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HOWARD MARKS

MARKT
ZYKLEN
meistern

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So geht perfektes Timing
für Anleger

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Mastering the market cycle: getting the odds on your side

bei Houghton Mifflin Harcourt.

ISBN 978-1-328-47925-9

Copyright der Originalausgabe 2018:

Copyright © 2018 by Howard Marks. All rights reserved.

Copyright der deutschen Ausgabe 2019:

© Börsenmedien AG, Kulmbach

Übersetzung: Egbert Neumüller

Gestaltung Cover: Johanna Wack

Gestaltung und Satz: Martina Köhler

Lektorat: Claus Rosenkranz

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86470-629-5

eISBN 978-3-86470-630-1

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

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Mit all meiner Liebe
für Nancy
Jane, Justin, Rosie und Sam
Andrew und Rachel

Inhalt

Einführung

EINS – Warum Zyklen untersuchen?

ZWEI – Die Natur der Zyklen

DREI – Die Regelmäßigkeit von Zyklen

VIER – Der Konjunkturzyklus

FÜNF – Die Einmischung des Staates in den Konjunkturzyklus

SECHS – Der Zyklus der Gewinne

SIEBEN – Das Pendel der Anlegerpsychologie

ACHT – Der Zyklus der Einstellung zu Risiken

NEUN – Der Kreditzyklus

ZEHN – Der Zyklus der notleidenden Schuldpapiere

ELF – Der Immobilienzyklus

ZWÖLF – Zusammenfassung – der Marktzyklus

DREIZEHN – Mit den Marktzyklen zurechtkommen

VIERZEHN – Positionierung anhand von Zyklen

FÜNFZEHN – Grenzen der Bewältigung

SECHSZEHN – Der Erfolgszyklus

SIEBZEHN – Die Zukunft der Zyklen

ACHTZEHN – Das Wesen der Zyklen

EINFÜHRUNG

Vor sieben Jahren schrieb ich ein Buch mit dem Titel „Der Finanz-Code: Die Erfolgsphilosophie des großen Investors“ darüber, worauf Anleger ihre größte Aufmerksamkeit richten sollten. Darin schrieb ich: „Am wichtigsten ist es, auf Zyklen zu achten.“ Die Wahrheit ist allerdings, dass ich die Formulierung „am wichtigsten“ noch auf 19 weitere Dinge anwandte. Bei der Geldanlage gibt es keinen einzelnen Punkt, der am wichtigsten wäre. Jedes der 20 Elemente, die ich in „Der Finanz-Code“ besprach, ist für jeden, der erfolgreicher Anleger werden will, absolut unentbehrlich.

Vince Lombardi, der legendäre Trainer der Green Bay Packers, ist für den Ausspruch berühmt: „Gewinnen ist nicht alles, es ist das Einzige.“ Ich bin zwar nie wirklich dahintergekommen, was Lombardi mit dieser Aussage eigentlich gemeint hat, aber ohne Zweifel betrachtete er Gewinnen als das Allerwichtigste. Auch kann ich nicht sagen, dass das Verständnis der Zyklen bei der Geldanlage alles oder das Einzige wäre, aber auf jeden Fall steht es für mich auf der Liste fast ganz oben.

Die meisten großen Investoren, die ich im Laufe der Jahre kennengelernt habe, hatten ein außerordentliches Gespür dafür, wie Zyklen grundsätzlich funktionieren und wo wir uns im aktuellen Zyklus gerade befinden. Dieses Gespür ermöglicht es ihnen, Hervorragendes bei der Positionierung von Portfolios für das Bevorstehende zu leisten. Gutes Zyklustiming – gepaart mit einem effektiven Investmentansatz und der Mitarbeit außergewöhnlicher Menschen – war und ist zu einem Großteil für den Erfolg meiner Firma Oaktree Capital verantwortlich.

Aus diesem Grund – und weil ich die Fluktuation der Zyklen überaus faszinierend finde – und weil unsere derzeitige Position im Zyklus zu den Dingen gehört, nach denen mich die Kunden am häufigsten fragen – und schließlich weil über die wesentliche Natur von Zyklen bislang so wenig geschrieben wurde –, beschloss ich, nach „Der Finanz-Code“ ein Buch nachzulegen, das sich ausschließlich der Erklärung von Zyklen widmet. Ich hoffe, Sie werden es nützlich finden.

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Manche Muster in unserer Umwelt kehren regelmäßig wieder und beeinflussen unser Verhalten und unser Leben. Der Winter ist kälter und schneereicher als der Sommer und der Tag ist heller als die Nacht. Daher planen wir Skiurlaube für den Winter und Segeltörns für den Sommer, unsere Arbeit sowie unsere Freizeitaktivitäten für den Tag und unseren Schlaf für die Nacht ein. Wir schalten das Licht ein, wenn der Abend naht, und wir schalten es wieder aus, wenn wir zu Bett gehen. Wir packen unsere warme Kleidung aus, wenn der Winter heranrückt, und unsere Badesachen für den Sommer. Zwar schwimmen manche Menschen zum Vergnügen auch im Winter im Ozean und manche entscheiden sich dafür, Nachtschicht zu arbeiten, damit sie tagsüber frei haben, aber die meisten von uns halten sich an die üblichen Tag-Nacht-Muster, was ihnen das Alltagsleben erleichtert.

Wir Menschen nutzen unsere Fähigkeit, Muster zu erkennen und zu verstehen, um uns Entscheidungen zu erleichtern, um Vorteile zu vergrößern und Leid zu vermeiden. Wichtig ist auch, dass wir auf unser Wissen um wiederkehrende Muster zurückgreifen, damit wir nicht jede Entscheidung von Grund auf neu bedenken müssen. Wir wissen, dass Hurrikans im September wahrscheinlicher sind, und deshalb meiden wir in dieser Zeit des Jahres die Karibik. Wir New Yorker planen unsere Besuche in Miami und Phoenix für die Wintermonate ein, wenn die Temperaturdifferenz positiv und nicht negativ ist. Und wir brauchen nicht an jedem Januartag nach dem Aufwachen zu entscheiden, ob wir uns für warmes oder kaltes Wetter anziehen.

Auch die Wirtschaft, die Unternehmen und die Märkte verlaufen gemäß Mustern. Manche dieser Muster werden üblicherweise als Zyklen bezeichnet. Sie ergeben sich aus natürlich auftretenden Phänomenen, aber – und das ist wichtig – auch aus dem Auf und Ab der menschlichen Psyche und dem menschlichen Verhalten, das daraus resultiert. Da die Psychologie und das Verhalten der Menschen bei ihrer Entstehung eine so große Rolle spielen, sind diese Zyklen nicht so regelmäßig wie die Zyklen der Uhr und des Kalenders, aber immerhin resultieren aus ihnen für gewisse Handlungen besser und schlechter geeignete Zeiten. Und sie können sich auf die Anleger tief greifend auswirken. Wenn wir auf Zyklen achten, können wir gestärkt daraus hervorgehen. Wenn wir frühere Zyklen untersuchen, ihren Ursprung und ihre Bedeutung verstehen und auf den nächsten gefasst sind, brauchen wir nicht das Rad neu zu erfinden, um jedes Investmentumfeld aufs Neue zu verstehen. Und dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass uns Ereignisse aus heiterem Himmel überraschen, geringer. Wir können diese wiederkehrenden Muster zugunsten unseres Wertzuwachses meistern.

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Meine wichtigste Botschaft besagt, dass man auf Zyklen achten sollte; vielleicht sollte ich sagen „auf sie hören“ – im Sinne von „sie ernst nehmen“.

Um ein Portfolio passend zu dem zu positionieren, was im Umfeld vor sich geht – und zu dem, was dies bezüglich der Zukunft der Märkte impliziert –, muss der Anleger ein hohes Maß an Aufmerksamkeit bewahren. Die Ereignisse widerfahren allen, die in einem bestimmten Umfeld arbeiten, gleichermaßen. Aber nicht alle hören gleichermaßen auf sie und widmen ihnen ihre Aufmerksamkeit, sind sich ihrer in gleichem Maße bewusst und können somit möglicherweise ihre Bedeutsamkeit herausfinden.

Und sicherlich gehorchen ihnen nicht alle in gleichem Maße oder befolgen die Lektion, die sie ihnen erteilen. Anleger, die nicht beachten, wo sie innerhalb von Zyklen stehen, müssen unweigerlich mit schweren Konsequenzen rechnen.

Damit ein Anleger möglichst viel Nutzen aus diesem Buch zieht – und möglichst gut mit Zyklen zurechtkommt –, muss er lernen, Zyklen zu erkennen, sie zu beurteilen, die Anweisungen aufzudecken, die sie in sich tragen, und das zu tun, was sie ihm auftragen. (Siehe die Anmerkung des Autors bezüglich der Verwendung männlicher Personalpronomina.) Wenn ein Anleger in diesem Sinne auf die Zyklen hört, wird er in der Lage sein, sie aus einer rohen, unkontrollierbaren Kraft, die Verwüstungen anrichtet, in ein verstehbares Phänomen zu verwandeln, aus dem man Vorteil ziehen kann, und in eine Ader, die man zwecks signifikanter Outperformance ausbeuten kann.

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Eine gewinnbringende Anlagephilosophie kann man nur durch Kombination mehrerer unverzichtbarer Elemente entwickeln:

Eine technische Schulung in Buchhaltung, Finanzwesen und Wirtschaft liefert die Grundlage: notwendig, aber nicht hinreichend.

Eine Auffassung davon, wie die Märkte funktionieren, ist wichtig – man sollte bereits eine haben, bevor man sich an die Geldanlage macht, aber sie muss im weiteren Verlauf ergänzt, infrage gestellt, verfeinert und modifiziert werden.

Manche Ihrer anfänglichen Auffassungen werden auf dem beruhen, was Sie gelesen haben, daher ist Lektüre ein wesentlicher Baustein. Wenn Sie weiterhin lesen, versetzt Sie das in die Lage, die Effizienz Ihres Ansatzes zu steigern – sowohl indem Sie sich Ideen aneignen, die Sie reizvoll finden, als auch indem Sie Ideen verwerfen, die Sie nicht reizvoll finden. Wichtig: Es ist großartig, auch Dinge von jenseits der engen Grenzen der Geldanlage zu lesen. Der legendäre Investor Charlie Munger weist oft auf die Früchte einer breit angelegten Lektüre hin. Die Geschichte und Prozesse auf anderen Gebieten können sehr viel zu effektiven Anlagemethoden und Anlageentscheidungen beitragen.

Der Gedankenaustausch mit Anlegerkollegen kann eine unschätzbar wertvolle Quelle der Reifung sein. Angesichts des unwissenschaftlichen Charakters der Geldanlage hat man niemals ausgelernt und niemand hat ein Erkenntnis-Monopol. Geldanlage kann eine einsame Angelegenheit sein, aber ich glaube, diejenigen, die sie in Einsamkeit praktizieren, verpassen sowohl intellektuell als auch zwischenmenschlich eine ganze Menge.

Und schließlich gibt es wirklich keinen Ersatz für Erfahrung. Ich sehe die Geldanlage jedes Jahr anders und jeder Zyklus, den ich durchlebt habe, hat mich etwas darüber gelehrt, wie ich mit dem nächsten zurechtkomme. Ich empfehle eine lange Laufbahn und sehe keinen Grund, in nächster Zeit aufzuhören.

Das Verfassen meiner Bücher verschafft mir ein wunderbares Vehikel, um den Menschen Anerkennung zu zollen, die etwas zu meinen Investmenterkenntnissen und zur Struktur meines Arbeitslebens beigetragen haben.

Die Lektüre der Werke von Peter Bernstein, John Kenneth Galbraith, Nassim Nicholas Taleb und Charlie Ellis hat mir viel gebracht.

Ich habe weiterhin Fingerzeige von den Menschen erhalten, die ich in „Der Finanz-Code“ und anderen Büchern zitiert habe, unter anderem von Seth Klarman, Charlie Munger, Warren Buffett, Bruce Newberg, Michael Milken, Jacob Rothschild, Todd Combs, Roger Altman, Joel Greenblatt, Peter Kaufman und Doug Kass. Seit Nancy und ich 2013 nach New York gezogen sind, um unseren Kindern zu folgen, hatte ich das Glück, Oscar Schafer, Jim Tisch und Ajit Jain zu diesem Kreis hinzufügen zu können. Die Betrachtungsweise jedes dieser Menschen hat die meinige bereichert.

Schließlich möchte ich auf die wichtigsten Mitstreiter zurückkommen, meine Oaktree-Mitgründer: Bruce Karsh, Sheldon Stone, Richard Masson und Larry Keele. Sie erwiesen mir die Ehre, meine Philosophie zur Grundlage der Anlagemethode von Oaktree zu machen, wandten sie geschickt an (und gewannen dafür Anerkennung) und halfen mir in den über 30 Jahren, seit denen wir Partner sind, sie weiterzuentwickeln. Wie im Folgenden angedeutet, haben Bruce und ich in dieser Zeit fast täglich Ideen ausgetauscht und einander unterstützt und unser Geben und Nehmen – vor allem in besonders schwierigen Zeiten – spielte bei der Entwicklung der Herangehensweise an Zyklen, auf der das vorliegende Buch basiert, eine absolut unverzichtbare Rolle.

Außerdem möchte ich den Menschen danken, die bei der Entstehung dieses Buches wichtige Rollen spielten: meinem kompetenten Lektor bei HMH, Rick Wolf; meinem findigen Agenten Jim Levine, der mich und Rick zusammenbrachte; meiner großartigen Freundin Karen Mack Goldsmith, die mich an jeder Biegung drängte, mein Buch ansprechender zu machen; und meiner mich jederzeit unterstützenden Assistentin Caroline Heald. Besonders erwähnen möchte ich Professor Randy Kroszner von der Booth School der University of Chicago, der mir half, indem er das Kapitel über den Konjunkturzyklus und das über staatliche Eingriffe gegenlas.

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Da sich Wissen ansammelt, wir aber niemals alles wissen, freue ich mich darauf, in den kommenden Jahren noch mehr zu lernen. Bei der Geldanlage gibt es nichts, was jederzeit funktioniert, weil sich das Umfeld stetig verändert und weil die Anstrengungen der Anleger, auf das Umfeld zu reagieren, weitere Veränderungen verursachen. Darum hoffe ich, in Zukunft Dinge zu erfahren, die ich jetzt noch nicht weiß, und ich freue mich darauf, sie in späteren Memos und Büchern mit anderen zu teilen.

Anmerkungen des Autors

1. Ebenso wie in „Der Finanz-Code“ möchte ich mich gleich am Anfang pauschal dafür entschuldigen, dass ich konsequent männliche Personalpronomina [und im Deutschen im Allgemeinen männliche Formen von Personenbezeichnungen] verwende. Das mag die Macht der Gewohnheit von jemandem sein, der vor 60 Jahren mit dem Schreiben angefangen hat. Ich finde es leichter und gefälliger, „er“ zu schreiben als „er/sie“. Der Wechsel zwischen „er“ und „sie“ macht einen gezwungenen Eindruck. Und mir missfällt die Verwendung der Mehrzahl „sie“, wenn das Subjekt nur eine Person ist. Die außerordentlichen Frauen, mit denen ich im Laufe meiner Karriere zusammengearbeitet habe, wissen, dass ich von ihnen als Profis und Anlegerinnen definitiv genauso viel halte wie von ihren männlichen Pendants.

2. Ebenso wie in „Der Finanz-Code“ bediene ich mich hier für die Argumentation von Zeit zu Zeit bei den Kunden-Memos, die ich seit 1990 schreibe. Auch bediene ich mich bei meinem ersten Buch. Ich könnte mir zwar die Mühe machen, das Rad neu erfinden und über die betreffenden Themen neu schreiben, aber das tue ich nicht. Stattdessen entnehme ich entscheidende Passagen aus meinem Buch und meinen Memos, wenn ich der Meinung bin, dass sie das Argument klar formulieren. Ich hoffe, dadurch gebe ich den Käufern des vorliegenden Buches nicht das Gefühl, sie hätten nicht den Gegenwert für Ihr Geld bekommen.

Für die konkreten Zwecke des vorliegenden Buches werde ich gelegentlich ein paar Wörter zu den zitierten Passagen hinzufügen oder ein paar weglassen oder ich werde die Absätze in einer anderen Reihenfolge als im Original anordnen. Da sie von mir stammen, finde ich, dass das in Ordnung ist, ohne es in allen Fällen kenntlich zu machen. Das habe ich aber nur getan, um ihre Nützlichkeit zu steigern, nicht um ihre Bedeutung zu verändern oder sie im Nachhinein zutreffender zu formulieren.

3. Und schließlich behandle ich hier ebenso wie in „Der Finanz-Code“ ein Thema, das – wie die Geldanlage im Allgemeinen – komplex ist und überlappende Elemente beinhaltet, sodass es sich nicht sauber in getrennte Kapitel unterteilen lässt. Da manche dieser Elemente an mehreren Stellen angesprochen werden, werden Sie auch auf einige Wiederholungen stoßen, wenn ich bemerkenswerte Zitate Dritter oder aus meinem Buch beziehungsweise meinen Memos anführe, bei denen ich nicht widerstehen kann, sie mehrmals zu verwenden.

4. Beachten Sie bitte: Wenn ich von „Investing“, „Geldanlage“, „Investment“ und so weiter spreche, gehe ich davon aus, dass der Anleger kauft oder hält oder, wie wir sagen, „long steht“ und erwartet, dass gewisse Vermögenswerte zulegen werden. Das steht im Gegensatz zum Leerverkauf oder Shorten von Wertpapieren, die man nicht besitzt, wobei man hofft, dass sie fallen werden. Anleger stehen nicht immer long statt short, aber meistens schon. Die Zahl der Menschen, die Aktien shorten oder jemals „netto short“ stehen – was bedeutet, dass der Gesamtwert ihrer Short-Positionen größer ist als der ihrer Long-Positionen –, ist winzig im Vergleich zu denen, die das nicht tun. Deshalb spreche ich in diesem Buch ausschließlich davon, in Dinge zu investieren, weil erwartet wird, dass sie steigen, und nicht davon, dass man Vermögenswerte in der Hoffnung verkauft, dass sie fallen werden.

5. Zum Schluss: Zwar hatte ich zuerst vor, dass dieses Buch nur von Zyklen handelt, doch während des Schreibens kamen mir Ideen zu vielen anderen Themen, beispielsweise zur Auswahl von Anlagen und dazu, „in ein fallendes Messer zu greifen“. Anstatt sie zu verwerfen, habe ich sie ebenfalls aufgenommen. Ich hoffe, Sie werden sich freuen, dass sie da sind – dass sie eher ein Bonus als ein Abschweifen von der Mission sind.

EINS

Warum Zyklen untersuchen?

Wenn sich unsere Position im Zyklus ändert, dann ändern sich auch die Wahrscheinlichkeiten. Wenn wir unsere Investmentaufstellung nicht ändern, sobald sich diese Dinge ändern, schauen wir passiv den Zyklen zu; anders gesagt ignorieren wir die Chance, die Wahrscheinlichkeiten zu unseren Gunsten zu verschieben. Aber wenn wir Erkenntnisse bezüglich Zyklen einsetzen, können wir unsere Einsätze erhöhen und damit auf aggressivere Investments setzen, wenn die Chancen zu unseren Gunsten stehen, und wir können Geld vom Tisch nehmen und unsere Defensive stärken, wenn die Chancen gegen uns stehen.

Bei der Geldanlage geht es darum, sich auf die finanzielle Zukunft vorzubereiten. Diese Aufgabe lässt sich einfach definieren: Wir stellen heute Portfolios zusammen, von denen wir hoffen, dass sie von den Ereignissen profitieren werden, die sich in den kommenden Jahren abspielen. Bei professionellen Investoren besteht Erfolg darin, dass sie besser sind als der Durchschnittsanleger oder dass sie eine festgelegte Markt-Benchmark übertreffen (deren Performance vom Handeln aller anderen Anleger bestimmt wird). Diese Art von Erfolg zu erzielen ist allerdings keine kleine Herausforderung: Es ist zwar sehr leicht, eine durchschnittliche Anlageperformance zu erzielen, aber überdurchschnittliche Performance ist sehr schwierig.

Einer der wichtigsten Grundbestandteile meiner Anlagephilosophie ist meine Überzeugung, dass wir nicht wissen können, was die „Makro-Zukunft“ in Sachen Volkswirtschaften, Märkte oder Geopolitik für uns bereithält. Oder um es präziser zu sagen: Insgesamt sind nur wenige Menschen in der Lage, mehr über die makroökonomische Zukunft zu wissen als andere. Und nur wenn man mehr weiß als andere (ob man nun bessere Daten hat, sie besser interpretieren kann oder weiß, wie man aufgrund dieser Interpretation handeln muss, oder ob man den nötigen Mut für dieses Handeln besitzt), führen die Prognosen zu Outperformance.

Kurz gesagt: Wenn man die gleichen Informationen wie andere hat, sie auf die gleiche Art interpretiert, zu den gleichen Schlussfolgerungen gelangt und sie genauso umsetzt, darf man nicht erwarten, dass dieser Prozess in Outperformance resultiert. Und es ist schwer, bei Dingen, die sich auf das große Ganze beziehen, beständig besser zu sein. Daher hilft meines Erachtens der Versuch, vorherzusagen, was die Makro-Zukunft bereithält, den Anlegern wahrscheinlich nicht dabei, eine überlegene Anlageperformance zu erzielen. Es ist nur von wenigen Anlegern bekannt, dass sie durch Makro-Prognosen outperformen.

Warren Buffett hat mir einmal von seinen zwei Kriterien für eine erstrebenswerte Information erzählt: Sie muss wichtig sein und man muss sie kennen können. Auch wenn „jeder weiß“, dass makroökonomische Entwicklungen bei der Ermittlung der Performance von Märkten heutzutage eine vorherrschende Rolle spielen, so haben die „Makro-Investoren“ insgesamt doch nur wenig beeindruckende Ergebnisse vorzuweisen. Dabei ist es nicht so, dass es nicht auf die Makroökonomie ankäme, sondern vielmehr so, dass nur wenige Menschen sie beherrschen. Die meisten können sie einfach nicht kennen (oder sie nicht gut und konsequent genug kennen, damit das zu Outperformance führt).

Deshalb nehme ich die Makro-Vorhersage als etwas, das der großen Mehrheit der Anleger Erfolg beschert, nicht ernst, und zu dieser Gruppe zähle ich mich definitiv dazu. Wenn dem so ist, was bleibt dann? Es gibt zwar eine Menge Details und Nuancen, aber ich glaube, gewinnbringend können wir unsere Zeit mit drei Bereichen verbringen:

versuchen, mehr über das zu wissen als andere, was ich als „was man wissen kann“ oder „das Wissbare“ bezeichne: die Fundamentaldaten von Branchen, Unternehmen und Wertpapieren

diszipliniert bezüglich des angemessenen Preises zu sein, den man für eine Beteiligung an diesen Fundamentaldaten bezahlen sollte

das Anlageumfeld zu verstehen, in dem wir uns befinden, und zu entscheiden, wie wir unsere Portfolios dafür strategisch positionieren

Über die beiden ersten Themen wurde schon viel geschrieben. Gemeinsam stellen sie die Hauptzutaten der „Wertpapieranalyse“ und des „Value-Investings“ dar: Urteile darüber, was eine Anlage in der Zukunft produzieren kann – normalerweise in Form von Gewinn oder Cashflow – und welchen heutigen Wert diese Aussichten der Anlage verleihen.

Was machen Value-Anleger? Sie streben an, Diskrepanzen zwischen „Preis“ und „Wert“ auszunutzen. Damit ihnen das gelingt, müssen Sie (a) den inneren Wert einer Anlage und dessen wahrscheinliche Veränderungen im Laufe der Zeit quantitativ ermitteln und (b) einschätzen, wie sich der aktuelle Marktpreis zum inneren Wert der Anlage verhält, zu früheren Preisen der Anlage, zu den Preisen anderer Anlagen und zu den „theoretisch angemessenen“ oder „theoretisch fairen“ Preisen von Anlagen im Allgemeinen.

Und dann verwenden sie diese Informationen, um Portfolios zusammenzustellen. Meistens besteht ihr unmittelbares Ziel darin, diejenigen Investments zu halten, die das beste verfügbare Wertversprechen bieten: die Anlagen mit dem größten Gewinnpotenzial oder dem besten Verhältnis aus Gewinnpotenzial und Verlustrisiko. Man könnte nun argumentieren, die Zusammenstellung eines Portfolios solle lediglich erfordern, die Anlagen mit dem größten Wert und diejenigen, deren Preise am weitesten unter ihrem Wert liegen, zu identifizieren. Das mag grundsätzlich und langfristig zutreffen, aber ich glaube, dass man ein weiteres Element gewinnbringend in diesen Prozess einbringen kann: ein Portfolio passend zu dem positionieren, was wahrscheinlich in den unmittelbar bevorstehenden Jahren am Markt passieren wird.

Meiner Ansicht nach besteht die beste Möglichkeit, die Aufstellung eines Portfolios zu einem bestimmten Zeitpunkt zu optimieren, darin, dass man entscheidet, welche Balance zwischen Aggressivität und Defensivität es aufweist. Und ich finde, man sollte das Verhältnis zwischen Aggressivität und Defensivität im Laufe der Zeit anpassen, um so auf Änderungen der Verfassung des Anlageumfelds sowie darauf zu reagieren, wo sich eine Anzahl von Elementen in ihren Zyklen befindet.

„Der Schlüsselbegriff heißt ‚kalibrieren‘. Der investierte Betrag, die Allokation des Kapitals unter den verschiedenen Möglichkeiten und der Risikograd der Anlagen, die man besitzt, all das sollte entlang eines Kontinuums kalibriert werden, das von aggressiv bis defensiv reicht. […] Wenn Wert/Value billig zu haben ist, sollte man aggressiv sein; wenn Wert/Value teuer zu haben ist, sollte man sich zurückziehen.“

(„Yet Again?“, September 2017)

Die Kalibrierung der Positionierung eines Portfolios ist der hauptsächliche Gegenstand dieses Buches.

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Eines der wichtigsten Wörter, die man braucht, wenn man die Gründe für die Untersuchung von Zyklen verstehen will, ist „Tendenzen“.

Wenn die Faktoren, die sich auf die Geldanlage auswirken, regelmäßig und vorhersehbar wären – wenn zum Beispiel volkswirtschaftliche Prognosen funktionieren würden –, dann könnte man darüber sprechen, was „passieren wird“. Allerdings bedeutet die Tatsache, dass dem nicht so ist, nicht, dass wir hilflos auf die Zukunft blicken müssten. Vielmehr können wir über die Dinge sprechen, die passieren könnten oder passieren sollten, und darüber, wie wahrscheinlich es ist, dass sie passieren. Diese Dinge sind das, was ich als „Tendenzen“ bezeichne.

In der Welt der Geldanlage wird die ganze Zeit von Risiken gesprochen, aber es besteht keine allgemeine Übereinstimmung darüber, was Risiko ist oder was es im Verhalten der Anleger nach sich ziehen sollte. Manche Menschen meinen, Risiko sei die Wahrscheinlichkeit, Geld zu verlieren, und andere (einschließlich vieler Finanzwissenschaftler) meinen, Risiko sei die Volatilität der Preise oder der Renditen von Anlagen. Und es gibt noch viele andere Arten von Risiko – zu viele, um sie hier zu behandeln.

Ich neige stark zu der ersten Definition: Meiner Ansicht nach ist Risiko in erster Linie die Wahrscheinlichkeit eines dauerhaften Kapitalverlusts. Es gibt aber auch das sogenannte Opportunitätsrisiko: die Wahrscheinlichkeit, dass einem potenzielle Gewinne entgehen. Nimmt man die beiden zusammen, sieht man, dass Risiko die Möglichkeit ist, dass sich die Dinge nicht so entwickeln, wie wir wollen.

Woher kommt das Risiko? Einer meiner liebsten Investmentphilosophen, Peter Bernstein, schrieb in einer Ausgabe seines Börsenbriefs Economics and Portfolio Strategy mit dem Titel „Can We Measure Risk with a Number?“ (Juni 2007):

„Im Prinzip heißt Risiko, dass wir nicht wissen, was passieren wird. […] Wir begeben uns jeden Augenblick ins Ungewisse. Es gibt ein Spektrum von Ausgängen und wir wissen nicht, wo in diesem Spektrum [der tatsächliche Ausgang] landen wird. Oft kennen wir nicht einmal das Spektrum.“

Im Folgenden werden Sie einige Gedanken finden (sehr kurz aus ihrer vollständigen Besprechung zusammengefasst, die ich in meinem Memo „Risk Revisited Again“ vom Juni 2015 lieferte), die sich meines Erachtens direkt aus Bernsteins Ausgangspunkt ergeben. Sie helfen Ihnen vielleicht, das Risiko zu verstehen und zu bewältigen.

Elroy Dimson, emeritierter Professor der London Business School, hat einmal gesagt: „Risiko bedeutet, dass mehr Dinge geschehen können als geschehen werden.“ Könnte bezüglich jedes Ereignisses in der Wirtschaft, in Unternehmen und an Märkten (unter anderem) nur eine Sache passieren – könnte es nur auf eine Weise ausgehen – und wäre dies vorhersagbar, dann gäbe es selbstverständlich keine Ungewissheit und kein Risiko. Und gäbe es keine Unsicherheit bezüglich dessen, was passieren wird, könnten wir theoretisch exakt wissen, wie wir unsere Portfolios positionieren müssen, um Verluste zu vermeiden und möglichst große Gewinne einzufahren. Doch im Leben und bei der Geldanlage sind Ungewissheit und Risiko unausweichlich, weil es viele verschiedene Ausgänge geben kann.

Infolge des Vorstehenden sollte man die Zukunft nicht als einzelnes feststehendes Resultat sehen, dessen Eintreten vorherbestimmt ist und das sich vorhersagen lässt, sondern als Spektrum von Möglichkeiten und – hoffentlich auf Grundlage von Erkenntnissen über ihre jeweiligen Wahrscheinlichkeiten – als Wahrscheinlichkeitsverteilung. Wahrscheinlichkeitsverteilungen geben Ansichten über Tendenzen wieder.

Anleger – und alle, die hoffen, die Zukunft erfolgreich zu bewältigen – müssen Wahrscheinlichkeitsverteilungen bilden, entweder detailliert oder formlos. Wenn man das gut macht, werden einem diese Wahrscheinlichkeiten helfen, die geeignete Handlungsweise zu ermitteln. Man darf dabei aber auf keinen Fall vergessen, dass selbst die Kenntnis der Wahrscheinlichkeiten nicht bedeutet, dass wir wüssten, was passieren wird.

Wie eine bestimmte Angelegenheit ausgehen wird, mag zwar langfristig von einer Wahrscheinlichkeitsverteilung bestimmt werden, aber was den Ausgang eines einzelnen Ereignisses angeht, kann große Ungewissheit herrschen. Jeder in einer Verteilung enthaltene Ausgang kann eintreten, wenn auch mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit, denn auf den Prozess, durch den der Ausgang ausgewählt wird, wirken sich nicht nur die Verdienste aus, sondern auch Zufälligkeit. Als Umkehrung von Dimsons Aussage könnte man sagen, dass zwar viele Dinge passieren können, aber nur eines es auch tun wird. Vielleicht wissen wir, was wir „im Durchschnitt“ zu erwarten haben, aber das steht womöglich in keinem Zusammenhang mit dem, was tatsächlich passieren wird.

In meiner Denkweise ist erfolgreiche Geldanlage wie die Ziehung eines Lotteriegewinners. Beide werden durch ein Los (den Ausgang) ermittelt, das aus einer Trommel (dem gesamten Spektrum der möglichen Ausgänge) gezogen wird. In beiden Fällen wird aus den vielen Möglichkeiten eine ausgewählt.

Überlegene Anleger sind Menschen, die ein besseres Gefühl dafür haben, welche Lose sich in der Trommel befinden, und somit auch dafür, ob es sich lohnt, bei der Lotterie mitzumachen. Anders ausgedrückt: Zwar wissen überlegene Anleger – wie alle anderen – nicht genau, was die Zukunft bringt, aber sie verstehen die Tendenzen der Zukunft überdurchschnittlich gut.

Hier möchte ich einen Nebengedanken einschieben. Die meisten Menschen meinen, man sollte so mit der Zukunft umgehen, dass man eine Meinung über das formuliert, was geschehen wird, vielleicht mittels einer Wahrscheinlichkeitsverteilung. Ich glaube, in Wirklichkeit gibt es nicht nur eine Anforderung, sondern zwei. Zusätzlich zu einer Meinung über das, was passieren wird, sollten die Menschen auch eine Ansicht über die Wahrscheinlichkeit haben, dass sich ihre Meinung als zutreffend erweisen wird. Manche Ereignisse lassen sich mit beträchtlicher Zuversicht vorhersagen (zum Beispiel ob eine mündelsichere Anleihe die Zinsen ausschütten wird, die sie verspricht), manche sind ungewiss (wird Amazon in zehn Jahren immer noch der führende Online-Einzelhändler sein?) und manche sind völlig unberechenbar (wird der Aktienmarkt im nächsten Monat steigen oder fallen?). Ich möchte damit sagen, dass man nicht so tun sollte, als wären alle Vorhersagen mit der gleichen Wahrscheinlichkeit zutreffend und als sollte man sich in gleichem Maße auf sie verlassen. Ich glaube, die meisten Menschen sind sich dessen nicht so sehr bewusst, wie sie es sein sollten.

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Man kann sich den oben beschriebenen überlegenen Anleger gut als jemanden vorstellen, dessen Erkenntnisse über Tendenzen es ihm erlauben, die Chancen zu seinen Gunsten zu verschieben.

Nehmen wir an, in einem Glas befinden sich 100 schwarze und weiße Kugeln. Wenn eine Kugel gezogen wird, auf welche Farbe sollte man setzen?

Wenn man nichts über den Inhalt des Glases weiß, ist die Wette ein reines Ratespiel: nicht fundierte Spekulation. Ähnlich ist die Situation, wenn man weiß, dass darin 50 schwarze und 50 weiße Kugeln sind. Dann ist es genauso klug, auf Schwarz wie auf Weiß zu setzen, aber in beiden Fällen beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass man richtigliegt, nicht mehr als 50:50. Das heißt, dass die Wette dumm wäre, außer es wird einem eine Quote geboten, die dem mindestens entspricht – und außer wenn man es vermeiden kann, eine Teilnahmegebühr (bei der Geldanlage eine Gebühr oder eine Geld-Brief-Spanne) zu bezahlen, damit man mitspielen darf. Bei angemessener Quote auf Schwarz oder Weiß zu wetten wäre nicht besonders profitabel, außer man hat Glück – und Glück ist etwas, auf das man sich nicht verlassen kann. Ohne einen Wissensvorsprung bezüglich des Inhalts des Glases zu wetten wäre nicht zuverlässig profitabel.

Aber was wäre, wenn man etwas Konkretes über den Inhalt des Glases wüsste? Sagen wir, Sie wüssten, dass es 70 schwarze und 30 weiße Kugeln enthält. Das böte Ihnen die Möglichkeit, öfter zu gewinnen als zu verlieren. Wenn man zehn Dollar auf Schwarz gegen jemanden setzen könnte, der einem gleichmäßige Quoten bietet, gewänne man in 70 Prozent der Fälle zehn Dollar und man verlöre nur in 30 Prozent der Fälle zehn Dollar, was einen erwarteten Gewinn von 40 Dollar bei zehn Versuchen ergäbe. (Anmerkung: So wird das durchschnittliche Ergebnis bei einer großen Anzahl von Versuchen aussehen, wobei es auf kurze Sicht aufgrund der Zufälligkeit zu signifikanten Schwankungen kommen kann.)

Natürlich bietet Ihnen der Wettpartner nur dann eine gleichmäßige Quote für eine Wette auf Schwarz, wenn er (a) nicht weiß, dass 70 Prozent der Kugeln schwarz und 30 Prozent weiß sind, oder wenn er (b) nicht weiß, dass Sie das wissen. Wenn er über den Inhalt des Glases genauso viel weiß wie Sie, bietet er Ihnen für eine Wette auf Schwarz nur eine Quote von 30:70 und dann ist die Wette wieder ohne Ertrag.

Anders gesagt: Um bei diesem Spiel häufiger zu gewinnen als zu verlieren, muss man einen Wissensvorsprung haben. Und den hat der überlegene Anleger: Er weiß über die künftigen Tendenzen mehr als andere.

Dabei darf man aber keinesfalls vergessen, was ich vorhin gesagt habe: Selbst wenn man die Wahrscheinlichkeiten kennt – also selbst wenn man eine überlegene Kenntnis der Tendenzen hat –, weiß man immer noch nicht, was passieren wird. Selbst wenn das Verhältnis der Kugeln im Glas 70 schwarze zu 30 weißen beträgt, weiß man nicht, welche Farbe als nächste gezogen wird. Es ist zwar durchaus wahrscheinlicher, dass Schwarz statt Weiß kommt, aber immer noch wird in 30 Prozent der Fälle Weiß gezogen. Wenn sich sowohl weiße als auch schwarze Kugeln in dem Glas befinden und insbesondere wenn beim Ziehen der nächsten Kugel zufällige und von außen wirkende Kräfte am Werk sind, kann es bezüglich des Ausgangs keine Gewissheit geben.

Doch trotz alledem: Damit sich das Spiel lohnt, braucht es gar keine Gewissheit zu geben. Ein Wissensvorsprung bezüglich der Tendenzen reicht aus, um langfristig erfolgreich zu sein.

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Und das führt uns zu dem Lohn, den es einbringt, die Zyklen zu verstehen. Der Durchschnittsanleger weiß darüber nicht viel:

Ihm sind die Natur und die Bedeutsamkeit von Zyklen nicht vollständig klar.

Er ist noch nicht lange genug dabei, um viele Zyklen erlebt zu haben.

Er hat nichts über Finanzgeschichte gelesen und somit keine Lehren aus früheren Zyklen gezogen.

Er betrachtet seine Umwelt vor allem in Form isolierter Ereignisse, anstatt wiederkehrende Muster und die hinter diesen stehenden Gründe zu beachten.

Vor allen Dingen versteht er die Signifikanz von Zyklen nicht und weiß nicht, was sie ihm in Bezug auf sein Handeln sagen können.

Der überlegene Anleger achtet aufmerksam auf Zyklen. Er achtet darauf, ob sich frühere Zyklen offensichtlich wiederholen, entwickelt ein Gefühl dafür, wo wir uns in den diversen Zyklen befinden, auf die es ankommt, und er weiß, dass diese Dinge Konsequenzen für sein Handeln haben. Dies erlaubt es ihm, nützliche Urteile über Zyklen und unsere Position in denselben abzugeben. Konkret:

Stehen wir kurz vor dem Beginn eines Aufschwungs oder in einer Spätphase?

Wenn ein bestimmter Zyklus seit einer Weile ansteigt, ist er nun so weit, dass wir uns auf gefährlichem Terrain befinden?

Legt das Verhalten der Anleger nahe, dass sie von Gier oder Angst getrieben sind?

Scheinen sie angemessen risikoscheu oder idiotisch risikotolerant zu sein?

Ist der Markt aufgrund dessen, was bei den Zyklen vor sich geht, überhitzt (und überteuert) oder ist er unterkühlt (und somit günstig)?

Zusammenfassend: Bedeutet unsere derzeitige Position im Zyklus, dass wir den Schwerpunkt auf Defensivität oder auf Aggressivität legen sollten?

Die Beachtung dieser Elemente verschafft dem überlegenen Anleger einen Vorteil, der es ihm ermöglicht, häufiger zu gewinnen als zu verlieren. Er versteht die Tendenzen oder Wahrscheinlichkeiten und daher weiß er etwas über die Farbe der Kugeln im Glas, was andere nicht wissen. Er hat ein Gefühl dafür, ob die Gewinnchancen größer als die Verlustchancen sind, und daher kann er mehr investieren, wenn die Chancen günstig sind, und weniger, wenn sie es nicht sind. Wichtig: Alle diese Dinge lassen sich anhand von Beobachtungen der aktuellen Bedingungen beurteilen. Wie wir in späteren Kapiteln noch sehen werden, können sie uns sagen, wie wir uns auf die Zukunft vorbereiten sollten, ohne dass wir dazu in der Lage zu sein brauchen, die Zukunft vorherzusagen.

Vergessen Sie nicht: Unsere Position in den verschiedenen Zyklen wirkt sich stark auf die Chancen aus. Zum Beispiel verbessern sich – wie wir in späteren Kapiteln noch sehen werden – die Gelegenheiten für Anlagegewinne, wenn:

die Konjunktur und die Unternehmensgewinne mit höherer Wahrscheinlichkeit steigen als fallen

die Anlegerstimmung eher nüchtern als überschwänglich ist

sich die Anleger der Risiken bewusst oder – noch besser – sie übertrieben besorgt wegen der Risiken sind

die Marktpreise nicht zu weit gestiegen sind

Bei allen diesen Dingen (und noch mehr) gibt es Zyklen und wenn man weiß, an welchem Punkt man steht, kann einem das helfen, die Chancen zu den eigenen Gunsten zu verschieben. Kurz gesagt verschiebt die Bewegung im Laufe des Zyklus die Wahrscheinlichkeitsverteilung, die für künftige Ereignisse gilt. Vielleicht sollte ich das in Bezug auf Anlagerenditen einmal veranschaulichen:

Wenn unsere Position in den verschiedenen Zyklen neutral ist, dann sind die Ertragsaussichten „normal“.

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Wenn die Zyklen verheißungsvoll positioniert sind, verschiebt sich die Wahrscheinlichkeitsverteilung nach rechts, sodass sich die Renditeaussichten zu unseren Gunsten verschoben haben. Unsere günstige Position in den Zyklen macht Gewinne wahrscheinlicher und Verluste unwahrscheinlicher.

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Wenn die Zyklen jedoch auf gefährlichen Extremen stehen, stehen die Chancen gegen uns, was bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeiten weniger gut sind. Es besteht eine geringere Chance auf Gewinne und eine größere auf Verluste.

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Das Gleiche gilt, wenn sich unsere Position nur in einem Zyklus ändert. Zum Beispiel verbessern sich unabhängig von dem, was bei der Konjunktur und den Unternehmensgewinnen vor sich geht (die Gelehrten sprechen von ceteris paribus oder „unter sonst gleichen Bedingungen“), die Renditeaussichten, wenn die Anleger deprimiert und ängstlich sind (und somit die Anlagepreise sinken lassen), und sie verschlechtern sich, wenn die Anleger euphorisch und gierig sind (und die Preise in die Höhe treiben).

Die Chancen ändern sich mit der Veränderung unserer Position in den Zyklen. Wenn wir unsere Investmentaufstellung bei Veränderungen dieser Dinge nicht verändern, sind wir hinsichtlich der Zyklen passiv. Anders gesagt ignorieren wir dann die Chance, die Wahrscheinlichkeiten zu unseren Gunsten zu verschieben. Doch wenn wir gewisse Erkenntnisse über Zyklen anwenden, können wir unsere Einsätze erhöhen und sie auf aggressivere Investments setzen, wenn die Chancen zu unseren Gunsten stehen, und wir können Geld vom Tisch nehmen und unsere Defensivität erhöhen, wenn die Chancen gegen uns stehen.

Wer sich mit Zyklen beschäftigt, weiß nicht mit Gewissheit, was als Nächstes passieren wird – genauso wenig wie jemand, der Kenntnisse über die Kugeln im Glas hat, weiß, welche Farbe als nächste gezogen wird. Aber beide haben einen Wissensvorsprung bezüglich dessen, was wahrscheinlich ist. Das Wissen über Zyklen und die Beurteilung unserer Position zu einem bestimmten Zeitpunkt kann einen großen Beitrag zu dem Vorteil leisten, der gegeben sein muss, damit ein Anleger überlegene Ergebnisse erzielen kann. Wer bei der Ziehung einer Kugel weiß, dass das Verhältnis 70:30 beträgt, hat einen Vorteil. Und so hat auch der Anleger, der besser als andere weiß, wo wir uns im Zyklus befinden, einen Vorteil. Zweck dieses Buches ist es, Ihnen zu helfen, ein solcher Anleger zu werden.

Im Interesse dessen werde ich eine Reihe zyklischer Prozesse beschreiben, deren Ablauf ich in Echtzeit beobachtet habe. Ihre Oszillationen mögen extrem erscheinen und in der Tat können sie extrem sein, denn sie wurden aus der Erfahrung eines halben Jahrhunderts ausgewählt, um die Argumentation zu stützen. Und sie vermitteln vielleicht den Eindruck, als wären die besprochenen Ereignisse zeitlich zusammenstaucht worden, obwohl ihr Ablauf in Wahrheit Monate und Jahre gedauert hat. Aber diese Beispiele sind echt und ich hoffe, dass sie meine Botschaft verdeutlichen werden.

ZWEI

Die Natur der Zyklen

Die meisten Menschen stellen sich Zyklen als eine Reihe von Ereignissen vor. Und den meisten Menschen ist klar, dass diese Ereignisse regelmäßig in einer üblichen Reihenfolge aufeinander folgen: Auf Aufschwünge folgen Abschwünge und irgendwann folgen erneute Aufschwünge. Jedoch reicht das nicht, um die Zyklen vollständig zu verstehen. Man sollte die Ereignisse im Leben eines Zyklus nicht bloß so betrachten, dass das eine auf das andere folgt, sondern – was viel wichtiger ist – so, dass jedes das nächste verursacht.

Wenn ich mich mit Kunden von Oaktree treffe, bitten sie mich fast immer, ihnen zu helfen, dem Geschehen in der Welt oder am Markt einen Sinn abzugewinnen. Gewöhnlich wollen sie etwas über einen bestimmten Zyklus wissen und wo wir uns in diesem Zyklus befinden. Dann ziehe ich immer ein Blatt Papier aus der Tasche und fertige eine Zeichnung an, um die Erklärung zu veranschaulichen.

Normalerweise verläuft eine Linie von links unten nach rechts oben. Eine zweite schwankt auf und ab um die erste herum. Zusammen sehen sie so aus.

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Als ich mich auf die Aufgabe vorbereitete, das vorliegende Buch zu schreiben, durchsuchte ich meine Oaktree-Tasche und fand eine Menge von diesen Zeichnungen. Ich hatte sie anlässlich der Erklärung mehrerer unterschiedlicher Phänomene gezeichnet und sie waren unterschiedlich beschriftet. Die Kapitel in diesem Buch werden im Allgemeinen diesen zyklischen Phänomenen gewidmet sein.

Bevor ich mit meiner Diskussion der Zyklen fortfahre, möchte ich auf etwas zurückkommen, das ich in „Der Finanz-Code“ angesprochen habe. Ich gestehe, dass ich zwischen der Besprechung des Auf und Ab von Zyklen und den seitlichen Ausschlägen von Pendeln wechsele – manche Phänomene etikettiere ich als Zyklen und andere (zu sehen in Kapitel 7) als Pendelbewegungen (meist solche, die mit Psychologie zusammenhängen). Manchmal spreche ich von einem bestimmten Phänomen als Zyklus und manchmal als Pendelbewegung. Aber wenn man mich danach fragt, fällt es mir schwer, die beiden zu unterscheiden oder zu sagen, warum das eine das eine Etikett erhält und das andere das andere.

Ich stelle mir die Dinge gern visuell vor, also kann ich vielleicht ein Bild verwenden, um den Zusammenhang zwischen Zyklen und Pendelbewegungen zu beschreiben. Wie ich später noch ausführlich erläutern werde, schwanken Zyklen um einen Mittelpunkt (oder um einen langfristigen Trend) herum. Außerdem hängen Pendel über einem Mittelpunkt (oder einer Norm) und schwingen von dort aus hin und her. Wenn man jedoch den Punkt nimmt, an dem das Pendel aufgehängt ist, ihn zur Seite kippt und ihn während der Schwingungen von links nach rechts zieht, was erhält man dann? Einen Zyklus.

Vom Grundsatz her gibt es also eigentlich keinen Unterschied. Ich räume sogar ein, dass ein Pendel kaum mehr ist als ein Sonderfall eines Zyklus oder vielleicht nur eine andere Art, auf bestimmte Zyklen Bezug zu nehmen. Mir sind meine Gründe, manche Dinge als Zyklen und andere als Pendelbewegungen zu bezeichnen, klar. Ich hoffe, Ihnen werden sie ebenfalls klar werden. Oder zumindest hoffe ich, dass meine Verwendung der beiden Begriffe nicht das schmälert, was Sie aus diesem Buch mitnehmen.

Unter dem Strich bleibt, dass in der Welt, in der Anleger leben, Zyklen nach oben und unten laufen und Pendel vor und zurück schwingen. Zyklen und Pendelbewegungen treten in vielen Formen auf und beziehen sich auf eine große Vielfalt von Phänomenen, aber ihre tieferen Gründe – und die Muster, die sie erzeugen – haben vieles gemeinsam und neigen dazu, im Laufe der Zeit konsistent zu sein. Oder, wie Mark Twain gesagt haben soll (auch wenn es keine Nachweise dafür gibt, dass er es wirklich gesagt hat): „Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.“

Ob Twain ihn nun gesagt hat oder nicht, der Satz bringt vieles von dem, worum es in diesem Buch geht, auf den Punkt. Zyklen unterscheiden sich bezüglich der Gründe und der Details sowie bezüglich der Dauer und des Ausmaßes, aber die Auf- und Abwärtsbewegungen (und die Gründe dafür) werden ewig auftreten und Veränderungen des Anlageumfelds bewirken – somit auch in dem erforderlichen Verhalten.

Die mittlere Linie in meinen Zeichnungen stellt einen Mittelpunkt dar, um den herum der Zyklus oszilliert. Manchmal hat sie eine zugrunde liegende Richtung oder einen übergeordneten Trend und dieser ist gewöhnlich aufwärts gerichtet. Also neigen Volkswirtschaften und Unternehmensgewinne dazu, im Laufe der Zeit und langfristig zu wachsen, und Märkte (vor allem wegen dieser Dinge) dazu, langfristig zu steigen. Und wenn diese Entwicklungen wissenschaftliche oder vollständig natürliche physikalische Prozesse wären, würden sich Volkswirtschaften, Unternehmen und Märkte vielleicht geradlinig und mit konstanter Geschwindigkeit vorwärts entwickeln (zumindest für eine Weile). Aber das sind sie selbstverständlich nicht und deshalb tun sie dies nicht.

Es ist eine Tatsache, dass diese Dinge auf kurze Sicht unter anderem durch die Beteiligung von Menschen massiv beeinflusst werden, und Menschen sind alles andere als beständig. Vielmehr fluktuieren sie von Zeit zu Zeit und das häufig aufgrund von Dingen, die wir unter der breiten Überschrift „Psychologie“ zusammenfassen können. Darum ändert sich das Verhalten von Menschen … auf jeden Fall wenn sich das Umfeld ändert, aber manchmal auch ohne Veränderungen des Umfelds.

Das Schwanken von Dingen um den Mittelpunkt oder um einen übergeordneten Trend herum ist das, worum sich dieses Buch vor allem dreht. Diese Oszillation irritiert Menschen, die sie nicht verstehen, von ihr überrascht sind oder – was noch schlimmer ist – daran teilhaben und zu ihr beitragen. Aber wie schon gesagt, häufig bietet dies Gewinnchancen für diejenigen, die zyklische Phänomene verstehen, erkennen und ausnutzen.

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Wenn man sich meine Zeichnungen ein paar Sekunden lang anschaut, wird klar, dass man die Bewegungen zyklischer Phänomene so auffassen kann, dass sie in mehreren erkennbaren Phasen ablaufen:

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a) Erholung von einem äußerst niedrigen unteren Extremum oder „Tief“ zum Mittelpunkt

b) fortgesetzter Aufschwung über den Mittelpunkt hinaus zu einem oberen Extremum oder „Hoch“

c) Erreichen eines Hochs

d) Abwärtskorrektur vom Hoch aus zurück zum Mittelpunkt oder Mittelwert

e) Fortsetzung der Abwärtsbewegung unter den Mittelpunkt in Richtung eines neuen Tiefs

f) Erreichen eines Tiefs

g) erneute Erholung vom Tief zurück zum Mittelpunkt

h) dann erneute Fortsetzung des Aufschwungs über den Mittelpunkt hinaus zu einem weiteren Hoch

Bei dem Obigen ist unbedingt zu betonen, dass man bei einem Zyklus nicht von einem bestimmten Anfangs- oder Endpunkt sprechen kann. Alle oben aufgezählten Phasen kann man so beschreiben, dass sie den Anfang eines Zyklus darstellen … oder das Ende … oder ein Zwischenstadium.

Einem grob vereinfachenden Erzähler mag es leichtfallen, vom Anfang eines Zyklus zu sprechen, aber wer etwas ausgefuchster ist, dem kann das außerordentlich schwerfallen. Folgendes schrieb ich zu diesem Thema in „Now It’s All Bad“? (September 2007):

„Henry Kissinger gehörte dem Verwaltungsrat von TCW an, als ich dort arbeitete, und mehrmals im Jahr hatte ich das Privileg, ihm zuhören zu dürfen, wie er sich über die Weltpolitik ausließ. Jemand fragte: ‚Henry, können Sie uns die gestrigen Ereignisse in Bosnien erklären?‘ Und er sagte darauf: ‚Wissen Sie, 1722 …‘ Der springende Punkt ist, dass man Ereignisse in Form einer Kettenreaktion nur im Kontext dessen verstehen kann, was ihnen vorangegangen ist.“

Wenn jemand fragt: „Wie sind wir an diesen Punkt gelangt?“, oder: „Was hat dazu geführt, dass wir dieses Hoch (oder Tief) erreicht haben?“, muss sich die Erklärung stets auf die vorherigen Ereignisse gründen. Indes ist es vielleicht nicht leicht, herauszufinden, wie weit man für den Ausgangspunkt seines Narrativs zurückgreifen muss.