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AXEL HACKE

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Walter Wemuts
Handreichungen für
ein gelungenes Leben

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

 

 

 

 

Für Ursula

Ich solle in meiner Rede etwas über das gelungene Leben sagen, haben sie mir gesagt, das gelungene Leben. Die Freundin, um die es geht, wird achtzig, jedoch strahlt sie eine schwer zu beschreibende Frische aus, ach, Unsinn, was soll an Frische schon schwer zu beschreiben sein, Frische ist Frische, nicht wahr? Und ich rede von Neugier, Interessiertheit, Freundlichkeit, Wohlwollen, auch Spannkraft. Keine Rede von Arztbesuchen und neuen Hüften, kein Jammern, kein Klagen, drei Kinder, sieben Enkel, und in der Einladung steht: »Ihr glaubt es nicht, ich glaube es auch nicht, aber es ist die Wahrheit: Ich werde achtzig. Bitte feiert mit mir ein langes schönes Leben!«

Sie hört auch gut.

Ein paar Worte, haben sie zu mir gesagt, nur ein paar Worte, das sagen sie ja immer, das machst du doch mit links, das sagen sie auch immer, ein bisschen Nachdenkliches: wie ein Leben gelingen kann. Nur einige Minuten, länger nicht.

Bin ich Aristoteles?, habe ich geantwortet.

Gelungenes Leben.

Wenn ich das wüsste.

Ich war jetzt gerade beim Zeitungshändler, wie jeden Morgen, da ist mir eingefallen, dass ich in dreißig Jahren in dieser Straße drei Zeitungshändler erlebt habe.

Aber was heißt schon erlebt, wenn es um deinen Zeitungshändler geht?

Einer, der erste, hatte immer große Angst, überfallen zu werden, wieder und wieder erzählte er mir von Überfällen, die aber ganz woanders gewesen waren, nie bei ihm, nicht mal in der Nähe. Eines Tages zog er seine Tresenschublade auf und zeigte mir den Revolver, mit dem er sich wehren wollte, wenn es jemals so weit käme.

»Mit mir machen die das nicht!«, sagte er mit vibrierender Stimme. »Mit mir nicht!« Aber man hörte schon am Zittern seiner Worte im Raum, dass es damit schwierig werden würde, denn wenn seine Hand an jenem Tage genauso unruhig wäre wie seine Art, jetzt zu reden …

»Machen Sie sich nicht unglücklich!«, sagte ich. »Die paar Scheine, die bei Ihnen zu holen sind, wären es nicht wert, jemanden zu erschießen.«

»Es geht ums Prinzip«, antwortete er.

»Das ist immer schlecht«, sagte ich. »Prinzip? Immer schlecht.«

Eines Tages wurde er dann tatsächlich überfallen, zwei Mann zugleich, einer stand direkt vor ihm, der andere bewachte die Tür. Der Zeitungsmann zog die Schublade auf, um an die Pistole zu kommen, aber in dem Augenblick, in dem er das tat (und er tat es ja, wie ich mir vorstelle, auch noch sehr zögernd, ihm stand die Überlegung, was er denn machen solle, o Gott!, soll ich wirklich dem Räuber in die Brust schießen oder lieber in den Kopf, und gibt das nicht eine ekelerregende Blutgehirnmassesauerei hier in meinem schönen sauberen Geschäft?, dieser Gedanke also stand ihm quasi in Flammenschrift auf die Stirn geschrieben), in diesem Moment jedenfalls langte der Räuber blitzschnell über den Tresen und schnappte sich die Waffe, hielt sie dem am ganzen Leib zitternden Händler unter die Nase, verlangte das Geld und bekam es.

Viel war’s nicht.

Dann waren die beiden weg.

Die Pistole auch.

Der Ladenbesitzer irgendwann bald ebenfalls.

Er verkraftete das alles nicht.

Keine Ahnung, wo der jetzt steckt.

Verkraften.

Arbeiten und verarbeiten, wursten und verwursten, schwinden und verschwinden – aber kraften und verkraften …? Haben Sie schon mal ein Wort namens kraften gehört? Ich kraftete, du kraftetest, er kraftete …?

Andererseits haben wir kein Verb namens armen, aber es gibt verarmen. Und ich könnte Ihnen etwas reichen, aber verreichen, nein.

Na, das nur nebenbei.

Vielleicht sollte ich über das verkraftete Leben reden?

Ich mache das ja normalerweise nicht, Geburtstagsreden, wissen Sie. Mein Metier sind Nachrufe, also, wenn die Sache wirklich gelaufen ist, dann bin ich dran. Das ist mein Beruf, ob Sie’s glauben oder nicht. Die Zeitung hat das vor mehr als dreißig Jahren eingeführt, eine eigene Seite nur für die Toten und für mich, einmal die Woche, aber nicht nur für die berühmten Toten jetzt, die schon auch, einerseits; andererseits aber eben für die ganz normalen Menschen, Sie und irgendwann auch mich.

Die Toten der Woche.

So heißt die Seite. Jeden Samstag im Blatt.

Von Walter Wemut.

So heiße ich. Jeden Samstag im Blatt.

Denn der Witz ist: Alle Nachrufe werden von demselben Autor geschrieben, also von mir. Deswegen mache ich zum Beispiel kaum Urlaub, der Tod kennt keine freien Tage. Das ist aber nur einer der Gründe, der andere – ach, dazu vielleicht später.

Ich bin sozusagen der publizistische Totengräber der Zeitung. Ich bin gewöhnt, das Leben von seinem Ende her zu sehen. Vielleicht hat sich deswegen auch etwas in mir gesperrt gegen diese Rede. Ich bin so was schon öfter gefragt worden, aber dann habe ich immer gedacht: Die Jubilare bekommen vielleicht das Gefühl, ich trage hier schon mal ihren Nachruf vor.

Also habe ich immer abgesagt.

Diesmal nicht.

Warum nicht?

Also: Warum halte ich diese Rede jetzt doch, demnächst?

Auf meiner Seite in der Zeitung geht es, wie schon gesagt, nicht bloß um die prominenten Sterbefälle, sondern auch um die einfachen Leute, um den verstorbenen Minister genauso wie um den Lateinlehrer, den alle kannten, die an seinem Gymnasium waren. Einzige Bedingung ist, dass ich irgendeinen Bezug zu den Leuten haben muss, oder dass ich aus dem, was mir die Leute nach dem Tod des oder der Betreffenden erzählen, einen Bezug entwickele. Das ist eine total konsequente Angelegenheit, müssen Sie verstehen, es geht wirklich nur um mich und die anderen, aber das ist gerade das Entscheidende. Denn so ist es ja immer: Die Welt besteht aus Ihnen und den anderen und aus den Beziehungen, die sich daraus ergeben. Der Rest ist im Prinzip uninteressant.

Insofern ist die Seite komplett subjektiv, wie das Leben überhaupt.

Die Toten der Woche.

That’s life.

Übrigens heiße ich wirklich Wemut, ohne h in der Mitte.

Und ohne r. Nicht nur jeden Samstag im Blatt heiße ich so, sondern immer, auch montags und so weiter.

Ich meine: Es ist kein Pseudonym, falls Sie das gedacht haben sollten.

Ich kann nichts dafür, mein Vater hieß schon so. Der Großvater auch.

Natürlich muss ich mich mit der Redaktion abstimmen, die begraben ja, rein publizistisch gesehen, auch Leute. Sagen wir so: George H. W. Bush, der Vater von George W. Bush, starb am 30. November 2018. Da stand natürlich was im politischen Teil, und ich habe ihn, also Bush jetzt, einfach weggelassen.

Wenn ein gewisser anderer Amtsinhaber stürbe, würde ich auch nichts über ihn als Präsidenten verfassen, das ist die Aufgabe anderer. Ich würde etwas über die Schwäche schreiben, eine kleine Betrachtung der Schwäche, die sich hinter Getöse, Gedöns und Gedröhne verbirgt, damit man sie nicht wahrnimmt. Denn das ist schon phänomenal, nicht wahr?, dass es einerseits eine menschliche Schwäche gibt, die total offensichtlich ist, und andererseits eine, die bestimmte Menschen so gut verbergen können, dass sie nicht einmal selbst wissen, wie schwach sie sind, geschweige denn die vielen anderen, die einen solchen Schwächling sogar zum Präsidenten wählen.

Ist nicht die beste Tarnung für Schwäche: Stärke? Also eingebildete, vorgeschobene, gespielte Stärke natürlich?

Man müsste in einem solchen Text zu einer Definition menschlicher Stärke finden. Man müsste erklären, dass eine solche Stärke nur aus der Kenntnis der Widersprüche unseres Lebens entstehen kann, aus der Überwindung von Zweifeln, der Kenntnis komplizierter Tatsachen, dem Nachdenken, der Berücksichtigung von Ängsten, ja, dass wahre Stärke die Erkenntnis der eigenen Schwäche voraussetzt. Man müsste schreiben, dass der Mensch sich oft so sehr nach Stärke sehnt, dass er seinen Verstand vergisst, dass ihm ein Schauspiel von Stärke genügt, eine Stärkedarstellung, die ihn herausreißt aus allem Schwierigen und die er als Befreiung empfindet.

Darüber müsste man nachdenken. Das könnte man schreiben, nach dem Tod gewisser anderer Amtsinhaber.

Natürlich auch schon vorher.

Aber es ist nun mal eine Nachrufseite.

Ich glaube, es würde nicht mal sein Name vorkommen, nur in der Überschrift natürlich, wobei, was heißt schon Überschrift? Es steht nur immer der Name über dem Text, Geburtsdatum, Todestag, fertig.

Bei den Toten der Woche stand zum Beispiel in den Tagen nach dem Tod Karl Lagerfelds, des Modeschöpfers, nichts über ihn, das habe ich dem Feuilleton überlassen – warum? Weil ich mein ganzes Leben lang mit Lagerfeld nichts anfangen konnte, er hat mir schlicht und einfach nichts bedeutet, verstehen Sie? Er konnte nichts dafür, ich konnte nichts dafür, wir waren uns ein bisschen schnurz, ich ihm sowieso, ist ja klar, aber er mir eben auch. Ich hätte es vielleicht interessant gefunden, eine Betrachtung darüber zu schreiben, wie es sein kann, dass ein Mensch trotz nicht geringer geistiger Gaben nie aus so einer Art Matrosenanzug herauswächst, in den ihn seine Mutter mal gesteckt hat, und dass er sein Leben bei größtmöglichem Erfolg doch in einer Art kindlicher Altklugheit verbringt.

Aber dann dachte ich, ich wüsste einfach zu wenig über ihn und täte ihm bloß unrecht. Also ließ ich die Finger von Lagerfeld.

Ich schrieb stattdessen in jener Woche, zum Beispiel, ein paar Zeilen über Gus Backus, der war zwei Tage nach Lagerfeld gestorben.

Backus war ein auf Long Island geborener amerikanischer Schlagersänger, der als GI nach Deutschland kam und der, als ich ein kleiner Junge war, 1961 einen Riesenhit namens Der Mann im Mond hatte, einen Foxtrott, in dessen Intro eine Rakete startete. Jahrelang war das ein Erfolg. Mit fünf Jahren flehte ich meine Eltern Mal um Mal an, mir das Lied vorzuspielen. Wobei mich das Lied nicht interessierte. Nur der Raketenstart! Danach hörte ich gar nicht mehr zu.

In den Sechzigerjahren hatte Backus Riesenerfolge in Deutschland, jeder, der damals lebte, kennt zum Beispiel Da sprach der alte Häuptling der Indianer, ein damals schon idiotisches Lied über die Beziehung von weißem Mann und Rothaut. Aber genau das war ein gutes Thema für den Nachruf, in dem es natürlich um sentimentales Sicherinnern ging. Backus’ Song handelte davon, dass der weiße Mann eine Eisenbahn durch Indianerland baut und der rote Mann deshalb das Kriegsbeil auszugraben sich genötigt sieht – darauf beziehen sich die Zeilen:

Da sprach der alte Häuptling der Indianer:

Wild ist der Westen, schwer ist der Beruf.

Eigentlich hübsche Zeilen, nicht wahr? Besonders dieses »schwer ist der Beruf«, das ist originell, weil: von welchem Beruf ist da die Rede? Häuptling? Das ist als Beruf nur wenigen von uns überhaupt geläufig, aber gemeint ist wohl, dass man bei der Berufsausübung als Häuptling eben gelegentlich das Kriegsbeil auszugraben verpflichtet ist, obwohl man lieber seine Ruhe hätte, im Wilden Westen.

Wobei das Lied so endet: Dem Häuptling wird, als Beruhigungsmittel vermutlich, eine Stelle als Conducteur bei der Bahn zugestanden – tja, da muss man sagen: Man stiehlt dem roten Mann seine Heimat und sein Land, und als Ausgleich darf er Schaffner bei der Bahn des weißen Mannes werden?

Oha!

Das ist von geradezu schnarrender Blödheit, oder? Man könnte auch sagen: rassistisch, aber der Begriff wird mir heute bisweilen etwas zu beliebig verwendet, ich scheue vor ihm zurück, in diesem Fall, obwohl er die Sache schon trifft.

Aber das sahen wir natürlich damals nicht, für uns war es ein harmloses lustiges Lied, was es ja zum Teil wiederum nun mal auch einfach ist, und darum ging es in den Toten der Woche an jenem Tag: dass man sich manchmal von all dem Wissen um den Wahnsinn der Welt zurücksehnt in die Zeit des Nichtwissens und der Unschuld und der harmlosen Lustigkeit, in der nicht alles und jedes daraufhin befragt werden musste, ob irgendjemand auf der Welt beleidigt und erniedrigt sein könnte, wenn es gesungen würde.

Sehnsucht! Sogar in die Welt des Schlagers!

Jedenfalls: Backus hatte irgendwann keinen Erfolg mehr, kehrte nach zwei gescheiterten Ehen in die USA zurück, heiratete erneut und arbeitete als Vorarbeiter auf texanischen Ölfeldern. In Deutschland galt er vielen als tot – bis er dann, nach dem Ableben seiner dritten Frau, wieder hierherkam und zum vierten Mal heiratete: seine zweite Frau, noch mal, also, die war ja noch da. Und er heiratete sie eben erneut.

Was alles in so ein Leben reinpasst, nicht wahr?

Wenn man nur will …

Oder muss.

Daneben stand an jenem Tag ein größerer Text über den Buchhändler, der einen Laden neben meiner Schule gehabt hatte. Fast jeden Tag war ich als Junge in dem Laden gewesen, um in Büchern zu blättern, die ich mir nicht leisten konnte – manchmal schenkte er mir ein Reclam-Bändchen, in der Drogenszene würde man das anfüttern nennen, glaube ich. Und dann gab es noch was über den Masseur der viertbesten Fußballmannschaft unserer Stadt, den hatte ein Herzinfarkt erwischt, er war nicht alt, siebenundvierzig glaube ich. Ich gehe ja regelmäßig zu den Spielen, weil ein Neffe von mir zur Mannschaft gehört, und immer, immer, immer lief bei jeder Verletzung dieser Masseur mit auf den Platz. Mehr wusste ich auch nicht über ihn, als dass ich ihn eben dort immer laufen gesehen hatte, viel mehr gab es zunächst auch gar nicht zu erzählen: ein laufend zu Hilfe eilender Mann, dieses Bild hatte ich von ihm.

Aber in der großen Mehrzahl besteht die Menschheit nun mal aus solchen, über die nicht groß was zu erzählen ist.

So scheint es. Und genau das ist das Interessante. Weil es nämlich – meine Erfahrung – immer etwas sehr Interessantes zu erzählen gibt. Über praktisch jeden Menschen.

Auch über den Masseur.

Man muss es nur herausfinden. Man muss es wissen wollen.

Gestern habe ich im Radio eine dieser Sendungen mit Leuten gehört, die im Sender angerufen haben, um mitzuteilen, wo eine Radarfalle steht, in diesem Fall handelte es sich um Heinz, der sehr aufgeregt berichtete, was er berichten wollte. Dann fragte die Moderatorin den Heinz noch, ob er irgendeinen Wunsch habe.

Ja, ich möchte meine Frau grüßen.

Und wie heißt die?

Sabrina.

Wie süß!, Heinz, kannst du noch was über sie erzählen?

Wie ist sie denn so?

Pause.

Heinz?!

Also … Eigentlich ist die ganz normal.

Das war, was ihm zu seiner geliebten Frau einfiel. Dass sie ganz normal ist.

Lustig, ja …

Mich rührt es zu Tränen.

Schlagersänger, Buchhändler, Masseur. So sieht die Seite oft aus.

Aber manchmal auch anders.

Zum Beispiel: Georges Simenon, der starb 1989 – ja, so lange mache ich das schon, 1989, noch länger ja schon, seit 1985 nämlich –, jedenfalls 1989, bei Simenons Tod, da habe ich die ganze Seite nur mit einer Geschichte über ihn gefüllt, weil ich ihn verehre wie wenige andere, als Autor.

Und als George Harrison, der Beatle, 2001 dran war, habe ich, andererseits, nichts über ihn geschrieben, nur zwei Sätze unter seinen Namen gesetzt.

There was never a time when I did not exist, nor you.

Nor will there be any future when we cease to be.

Das ist von Krishna, also eine der größten Gottheiten des Hinduismus, Harrison hatte es in der Hülle seines Albums Somewhere in England zitiert, als Widmung an John Lennon. Der war ermordet worden, während Harrison an dieser Platte arbeitete. Überlebt hat Harrison seinen Freund um mehr als zwanzig Jahre.

Er folgte ja selbst den Lehren des Hinduismus.

Wussten Sie eigentlich, dass auch Harrison 1999 fast von einem Irren erstochen worden wäre? Das war auf seinem Anwesen in England. Seine Frau rettete ihn, indem sie mit einem Schürhaken und sogar noch einer Lampe auf den Täter einprügelte, der Harrison schon ein paar Stiche versetzt hatte. Dann kam zum Glück die Polizei.

Ich mochte Harrison, aus der Ferne, so ein schüchterner Mann, der kein großes Gewese von sich machte.

Da passte das, nur zwei Sätze. Diese Sätze.

Niemals gab es eine Zeit, in der ich und du nicht existierten, noch wird es eine Zukunft geben, in der wir aufhören zu existieren.

Na ja, das sind maximal fünf, sechs nicht sehr lange Texte pro Woche, manchmal auch nur einer, der ist dann natürlich länger, je nachdem.

Ist natürlich Quatsch, was ich gerade gesagt habe, Sie können auch ohne meinen Nachruf begraben werden, die meisten Leute werden ohne meinen Nachruf begraben, das ist sozusagen der Normalfall, logisch. Suchen Sie sich’s einfach aus, schreiben Sie mir eine Mail: Halten Sie die Klappe, wenn ich mal in die Kiste gefallen bin, keine Zeile will ich von Ihnen!

Ich halte mich dran.

Also, wahrscheinlich.

Ist ein Riesenrenner, Die Toten der Woche, ich schwöre Ihnen, es gibt keinen in der Stadt, der die Seite nicht liest, von ein paar Dreizehnjährigen abgesehen und von den Leuten natürlich, die sowieso nichts lesen, also mittlerweile den meisten, leider. Die Menschen interessieren sich wahnsinnig für den Tod.

Sie reden nur nicht gerne drüber.

Aber in jeder Zeitung gehören die Seiten mit den Todesanzeigen ja sowieso schon zu den meistgelesenen, ganz ohne Nachruf. Man schaut: Kannte ich da jemanden? Je älter man wird, desto mehr guckt man auf die Geburtsjahrgänge der Toten, und bisweilen sieht man auch echt Lustiges, hier zum Beispiel, das hat mir jemand geschickt, da lautet die Anschrift der Hinterbliebenen tatsächlich Auf dem Erbe, die Straße gibt’s da, in dieser Stadt, welche war das noch mal?

Bielefeld, genau, hier liegt der Brief.

Und kennen Sie eigentlich diese Bücher mit den kuriosen Sterbeanzeigen, sehen Sie, da hinten, ganz oben auf dem Stapel, Aus die Maus, schauen Sie mal: eine Sammlung kurioser Todesannoncen, da ist einer gestorben, der hieß Leberecht Lange. Der Name war Programm, der Mann ist mehr als achtzig Jahre alt geworden, aber der Vorname funktioniert wirklich nur in der Verbindung mit diesem Nachnamen.

Wir haben Die Toten der Woche übrigens mit Absicht nie in die Internet-Ausgabe gestellt, das ist der Trick. Gestorben wird nur auf Papier, eine Frage der Würde. Keine Netzbestattung. Da fehlt einfach die Ruhe, verstehen Sie? In dem Gekreische.

Also, die Leute haben jedenfalls Humor, was?

Ich meine: mich als Geburtstagsredner.

Für eine Achtzigjährige.

Wissen Sie übrigens, was mir eben da draußen passiert ist?

Ich gehe auf dem Bürgersteig meine Straße entlang, der Tag ist noch jung, das Wetter ist schön, die Vöglein singen, da kommt meine Frau mit dem Fahrrad die Straße entlang, sie sieht mich, ich sehe sie, sie bremst und rollt auf mich zu, stoppt an der Bordsteinkante auf dem Parkstreifen hinter einem dort stehenden Auto.

Küsst mich.

Wir unterhalten uns ein wenig.

Nach zwei Minuten möchte der Fahrer des Autos, hinter dem meine Frau steht, ausparken, also schiebt sie ihr Fahrrad nach vorne auf den Bürgersteig, auf dem sie nun quer steht, ohne ihn allerdings gänzlich zu versperren.

Und wir unterhalten uns weiter.

Aber es geht eine Frau den Bürgersteig entlang, sie geht sehr langsam, sie schaut auf das Fahrrad, sie schaut auf uns, dann schüttelt sie missbilligend den Kopf.

Problem: Sie müsste ihren Weg um etwa 45 Grad nach rechts lenken, zwei Schritte in diese Richtung gehen, dann wieder 45 Grad nach links nehmen, wiederum zwei Schritte, dann wieder 45 Grad rechts, darauf den alten Kurs weitersegeln.

Stattdessen: Tsss, tsss …

Miss Billigung passt es nicht, dass wir hier stehen.

Ich sage, ein bisschen angefressen: Schauen Sie, Sie müssen doch nur 45 Grad nach rechts und so weiter – – –. Da ist sie schon vorbei. Aber sie reckt, im Davonspazieren, den rechten Arm und zeigt mir den längsten Finger, den sie hat.

Wie geht man damit um?

Ich stand da, ehrlich gesagt, fassungslos herum und dachte: Wieso, um Himmels willen, geschieht so etwas an einem Morgen wie diesem, wie gesagt: Tag jung, Wetter schön, Vöglein zwitschernd? Warum geschieht es überhaupt? Was habe ich dieser Frau getan? Warum versaut sie mir die Stimmung? Warum lasse ich mir von ihr die Stimmung versauen? Warum vergesse ich die Dame nicht im gleichen Moment, in dem ich sie gesehen habe? Oder schon vorher. Warum lasse ich sie nicht unter meiner Wahrnehmungsschwelle davonlatschen?

Aber ich gehöre nun mal nicht zu den Leuten, denen andere Leute egal sind, was soll ich machen? Ich gehöre zu denen, die in anderen gerne ein Licht anknipsen würden, um in sie hineingucken zu können, verstehen Sie?

Was ist eigentlich los in Leuten wie Miss Billigung? Was brennt in ihnen für ein unkontrolliertes Feuer, welche Glut glimmt da vor sich hin? Meine These wäre, dass es ihnen doch wahrscheinlich darum geht: durch ihr Verhalten in anderen die gleiche Ratlosigkeit, Wut, Verzweiflung zu entzünden, die in ihnen selbst glosen. Und insofern sind diese Menschen natürlich ständig auf der Suche nach Situationen, in denen sie irgendwie benachteiligt oder übersehen oder beiseitegeschoben werden, um darauf entsprechend zu reagieren, so wie manchmal Leute hinter den Gardinen ihrer Wohnungen darauf lauern, dass draußen auf der Straße etwas geschieht, das ihnen nicht gefallen könnte, dass also jemand falsch parkt oder eine Einfahrt versperrt oder eine Mülltonne unschön platziert, damit sie sich darüber erregen können und wenigstens irgendeine Art von Gefühl in sich verspüren können, hinter ihrer Gardine.

Und deswegen denke ich manchmal, es wäre am besten, man würde einem Menschen wie Miss Billigung folgen und freundlich fragen: Na, sagen Sie mal, was ist denn mit Ihnen los, und wollen Sie mir nicht mal erzählen, was Ihnen widerfahren ist, dass Sie mir Ihren Finger entgegenrecken?

Macht man natürlich nicht. Aber der Menschheit ginge es besser, wenn man es gelegentlich mal täte.

Meine Meinung.

Wir reden immer von den großen Gefühlen, von Liebe und Tod, aber ich denke, man müsste auch mal von diesen kleinen Gefühlen sprechen, vom emotionalen Alltag, von diesen Leuten, denen man begegnet, wie sich Billardkugeln treffen, manchmal knallen sie voll aufeinander, bisweilen touchieren sie sich nur seitlich, dann wieder verpassen sie sich, aber nie bleibt das ohne Wirkung für das ganze Spiel.

Vielleicht ergibt sich mal die Gelegenheit eines Nachrufes auf Miss Billigung. Wäre eigentlich schön. Man weiß es nie.

Wie das Leben so spielt.

Und der Tod.

Sie denken jetzt vielleicht, ich würde Miss Billigung hinterherlaufen wollen, weil sie möglicherweise, hätte ich sie kennengelernt, ein guter Gegenstand für einen Nachruf wäre, wenn es denn mal irgendwann so weit ist. Material also. Ich meine, Sie denken, ich würde den Menschen dann meine Visitenkarte zustecken, Walter Wemut, Nachrufe, und dann melden sich eines Tages die Hinterbliebenen und sagen, sie hätten diese Karte entdeckt – und ob ich nicht …?

Dass ich also Menschen ausschließlich unter dem Aspekt sehe, was sie mir nützen könnten, im Beruf.

Oooooh.

So sollten Sie von mir nicht denken.

Außerdem übersähen Sie, dächten Sie dies, etwas Entscheidendes.

Denn!

Ich bin ihr ja nicht nachgegangen.

So eine Visitenkarte habe ich allerdings schon.

Ich weiß, mein Beruf kommt Ihnen seltsam vor. Machen Sie sich keine Sorgen, das ist normal. Das geht allen so.

Die Leute sagen oft zu mir: Ist das nicht furchtbar traurig, sich immerzu mit dem Tod zu befassen?

Aber ich befasse mich nicht mit dem Tod!

Mein Thema ist das Leben – nur eben dann, wenn es vorbei ist. Ich schreibe nicht darüber, wie die Leute ums Leben gekommen sind und warum; ich schreibe darüber, was sie mit ihrem Leben gemacht haben und vor allem, was dies anderen bedeutet hat, mir zum Beispiel. Den Tod eines Menschen zu betrauern heißt: sein Leben zu feiern, sage ich immer, und ich sage das schon so lange, dass mir gar nicht klar ist, ob ich den Satz selbst erfunden oder irgendwo aufgeklaubt habe.

Also bei bekannten Leuten jetzt, da ist doch oft die Frage: Was waren die für mich? Simenon, den ich vorhin erwähnte, das war ein gutes Beispiel, ich habe immer seine Sprache gemocht und die Tatsache, dass einfache Menschen bei ihm die Hauptrolle spielten. Da handelten nicht Kunstfiguren mit Kunstgefühlen in Kunstwelten, wie heute in manchen Fernsehkrimis, in denen die Kommissare in Design-Apartments leben, die sich in Wahrheit nicht mal Polizeipräsidenten leisten könnten. Sondern da lebten und starben wirkliche Menschen, nicht wahr? Das war das Großartige, und das starb mit Simenon, wenn ich das mal so radikal sagen darf.

Obwohl ich ja ungerne Dinge radikal sage, das Radikale ist meistens falsch. Und natürlich gibt es immer noch Autoren, die sich mit den einfachen Menschen befassen.

Sagen Sie mal, apropos radikal: Haben Sie nicht das Gefühl, wir bewegen uns auf eine Welt zu, in der die meisten Menschen nur noch stören?

Hier im Viertel zum Beispiel: die Leute, die den Müll wegbringen, die Post in den Kasten stecken, die Straße fegen, die Essensboten auf ihren rostigen Rennrädern, selbst die Hausmeister, die man doch eigentlich kennen sollte, die man aber eben nicht mehr kennt, weil sie hier nicht mehr wohnen, sondern nur Abgesandte einer großen Hausmeisterfirma sind – alle diese Menschen sind nur noch Fremde, huschende Schatten, sie kommen aus der Ferne und verschwinden wieder dort, sie leben weit außerhalb dieser Gegend und keiner kennt sie mit Namen, sie hetzen herum, immer unter Druck. Man ärgert sich über sie: Warum haben sie nicht zwei Mal geklingelt wegen des Pakets, warum haben sie so früh geklingelt, warum klingeln sie immer bei mir für die Pakete des Nachbarn?

Als ich hier einzog, wohnte der Hausmeister noch im Haus selbst, er war nicht nur Hausmeister, sondern auch Nachbar. Und eine Autoritätsperson! Er war, offen gestanden, ein Unsympath, ein Unsympath mit Schäferhund sogar, ein kleiner Law-and-Order-Sympathisant, aber trotzdem …

Wenn man mal eine Lampe anschließen musste, hatte der immer Zeit.

Ich meine: Hier im Haus wohnen durchaus noch andere Unsympathen.

Aber die schließen mir keine Lampe an.

Dann musste er ausziehen. Einige Leute wollten keinen Hausmeister als Nachbarn, haben sich beim Hausbesitzer beschwert, sie fühlten sich herabgesetzt und heruntergewürdigt. Weil der Hausmeister ihr Nachbar war, das muss man sich mal vorstellen!

So fing das an. Und jetzt? Wer bringt diesen Husche-Gestalten in unseren Fluren und vor den Klingelbrettern noch Respekt entgegen? Wer würdigt ihre Arbeit? Wer fragt, was sie denken? Die hätten ja übrigens gar keine Zeit mehr, auf die Frage, was sie denken, überhaupt noch zu antworten! Die müssen weiter! Die müssen ihr Soll erfüllen.

Ich sage Ihnen Folgendes: Es hat sich bei uns wieder so ein Klassendenken etabliert, ein ganz neues, aber doch sehr altes, das es lange nicht gab. Man betrachtet Boten, Straßenkehrer, Hauswarte von oben herab. Man fühlt sich gerne als was Besseres, so wie in jenen Zeiten, als die feinen Herrschaften erwarteten, dass man ihnen Platz machte auf dem Bürgersteig. So ist das heute wieder.

Rede ich Unsinn?

Ja, vielleicht rede ich Unsinn.

Es gibt andere, es gibt die Freundlichen, die Respektvollen. Sind sogar viele. Aber irgendwie bestimmen die anderen die Atmosphäre.

Es ist auch nur so ein Gefühl, ich bin kein Soziologe, ich kann das nicht analysieren, im wissenschaftlichen Sinn. Ich kann es nur empfinden.

Jedenfalls, auch wenn Sie das seltsam finden mögen, auf dieser Nachrufseite hätte ich gerne, dass ein Gesellschaftsbild entsteht, ein Zusammenhang, den wir in unserem Alltag nicht mehr sehen, einfache Menschen, kleine Menschen, große Menschen, mittlere Menschen, Berühmte und Unberühmte, alle tot, alle fertig mit einem Leben unter uns, neben uns, über uns.

Und noch etwas: Ich glaube, es ist wichtig zu verstehen, dass ich auf dieser Seite nicht ewige Wahrheiten über die Menschen verkünde, sondern nur das, was ich über sie weiß und wie ich das interpretiere und einordne.

Drücke ich mich verständlich aus?

Ein anderer würde über denselben Menschen vielleicht etwas ganz anderes schreiben. Schreibe ich überhaupt über den Menschen? Oder nicht eher: über die Vorstellung, die ich von ihm habe? Ist was anderes überhaupt möglich? Führt nicht, so gesehen, jeder Mensch eine literarische Existenz, weil er, für mich zum Beispiel, als eine Mischung von Realität und Fantasie existiert? Und ist am Ende nicht so sehr wichtig, dass ich ihm gerecht geworden bin, sondern dass ich versucht habe, ihm gerecht zu werden? Oder mache ich es mir damit auch schon wieder zu einfach?

Vor zwei, drei Jahren, im Winter, kurz vor Weihnachten, fand eine meiner Nachbarinnen auf dem Friedhof hier um die Ecke eine alte Frau, sie lag am Wegesrand, auf dem Rücken, die Arme angelegt.

War tot.

Herzinfarkt, wie sich dann herausstellte.

Herzinfarkt mit sechsundneunzig Jahren.

Es war Winter, die war schon ganz steifgefroren.

Ich habe mich dann aufgemacht, um herauszufinden, wer das war. Ich fand ihre Tochter, auch schon eine ältere Dame, die mit ihrer Familie in einer anderen Stadt lebte (und immer noch lebt), etwa hundert Kilometer von hier. Drei ihrer Kinder, die Enkel der Toten also, wohnen in unserer Stadt, der eine selbst schon Familienvater, die anderen beiden verheiratet und noch ohne Kinder. Regelmäßig besuchten sie die Großmutter, die auch mit fast hundert Jahren noch allein, nur zwei Straßen weiter, in jenem kleinen Haus wohnte, in dem sie ihre Tochter großgezogen hatte.

Ihr Mann hatte sich, das ist nun fünfzig Jahre her, in diesem Haus auf dem Dachboden erhängt, er hatte an schweren Depressionen gelitten – sie hatte ihn gefunden, dort oben. Seit diesem Tag hatte sie allein gelebt und immer großen Wert auf ihre Selbstständigkeit gelegt, dar auf, dass sie selbst einkaufen ging, ihr Essen ohne Hilfe zubereitete. Nur eine Putzfrau kam zweimal pro Woche vorbei.

Als sie aber spürte, dass es mit ihr zu Ende ging, hatte sie jeden Enkel zu sich bestellt. Natürlich hatte sie nichts von der Todesahnung erzählt. Sie hatte aber ganz offensichtlich verhindern wollen, dass die Angehörigen ungeplant vorbeikämen und sie am Ende tot fänden; alle hatten ja einen Schlüssel. Sie sollten da gewesen sein und dann so schnell nicht an den nächsten Besuch denken. Der Putzfrau hatte sie abgesagt. Die Tochter war gerade zwei Tage zu Besuch gewesen.

Allen, die ihr wichtig waren, hatte sie das Trauma ersparen wollen, das sie selbst Jahrzehnte zuvor erlitten hatte, sie also tot zu entdecken, vielleicht erst nach Tagen.

Sie war dann auf den Friedhof gegangen und hatte sich womöglich, da man keine größeren Verletzungen an ihr fand, einfach auf den Boden gelegt und gewartet, nicht lange.

Glauben Sie nicht?

Wahre Geschichte.