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Georg Langenhorst (HRSG.)

Und er spricht
mit leisen
Deuteworten …

164 Gedichte zu biblischen
Themen, Motiven und Figuren

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imageBand 1

© 2019 Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Gesamtgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Umschlagmotiv: © shutterstock.com, Happy person

Hersteller gemäß ProdSG:

Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Lípová 1965, 737 01 Český Těšín, Czech Republic

Verlag: Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Silberburgstraße 121, 70176 Stuttgart

www.bibelwerk.de

ISBN 978-3-460-08630-2

Auch als E-Book erhältlich unter ISBN 978-3-460-51072-2

Inhalt

Die Bibel im Gedicht

Das Alte Testament

1 / Adam und Eva

Heinrich HeineAdam der Erste

Otto Julius BierbaumGott zeigt Adam das Paradies

Christian MorgensternAdam und Eva

Rose AusländerEva

2 / Kain und Abel

Hermann HesseDas Lied von Abels Tod

Walter Helmut FritzKain

Dagmar NickAn Abel

Ludwig SteinherrKain

3 / Noach und die Arche

Karl GerokArarat

Ernst StadlerResurrectio

Ingeborg BachmannNach dieser Sintflut

Nora BossongArarat

4 / Der Turm von Babel

Emanuel GeibelBabel

Johannes R. BecherTurm von Babel

Heinz PiontekNachts, beim Turmbau zu Babel

Günter KunertErinnerung an Babylon

5 / Abraham

Friedrich Martin von BodenstedtAbraham und Sara

Else Lasker-SchülerAbraham und Isaak

Nelly SachsAbraham

Yvan GollMein Abraham

6 / Lot

Andreas GryphiusGedenket an Loths Weib

Erich FriedSalz der Welt

Ulrich SchachtKinder Lots

Jan Wagnerkurz hinter sodom

7 / Jakob und Esau

Else Lasker-SchülerJakob und Esau

Fritz Rosenthal (Schalom Ben-Chorin)Begegnung

Günter GrassEsau sagt

Johannes KühnJakob diente um Rachel

8 / Josef

Friedrich RückertJusuf und Suleicha

Mascha KalékoDer junge Josef

Jenny AloniJosef und seine Brüder

Martin PohlJosephs Zisternengebet

9 / Mose

Börries von MünchhausenMose

Erich MühsamMoses

Gertrud KolmarMose im Kästchen

Eva ZellerMoses

10 / Jiftach

Ricarda HuchJephta

Ricarda HuchJephtas Tochter

Matthias HermannRichter Jiftach

Matthias HermannRichter Jiftach II

11 / Simson und Delila

Theodor FontaneSimsons Tod

Georg HeymSimson

Uriel BirnbaumDer Tempelsturz

Johannes KühnDalila

12 / Rut

Leopold MarxRuth

Franz WerfelRuths Worte

Drutmar CremerLichtgehörn am Tor von morgen

Matthias HermannRut

13 / Ester

Rainer Maria RilkeEsther

Gertrud KolmarEsther

Johannes BobrowskiEszther

Drutmar CremerIm Weltblut der Unschuld

14 / Judit

Felix DahnJudiths Siegeslied

Erich FriedJudith

Dagmar NickJudith

Lioba HappelJudith

15 / Saul

August von PlatenSaul und David

Ricarda HuchSaul

Rainer Maria RilkeSaul unter den Propheten

Dagmar NickGilboa

16 / David

Friedrich RückertDavids Stellvertreter

Gottfried KellerDavid

Nelly SachsDavid

Albrecht GoesDavids Traum

17 / Abischag

Rainer Maria RilkeAbisag

Agnes MiegelAbisag von Sunem

Berthold ViertelAbisag

Fritz Rosenthal (Schalom Ben-Chorin)Abisag vor David

18 / Salomo

Heinrich HeineSalomo

Ricarda HuchSalomo

Hugo BallKönig Salomo

Uriel BirnbaumKönig Salomo

19 / Psalmen

Ernst ThrasoltDe Profundis 6

Georg TraklPsalm

SAIDHerr, gib dass ich unbelehrbar bleibe

Uwe KolbePsalm nach der tonlosen Zeit

20 / Hiob

Nelly SachsHiob

Yvan GollHiobs Gesang

Mascha KalékoEnkel Hiobs

Robert GernhardtHiob im Diakonissenkrankenhaus

21 / Kohelet

Andreas GryphiusVanitas, Vanitatum, et omnia vanitas

Christian Friedrich Daniel SchubartDer Greis

Heinz PiontekDer Prediger Salomo

Hans Magnus EnzensbergerSalomonisch

22 / Propheten

Jochen KlepperDer Prophet 2

Fritz Rosenthal (Schalom Ben-Chorin)Der Prophet

Erich FriedEin Prophet

Andreas Knappprophet

23 / Jona

Dietrich BonhoefferJona

Dorothea GrünzweigIm Bauch des Wals

Ludwig SteinherrBrief an Jona

Jan Wagneran jona

24 / Daniel/Belsatzar

Johann Wolfgang von GoetheDas Lied vom Propheten Daniel

Heinrich HeineBelsatzar

Robert WalserDaniel in der Löwengrube

Christine BustaErinnerung an Daniel

Das Neue Testament

1 / Jesus

Kurt MartiJESUS

Ulla HahnMein Gott

Andreas KnappJesus Christus

Nora GomringerMan sieht’s

2 / Maria

Friedrich HölderlinAn die Madonna

NovalisIch sehe dich in tausend Bildern

Bertolt BrechtMaria

Reinhold SchneiderAn die Mutter des Herrn

3 / Josef

Joseph von EichendorffDie Flucht der Heiligen Familie

Rainer Maria RilkeArgwohn Josephs

Ida Friederike GörresHüter des Herrn

Wilhelm Brunersjosef

4 / Die Geburt Jesu

Siegbert StehmannDie Hirten

Peter HuchelDie Hirtenstrophe

Drutmar CremerWeihnacht

Ulla HahnStille Nacht

5 / Johannes der Täufer

August Wilhelm SchlegelJohannes in der Wüste

Annette von Droste-HülshoffVom Zeugnis Johannis

Christian MorgensternDer Täufer

Johannes KühnJohannes der Täufer

6 / Gebet: Vaterunser

Johann Wilhelm Ludwig GleimVater Unser

Rose AusländerVater unser

H. C. Artmannvater unser

Robert SchneiderGegengebet

7 / Wort: Verlorener Sohn

Robert WalserDer verlorene Sohn

Felix BraunDer verlorene Sohn gibt sich zu erkennen

Christine BustaDie andere Heimkehr

Drutmar CremerIn der Muschel Tod rauscht Leben

8 / Marta und Maria

Conrad Ferdinand MeyerDie Narde

Otto Erich HartlebenMaria

Erika MittererMaria von Bethanien

Heinrich DeteringMartha

9 / Petrus

Annette von Droste-HülshoffVom Fischfang Petri

Heinz PiontekDer Jünger

Eva ZellerPetrus

Heinrich Deteringnach Kapernaum

10 / Maria Magdalena

Agnes MiegelMagdalena

Ida Friederike GörresMagdalena im Garten

Christine BustaGebet einer Sünderin

Christa Peikert-FlaspöhlerMaria aus Magdala

11 / Judas

Konrad WeissJudas

Georg HeymDie Silberlinge

Josef WeinheberJudaskuss

Peter MaiwaldJudas-Versionen

12 / Paulus

Karl GerokPaulus im Sturm

Franz WerfelDer Tod des Paulus

Durs GrünbeinPaulus wechselt die Schiffe

Christian LehnertNeunzehnte Vigil

13 / Getsemani

Detlev von LiliencronLegende

Christian MorgensternDer einsame Christus

Ernst StadlerGethsemane

Elisabeth BorchersDer Olivenbaum im Garten Getsemane

14 / Passion

Bertold BrechtKarsamstagslegende

Rudolf Otto WiemerPassionslied

Heinrich DeteringGolgatha, kleine Vögel

Christian LehnertPassio

15 / Kreuzigung

Hilde DominEcce homo

Kurt Martiam holz

Erich FriedKreuzweg

Eva ZellerGolgatha

16 / Auferweckung

Johann Wolfgang von GoetheChorgesang

Theodor KörnerChristi Erscheinung in Emmaus

Marie Luise KaschnitzAuferstehung

Heinrich DeteringNach Golgatha

17 / Über Ostern hinaus

Rudolf Otto WiemerEntwurf für ein Osterlied

Ingeborg DrewitzOstern

Johannes KühnChristus

Andreas Knapposterspaziergang

Literaturverzeichnis

Quellen- und Copyrighthinweise

Die Bibel im Gedicht

„Die Schriftsteller haben schon lange gewusst, dass die Bibel eigentlich alle Geschichten enthält, die sich denken lassen“, schrieb der Erzähler, Lyriker und langjährige Leiter des Hanser-Verlags Michael Krüger (*1943) im Jahr 2003. Unübertroffen sei, mit „welcher Leidenschaft, mit welcher Sprachgewalt, mit welcher Ehrfurcht“ ihre Geschichten erzählt wurden, Urerzählungen, die beides zugleich sind: viel zu wenig gelesen und zu unbekannt, und dennoch die bleibenden Grundschriften der westlichen Kulturen. Krügers Konsequenz aus dieser Spannung im Blick auf „die Bibel als literarisches Kunstwerk“: Es kommt „darauf an, sie aus der Sprache“ ihrer Zeit „in unsere Sprache zu übersetzen“ (M. Krüger 2003, S. 7). Und genau diese Aufgabe teilen sich die Schriftsteller1 mit den Theologen, wenngleich mit völlig unterschiedlichen Zielen und Methoden.

Die Bibel mit den Augen der Poeten lesen

Was verändert sich, wenn man die Bibel mit den Augen der Poeten liest? Zum einen wird deutlich, dass diese unvergleichliche Menschheitsbibliothek umfassende Grunderzählungen enthält, in der sämtliche Facetten der Beziehung von Menschen zu anderen Menschen ausgelotet werden. Ihren spezifischen Reiz erhält diese Sammlung jedoch zum anderen dadurch, dass sich – ihrem eigenen Anspruch zufolge – in diesen menschlichen Beziehungsgeschichten in einzigartiger Weise die Beziehung von Mensch und Gott spiegelt.

In Figurenrede lässt der österreichische Romancier Robert Menasse (*1954) einen der Protagonisten seines großen Romans „Die Vertreibung aus der Hölle“ (2001) erkennen, was den zeitüberdauernden Reiz der Bibel ausmache: Es handelt sich um „Berichte, über zahllose Generationen weitergegeben, die davon erzählen, was Menschen, wenn sie das Unerklärliche befragen, erklären können. Wie nah der Gott dieser Menschen war und zugleich wie fern. Wie besessen Menschen sein konnten, wenn sie diesem Gott alles unterordneten, und wie vernünftig zugleich, wenn sie ihm im Zweifelsfalle vertrauten.“ Die Bibel? Sie ist „das Buch der Menschen“ (R. Menasse 2001, S. 447).

Die Bibel enthält tatsächlich „einen ungeheuren Stoff für einen Schriftsteller“, so Stefan Heym in einem Gespräch mit Karl-Josef Kuschel aus dem Jahre 1984 (S. Heym 1985, S. 106). Er weiß, wovon er redet, verdanken wir ihm doch mit dem „König David Bericht“ (1972) und „Ahasver“ (1981) zwei brillante, bis heute überaus lesenswerte Bibelromane. Wahrlich ein „ungeheurer Stoff“! Denn was für Geschichten sind dort aufbewahrt: Erzählungen um Verlangen, Schuld und Scham (Adam und Eva), um Eifersucht und Brudermord (Kain und Abel), um Massensterben und Rettung (Noach), um Größenwahn und Sprachverwirrung (Turmbau zu Babel), um Segen und Betrug (Isaak und Jakob), um Selbstaufopferung und Tyrannenmord (Ester und Judit), um Liebe, Klugheit und Aufnahme (Rut), um Menschwerdung und Rettungstod (Jesus), um Treue und Verrat (Petrus), um Berufung und Mission (Paulus) – und damit sind nur wenige Erzählhöhepunkte schlaglichtartig benannt. Wahrlich – was für Stoffe für Schriftsteller! Umso mehr, da die Bibel diese Geschichten erzählt, aber nicht ausschöpft. Die alttestamentlichen wie neutestamentlichen Erzählungen sind voller Leerstellen und Fragezeichen. Ihnen fehlen vor allem psychologische Feinzeichnung und dramaturgische Vollendung, denen sich die Schriftsteller widmen können.

Der Reiz der Bibel für Schriftsteller erschöpft sich jedoch nicht im Stoff ihrer Geschichten. Vor allem die Sprachformen, die poetischen und narrativen Gattungen der Bibel, tragen in sich einen stimulierenden Reiz, der bis heute nichts an Produktiv- und Anregungskraft eingebüßt hat.

Beides soll im Fokus des vorliegenden Buches stehen: eine Erinnerung und Aktualisierung der biblischen Inhalte, gleichzeitig aber auch ein Verweis auf die unvergleichliche sprachliche Produktivkraft der Bibel. Von Anfang an hat sie zu Weiter- und Nachdichtungen, aber auch zu völlig eigenständigen erzählerischen und poetischen Ausgestaltungen und Anknüpfungen angeregt. Neben der Erzählwelt der griechischen Mythen ist sie das große Themen-, Figuren- und Sprachreservoire, aus dem die unterschiedlichen Gattungen der Literatur schöpfen, vor allem die Poesie, auf die wir uns hier beschränken.

Die im folgenden präsentierten Gedichte wurden alle in deutscher Sprache verfasst. Sie stammen aus der Zeitspanne vom 17. bis zum 21. Jahrhundert und aus den unterschiedlichen geistigen Hallräumen von Katholizismus, Protestantismus, Islam, Judentum und Atheismus. Sie ermöglichen im breit aufgespannten Panorama Antworten auf die Frage: Wie wird die Bibel in der deutschsprachigen Lyrik bis in unsere Zeit hinein aufgegriffen und dichterisch fruchtbar gemacht?

Forschungen: Bibel und Literatur

Das Buch baut auf zwei unverzichtbaren Pfeilern auf. Das ist zum einen das seit knapp 40 Jahren intensiv bestellte interdisziplinäre Forschungsfeld von „Bibel und Literatur“. 1999 erschien das von Heinrich Schmidinger herausgegebene, doppelbändige Grundlagenwerk „Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts“, das erstmals die Forschungen zu Themen, Stoffen, Personen, Motiven und Gattungen grundlegend darstellte und auswertete. Im Anschluss daran – leider aber auch manchmal ganz unabhängig und ohne Berücksichtigung von Erkenntnissen des erarbeiteten Forschungsstandes – erscheinen seitdem immer wieder thematische Überblicksdarstellungen, sei es als Abdruck von Vorlesungsreihen (z. B. T. Kleffmann 2004), als grundlegende Einführung (z. B. K. Schöpflin 2011; E. Glatz 2013) oder als Sammlung persönlicher Zugänge (z. B. M. Nüchtern 2010). Nur selten geht es dabei um substantielle quantitative oder qualitative Erweiterung des Forschungsbefunds. Diese Publikationen beweisen eher die bleibende Aktualität des Interesses an der Beziehung von Bibel und literarischen Texten.

Wirklich substantielle Erweiterungen betreffen hingegen zum einen die spezifisch historische Sichtung der Beziehung von Bibel und Literatur, zum anderen den Blick auf einzelne, zuvor kaum oder nur oberflächlich beachtete biblische Motive (vgl. dazu G. Langenhorst 2013). Erhellend ist zudem der korrelative Gegenblick. Während sich der Blick meistens von der Bibel aus auf das Werk der Dichter späterer Zeiten richtet, finden sich zunehmend Untersuchungen, die von den Poeten und ihren Textwelten aus zurück auf die Bibel schauen. Eine sinnvolle Ergänzung!

So stellt Christoph Gellners Monographie „Schriftsteller lesen die Bibel“ die „lebens- und werkgeschichtliche Bedeutung der Bibel im Denken und Schreiben namhafter deutscher Autorinnen und Autoren des 20. Jahrhunderts“ (C. Gellner 2004, S. 15) ins Zentrum. Ein ähnlicher Zugang findet sich in dem umfassenden Sammelband „Der Heiligen Schrift auf der Spur“ (M. Kłańska u. a. 2009).

Schon mit diesen Verweisen wird deutlich, dass mehr und mehr auch die Literaturwissenschaften das Dialogfeld von Theologie und Literatur als Forschungsgegenstand allgemein neu- oder wiederentdecken (vgl. D. Weidner 2016). Wenn in den letzten Jahren das „öffentliche Interesse an […] Religion wächst“, rückt aus Sicht der Literaturwissenschaft vor allem „ein Gegenstand ins Zentrum des Interesses, der nun gar nicht fremd, neu oder anders ist, sondern eher als paradigmatischer Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung erscheint: die Bibel“ (A. Polaschegg / D. Weidner 2010, S. 9). Der Bereich von „Bibel und Literatur“ bleibt also ein reizvolles Feld von interdisziplinär angelegten Forschungen. Nur konsequent deshalb, dass der Verlag Katholisches Bibelwerk mit dem hier vorliegenden Buch eine Reihe zu diesem Schwerpunkt eröffnet.

Die Bibel im Gedicht: Anthologien

Neben der Sichtung dieses Forschungsfeldes baut das vorliegende Buch jedoch auf einem zweiten unverzichtbaren Pfeiler auf. Es ist nicht das erste Buch seiner Art, profitiert also von vorliegenden Anthologien zum Thema. 1968 veröffentlichte Hermann Hakel eine mehr als siebenhundertseitige Anthologie über „Die Bibel in deutschen Gedichten“, eine immer noch kaum erschlossene Fundgrube von Gedichten, Zitaten, Textpassagen in eher unsystematischer, aber gerade so reizvoller Vielfalt. Erst 2005 sollte ein in der Anlage ähnlich angelegtes Panoramawerk vergleichbaren Umfangs erscheinen: Bertram Kirchers „Die Bibel in den Worten der Dichter“.

Neben ungezählte Spezialanthologien zu einzelnen biblischen Figuren oder Gattungen traten einige auswählende Zusammenstellungen: 1985 Gero Kutzlebs „Biblische Balladen“; 2001 eine erste didaktisch kommentierte Auswahl von dem Herausgeber des vorliegenden Buches unter dem Titel „Gedichte zur Bibel. Texte – Interpretationen – Methoden“; 2005 zwei von Martin Scharpe herausgegebene Bände „Erdichtet und Erzählt“ über das „Alte“ respektive „Neue Testament in der Literatur“. All diesen Bänden verdanken sich zahlreiche Hinweise und Anregungen.

Zu diesem Buch

Was also ist der neue Zugang, den das vorliegende Buch bietet? Präsentiert werden jeweils vier Gedichte zu den zentralen Gestalten und Erzählungen, aber auch zu thematischen oder ästhetischen Grundmustern der Bibel. Dadurch sollen mehrere Perspektiven ausgelotet werden:

einerseits die Entwicklung der inhaltlichen Ausgestaltungen, die von bloßer Paraphrasierung über die Dramatisierung, Psychologisierung und Historisierung der biblischen Vorlagen hin zu frei assoziativen Anknüpfungen reicht;

andererseits die Entfaltung der poetischen Gattungen über Ballade, Hymne, strophig-singbares Lied, Sonett, Parlando-Text bis hin zu konkreter Poesie.

Das Besondere liegt dabei in der Aufnahme zahlreicher bislang kaum beachteter Texte aus dem 21. Jahrhundert. Während frühere Anthologien nur wenige zeitgenössische Texte integrieren, wird hier so oft wie möglich die Deutespur bis in die unmittelbare Gegenwart ausgezogen. Dass und wie die Bibel tatsächlich bis heute kulturprägend bleibt, lässt sich so über die historischen Entfaltungen hinweg bis in unsere Lebenswelt nachzeichnen.

Einige Einschränkungen sollen klar benannt sein:

Als Vorgabe gilt der Blick auf die deutschsprachige Literatur. Im Original nicht-deutsche Texte wurden nicht berücksichtigt.

Im Dienste der besseren Lesbarkeit wurden bei wenigen älteren Gedichten leichte Anpassungen im Hinblick auf Schreibweise und Zeichensetzung vorgenommen.

Einige biblische Gestalten oder Erzählungen blieben außen vor, weil sich – trotz intensiver Recherche und Sichtung – keine vier wirklich abdruckreifen Texte finden ließen.

Als weitere Einschränkung erwies sich die Konzentration auf höchstens vier Texte pro Dichter. Die Erfassung eines breiten Spektrums an Beiträgern war letztlich wichtiger als die Aufnahme wirklich herausragender weiterer Gedichte (etwa von Rainer Maria Rilke oder Else Lasker-Schüler).

24 alttestamentliche und 17 neutestamentliche Zugänge belegen so eindrücklich, was die anfangs zitierten Einschätzungen auf ihre Weise hervorheben: Die Bibel ist das Buch der Geschichten: zwischen Mensch und Mensch sowie zwischen Mensch und Gott. Sie drängen von innen heraus dazu, weitergeschrieben zu werden. Sie laden zu Ver-Dichtungen ein, in denen sich ihre Zeit, ihre Gesellschaft, das Leben Einzelner spiegelt. Immer wieder anders. Immer wieder neu.

1In diesem Buch wird – aufgrund der besseren Lesbarkeit – die Kurzform verwendet. Gemeint sind jedes Mal explizit Frauen und Männer.

Das Alte Testament

1 / Adam und Eva

Das erste Menschenpaar! Mehr als das einige Jahrhunderte später verfasste, die Bibel eröffnende ‚Sieben-Tage-Werk‘ hat es die Künstler und Dichter aller Zeiten fasziniert. Welche Vielfalt von archetypisch geformten Grundmotiven menschlicher Selbstdeutung findet sich in dieser ersten großen Erzählung des Buches Genesis: der Garten Eden als das Paradies, die Schlange, die Versuchung, der Fall, die Urschuld, die Selbst- und Fremderkenntnis, die Vertreibung!

Kaum eine biblische Erzählung ist so wirkmächtig in das kollektive Gedächtnis der Menschheit eingedrungen wie die von Adam und Eva. Keine andere ist in gleicher Weise so tragisch missverstanden worden wie in den Engführungen der so genannten ‚Erbsündenlehre‘, mit der diese Erzählung selbst kaum etwas gemeinsam hat. Nicht um fixierbar-eindeutige Lehren geht es den wunderbaren Erzählungen der ‚Urgeschichte‘ in Genesis 1–11, sondern um ein Umkreisen der unbeantwortbaren Grundfragen: Woher? Wohin? Warum so? Nicht Dogmen will die Bibel anregen, sondern immer wieder neu Identität stiftende Erzählungen und sinnbergende Gedichte.

Die ersten vier Texte dieses Buches zeigen gleich die Breite der möglichen poetischen Rezeptionsformen auf: Heinrich Heine (1797–1856) eröffnet den Blick auf die Deutungsvielfalt mit einem satirischen, frech und schräg gereimten Spottgedicht. Gegen alle theologischen Überlagerungen der Urgeschichte beharrt er auf seinem „Freiheitsrecht“, das ihm mehr wert ist als alle paradiesischen Beschränkungen. Ganz anders zeigt sich der Ton in Otto Julius Bierbaums (1865–1910) Gedicht. Ein hoher, ausschmückender, pathos-geladener Ton malt die „keusche Reine“ des Paradieses, der nur in einer unterschwelligen Ahnung Adams die Andeutung eines ersten Risses eingezeichnet wird. Christian Morgensterns (1871–1914) Doppelzeilengedicht begnügt sich demgegenüber mit einer pointierten, psychologisierend ausgemalten Nachzeichnung der Erzählung. Bei Rose Ausländer (1901–1988) schließlich fällt der Blick erstmals auf Eva, die Frau. Spielerisch-leicht – „wie ein Ball“ – verschiebt sich in ihrem Gedicht der Fokus auf das Erblühen der Sexualität, die ja erst im und nach dem vermeintlichen ‚Sündenfall‘ ihren Raum und Sinn fand.

Heinrich Heine

Adam der Erste

Du schicktest mit dem Flammenschwert

den himmlischen Gendarmen,

und jagtest mich aus dem Paradies,

ganz ohne Recht und Erbarmen!

Ich ziehe fort mit meiner Frau

nach andren Erdenländern;

doch daß ich genossen des Wissens Frucht,

das kannst du nicht mehr ändern.

Du kannst nicht ändern, daß ich weiß,

wie sehr du klein und nichtig,

und machst du dich auch noch so sehr

durch Tod und Donnern wichtig.

O Gott! wie erbärmlich ist doch dies

Konsilium abeundi!

Das nenne ich einen Magnifikus

der Welt, ein Lumen Mundi!

Vermissen werde ich nimmermehr

die paradiesischen Räume;

das war kein wahres Paradies –

es gab dort verbotene Bäume.

Ich will mein volles Freiheitsrecht!

Find’ ich die geringste Beschränknis,

verwandelt sich mir das Paradies

in Hölle und Gefängnis.

Otto Julius Bierbaum

Gott zeigt Adam das Paradies

Führt der gütestille Herr der Welten,

Ewig jung in seinem blonden Barte,

Vor das Blüheland der jungen Erde

Adam hin, den nackten braunen Knaben.

Zeigt ihm all die moosblühbunten Steine,

All die schönen Vögel, stillen Tiere,

All die weiten saftiggrünen Wiesen,

Berg und Tal und Busch und Baum und Wasser.

Alles liegt in frischer, keuscher Reine

Unterm silbergrauen hohen Himmel.

Und er spricht mit leisen Deuteworten,

Wie der Vater spricht zum kleinen Kinde,

Und er legt den Vaterarm um Adam.

Ängstlich vor dem Reichtum steht der Knabe,

Halbgebeugt vor dieser schönen Erde.

Hielt ihn nicht der Gottesarm, der linde,

Sänk er nieder auf den Schoß der Keime.

Ahnung senkte ihm ins Herz der Vater.

Christian Morgenstern

Adam und Eva

Adam und Eva stehen an dem Baum,

aus dem es ihnen rauscht wie Zukunftstraum.

Aus dunklem Laube zischt der Schlange Witz:

Wofern ihr esset, fährt in euch der Blitz.

Und Eva blickt auf Adam wie gebannt,

und Adam blickt auf Eva unverwandt.

Und wie die Augen ineinanderruhn,

da müssen sie das Ungeheure tun.

Sie hebt den Arm und biegt den Zweig zu ihm.

Von ferne blitzt das Schwert der Cherubim.

Erwählt den schönsten Apfel totenbleich.

Und beide essen von der Frucht zugleich.

Von ihrer Seele sinkt der Unschuld Flor.

Es wühlt die Flamme sich der Scham empor.

Die Hände kreuzend überm Schoß, so stehn

sie da, die sich zum ersten Male sehn.

Und Zwiespalt, ob er gehn, ob bleiben soll,

verwirrt sie, jeden, süß und wehevoll.

Da fällt ein großer Schatten über sie –

Und zitternd wendet sich zur Flucht ihr Knie.

Rose Ausländer

Eva

Sie gab ihm eine Aprikose,