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Klaus Püschel
Bettina Mittelacher

TOTE
SCHWEIGEN
NICHT

Faszinierende Fälle
aus der Rechtsmedizin

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Inhalt

Faszination Rechtsmedizin

Todesbotschaft aus dem Jenseits

Erweiterter Suizid

Ärztliche Schweigepflicht

Der böse Samariter

Serientötungen

Ersticken – Strangulation

Späte Rückkehr aus dem Grab

Exhumierungen

Geheimnisvoller Tod eines Politikers

Todesfälle in der Badewanne

Nachsektion

Das Leiden eines kleinen Mädchens

Schütteltrauma

Die Elster und die Tote im Bad

Tiermedizin in der Forensik

Kohlenmonoxid, das schleichende Gift

Allmächtige Bayern

Sektion/Gerichtliche Leichenöffnung

Showdown des Auftragskillers

Handlungsfähigkeit bei Kopfschuss

Politoxikomanie

Gefährliche Liebschaft

Selbstverletzungen

Falsche Verdächtigung

Alte Menschen töten anders

Leichenzerstückelung

Alter, Demenz und Aggression

Krankhafte Mutterliebe

Artifizielle Störungen – rätselhaft und gefährlich

Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom

Das Martyrium im Folterkeller

Fahndung nach Vermissten

Paraphilie

Ohne Kopf geht nichts

Hinrichtungen im Mittelalter

Anthropologie und Radiokarbondatierung

Danksagung

Impressum

Faszination Rechtsmedizin

Hohe, ausgetretene Stufen führen hinab in die Familiengruft. Es ist feucht und zugig hier unten, einige Fackeln werfen ein mattes, flackerndes Licht ins Dunkel und an den Wänden zeichnen sich bizarre Schatten ab. Endlich steht die Familie vor den Särgen ihrer Ahnen, die sie jetzt anlässlich der Renovierung ihres jahrhundertealten Schlosses öffnen lassen will. Als der zweite Deckel angehoben wird, begleitet von einem schaurigen Knarzen, erstarren die Nachfahren. Eine Frau stößt einen entsetzten Schrei aus.

In dem Sarg erblickt die Familie eine Totenkopffratze, von einem furchtbaren Todeskampf gezeichnet. Die Arme des Leichnams sind abgespreizt, die Finger eingekrallt, der Körper wie in letzter Agonie gekrümmt. Es ist das pure Grauen. Ein albtraumhaftes Schicksal muss den Ahnen vor langer, langer Zeit ereilt haben: Ein Mann, der sich im absoluten Dunkel seines schmalen Holzsargs mit letzter Kraft gegen den Deckel stemmt und panisch an den Wänden kratzt, immer mühsamer nach Luft ringend. Es ist ein aussichtsloser Kampf.

Lebendig begraben! Was hat es auf sich mit solchen Erzählungen aus uralten Büchern, die den Leser schaudern lassen? Sind es Gruselgeschichten, einer düsteren Fantasie entsprungen? Oder kann uns ein solches Schicksal auch heute noch treffen? So detailliert und umfangreich manche historischen Berichte sind, von Chronisten, Geistlichen, Ärzten und Amtspersonen zu Papier gebracht, so sind es doch Schauermärchen und fantastische Hirngespinste. Heute bleibt von diesen Gruselgeschichten aus dem Blickwinkel der modernen Rechtsmedizin nichts mehr übrig. Es handelt sich um nichts weiter als natürliche sogenannte späte Leichenveränderungen im Rahmen von Fäulnis und Verwesung.

Die Furcht vor dem Scheintod – lebendig begraben zu werden gehörte zu den schauerlichsten Ängsten früherer Jahrhunderte – war mit ein Anstoß dafür, dass sich die Mediziner Ende des 18. Jahrhunderts anschickten, den Prozess des Sterbens näher zu erforschen und herauszufinden, wann ein Mensch wirklich und tatsächlich tot ist. Die Thanatologie, ein klassisches Kernstück der Rechtsmedizin, war geboren. Ein faszinierender Bereich und einer von vielen, der dieses Fach, das sich intensiv mit dem Tod beschäftigt, dem Leben so nahe bringt wie kaum ein anderes.

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„Was bin ich?“ hieß von 1961 bis 1989 eine beliebte Fernsehsendung über das Beruferaten. Eingeleitet wurde sie mit der Bitte des Moderators: „Machen Sie eine typische Handbewegung.“ Bei einem Rechtsmediziner wäre das am ehesten eine lang gezogene Schneidebewegung mit einem imaginären Messer: Der Körper eines Toten wird geöffnet, um in seinem Inneren die Ursache des Todes zu ergründen. Verstorbene können uns die Umstände ihres Ablebens nicht selbst erklären, sie sprechen nicht mehr. Wir aber fragen, was ist passiert? Warum liegt dieser Körper da vor uns: kalt, blass, regungslos?

Aber „Tote schweigen nicht“, jedenfalls nicht für den Rechtsmediziner. Er bringt sie wieder zum Sprechen, wenn auch manchmal erst nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten. Der Rechtsmediziner versucht, den Toten ihre letzten Geheimnisse zu entlocken. Er untersucht zum einen die Umstände des Sterbeverlaufs sowie die letzten Regungen eines Körpers als sogenannte vitale und supravitale Reaktionen. Andererseits ergründet er die Aktionen des Täters, sofern es ein unnatürlicher Tod war, seine Handschrift, wie organisiert beziehungsweise nicht organisiert er vorgegangen ist. Der Rechtsmediziner liest in einem toten Körper wie in einem Buch. Er versteht die Zeichen, mit dem die Organe und das Gewebe anzeigen: Wann bin ich gestorben, wie lange hat es gedauert, wie geschah es? Welche äußere Gewalt hat auf mich eingewirkt, wo fand der Kontakt statt, warum hatte ich keine Chance zu überleben? Alles Fragen mit W. Der Rechtsmediziner will sie beantworten. Denn er will wissen, was wirklich wa(h)r.

Ein typisches Gesprächsszenario: Menschen treffen zusammen, lernen ihr Gegenüber kennen und nennen ihren Beruf. Wenn es heißt Rechtsmediziner/Gerichtsmediziner sind sie geradezu elektrisiert.

Dabei sind zwei Phänomene zu beobachten. Während die Mehrheit mit einem anerkennenden Interesse reagiert, den Beruf hoch spannend findet und viele persönliche und fachliche Fragen stellt, wehrt eine kleine Minderheit vehement ab: Das kann ich nicht mit anhören. Das sind ja schreckliche Geschichten. Erzählen Sie mir bloß keine Details. Das will ich mir gar nicht vorstellen. Färbt das auf Sie und Ihre Familie ab? Die Interessierten dagegen sind neugierig und wollen, dass man gleich alles Mögliche erzählt.

Faszination Rechtsmedizin: Was fasziniert den Rechtsmediziner und was seine Zuhörer, die begeistert seinen Schilderungen lauschen? Und die ihm Woche für Woche im Fernsehen folgen, zuerst bei „Quincy“ (mit Jack Klugman als Gerichtsmediziner), dann bei „Der letzte Zeuge“ (dargestellt von Ulrich Mühe) und seit Längerem im „Tatort“ mit dem Münsteraner Professor Boerne (mit Jan Josef Liefers). Oder in zahlreichen Krimis in Wort und Bild, zum Beispiel als Kay Scarpetta bei Patricia Cornwell oder als Hunter bei Simon Beckett. Die Reihe geht weiter von Temperence Brennan bei Kathy Reichs bis hin zum Sonder-BKA-Ermittler Fred Abel bei Michael Tsokos und ließe sich fast unbegrenzt fortsetzen.

Unser Rechtsmediziner Klaus Püschel ist anders. Keine Fiktion, kein Idealbild, kein Superhirn, kein einsamer Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit, kein Actionman, aber ein Überzeugungstäter. Wir wollen wissen, was wahr ist: wwwwwissen was wirklich wa(h)r! Wie funktioniert die Sprache der Toten? Welche Spur hat zum Täter geführt, welchen Fehler hat er gemacht? Welche Befunde haben ihn überführt? Und vor allem: Was lernen wir daraus? Wie konnte es dazu kommen? Wie können wir dies zukünftig verhindern? Welche Schlussfolgerungen ziehen wir für soziale Veränderungen, damit dies so nicht wieder passiert? Und außerdem: Wie unterstützen wir die Opfer? Die direkten und die vielen indirekten aus der Familie und dem Freundeskreis. Denn Rechtsmedizin ist Opfermedizin.

Wer meint, die Hauptaufgabe, wenn nicht sogar das ausschließliche Tun eines Rechtsmediziners bestehe darin, Tote zu obduzieren, hat ein falsches Bild. Dieser Beruf hat so viel mehr Facetten, und vieles davon spielt sich außerhalb von Sektionssälen und Gerichtsverhandlungen ab. So erstellen Rechtsmediziner versicherungsmedizinische Gutachten, etwa nach Verkehrsunfällen, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Renten- oder Prämienanspruchs bestehen. Oft sind Fragen nach Schäden durch Berufserkrankungen zu beantworten. Hat ein Mensch zum Beispiel durch seine jahrelange Arbeit eine Staublunge erworben und führte diese Erkrankung zum Tod? In diesem Fall bestünden sehr viel höhere Ansprüche für die Verbliebenen gegenüber den Versicherungen. Auch Kranke, die meinen, sie seien Opfer eines ärztlichen Kunstfehlers geworden, bekommen in der Rechtsmedizin Hilfe in Form von Gutachten.

Ferner werden DNA-Gutachten erstellt, beispielsweise zur Feststellung einer Vaterschaft, Verletzungen an lebenden Opfern werden untersucht und dokumentiert, etwa für spätere Strafprozesse wegen Körperverletzung, Kindesmisshandlung oder Vergewaltigung. Es werden toxikologische Haaranalysen und Blutuntersuchungen vorgenommen, um zum Beispiel Drogenkonsum nachzuweisen oder den Blutalkoholwert zu bestimmen. Zudem können Rechtsmediziner mittels Röntgenuntersuchungen das Alter von Menschen diagnostizieren, was unter anderem für die Frage der Strafmündigkeit bei Jugendlichen entscheidend ist.

Ein wichtiges Feld ist auch die Versicherungsmedizin. Ist der Mann, der sich zwei Finger mit einer Kreissäge abgetrennt hat, wirklich unglücklich in das Gerät gerutscht, die Verletzung war also ein Unfall? Dann bekäme er, wenn er gut versichert ist, möglicherweise eine Summe zugesprochen, von der er und seine Familie über viele Jahre gut leben könnten. Oder hat er die Verletzung absichtlich herbeigeführt, um seine Versicherung zu betrügen? Rechtsmediziner können anhand des Verletzungsbildes herausfinden, was wirklich passiert ist.

Schließlich die Frage nach dem Todeszeitpunkt eines Opfers. Wenn der Rechtsmediziner im Krimi nonchalant und nach einem eher flüchtigen Blick auf einen Leichnam erklärt, dieser sei „vor acht bis zehn Stunden“ verstorben, löst dies bei den wirklichen Experten je nach Temperament Ärger oder Schmunzeln aus. Natürlich ist es sehr viel aufwendiger, einen exakten Todeszeitpunkt zu bestimmen, dies erfordert umfangreiche Untersuchungen.

Wie groß die Bedeutung des Zeitpunkts, an dem ein Mensch stirbt, sein kann, und zwar nicht nur bei Mord und Totschlag, sondern auch im Zivilrecht, zeigt der folgende Fall. Ein Ehepaar wird Opfer eines Verkehrsunfalls. Beide sind sehr schwer verletzt und versterben noch am Unfallort. Der Arzt, der die Todesbescheinigungen ausstellt, kann nicht exakt feststellen, wer wann zuerst gestorben ist. In die Formulare möchte er aber genaue Uhrzeiten eintragen. Wie er dies handhabt, kann folgenschwere Auswirkungen auf die Familien des Mannes und der Frau haben. Wenn er für den Mann einen Todeszeitpunkt kurz vor dem der Frau einträgt, erbt die Frau für die kurze Zeit, die sie ihren Mann überlebt, das gesamte Vermögen des Paares. Wenn sie nun wenige Minuten später ebenfalls verstirbt, bekommt ihre Familie alles, und die Angehörigen des Mannes gehen leer aus. Verhält es sich umgekehrt und die Frau stirbt als Erstes, würde die Familie des Mannes alles erben, und die der Frau bekäme nichts.

Wichtig ist die Arbeit der Rechtsmedizin auch bei der Identifikation von Toten. Wir alle kennen die Krimiszenen, wenn ein Rechtsmediziner mit seinen Fertigkeiten aufklärt, um wen es sich bei einem Toten handelt. Wie aber ist es bei Massenkatastrophen, wenn es viele Opfer gibt? Beispielsweise bei dem furchtbaren Zugunglück von Eschede 1998 mit 101 Todesopfern, die teilweise auf das Schlimmste zugerichtet sind? Oder der verheerende Tsunami am 26. Dezember 2004 mit geschätzt 230 000 Toten. Hier leisten Rechtsmediziner eine enorm schwierige Arbeit. Von den 552 deutschen Opfern werden schließlich 539 identifiziert, auch unter maßgeblicher Mitwirkung des Hamburger Instituts für Rechtsmedizin.

Wie kommt ein junger Medizinstudent zum Interesse an der Rechtsmedizin?

Klaus Püschel erzählt: Bei mir war diese Richtung keineswegs vorgezeichnet. Eigentlich hatte ich Sportmediziner werden wollen. Kurz vor Ende meines Studiums an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) rückte das Fach Rechtsmedizin in meinen Fokus. Professor Bernd Brinkmann, seinerzeit Leitender Oberarzt am Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) und Lehrbeauftragter in Hannover, unterrichtete so faszinierend und lebendig, dass ich davon sofort in den Bann gezogen wurde. Ich vollzog eine 180-Grad-Wende bei meiner Berufsausbildung und wandte mich mit Herz und Hirn der Rechtsmedizin zu. Als weiterer Fixpunkt für das Interesse an diesem Fachgebiet kam dann Professor Werner Janssen hinzu, der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am UKE. Mit diesen beiden Schwergewichten als Vorbilder und akademische Lehrer begann ich meine eigene Laufbahn. 1983 habilitierte ich mich in Hamburg, zwei Jahre später wurde ich hier zum Professor berufen. Als Oberarzt wurde ich der Nachfolger meines Lehrers Professor Brinkmann. 1991 wurde ich zum Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am UKE ernannt.

Prof. Bernd Brinkmann war ab 1981 Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Münster. Nun könnte man davon ausgehen – und viele tun das –, dass der in dem allseits beliebten „Münster-Tatort“ so selbstbewusst agierende Fernseh-Rechtsmediziner Boerne die Verkörperung von Bernd Brinkmann darstellt. Doch der Unterschied zwischen beiden ist groß: Professor Boerne ist allenfalls der gleichermaßen geniale und komische Verschnitt eines Rechtsmediziners, der fern jeder fachlichen Realität skurrile Fälle klärt. Boerne trifft meist schon am Tatort bei der ersten Untersuchung des Leichnams weitreichende Feststellungen und führt dann auch alle nachfolgenden Untersuchungen selbst durch, nur unterstützt von einer Assistentin. Die Methoden, die er dabei einsetzt, gibt es im Alltag eines Instituts für Rechtsmedizin teilweise überhaupt nicht. Boerne bringt nicht selten auch den Täter selbst zur Strecke, stets ohne rohe Gewalt und ohne sich die Hände schmutzig zu machen. Zumindest führt er entscheidende Ermittlungsschritte selbst durch, folgt sozusagen den Spuren des Täters. Zudem ist er Experte für fast alles, Universalgelehrter, Superhirn und nebenbei auch Weinkenner und Gourmet.

Wie aber sieht die Realität aus? Rechtsmediziner ermitteln nie selbst: Sie sind eben keine Kriminalkommissare. Sie sind auch nie Einzelkämpfer oder Alleskönner. Vielmehr steht hinter ihnen ein gut ausgestattetes Institut mit einem Team von Wissenschaftlern aus verschiedenen Fachdisziplinen. Mit der Kriminalpolizei gibt es eine enge Kooperation, jedoch mit der notwendigen professionellen Distanz. Natürlich arbeiten Polizei und Rechtsmedizin bei der Spurensicherung am Geschehensort beziehungsweise Leichenfundort eng zusammen, ebenso bei der Todesursachenfeststellung im Sektionsraum und bei der Fallrekonstruktion sowie Begutachtung. Dabei sind die Kompetenzen und Befugnisse allerdings genau aufgeteilt. In unserem deutschen System sind die Akteure unterschiedlichen Ministerien zugeordnet, die Polizei dem Innenressort, die Rechtsmedizin der Behörde für Wissenschaft und Forschung, die je nach Bundesland anders bezeichnet werden mag. Über beiden steht noch die Justizbehörde, da die Staatsanwaltschaft Herrin des Verfahrens ist, solange es um die Ermittlungen und die Anklageerhebung geht. Danach fallen die Entscheidungen durch das zuständige Gericht.

Rechtsmediziner sind keine „Do it yourself “-Kriminalisten. Sie sind auch keine Fallanalytiker, keine Profiler. Theoretisch wären sie die Einzigen, die sich mit einer gewissen Berechtigung Forensiker nennen dürfen. Die Bezeichnung leitet sich aus dem Lateinischen ab, auf dem Forum erfolgten im alten Rom die öffentlichen Gerichtsverhandlungen. Ihr Gebiet ist die Medicina forensis, die forensische Medizin, früher Gerichtsmedizin, heute Rechtsmedizin. Sie sind auch keine Pathologen. Pathologen sind die Fachärzte, die die natürlichen Krankheiten des Menschen diagnostizieren, eventuell weitere diagnostische Schritte vorschlagen oder die Therapieplanung begleiten. Dies geschieht zum Beispiel durch die mikroskopische Untersuchung von chirurgisch entnommenen Gewebeproben, durch die Untersuchung des Körpers im Rahmen einer klinischen Sektion oder durch die Diagnose an chirurgisch entfernten Organen. Pathologen gehen niemals zu einem Tatort. Sie untersuchen auch keine Tötungsdelikte für die Staatsanwaltschaft.

Launige oder hämische Zuschreibungen für die Arbeit des Rechtsmediziners gibt es viele: Detektive in Weiß, Anwalt der Toten, Anwalt der Opfer, Opfermediziner, Detektive mit dem Skalpell, Kaltchirurgen, letzter Arzt. Manchmal hört man auch: postmortaler Besserwisser, kommt immer zu spät.

Ich betone immer wieder: Unser Fach hieß früher Gerichtliche und Soziale Medizin. Und diesen Aspekt des sozialen Engagements kann man sich auch sehr gut erhalten, wenn man auf den Schattenseiten des menschlichen Lebens sein berufliches Betätigungsfeld hat. Tatsächlich ist ein rechtsmedizinisches Gutachten, das Klarheit schafft, nicht selten wichtiger als eine Operation oder die beste Medizin. Wir lernen von den Toten für das Leben selbst.

Einmal konnte eine vermeintlich Tote in der Leichenhalle des Instituts tatsächlich erfolgreich reanimiert werden. Auffällig war, dass sich der Brustkorb der „Toten“ unter dem Leichentuch regelmäßig hob und senkte. Es gelang bis zum Eintreffen des Notarztteams, einen stabilen Herzrhythmus wiederherzustellen. Die Patientin kam aus der Rechtsmedizin sofort auf die Intensivstation. Es zeigte sich keinerlei äußere Gewalteinwirkung, abgesehen von den Zeichen einer intensiv und lang dauernden Reanimation. Die Patientin entwickelte auf der Intensivstation das Vollbild eines Herzinfarktes und verstarb am Linksherzversagen. Diese Fallkonstellation ist als sogenanntes Lazarus-Phänomen in der medizinischen Literatur gut bekannt.

Es zeichnet sich dadurch aus, dass ein Herz-Kreislaufversagen eingetreten ist, welches sich auch durch Reanimation nicht beheben lässt, aber später von selber wieder löst. Auch andere belegte Fälle, bei denen bei einem vermeintlich Toten in der Leichenhalle plötzlich Atmung und (leichter) Herzschlag festgestellt wurden, waren nicht wirklich tot. Hier trügt der Schein: Die Menschen sind nur scheintot. Bei ihnen wurden lediglich bestimmte Beobachtungen wie ein nicht zu bemerkender Herzschlag oder Auskühlung so gedeutet, dass dieser Mensch tot sei.

Daher gilt Vorsicht! Nicht jeder Körper mit unhörbarem Herzschlag ist eine Leiche. So kennen Rechtsmediziner weitere sogenannte „unsichere“ Todeszeichen wie etwa nicht feststellbarer Atem, Bewegungslosigkeit, Reflexlosigkeit, ein blasser Körper, der auskühlt, oder geweitete, lichtstarre Augen. Solche Menschen stehen in der Tat nahe an der Pforte des Todes. Und doch heißt es nicht, dass sie unter keinen Umständen gerettet werden könnten. Jede Anstrengung lohnt sich, um das Leben zu bewahren. Sichere Todeszeichen sind nur Leichenflecke, Todesstarre, Fäulnis und nicht mit dem Leben zu vereinbarende Verletzungen.

Doch was, wenn der Mensch am Ende sein Leben ausgehaucht hat? Wie gehen wir damit um, wie intensiv fragen wir nach und gehen den Umständen ihres Sterbens auf den Grund? Für die toten Opfer ist es eine Frage der Würde. Es gilt, die Toten so zum Sprechen zu bringen, dass ihnen Gerechtigkeit widerfährt. Rechtsmediziner „heilen“, weil sie dazu beitragen, Gerechtigkeit zu schaffen. Hier fängt das Grundverständnis für die Arbeit der Rechtsmedizin mit den Toten an. Anstelle zu sagen, lasst den Toten ruhen, stört ihn nicht, verletzt ihn nicht, tot ist tot, heißt es: Von den Toten lernen wir für das Leben und die (Über-)Lebenden.

Es ist kein Ausdruck von Würde, wenn man den Toten ins Grab bettet, ohne zu wissen, woran er gestorben ist, oder ohne zu prüfen, ob ein anderer, ein Mörder, den Tod verursacht hat. Ein Täter kann sich sogar ermutigt fühlen weiterzumachen, wenn seine Tat nicht aufgedeckt und er nicht enttarnt beziehungsweise überführt wird. Wenn man den toten Körper im Krematorium verbrennt, ohne die Beweise zu sichern, die helfen könnten, den Täter zu überführen.

Die letzte Diagnose, die dann „tot“ lautet, wird möglicherweise von einem Arzt gestellt, der keine Zeit für eine gründliche Untersuchung hat und nicht hinreichend für eine solche Aufgabe ausgebildet worden ist. Natürlich führen die meisten Ärzte eine Leichenschau gewissenhaft durch. Aber es gibt leider auch Mediziner, die, vielleicht aus falsch verstandener Rücksichtnahme gegenüber den Angehörigen oder weil Dritte zur Eile drängen, nicht genau hinsehen.

Das könnte zum Beispiel einem jungen Arzt unterlaufen, der eine Praxis übernommen hat und sich noch etablieren muss. Er möchte das Vertrauen der Menschen gewinnen. Der Arzt wird zu einem Verstorbenen gerufen, einem 57 Jahre alten korpulenten Mann. Der Tote liegt in einem engen Zimmer im Bett, er ist mit dickem Bettzeug zugedeckt, es herrscht diffuses Licht. Angehörige sind im Nachbarzimmer und weinen. Ein erwachsener Sohn des Toten erzählt dem Arzt, dass sein Vater schon seit Langem herzkrank gewesen sei, das habe schon der frühere behandelnde Mediziner immer gesagt. Der junge Arzt steht jetzt vor einem Dilemma. Um eine ordentliche Leichenschau vorzunehmen, müsste er den Toten wenden. Das schafft er nicht allein. Er müsste dessen enge Kleidung aufschneiden oder jemanden hinzubitten, der ihm beim Ausziehen des Verstorbenen hilft. Danach müsste er den Toten exakt untersuchen, inklusive aller Körperöffnungen. Mit all dem würde er die Hinterbliebenen schockieren und mit ziemlicher Sicherheit den Unmut des erwachsenen Sohnes heraufbeschwören. Soll der junge Arzt das riskieren und Gefahr laufen, dass die Familie vielleicht in der Gemeinde erzählt, er sei misstrauisch und wenig mitfühlend? Die Wahrscheinlichkeit, dass er sich dafür entscheidet, den Totenschein ohne gründliche Leichenschau auszustellen, ist hoch.

Weil es nicht selten zu einem solchen Vorgehen – eigentlich müsste es heißen: zu einem Vermeiden der korrekten Vorgehensweise – kommt, lautet die letzte Diagnose häufig Herzversagen oder auch Multiorganversagen. Eigentlich bedeutet sie, dass der Arzt die Todesursache nicht beziehungsweise nicht genau benennen kann. Dass das Herz und die Organe versagt haben, wenn die sicheren Todeszeichen ausgeprägt sind, ist keine Frage. Wir wollen aber wissen, was wirklich passiert ist: exakt, präzise, eindeutig.

Deswegen brauchen wir eine qualifizierte Leichenschau für jeden Toten. Es ist ein Facharzt mit speziellen Kenntnissen zu Todeszeichen und zu den von der Polizei so genannten „Leichensachen“ erforderlich, um die letzte Untersuchung bei einem Verstorbenen sachgerecht und engagiert durchzuführen. Dabei müssen alle technischen, chemischen und biologischen Untersuchungsverfahren eingesetzt werden, die sich in der Medizin bewährt haben: Computertomographie, Magnetresonanztomographie, Mikroskopie, Elektronenmikroskopie, Toxikologie, Molekularbiologie, Anthropologie, Entomologie und so weiter – um nur die wichtigsten Fachrichtungen an dieser Stelle anzusprechen. Voraussetzung dafür sind entsprechend ausgerüstete Institutionen, das heißt ein gut ausgestattetes Institut für Rechtsmedizin mit sorgfältig ausgebildeten Fachleuten aus der Rechtsmedizin, Toxikologie, DNA-Technologie und Humanbiologie.

Die Anforderungen an wissenschaftliche Beweismittel werden jedenfalls immer höher. Es müssen kleinste Strukturen erkannt und vermessen werden (mit bildgebender Technik), minimale Substanzkonzentrationen chemisch analysiert werden (zum Beispiel mit Massenspektrometrie) und kleinste Spuren (Blutspritzer, Haare, Sperma, Hautschüppchen) mittels modernster DNA-Technologie identifiziert werden. Dies gilt für heute Gestorbene ebenso wie für sehr altes und zersetztes Untersuchungsmaterial, wie es etwa bei exhumierten Knochen und archäologischen Fällen vorliegt.

Der Tod gehört zum Leben, und die medizinischen sowie interdisziplinären Untersuchungen sind für das Verständnis einer Todesursache unverzichtbar. Sie sind die Voraussetzung für den Fortschritt in der Medizin und für ausgleichende Gerechtigkeit zwischen Gewalt beziehungsweise krimineller Aktivität und Opferinteressen.

Unsere Gesellschaft bietet ein kontroverses Bild. Viele Menschen schauen sich Krimis im Fernsehen an, sie lesen mit Begeisterung fesselnde fiktive Kriminalgeschichten. Sie befassen sich gern mit der Jagd nach dem Täter und dessen Überführung. Ganz anders im privaten Umfeld: Hier bleiben sie häufig zurückhaltend, verschlossen, eher desinteressiert bis ablehnend. Die Untersuchung von Toten steht bei uns in der täglichen Realität in einem dramatischen Gegensatz zum Umgang mit kriminalistischem Interesse vor dem Fernseher beziehungsweise in der Lektüre.

Die Sektionsquote in Deutschland und in vielen anderen Ländern ist heute so gering wie nie zuvor. Die Zahl der rechtsmedizinischen Institute ist relevant gesunken, obwohl die Rechtsmediziner in der medialen Welt stark in das Zentrum des Interesses gerückt sind. Je mehr Morde im Fernsehen von den Kommissaren, Profilern, Forensikern und Rechtsmedizinern mit geradezu unglaublichem Kombinationsvermögen und ausgefeilter Technik aufgeklärt werden, desto weniger Finanzmittel und institutionelle Ressourcen stehen zur Verfügung für Polizei, Justiz und Rechtsmedizin, um reale Fälle aufzudecken und aufzuklären.

Nicht zu Unrecht spricht man hier vom „ermatteten Staat“, wie es die Journalistin Sabine Rückert in ihrem Buch „Tote haben keine Lobby“ formuliert hat. Die Politiker setzen ihre Ressourcen offenbar lieber gewinnbringend im Hinblick auf Wählerstimmen ein als bei der Aufklärung des Dunkelfelds von Straftaten. Insgeheim profitieren die politisch Verantwortlichen von sinkenden Fallzahlen im Hellfeld. Je besser die Kriminalstatistik im Hinblick auf Verbrechen und Tod, das heißt je geringer die Fallzahlen, desto besser stehen die verantwortlichen Politiker da. So kann der Eindruck entstehen, sie hätten wenig Interesse daran, den Tod aufzuklären. Zumindest dann nicht, wenn hieraus die negative Botschaft folgt, dass es mehr Fälle gibt, als man landläufig denkt. Wenn man positive Zukunftsaussichten zu Sicherheit und Stabilität suggerieren will, dann gelingt dies besser mit sinkenden Zahlen bei Mord, Totschlag, Vergewaltigung, Kindesmisshandlung und Vernachlässigung alter Menschen.

Warum schaffen wir es nicht, die beeindruckenden Gestalten aus dem Krimi in unsere reale Welt der Verbrechensaufklärung zu übertragen? Alle reden von Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Recht, Gerechtigkeit, Sicherheit. Aber es gelingt nicht, die Faszination der Rechtsmedizin in die reale Welt hineinzutragen. Daran würden wir gerne etwas ändern … Mit diesem Buch wollen wir zeigen: Die Toten schweigen nicht. Sie lehren uns vielmehr: Wenn ihr den Tod besser versteht, werdet ihr das Leben sicherer und besser gestalten.

Dazu haben wir eine Reihe von besonders spektakulären und einprägsamen Taten und Tätern aus der Fallsammlung der Hamburger Rechtsmedizin zusammengestellt. Auswahlkriterien waren die mediale Aufmerksamkeit sowie gewisse Umstände und Details eines Einzelfalls, die besonders einprägsamen kriminalistischen Befunden eine zusätzliche Bedeutung verleihen. Das Spektrum des Buches ist weit gefasst: von Uwe Barschel bis Jörg Kachelmann, von einem toten Kind bis zu dem einsamen Greis, der nach der Goldenen Hochzeit zum Gattenmörder wird, über Serienmörder, den Totenschädel des Störtebeker, von der Exhumierung, Sektion und Nachsektion bis hin zur Archäologie, von Kriegstoten bis in die kriminalistische Gegenwart. Die Fälle reichen vom spektakulären Abgang mit Flugzeugabsturz bis zur finalen Inszenierung eines erweiterten Suizids im Hochsicherheitstrakt des Polizeipräsidiums.

Erleben Sie die Faszination der rechtsmedizinischen Dokumentation, Erklärung, Erzählung und Beurteilung. Wie Experten in den Leichnamen lesen können, wie die Toten mit dem Rechtsmediziner als Übersetzer dem verständigen Zuhörer ihre (Leidens-)Geschichten vermitteln, davon erzählt dieses Buch in dreizehn spektakulären Fällen. Es gibt noch so viele mehr.

Todesbotschaft aus dem Jenseits

Pulverisiert. In kleinste Teile zerlegt, zermahlen beinahe zu Staub. Es ist kaum noch etwas übrig von dem Flugzeug, nur einzelne Überreste ragen wie bizarre Skulpturen aus dem Trümmerfeld. Mit einer Geschwindigkeit von fast 800 Kilometern pro Stunde ist der Airbus in das Bergmassiv der Alpen gerast. Alle 150 Menschen an Bord sterben bei diesem Unglück, das im März 2015 die Welt erschüttert.

Wenig später wird eine weitere Dimension des Grauens bekannt: Der Pilot hat die Maschine mit voller Absicht zum Absturz gebracht. Er wollte Selbstmord begehen. Die 149 anderen Toten, unschuldige Menschen, sind für ihn offenbar keinen Gedanken wert. Er ist durch diese Tat zum Massenmörder geworden.

Mir fällt immer wieder bei angeblich neuen Szenarien auf: So einen Fall habe ich doch vor vielen Jahren so ähnlich schon mal gehabt. Nach langer Zeit in der Rechtsmedizin hat man den Eindruck, dass sich die meisten Ereignisse wiederholen.

Was zunächst unfassbar erscheint, ein Suizid mit einem Flugzeug inklusive vieler weiterer Opfer, ist schon mehr als dreißig Jahre zuvor für einen Mann aus Norddeutschland der Weg gewesen, um aus dem Leben zu scheiden. Bei seinem Selbstmord hat der 44-Jährige gezielt seine gesamte Familie sowie einen Piloten als Opfer mitgenommen. Ohne Bedenken und ohne Mitleid. Betrachtet man das Flugzeug als Tatwerkzeug und verfolgt den Geschehensablauf im Cockpit, so begeht der Mann eines der spektakulärsten Verbrechen der letzten Jahrzehnte.

Ich habe zusammen mit Kollegen aus unserem Institut das Unglück für die Lübecker Staatsanwaltschaft untersucht. Der Mann hatte seinen Abgang „todsicher“ geplant. Wenn ein Flugzeug abstürzt, vermuten Außenstehende eher ein Unfallgeschehen als einen Suizid. Für Gerichtsmediziner zeigt aber die Erfahrung: Wenn Menschen den Steuerknüppel betätigen, muss man auch damit rechnen, dass sie selbst die Ursache eines Absturzes sein können. Dabei gibt es diverse Szenarien, etwa Alkohol- oder Drogeneinfluss, Krankheit – oder eben die Selbsttötung. Dies in die Aufklärung einzubeziehen, gehört zu unserem Beruf dazu. Ein Unfall geschieht nicht einfach so. Für die Bevölkerung ist es nicht das Naheliegende, die Absicht dahinter zu erkennen und zu akzeptieren, weil so viele Menschen in den Tod mitgenommen werden. Dem Selbstmörder ist das aber unter Umständen ziemlich gleichgültig. Oder es ist sogar sein erklärtes Ziel, andere „mitzunehmen“. So wie bei einem Flugzeugabsturz. Man muss in Betracht ziehen, dass die Gedankenwelt eines Menschen unter Umständen so eingeengt ist, dass er das Leid anderer nicht wahrnimmt. Möglich ist sogar, dass für den Täter auch Hass auf andere eine Rolle spielt und er deshalb Menschen mit in den Tod nehmen will. Es gibt durchaus Personen, die die Selbsttötung zu einer spektakulären Aktion machen wollen. Die Gedankenwelt eines Menschen mit Todessehnsucht ist schwer zu verstehen. Warum begeht jemand Suizid? Und warum auf diese Weise? Die Antwort bleibt häufig offen.

Von der Familie aus Schleswig-Holstein ahnt außer dem Vater, einem Fahrlehrer, niemand, dass die Katastrophe bevorsteht. Die Ehefrau, die 17 Jahre alte Tochter und der zwei Jahre jüngere Sohn sind in freudiger Erwartung, als sie zum Flugfeld fahren. Eigentlich ist die Tour schon für den vorherigen Tag geplant gewesen, doch das Wetter hat nicht mitgespielt. Jetzt soll es losgehen. Vor allem der 15-Jährige ist aufgeregt. Einem Freund hat er zuvor noch gesagt: „Wenn ich abstürze, bekommst du meinen Ball.“ Ein Scherz, natürlich. In diesem Alter fühlt man sich ohnehin nahezu unverwundbar. Wer kommt schon auf die Idee, dass der eigene Vater seine Familie auslöschen will?

Es wird ein Rundflug in den Tod. 46 Minuten nach dem Start erwartet der Tower bereits die Landung der Maschine, als die Cessna 172 plötzlich ins Taumeln gerät. Der Motor heult auf, das Sportflugzeug kippt nach vorn. Der erfahrene Pilot versucht offenbar, die Maschine wieder unter Kontrolle zu bringen. Das Flugzeug gewinnt für einen Augenblick an Höhe, sackt dann jedoch erneut ab. Ein Augenzeuge berichtet später: „Ich dachte kurz: Will der etwa einen Looping machen?“ Auch ein anderer Beobachter denkt zunächst an einen Kunstflug. Doch im nächsten Moment wird klar, dass hier keine Himmelsakrobatik versucht wird, sondern dass sich ein Drama abspielt.

Senkrecht rast die Maschine zu Boden und zerbirst neben einem Fußballfeld. „Es gab einen Knall, Feuer war zu sehen, dann eine Explosion. Und plötzlich war alles ein Flammenmeer“, schildert einer der Augenzeugen das Unglück. Ein anderer sagt: „Es war ein richtiger Feuerball.“ Es sind zwei Männer, die nicht weit von der Absturzstelle entfernt einem Punktspiel des örtlichen Fußballklubs zusehen.

Zunächst ist nicht bekannt, wie viele Opfer sich in der Maschine und in deren Umfeld befinden. Alles ist mit Qualm und Schutt bedeckt, Bruchstücke der Cessna überziehen die Unglücksstelle.

Untersuchungen bei einem Flugzeugabsturz stellen besonders hohe Anforderungen an Rechtsmediziner, an technische Gutachter und die Kriminalpolizei, weil der Zerstörungsgrad sowohl der Opfer als auch des Materials extrem ausgeprägt ist. Zudem bricht an der Absturzstelle in vielen Fällen ein Brand aus, der die Identifizierung und Unfallrekonstruktion noch mehr erschwert. Im Unterschied zu Verkehrsunfällen auf der Straße, wo verwertbare Spuren im Verlauf der direkt vor dem Crash zurückgelegten Strecke zu finden sind, fehlen diese bei einem Flugzeugabsturz. Zur Verfügung steht ausschließlich das Spurenbild aus der Endphase der Katastrophe. Neben der technischen Untersuchung der Trümmer erlangt dabei die Begutachtung der Cockpitbesatzung beziehungsweise des Piloten eine besondere Bedeutung.

In der zivilen Luftfahrt mit kleinen und mittelgroßen Flugzeugen wird menschliches Versagen in mehr als der Hälfte der Fälle als Absturzursache angenommen. Gründe können mangelnde Erfahrung, Trainingsdefizit, psychische oder intellektuelle Überforderung mit dadurch bedingten Fehlentscheidungen sein. Bei großen Verkehrsflugzeugen liefern die Aufzeichnungen der Blackbox und des Voicerekorders entscheidende Informationen.

Den Kräften, die nach dem Cessna-Unglück zum Tatort kommen und noch am selben Abend die Leichen bergen, bietet sich ein grauenhaftes Bild. Die völlig ausgebrannte Maschine liegt auf dem Rücken. Unter der hinteren Sitzbank ist ein verkohlter menschlicher Körper zu sehen. Es wird festgestellt, dass es sich um eine männliche Leiche handelt. Ebenfalls unter der Rücksitzlehne entdecken die Ermittler einen zweiten Körper, dessen Rückseite verbrannt ist. Unter diesen beiden Leichen wird später ein weiterer verkohlter Toter sichtbar. An den Fingern des Torsos befinden sich mehrere Schmuckstücke. Es handelt sich um die Mutter der Familie, die hinten in der Mitte gesessen hat. Der Sicherheitsgurt ist noch geschlossen. Bei einer solchen Katastrophe kann auch er nicht helfen.

Als Nächstes räumen die Ermittler den Pilotensitz beiseite. Dort entdecken sie Teile einer Hose, darin befindet sich die Geldbörse des Piloten. Der Leichnam des Mannes ist am Rücken stark verkohlt. Am Ringfinger der rechten Hand steckt noch ein goldfarbener Ring. Nach dem Sichern dieses Körpers wird ein weiterer menschlicher Leichnam sichtbar, der Kopf ist vollständig zertrümmert. Einige Wrackteile müssen weggebogen werden, erst dann ist die Bergung des Toten möglich. Auch der Pilot und der Mann neben ihm haben ihre Sicherheitsgurte noch geschlossen.

Weil Gründe für einen Absturz häufig beim Flugzeugführer liegen, wurde der Schwerpunkt unserer Ermittlungen auch auf die Obduktion der Leiche des Piloten gelegt. Alkohol, Drogen oder Kohlenmonoxid sind indes bei keinem der Toten nachweisbar. Dennoch könnte der Flugzeugführer plötzlich bewusstlos geworden oder in einen krampfartigen Zustand geraten sein. Erschwert wurde unsere Untersuchung dadurch, dass gerade die beiden Toten ganz vorne in der Maschine besonders stark von den Folgen des Brandes betroffen waren.

Der Absturz der Cessna aus einer Höhe von rund 150 Metern verursacht bei den Insassen so furchtbare Verletzungen, dass die meisten für sich allein genommen schon tödlich wären. Bei dem Familienvater, der vorn rechts gesessen hat, ist der Kopf vollständig zertrümmert, Teile der Beine ebenso. Weder seine genaue Größe noch das Gewicht sind zu ermitteln. Er wird auf 170 bis 180 Zentimeter geschätzt, das Restgewicht beträgt knapp 70 Kilo. Die Halswirbelsäule ist „falsch beweglich“, wie Rechtsmediziner sagen, eine Umschreibung für mindestens einen Bruch. Genauso verhält es sich mit dem Brustkorb und etlichen weiteren Knochen. Ähnliche Befunde gibt es auch bei der Ehefrau und den beiden Kindern.

Auch bei dem Piloten stellen die Rechtsmediziner eine hochgradige Zerstörung an allen Körperabschnitten sowie Verkohlung fest. Gesichts- und Hirnschädel sind vollständig zertrümmert, ebenso sind mehrere Organe zerstört und das Herz weist schwerste Verletzungen auf.

Wir konnten beim Piloten eine fortgeschrittene allgemeine Arteriosklerose nachweisen und an der linken Herzkranzschlagader, also an typischer Stelle, eine erhebliche Einengung. Möglich wäre demnach ein Herzinfarkt gewesen. Dagegen ist auch jemand mit dreißig Jahren Erfahrung am Himmel und Tausenden Flugstunden, wie sie der 52-Jährige nachweisen kann, machtlos. Medizinchecks liefern auch nur begrenzte Informationen und stellen keine Gesundheitsgarantie dar.