgaben beschäftigt waren, suchten mit Blicken den Horizont ab. Kurz darauf machte der Kapitän eine kleine Flotte von Kriegsschiffen aus, die im Zickzack gegen den Wind kreuzte, der seinen Frachter sanft auf Kurs hielt.

Furchteinflößende Zeichen auf ihren Segeln wurden erkennbar – grinsende Totenschädel, angreifende Raben, der hochrote Dreizack des Meeresgottes, ein goldener Blitz – die Insignien der Feinde aus dem fernen Westen. Ihre Kriegsschiffe näherten sich in langen, eindrucksvollen Zügen. Wie der Frachter wiesen auch sie geschnitzte und bemalte Augen auf, dicht über der Wasserfläche, aber unterhalb der breiten Bugwelle ragten gezackte Rammböcke hervor wie die Stoßzähne eines Narwals. Die aufwärts gebogenen Bug- und Heckposten endeten in den stilisierten Köpfen von Schlangen und Raubvögeln.

Noch bevor der Kapitän eine Kursänderung befehlen konnte, um der nahenden Flotte auszuweichen, fächerten die Kriegsschiffe in einem von Flaggen- und Trompetensignalen gesteuerten Manöver nach Norden und Süden aus, wobei die Trompetenklänge über dem wogenden Resonanzfeld des Meeres eher musikalisch-künstlerisch als militärisch wirkten. Wenig später waren die schnellen Kriegschiffe schon so nahe, dass die Mannschaft des Frachters ihre gewaltige Länge und wuchtige Masse richtig einschätzen konnte.

Truppen von Kriegern drängten sich auf den hohen Dollborden, riefen Grüße über die Wasserfläche und schwenkten ihre mit rotem Pferdehaar geschmückten Helme. Schilde in Form einer Acht blinkten in der Nachmittagssonne, als der Frachter von einem halben Dutzend Schlachtschiffen eingekreist wurde. Der Rest der kleinen Flotte blieb rasch zurück und verschwand alsbald hinter dem östlichen Horizont.

Frische Wasserflaschen wurden an alle ausgeben und Rationen von Orangen, Datteln und Granatäpfeln an Offiziere und Seeleute gleichermaßen verteilt. Ein lärmender Rabe wurde aus einem kleinen Holzkäfig befreit, und alle schauten zu, wie der Vogel des Apollo seine glänzenden schwarzen Schwingen ausbreitete, sich in die Lüfte erhob und schließlich immer höher über ihren Köpfen kreiste. Anfangs vermeintlich unentschlossen flog er bald geradewegs Richtung Westen. »An die Ruder!«, brüllte der Kapitän, immer noch mit Blick auf den befreiten Raben, der jetzt nur noch ein dunkler Punkt an einem Himmel war, der sich allmählich in Wolken hüllte. Kurz darauf, nachdem er selbst für das Adlerauge des Kapitäns nicht mehr sichtbar war, rief der Junge im Ausguck: »Atlas!«

Ankunft in Atlantis

Der Kapitän befahl eine leichte Kursänderung, und der Steuermann stemmte sich gegen die Ruderpinne. Die gleichgültigen Augen des Schiffes starrten geradeaus auf die dunkle Silhouette am Horizont. In weniger als einer Stunde nahm sie die Form eines Schildes an, der auf die spiegelnde Oberfläche des Meeres gelegt worden war, wobei der Buckel in der Mitte steil aus dem Zentrum aufragte. Augenblicke später sah sie eher aus wie eine kolossale Säule, fast menschengleich und entfernt an die Darstellung eines Riesen erinnernd, der sich auf ein Knie niedergelassen hat und das Dach des Himmels stützt, denn eine partielle Bewölkung hing über der Insel. Der Gipfel des großen Berges war in den Wolken verschwunden, und seine felsigen Schultern stemmten sich gegen den Himmel. Atlas – »der Stützende« – war ein gut gewählter Name.

Die Männer wurden vorübergehend von ihrer Rudertätigkeit befreit, denn eine frische Brise trieb das Schiff in den Hafen, wie die unsichtbare Hand der Göttin Alkyone selbst. Der Frachter glitt an einigen halbversunkenen Felsen vorbei. Aus einem von ihnen hatten die niemals ruhenden Finger von Wind und Wellen etwas geformt, das wie ein seiner Masten beraubtes Schiff aussah, ihrem eigenen recht ähnlich – eine zufällige Schöpfung aus Stein, in Form gespült von den legendären Gorgonen. Seefahrern war sie eine Mahnung, in diesen gefährlichen Gewässern achtsam zu sein.

Während der Frachter sich der Insel von Osten her näherte, tauchte er in den enormen Schatten des Atlas ein, den die sinkende Sonne, die nun durch die Wolkendecke brach, weit über das Meer warf. Der Anblick der Insel vom Meer aus beeindruckte jeden Betrachter. Majestätisch und furchterregend zugleich war er, und alle Neuankömmlinge, selbst wenn sie ihrerseits aus prachtvollen Zivilisationen kamen, waren voller Ehrfurcht ob der politischen, architektonischen und geologischen Macht, die von diesem eher unheimlichen Ort ausging. Besonders den Unterjochten kamen die atlantischen Eroberer wie überlebensgroße Kopien der Menschen aus ihrem Heimatland vor: kulturell auf höchstem Niveau, aber nicht ohne die angeborene Fähigkeit, übermächtige Gewalt auszuüben.

Das Schiff aus Elasippos bewegte sich nun in Rufweite zum Strand an der Küstenlinie nach Süden. Manchmal schauten die Seeleute von ihrer Arbeit auf, um Bauern und ihre Familien auf den Weizenfeldern zu beobachten. Da waren luftige Villen mit weiß getünchten Wänden und große Wohnhäuser mit rot und orangefarben gedeckten Dächern, einige in Hanglage und mit Meerblick. Küstenstraßen wurden sichtbar, und mitunter gesellten sich zu den dort fahrenden Pferdefuhrwerken auch die Wagen der reichen Landbesitzer oder Palastbeamten.

Bald war der große Hafen erreicht, und die Sonne, die riesig und voll dort hing, als habe ein Titan eben seinen polierten Schild über das Ende der Welt erhoben, färbte die Wolkenfetzen scharlachrot und ließ das Wasser aussehen wie dunkler Wein. Der Kapitän befahl, das Segel einzuholen, und wies die Ruderer an, auf ihre Plätze zurückzukehren. Die Ruder hoben und senkten sich in dem Rhythmus, den der Hortator auf seiner Trommel vorgab, während das Schiff eine schwerfällige Wendung zur Küste ausführte. Von seinem Platz im hohen Bug aus bewunderte der Kapitän die turmhohe Mauer auf der anderen Seite des Hafens. So oft er sie auch gesehen hatte, flößte der Anblick einer so kolossalen Befestigung ihm doch stets Ehrfurcht ein. Aus der Perspektive eines hereinkommenden Schiffes war nur der Berg Atlas noch markanter. Die gewaltige Ausdehnung der Befestigungsanlage allein hätte genügt, die Stadt einzigartig zu machen. Aber die Atlanter machten alles im großen Stil, auf eine Weise, die sich sonst niemand leisten oder nachahmen konnte.

In einem ununterbrochenen Kreis um die gesamte innere Stadt stiegen die Burgwälle von ihrer Basis sanft an und ließen das ganze Werk noch höher als seine zwölf Meter erscheinen. Dieser Effekt wurde zusätzlich verstärkt durch die Verwendung unterschiedlicher Steine, zu farbigen Streifen zusammengefügt, die zur Mauerkrone hin immer schmaler wurden. Schwarzer Lavastein bildete die untere Hälfte der Mauer. Die nächste Schicht, etwa drei Meter hoch, bestand aus weißem Bimsstein und die letzte und schmalste aus rotem Tuffstein. Aus der Nähe betrachtet schien die Mauer bis in den Himmel zu reichen. Die breite, schwarze Schicht bildete einen dramatischen Kontrast zu den glänzenden, hoch polierten Bronzestücken, die in die Mauern eingefügt waren. Massive, mit Zinnen versehene Türme, bemannt mit speziellen Regimentern aus Bogenschützen und Speerwerfern, grenzten an die Mauern. Sie standen im Abstand von einem Bogenschuss und konnten notfalls die gesamte Hauptstadt mit einem undurchdringbaren Kreuzfeuer nach außen abschirmen. Auf den geräumigen Dächern der Türme standen Katapulte, die Steine von einer Vierteltonne, einen mit flammendem Öl getränkten und beschwerten Schwamm oder einen großen Korb, gefüllt mit tödlichen Vipern, auf das Deck eines herannahenden feindlichen Schiffes schleuderten, lange bevor dieses landen konnte. Wenn doch einmal eines bis zum Ufer gelangte, wurde seine Mannschaft durch ein konzentriertes Sperrfeuer vernichtet.

Die gemalten Augen des Frachters starrten nun auf den weiträumigen Hafen mit seinen riesigen Docks, in denen viele Schiffe ankerten: schlanke Dreiruderer aus dem nördlichen Königreich Mestor, das damals schon berühmt war für seine Kreise aus riesigen Steinen, die den Lauf der Sonne anzeigten; Handelsschiffe aus Ländern des Binnenmeeres, das im Westen von den Säulen des Herkules beinahe eingeschlossen war; eine LuxusJacht mit schimmernden Auf- und Einbauten aus weißem Zedernholz und Bronze, gesandt aus dem neu eroberten Etrurien; verkratzte Frachter, die an ihrem Kai knarrten, müde vom langen Hin- und Herreisen über den weiten Ozean zu den Kupferminen auf dem äußeren Kontinent; schöne, aber gefährlich aussehende Kriegsschiffe der Konföderation, die hier ausgebessert wurden und den Segelschiffen ähnelten, die sie unterwegs getroffen hatten; ein ganzes Schiff voller Musikanten mit fremdartigen Instrumenten aus Libyen; ein Handelsschiff aus Azaes mit einer schwer bewachten Fracht aus teurem, gefärbtem Leinen, seltenen Parfums und riesigen Federn, die im Sonnenlicht glänzten wie azurblaues Metall.

Die Stadt der weltlichen Vergnügungen

Die Ruder auf Kommando nach oben gerichtet, trieb der kleine Frachter aus Elasippos in ein freies Dock. Hände fingen die Leinen auf, Balken quietschten in den hölzernen Jochs, Bug und Heck wurden gesichert. Die Mannschaft stürmte erwartungsvoll an Land, aber der Kapitän und sein erster Offizier blieben zurück, um das Entladen der kostbaren Bronzewaren zu überwachen. Ein Gesandter des königlichen Palastes war gekommen und stand mit einer Wachstafel und einem Stift mit silberner Spitze neben ihnen, um alles zu registrieren.

Unmittelbar hinter den Hafenanlagen befand sich eine breite Prachtstraße. Sie umgab einen großen Teil jener hohen Wälle mit den kühnen Wachtürmen, von denen aus die Stadt bewacht und im Ernstfall verteidigt werden konnte. Hier, auf dieser breiten Prachtstraße, wurden die Waren des ganzen Inselreichs und viele Reichtümer der zivilisierten und nicht zivilisierten Welt zur Schau gestellt, getauscht, gekauft und verkauft. Es war der Marktplatz des Atlas, das wirtschaftliche Herz dieses Reiches, das Tag und Nacht schlug. Hier flossen sämtliche Reichtümer und Eindrücke aus drei Dutzend Kulturen zu einer erregenden Disharmonie aus Sprachen, Stimmen, Bildern und Gerüchen zusammen – bunt, grell, laut und berauschend zugleich. Die Vielfalt der Gesichter und unterschiedlichen Gestalten, die diesen ewigen Bazar füllten, war nicht weniger groß als die der Waren und Dienstleistungen. Es gab gottähnliche Riesen mit metallisch schimmerndem, goldenem Haar, das hinter den kühnen Schädeln straff zusammengebunden war. Sie hatten eisblaue Augen und Stimmen wie Atlas, wenn er aus der Tiefe seines Berges brüllt. Man sah aber auch eher scheue, braunhäutige Menschen, die mit so vielen Federn geschmückt waren, dass man meinen konnte, sie seien aus dem Königreich der Maya über den Ozean hierher geflogen. Dann waren da barsche, starkknochige Männer aus dem nördlichen Euaemon mit Haaren wie Feuer und dem dazu passenden Temperament. Größer waren die blauschwarzen Männer vom östlichen Kontinent, deren Stimmen vom Klappern riesiger Elfenbeinketten um ihre langen Hälse untermalt wurden.

Sie und viele andere waren Auswärtige, einige auch Angehörige der Konföderation. Die meisten Fremden aber kamen nach Atlantis wegen der Überfülle an materiellen Gütern, die es vor der Welt ausbreitete. Zu den einheimischen Atlantern, die man in der drängelnden Menge seltener zu sehen bekam, gehörten die offensichtlich weisen Astrologen mit den enormen Bärten. Sie trugen lange Gewänder und bewegten sich weitgehend unbeachtet durch den fröhlichen Pöbel. Anmutige Kurtisanen mir purpurumrandeten Augen glitten wie überirdische Erscheinungen durch die Reihen der schreienden Straßenhändler. Krieger der atlantischen Armee – Infanteristen, Bogenschützen und Matrosen –, deren rote Pferdehaarhelme über der Menge auf und ab tanzten, boten einen gewohnten Anblick. Die Händler, einige einheimisch, die meisten aber Ausländer, verkauften alles, von kleinen Fässern mit aromatischen Gewürzen bis zu Wein in Flaschen und Bier in großen Fässern, von Früchten und Fächern bis zu Votivfigürchen und Parfums. Durch die Menge drängelten sich auch Bauern und Hafenarbeiter, Taschendiebe und Prostituierte, Straßenmusikanten und Bettler.

Jenseits des Marktplatzes und der gewaltigen Mauer, die ihn an den Hafen drängte, lag die Stadt, strahlend und in monumentaler Organisiertheit, wie die Kronjuwelen einer Kaiserin in ständiger Ausstellung. Sie war in besonderer Weise geplant, anders als jede andere Stadt der bekannten Welt. Die Anlage bestand aus konzentrischen Ringen in immer gleichem Abstand zueinander, abwechselnd aus Land und Wasser. Die Wasserringe waren durch ein Kanalsystem miteinander verbunden, das die gesamte Anlage durchschnitt, mit Toren und Durchgängen zu den drei großen Häfen an der Südküste. Zwei Landringe umschlossen eine Insel im Zentrum. Jeder dieser Ringe war gänzlich von einer hohen Mauer umgeben, wobei die innere Mauer völlig mit glänzendem Orichalcum überzogen war. Die Zurschaustellung dieses kostbaren Metalls war eine bewusste Extravaganz, um fremde Besucher mit dem geradezu barbarischen Überfluss der Atlanter zu beeindrucken.

Orichalcum war der atlantische Name für das feinste Kupfer der Welt, und allein die Atlanter konnten es fördern, verschiffen und verkaufen. Dank ihres Geschicks als Seefahrer hatten sie reiche Vorkommen dieses Erzes vor langer Zeit im frostigen Norden des vor ihrer Insel liegenden Kontinents entdeckt. Seit ihrer Entdeckung hielten sie die Hand auf diesen Kupferquellen, die sowohl das Bronzezeitalter im Nahen Osten als auch den unvergleichlichen Wohlstand von Atlantis möglich machten. Prahlerisch stellten sie die Metalle zur Schau, denen sie ihren großen Reichtum verdankten, und dekorierten die Innenmauer der Stadt mit Orichalcum, die mittlere mit Zinn und die äußere mit Bronze. Jedes Königreich der Alten Welt musste das für die Herstellung von Bronze nötige Kupfer von den Atlantern kaufen, die ihre Quellen in Übersee zum höchsten Staatgeheimnis erklärten und eifersüchtig darüber wachten. Bronze war die damals wichtigste Zutat für die Herstellung von Waffen und für die Eroberung neuer Länder von ebenso großer Bedeutung wie für die Verteidigung des eigenen Landes.

In der Zitadelle