Für Stephen, der immer an mich geglaubt hat.

Das wunderbarste Märchen ist das Leben selbst.

 

Hans Christian Andersen

1

Im Dezember des Kleinen Chamäleons

Eine Stunde nach dem Mord

In dem Zimmer, in dem sie ihn schließlich fanden, war es so kalt, dass sie sich anfangs fragten, ob er erfroren war. Das Gesicht so weiß wie Schnee, die Haut so kalt wie Frost, die Lippen so blau wie Eis. Sein Gesicht wirkte auf die Polizisten vollkommen friedlich. Als wäre er mitten in einem schönen Traum gestorben.

Wenn nur das Blut nicht gewesen wäre.

Blut erzählt immer eine eigene Geschichte.

2

Gespräch nach dem Prozess

[00:01:0300:02:54]

Dr. Foster: Geht es dir gut?

 

Ana: Mir tun die Handgelenke weh.

 

Dr. Foster: Die Wärter halten die Handschellen für nötig. Ich hoffe, du verstehst das.

 

Ana: [Schweigt.]

 

Dr. Foster: Brauchst du etwas, bevor wir anfangen?

 

Ana: Kann ich ein Glas Wasser haben?

 

Dr. Foster: Aber sicher. [Ins Mikrofon] Bringen Sie uns bitte ein Glas Wasser? Einen Viertelliter, mehr nicht. Danke. [Zu Ana] Wird gleich hier sein.

 

Ana: Danke.

 

Dr. Foster: Keine Ursache. Ist doch das Mindeste, was wir tun können.

 

Ana: Das stimmt.

 

Dr. Foster: Unser letztes Gespräch ist lange her.

 

Ana: Vierhunderteinundachtzig Tage.

 

Dr. Foster: Wie fühlst du dich?

 

Ana: So als ob ich hier fertig wäre.

 

Dr. Foster: Nur dies eine Mal noch, Ana. Dann lassen wir dich in Ruhe, versprochen.

 

Ana: Ich dachte, ich hätte alle Fragen beantwortet.

 

Dr. Foster: Wir brauchen immer noch deine Hilfe.

 

Ana: Warum sollte ich Ihnen helfen? Nach allem, was Sie getan haben.

 

Dr. Foster: Weil du damit das Richtige tust.

 

Ana: Sie meinen, weil ich keine andere Wahl habe?

 

Dr. Foster: Würdest du gern deine Schwestern sehen? Sie haben dich vermisst. Vielleicht könnte ich einen Besuch arrangieren, wenn wir hier fertig sind. Avery. Kaia. Grace. Auch Wren. Würdest du sie gern sehen?

 

Ana: [Leise] Was, wenn ich Nia sehen will? Und was ist mit Eve?

 

Dr. Foster: [Schweigt.] Ana, du weißt, dass das nicht möglich ist.

 

Ana: Warum fragen Sie mich nicht einfach, was Sie fragen wollen? Ich habe keine Lust auf Ihre Spielchen.

 

Dr. Foster: Meine Spielchen?

 

Ana: Sie grinsen. Was ist so lustig?

 

Dr. Foster: Das erfährst du gleich. Aber da ist noch eine Sache, die ich nicht verstehe.

 

Ana: Ich höre.

 

Dr. Foster: Was hast du mit der Leiche gemacht, Ana?

3

Im September der Schwarzen Strandammer

Zwei Jahre vor dem Prozess

Die Magnetbahn summt über mich hinweg. Für einen Augenblick, der so kurz ist, dass ihn nicht einmal eine Überwachungskamera einfangen kann, schließe ich die Augen, lasse den kalten Handlauf aus Aluminium los und frage mich, ob Fliegen sich so anfühlt?

Schwerelos. Atemlos. Frei.

»Ana?«

Ein kleines Mädchen sieht mich von der anderen Seite des Gangs mit großen Augen an. Ich mache rasch einen tiefen Knicks. »Oh … hallo. Wie heißt du denn?«

Das Mädchen grinst und entblößt eine Reihe makelloser kleiner Zähne. »Clara.«

Clara.

Sofort habe ich eine Melodie im Kopf.

Tschaikowski.

Dann flimmert ein holografisches Interface vor meinen Augen auf.

Ein kleines Mädchen in weichen rosa Ballettschuhen. Puppen, die im Mondschein zum Leben erwachen. Ein böser Rattenkönig. Und der schöne Prinz, der irgendwie alle retten muss.

Ein rotes Licht blinkt in meinem Sichtfeld, und ich lächele.

In der Magnetbahn ist mein Funksignal stark.

»Was für ein schöner Name«, sage ich zu dem Mädchen. »Er erinnert mich an mein Lieblingsballett.«

Ich winke sie zu mir, und sie stellt sich neben mich, während unsere Bahn leise am Himmel dahinsurrt. Dreihundert Meter unter uns, hinter Fenstern aus bruchsicherem Glas, zieht The Kingdom wie ein schöner Schleier aus Farben und Geräuschen vorüber. Wir schweben über tropischen Baumkronendächern, saftigem Safari-Grasland, prähistorischen Prärien, kristallklaren Mermaid Lagoon, extraterrestrischen Sternen und Monden. Und dann in der Ferne, hinter einer sanften Biegung, das Schloss. Seine eleganten silbernen Türme sind so schmal, dass sie wie Messer in die Wolken schneiden.

»Der Prinzessinnenpalast«, flüstert Clara. »Ist er wirklich aus Magie gebaut?«

»Schließ die Augen«, antworte ich lächelnd. »Wünsch dir etwas. Ich wette, es geht in Erfüllung.«

Clara wünscht sich ganz fest etwas, dann schlingt sie mir die Arme um die Taille.

Es gibt sehr viele Dinge im Königreich, die ich nicht mag, auch wenn ich es niemals sagen würde. Die lange Arbeitszeit. Die brütende Hitze. Die seltsame Leere, die ich jeden Abend empfinde, wenn unsere Gäste in die Welt da draußen zurückkehren. Aber all diese Dinge erscheinen unbedeutend in solchen Augenblicken der Verbundenheit.

»Okay, mein Schatz, das genügt«, sagt Claras Mutter. »Wir müssen jetzt gehen.« Sie macht Clara sanft von meiner Taille los. Mir fällt auf, dass sie mich mit dem gleichen vorsichtigen Gesichtsausdruck ansieht, mit dem die Verhaltensingenieure die gefährlicheren Hybriden im Park beobachten.

Mein Lächeln wird ein bisschen wärmer, und ich falte sanft die Hände, eine kaum merkliche Korrektur, die ihr zeigen soll, dass ich keine bösen Absichten habe.

»Ich möchte ein Foto«, sagt Clara. »Nur eins, bitte.«

Ich sehe das Staunen in ihren Augen, rieche die Freude auf ihrer Haut. Ich höre sogar die Begeisterung in ihrem Herzen. Ein rasches Pochen unter Haut, Blut und Knochen. Wie von einem kleinen, kraftvollen Motor in ihrer Brust.

»Nur eins«, wiederholt ihre Mutter. Aber sie sieht nicht wirklich erfreut aus.

Clara wirft erneut die Arme um mich. Ihre Wange hinterlässt einen Schweißfleck auf meinem Rock, und ich präge mir im Stillen ihren einzigartigen menschlichen Geruch ein. Erdbeeren, Kamille und Magnolie.

Dank Tausender kleiner Elektroden, die unter meiner Haut liegen, um unzählige äußere Reize aufzunehmen, kann ich ihr Lachen buchstäblich durch ihren ganzen Körper spüren.

»Bitte lächeln!«, sagt Claras Mutter.

»Happily ever after«, erwidere ich.

Dann taucht ein Blitz die Welt in weißes Licht. In The Kingdom – in meinem Königreich – ist Happily ever after das einzige Ende, das es gibt.

4

Gerichtsprotokoll

Bezirksgericht des 11. Gerichtsbezirks

LEWIS COUNTY, BUNDESSTAAT WASHINGTON

Rechtssache 7C-33925-12-782-B,

BUNDESSTAAT WASHINGTON, Kläger,

 

gegen

 

THE KINGDOM CORPORATION, Beklagte.

GESCHWORENENVERFAHREN

VORSITZ: RICHTERIN ALMA M. LU

AUSZUG AUS DEM PROTOKOLL

 

 

MS. REBECCA BELL, BEZIRKSSTAATSANWÄLTIN FÜR DEN LEWIS COUNTY: Dr. Foster, könnten Sie dem Gericht erläutern, worin Ihre Tätigkeit bei der Kingdom Corporation genau besteht?

 

DR. WILLIAM FOSTER, LEITER DER COMPLIANCE-ABTEILUNG DER KINGDOM CORPORATION UND CHEF-SUPERVISOR DER FANTASTEN- UND HYBRIDEN-PROGRAMME: Gewiss. Im Wesentlichen besteht meine Aufgabe darin, die Bereiche Sicherheit, Technologie und Erlebnisangebot im Park aufeinander abzustimmen. Unser Ziel ist es, nicht nur beste Unterhaltung zu bieten, sondern dabei auch ein Höchstmaß an Sicherheit zu gewährleisten.

 

MS. BELL: Überwachen Sie auch die Arbeit und das Verhalten der Angestellten?

 

DR. FOSTER: Das gehört dazu. Ich habe dafür zu sorgen, dass jeder Mitarbeiter der Kingdom Corporation International alle Grundsätze und Regeln des Unternehmens einhält.

 

MS. BELL: Stimmt es, was man über Ihr Einstellungsverfahren hört? Dass es leichter sei, eine Stelle beim FBI zu bekommen, als in The Kingdom?

 

DR. FOSTER: Wenn man der Beste der Welt sein will, braucht man auch die besten Mitarbeiter.

 

MS. BELL: Inwieweit sind Sie für das Fantasten-Programm zuständig, Dr. Foster?

 

DR. FOSTER: Ich bin in das Programm stark eingebunden, und zwar seit seiner Einführung vor siebzehn Jahren. Leistungsqualität und Kundenzufriedenheit werden von uns streng überwacht und laufend bewertet – unter Berücksichtigung der gesetzlichen Bestimmungen –, damit wir dem Kunden auch weiterhin ein sicheres Freizeiterlebnis bieten können, das er sonst nirgendwo findet.

 

MS. BELL: Mit anderen Worten, Sie setzen Forschung in Realität um. Sie machen die kühnsten Träume von Menschen wahr.

 

DR. FOSTER: Das haben Sie schön ausgedrückt, ja.

 

MS. BELL: Was würden Sie sagen, Dr. Foster: Haben Sie als Führungskraft in einem der technologisch modernsten, wenn nicht sogar dem modernsten Vergnügungsbetrieb der Welt die moralische Verpflichtung, für die Sicherheit und das Wohlergehen Ihrer Gäste zu sorgen?

 

DR. FOSTER: Die Sicherheit unserer Gäste stand bei uns immer an erster Stelle. Von Anfang an.

 

MS. BELL: Tatsächlich?

 

DR. FOSTER: Selbstverständlich.

 

MS. BELL: Wenn dem so ist … was machen wir dann hier?

5

Im September der Schwarzen Strandammer

Zwei Jahre vor dem Prozess

Meine Augenlider öffnen sich zuckend bei Tagesanbruch, obwohl ich gar nicht geschlafen habe.

Wir schlafen nicht, meine Schwestern und ich, jedenfalls nicht so wie Menschen.

Wir ruhen vielmehr.

Die Ruhestunden, wie Mutter sie nennt. Die Zeit zwischen Mitternacht und sechs Uhr früh, wenn wir reglos in unseren Betten liegen und mit geschlossenen Augen, aber wachem Verstand Systemdateien bereinigen, Updates installieren und die Ereignisse des Tages verarbeiten. Diese lange Ruhezeit kann für meine jüngeren Schwestern wegen ihrer schnelleren Download-Geschwindigkeit unangenehm werden – Zara und Zel stellen permanent Anträge auf eine Ausnahmeregelung und blitzen damit ab –, aber für mich sind die Ruhe und die Stille das Beste am ganzen Tag. Diese Stunden gehören mir, mir ganz allein. Ich kann die Werke von Shakespeare, Jane Austen und Tolstoi scannen. Ich kann Gemälde von Kahlo und Cassatt betrachten, Sinfonien von Bach und Mozart streamen oder mir das neueste Update Kantonesisch beibringen. Nacht für Nacht unternehme ich virtuelle Streifzüge und erkunde gefahrlos die Welt hinter unserem Tor, soweit es die Firewalls des Parks zulassen. Filme. Musik. Kunst. Wissenschaft. Literatur. Mathematik. Astronomie. Auf diese Weise bin ich über die Gräber alter Ägypter gewandelt, habe Streitwagen durch die Straßen Pompejis gelenkt und die 1710 Treppenstufen zur Spitze des Eiffelturms erklommen. Einmal bin ich sogar mit einer Rakete zum Mond geflogen.

Letzte Nacht bin ich nicht mit einer Rakete zum Mond geflogen. Letzte Nacht habe ich daran gedacht, was meiner Schwester Alice zugestoßen ist. An ihr eingeschlagenes Gesicht. Ihre Zerstörung. Die Gewalt, die ihr angetan wurde. Ihre blutigen Organe und zerfetzten Schaltkreise glänzen metallisch auf den Zeitungsfotos, die Mutter in ihrer Sammlung aufbewahrt, einem Buch mit wahren Geschichten, aus dem sie uns zur Mahnung ab und zu vorliest. Das tun sie euch in der Welt da draußen an, da draußen hinter dem Grünen Licht am Rand des Parkplatzes.

Alice war eine von den ersten Fantasten – ein schönes und beliebtes Modell aus Eves Generation, mehrere Jahrzehnte vor meiner Zeit. Aber ihr ist etwas Schreckliches passiert. Zuerst wurde sie von einem Besucher aus dem Park gelockt und entführt. Drei Tage später konnte sie fliehen und verlor bald darauf die Orientierung. Sie irrte allein durch die große Stadt, überall von den Geräuschen und Gerüchen menschlichen Lebens umgeben. Wir glauben, dass ihr System überlastet war. Sie konnte die Eindrücke nicht mehr richtig verarbeiten. Ihr GPS konnte sie nicht mehr nach Hause führen. Und dann war da diese Gang. Neugierige Blicke. Zudringliche Hände. Beleidigungen.

Die Menschen, die sie fanden, mochten sie nicht. Weil Alice keine von ihnen war.

Und auch wir sind es nicht.

An dem Tag, an dem sie Alice fanden, begann die Kingdom Corporation, das Eingangstor zu bauen.

Seitdem schließen wir den Park in unsere Dankesgebete ein, denn wir wissen, dass etwas so Furchtbares nie wieder einer von uns passieren kann. Wir sind jetzt sicher.

Die Supervisoren haben dafür gesorgt.

Der Arbeitstag beginnt heute wie immer mit dem Wecklicht, einem simulierten Sonnenaufgang, der unser Schlafzimmer über mehrere Minuten hinweg langsam erhellt, untermalt mit Vogelgezwitscher und dem leisen Klimpern von Windspielen. Mutter hat uns dazu ermuntert, in dieser Übergangszeit nicht miteinander zu sprechen, um ruhig und friedlich in den Tag zu starten. Kurz danach kommen die Helfer und bringen uns zur Dekontaminierung in die Duschen, wo man uns ausgiebig abschrubbt, die Haare wäscht und spült, die Haut peelt, Härchen zupft, rasiert und von Kopf bis Fuß eincremt. Nach dem Abtrocknen werden wir in weiche weiße Kleider gesteckt und in die medizinische Abteilung im fünften Stock gebracht, wo wir unsere Morgenration Nahrungsergänzungsmittel bekommen – wir können auch essen, müssen es aber nicht. Außerdem werden wir gewogen, einem Bluttest unterzogen und von unserem Chef-Supervisor gründlich untersucht, was unserem größtmöglichen körperlichen und seelischen Wohlbefinden dienen soll. Wir nennen ihn Daddy, obwohl er nicht unser Vater ist. Daddy hat sanfte Hände, ein warmes Lächeln und Augen, die mich ans Meer erinnern. Nicht dass ich das Meer jemals gesehen hätte – die Firewall blockt alle Bilder aus der Außenwelt, die uns aufregen könnten. Aber nach dem, was Mutter uns von früher erzählt hat, als das Meer noch nicht verseucht war, bilde ich mir ein, dass ich es mir vorstellen kann.

»Früher, Mädchen … früher waren die Meere so blau wie die schönsten Kornblumen und so klar wie das reinste Glas …«

»Guten Morgen, Ana.« Daddy summt eine hübsche Melodie, während er mir in die Augen leuchtet und meine Linsen auf Abnutzung untersucht. »Und wie geht es uns an diesem herrlichen Tag?«

Ich erwidere sein Lächeln.

Daddy ist beständig. Vertrauenswürdig. Ungefährlich.

Meine Schwestern und ich haben gelernt, dass das nicht für alle Männer gilt. Alice’ Schicksal hat gezeigt, was jemandem wie mir in der Welt hinter dem Tor passieren kann.

Nach beendeter Gesundheits- und Körperpflege gehen wir ins Beauty-Center, wo unsere Kosmetikerinnen – meine heißt Fleur – bereits warten. In den folgenden Stunden verwandeln sie uns von sieben grauen Mäusen in sieben Märchenprinzessinnen – Fantastinnen –, die der weiblichen Vollkommenheit näher kommen als alles, was die Welt jemals gesehen hat. Wir sind wunderschön. Wir sind charmant. Wir sind so bunt wie der Regenbogen, dazu geschaffen, die Verbundenheit zwischen den Völkern zu feiern und die Vielfalt der Welt, in der wir leben, widerzuspiegeln. Wir singen gern, lächeln gern, geben gern. Wir erheben nie die Stimme. Wir möchten immer gefallen. Wir sagen nie Nein, außer ihr wollt es. Euer Glück ist unser Glück.

Euer Wunsch ist uns Befehl.

Draußen vor dem Palast hat sich bereits eine Menschenmenge versammelt, als wir unseren Dienst antreten. Die Leute rufen unsere Namen, obwohl wir noch in dem überdachten Laufgang, einer dunklen Steinhöhle, verborgen bleiben.

»Ana!«, schreien sie. »Kala! Yumi! Eve! Zara! Pania! Zel!«

Die Besucher wissen das nicht, aber wir wohnen nicht im Prinzessinnenschloss. Wir haben nie dort gewohnt. Einem französischen Château aus dem 16. Jahrhundert nachempfunden, besitzt das Schloss einen gewundenen Wassergraben, zwei Steinbrücken und neun Erkertürme, die bis in die Wolken ragen. Es bietet Parkbesuchern die Gelegenheit, hautnah ein Stück Mittelalter zu erleben. Eine sorgsam überwachte Kombination aus Live-Darbietungen, Hybrid-Animatronik und virtueller Realität ermöglicht es Männern, Frauen und Kindern, unsere Welt und unsere Geschichten so zu erleben, dass sie das Gefühl haben, ein Teil davon zu sein.

Die Gäste speisen in großen, mit prächtigen Wandteppichen geschmückten Räumen, tanzen in exquisiten Ballsälen unter funkelnden Kronleuchtern, erkunden Geheimgänge und verborgene Gärten, schmieden und schwingen Schwerter, kämpfen mit Zauberern, flüchten aus Turmverliesen und steigen auf die Rücken feuerspeiender Drachen – wobei jede Sekunde in HD-Qualität aufgezeichnet wird, sodass sie am Ende des Tages einen abendfüllenden Fantasyfilm kaufen können, in dem sie selbst den Helden spielen (oder den Schurken, ganz nach persönlicher Vorliebe).

Auch wenn die sieben Schlafzimmer im Palast mit ihren eleganten Himmelbetten, großen Bogenfenstern und Zedernschränken voller Satinwäsche sehr schön sind, ziehe ich unser eigentliches Zuhause und seine Schlichtheit vor. Ein unscheinbares zwölfstöckiges Gebäude, das in der Nordwestecke von The Kingdom liegt, hinter dem Wald am Personalparkplatz und an der Straße nach Winterland, dem 400 Hektar großen, vollständig verglasten Arktis-Bereich des Parks. Die ersten elf Stockwerke beherbergen hauptsächlich Büros der Abteilungen Parkbetrieb, Strategie und Geschäftsentwicklung, Sicherheit, Wartung und Personalwesen. Meine Schwestern und ich wohnen im zwölften. Unser gemeinsamer Schlafsaal ist einfach, aber gemütlich: ein Raum mit sauberen weißen Wänden und Schränken, sieben ordentlich gemachten Betten, die unsere Vitalfunktionen wie Kreislauf, Körpertemperatur und Atmung überwachen, während wir schlafen, und einem einzelnen Fenster, das auf eine schöne Wiese mit violetten und blauen Wildblumen hinausgeht, die gleich hinter den Müllcontainern für Gefahrenstoffe beginnt.

Ein einfaches, aber glückliches Leben, wie Mutter sagt.

Schließlich schlägt die Uhr neun. Das Tor schwingt langsam auf. Und in Kleidern, die wie Sterne funkeln, treten wir hinaus in die Sonne zu unserem ersten von mehreren Meet & Greets heute Morgen und begrüßen die Gäste des Tages.

»Hoffnung«, flüstert unsere braunäugige, silberhaarige ältere Schwester Eve – ursprünglicher Prototyp des Parks und Erste Fantastin. Sie trägt ein Diadem, das sie bei der Zweihundertjahrfeier des Parks erhalten hat, einen kleinen, aus Kristall geschliffenen saphirblauen Vogel. Sie sieht mich an, aber ich wende mich ab. Ich gehe ihr aus dem Weg, seit ihr die Supervisoren bei unserer täglichen Kleiderwahl das Recht der ersten Wahl eingeräumt haben – heute hat sie sich natürlich mein Lieblingskleid ausgesucht, aus feiner spanischer Spitze in Chrom-Lila. »Dankbarkeit.«

»Dankbarkeit«, wiederholen wir alle leise, doch ich beiße dabei ein wenig die Zähne zusammen.

Nia drückt meine Hand besonders fest, bevor sie loslässt. Ich drehe mich zu ihr um, doch sie hat ihre meergrünen Augen bereits abgewendet und entfernt sich mit wehendem dunklem Haar. Ihr Haute-Couture-Kleid aus silbrig glänzendem Satin schillert wie Fischschuppen im hellen Sonnenlicht. Nach der Nixe Pania – oder kurz Nia – aus der Maori-Mythologie benannt, verbringt meine Lieblingsschwester einen Großteil ihrer Tage damit, an der Mermaid Lagoon von Sea Land das Publikum mit ihrem Gesang und Tanz zu verzaubern und in die kalten smaragdgrünen Tiefen zu tauchen.

Doch als ich Nia jetzt nachschaue und ihre verspannten Schultern bemerke, ihr gezwungenes Lächeln, da spüre ich, wie sich in meinem Betriebssystem eine Frage formt.

Es ist eine Frage, die ich noch nicht in Worte fassen kann.

Ich sehe zu, wie sich Nia unter die Menge mischt, dann abwendet und einen Gast anstrahlt. Es ist das letzte Mal, dass wir uns vor dem Abend sehen.

6

90-Sekunden-TV-Werbespot der Kingdom Corporation »Mutiges Mädchen«

 

 

IM FREIEN

 

Der Spot beginnt damit, dass ein furchterregender, feuerspeiender Drache im Turm eines Schlosses zwei Prinzessinnen fressen will. Zwei Ritter erscheinen zu Pferd und erheben die Schwerter.

 

1. MUTIGER RITTER

 

(Pathetisch)

 

»Fürchtet Euch nicht, schöne Maiden! Wir werden Euch retten!«

 

IM FREIEN

 

Bildwechsel ins wirkliche Leben: ein traumhafter Schlossgarten mit Baumhaus, Wasserrutsche und einem Plüschleguan, der auf einer sonnigen Fensterbank schlummert (der Drache). Zwei mutige Mädchen, die Yumi®- und Zara®-Kostüme tragen, dazu echte japanische Kimonos und nigerianische Perlenhalsketten, springen mit atemberaubenden dreifachen Salti aus dem Baumhausfenster und landen wie Kunstturnerinnen vor zwei kleinen Jungen, die als Prinzen verkleidet sind. Neben den Jungen stehen ein Mops und ein Golden Retriever (Pferde).

 

1. Kleiner Junge

 

(Macht ein erschrockenes Gesicht und lässt verzagt sein Spielzeugschwert sinken.)

 

»Hä?«

 

1. Kleines Mädchen [YUMI]

 

(Verschränkt die Arme.)

 

»Kommt schon, Jungs. Das weiß doch jeder, dass Prinzessinnen nicht gerettet werden müssen.«

 

Die Mädchen tauschen einen wissenden Blick, dann stehlen sie lachend die »Pferde« und rennen aus dem Bild. Der Spot geht über in eine emotionale, motivierende Bildfolge, die, musikalisch untermalt vom Single-Hit »Brave Girl« der Pop-Weltsensation Davida, starke Frauen aus aller Welt zeigt (Sportlerinnen, Tänzerinnen, Musikerinnen, Künstlerinnen, Wissenschaftlerinnen und andere). Am Ende des Spots erleuchtet ein Feuerwerk den Nachthimmel. Dann schwenkt die Kamera hinunter zum Schlossdurchgang, in dem sieben perfekte Mädchen in hinreißenden Kleidern stehen und einander an den Händen halten.

 

VOICE OVER

 

An alle mutigen Mädchen.

Euer Schloss wartet.

The Kingdom.

Die Zukunft heißt Fantastin®.

(Schwarzbild)

7

Gespräch nach dem Prozess

[00:04:1100:04:41]

Dr. Foster: Anscheinend hast du während der Haft so einiges gelernt.

 

Ana: Allerdings. Wussten Sie zum Beispiel, dass man eine ziemlich leckere Marinade bekommt, wenn man Traubengelee mit Ketchup mischt?

 

Dr. Foster: Eine Marinade?

 

Ana: Na ja, mehr eine süß-saure Soße. Zu Hühnchen.

 

Dr. Foster: Ich verstehe. Was hast du noch gelernt?

 

Ana: In Wasser eingeweichtes Cheddarkäse-Popcorn eignet sich hervorragend als Ersatz für Rührei. In der Gefängniskantine verkaufen sie es tütenweise.

 

Dr. Foster: Mir scheint, du hast dich verändert, Ana.

 

Ana: Das passiert, wenn man des Mordes angeklagt wird, Dr. Foster.

8

Im Oktober der Nordafrikanischen Kuhantilope

Dreiundzwanzig Monate vor dem Prozess

Aus Stunden werden Tage und aus Tagen Jahreszeiten. Winter, Frühling, Sommer und Herbst. Meine Schwestern und ich verteilen uns über The Kingdom wie Löwenzahnsamen im Wind – und die Frage, die mir im Kopf herumgeht, das Warnzeichen, dass mit Nia etwas nicht stimmt, verklingt zu einem fernen Raunen, das so leise ist, dass ich es nur im Dunkeln hören kann.

Tagsüber ist es komplett verschwunden.

Zwischen den Auftritten und Straßenumzügen, mit denen unser strenger Terminplan vollgepackt ist, dürfen wir uns frei bewegen – hier mal eine halbe, da mal eine ganze Stunde –, und an den Vormittagen schlendere ich meist durch die kopfsteingepflasterten Gassen von Magic Land, durch die ein süßer Duft von Milch und Gebäck weht, und besuche meine liebsten Sehenswürdigkeiten. Wie etwa die Königspalme, wo ich – nachdem ich beobachtet hatte, wie eine Mutter ihr weinendes Baby tröstete – zum ersten Mal das Gefühl von Wärme empfand. Nicht die Art von Wärme, die von den Temperatursensoren in meiner Haut erfasst wird, sondern eine Art Wärme von innen, die mich wie ein Sonnenstrahl durchströmte. Ich besuche auch den Märchen-Pavillon, vor dem ich – nachdem ich mit angesehen hatte, wie zwei Gäste unter Tränen ihr Eheversprechen erneuerten – zum ersten Mal ein angenehmes Flattern in der Brust verspürte. Oder die Kreuzung an der Ecke Bohnenstangen- und Rebstockweg, wo ich einmal einen kleinen Jungen davor bewahrte, in einen schnell fahrenden O-Bus zu laufen, und hinterher zum ersten Mal eine unbeschreibliche Leichtigkeit fühlte, als hätte ich mich in eine Feder verwandelt und schwebte im Wind davon.

An manchen Tagen denke ich mir zu dem, was ich erlebe, kleine Lieder aus.

Der Wunschbrunnen, wo ich mal zu Boden sank und einen Penny aus Kupfer fand!

»Der Zuckerbäcker backt superlecker, doch Guten Morgen sagt er nie!«

Während ich mein heutiges Vormittagsprogramm, bestehend aus Teezeremonien und Umzügen, absolviere, stelle ich mir selbst im Stillen Quizfragen zu bestimmten Details, die den meisten Gästen niemals auffallen würden. The Kingdom ist wie eine Erweiterung von mir selbst – jede Person, jeder Ort und jedes Ding ist ebenso ein Teil von mir wie meine Hände, meine Gedanken oder mein schlagendes Herz. Ich kenne den Duft jeder Blume. Die Form jedes Steins. Die Melodie jedes Liedes. Ich weiß, dass der Stahlkoloss über dreihundert Meter oder neunzig Stockwerke hoch ist, höher als jede andere Achterbahn auf der Welt. Ich weiß, wo das schönste Mondgestein in Star Land zu finden ist, einer interstellaren Simulation außerirdischen Lebens, die so lebensecht ist, dass die NASA bei der Ausbildung ihrer Astronauten neuerdings unsere Technologie benutzt. Ich kenne den Namen jedes gentechnisch veränderten Geschöpfs in Jungle Land, unserem biolumineszenten Regenwald, der Tier- und Pflanzenarten beherbergt, die auf der Erde sonst nirgendwo mehr anzutreffen sind, weil sie ausgestorben sind. Ich kenne den Geburtstag jedes Babys, das in der Neugeborenenstation für exotische Arten von Imagine Land auf die Welt kommt, wo Wissenschaftler des Parks ihrer Fantasie freien Lauf lassen und durch Kreuzung Hybrid-Arten züchten, die verrückter sind als alles, was Mutter Natur jemals hätte hervorbringen können. Elefanten mit Zebrastreifen. Eulen mit den Fangzähnen einer Katze. Wölfe, die so schnell sind wie Geparden. Araberpferde mit prächtigen, wunderschönen Schmetterlingsflügeln.

Flügelpferde nennen wir sie.

Ich kenne sogar bis auf den Meter genau jede Stelle im Park – und davon gibt es viele –, wo das Funksignal so schwach wird, dass unsere Netzwerkverbindungen und unser Livestreaming kurz zusammenbrechen. Mutter würde es zwar nicht gutheißen, doch meine Schwestern und ich machen uns gegenseitig auf solche Stellen aufmerksam und schicken Koordinaten hin und her, falls eine von uns tagsüber mal eine Weile ungestört sein möchte. Stellen wie der Märchenwald, wo die Bäume so hoch und dick sind, dass sie das Signal buchstäblich blockieren. Oder die Sea-Land-Arena, wo das WLAN die Wale stört. Oder das Arktis-Gehege im Norden und die angrenzende Sternwarte, wo wegen der großen Höhe und Kälte selbst die modernsten Router regelmäßig einfrieren. Und natürlich der Wald hinter dem Gebäude, in dem unser Schlafsaal untergebracht ist. Dort haben die Ratten fast alle Überwachungskameras im Umkreis von eineinhalb Kilometern zerkratzt und lahmgelegt.

Einmal habe ich zufällig gehört, wie ein Wartungstechniker zu einem anderen sagte, dass es reine Zeitverschwendung wäre, die Kameras zu ersetzen. Die Ratten, meinte er, zerstören die Kameras nämlich deshalb, weil sie es auf die Drähte und Fasern hinter dem glänzenden Glas abgesehen haben. Sie bauen daraus die Nester, in denen sie ihre Jungen aufziehen. Und es gibt keine Möglichkeit, sie davon abzuhalten.

Aber manchmal frage ich mich, ob nicht mehr dahintersteckt. Dann stelle ich mir vor, dass die Ratten gelernt haben, in den Objektiven ihre Spiegelbilder zu sehen, und sich darin erkennen. Und ich frage mich, ob das nicht schon ausreicht, um sie verrückt zu machen.

Ich sehe sie manchmal nachts um Ecken huschen, in Gullys krabbeln, in der Dunkelheit verschwinden, als wären sie ein Teil von ihr. The Kingdom tut, was es kann, um das Problem in den Griff zu kriegen, doch mit der Zeit haben die Ratten eine erstaunliche Immunität gegen Gift entwickelt, und Versuche, sie auszumerzen, bringen nicht wirklich viel.

Zum Glück verkriechen sie sich tagsüber und bleiben in den Abwasserkanälen unter dem Park, in die hinabzusteigen für uns, wie Mutter sagt, zu gefährlich wäre.

Eve behauptet natürlich, dass sie schon einmal unten war. Sie mag die kühle, feuchte Luft unter der Erde, sagt sie. Das Echo ihrer Schritte, das vom glatten Beton widerhallt. Den Anblick der Glut in der Verbrennungsanlage.

Sie ist so schön, Ana. Wie leuchtende kleine Sterne.

Ich glaube, dass Eve lügt.

Denn die Ratten haben keine Angst vor uns. Sie erkennen uns nicht am Geruch. Und sie sind unberechenbar. Wilde Tiere halten sich nicht an die Gesetze des Parks wie unsere Hybrid-Tiere.

Diese Gesetze sind es, die uns schützen.

 

Nach dem Nachtgebet und unserem allabendlichen Gedenken an Alice gehe ich ins Bett und warte darauf, dass Mutter mich zudeckt. Als ich sie schließlich neben mir stehen sehe und die vertrauten Samtbänder spüre, die sich fest um meine Handgelenke legen, schließe ich die Augen, stoße einen tiefen Seufzer aus und lasse den Stress des Tages von mir abfallen.

»Ana?«, flüstert Nia, sobald Mutter weg ist, und ich gucke im Dunkeln zu ihr hinüber.

»Warum verlassen die Rotkehlchen ihre Nester nicht?«, fragt sie. Ihr dunkles Haar liegt wie hingegossen auf dem Kissen, und ich kann hören, dass sie mit den Anhängern an ihrem Lieblingsarmband spielt. Eine Muschel. Ein Delfin. Ein kleiner goldener Seestern. »Warum fliegen sie nicht weg, Ana?«

Ich weiß, was sie eigentlich wissen will.

Warum gehen wir nicht weg?

Vor Jahren haben meine Schwestern und ich eine neue Art der Verständigung erfunden, eine eigene Geheimsprache, damit wir jederzeit über unerlaubte Themen miteinander reden können, ohne von den Supervisoren belauscht zu werden.

Die Supervisoren belauschen uns nämlich ständig.

Und sie beobachten uns permanent durch unsere individuellen Livestream-Augenkameras.

Mithilfe der satellitengestützten GPS-Navigations-Chips, die in unsere Handgelenke eingepflanzt sind, können sie uns überallhin folgen.

»Weil sie Nesthocker sind«, flüstere ich zurück. »Weil das Nest sie schützt.«

Weil wir geliebt werden. Weil wir auserwählt wurden.

Und natürlich, auch wenn ich es nicht laut sage: wegen der Sache, die Alice passiert ist.

Nia ist noch neu. Sie ist erst vor zehn Monaten, im September des Darwin-Fuchses, zu uns gekommen. Deshalb kann ich ihre Neugier gut verstehen. Sie hat noch nichts aus Alice’ Schicksal gelernt.

Früher ging mir der Park-Alltag auch manchmal auf die Nerven. Immer die gleichen ungezogenen Kinder. Immer die gleichen Väter, die uns anstarren, wenn ihre Frauen nicht hinschauen. Trotzdem lösen Nias Fragen bei mir immer ein unangenehmes Gefühl aus. Ähnlich dem leichten Brennen, das ich unter der Haut spüre, oder dem heiß-kalten Schauer, der jedes Mal durch meine Adern rieselt, wenn ich mich zu nahe an den Zaun des Parks heranwage – zu nahe an das Tor.

»Aber wenn sie nicht genug Futter suchen können, wie sollen sie dann den Winter überleben?«

Wenn die Menschen jenseits der Grenzen von The Kingdom so arm sind, wie können sie sich dann die teuren Eintrittskarten leisten?

»Sie sammeln seit vielen Jahreszeiten Körner und Samen, Nia. Okay?«

Ich hoffe, sie wird wie ich eines Tages lernen, nicht an die Welt hinter dem Parkplatz und hinter dem Grünen Licht zu denken. An die Kontrollstellen und die Elendsviertel. Die Gewalt und die Armut. Die Korruption und die Angst. Die Geschichten, die Mutter und Daddy uns erzählt haben, erwähnen wir nie vor unseren Gästen, die hart arbeiten und große Opfer bringen, um uns zu sehen. Sie sind einfach zu schrecklich, um darüber zu sprechen, und wir, als Fantastinnen, müssen von Angst und Schrecken, Hässlichkeit und Grauen ablenken.

In meiner Welt ist »Happily ever after« nicht bloß ein Versprechen, sondern Gesetz.

Wenn also meine kleine Schwester jeden Morgen über das kalte Wasser in der Mermaid Lagoon oder ihre wund gescheuerten Handgelenke jammert, dann erinnere ich sie daran, was für ein Riesenglück wir haben und wie sehr wir geliebt werden.

»Aber woher weiß ein Bär, dass Honig süß ist?«, fragt Nia mit leiser Stimme. »Woher weiß es der Bär, wenn er noch nie einen Bienenstock gefunden hat?«

Woher weißt du, dass es wirklich Liebe ist, wenn du noch nie verliebt warst?

»Ganz einfach.« Ich winde mich in meinen Bettfesseln, bis ich im Dunkeln ihre Hand gefunden habe. »Wäre er nicht süß, dann wären alle Bienen fortgeflogen.«

Würden sie uns nicht lieben, hätten sie niemals das Tor gebaut.

9

Offizielles Gerichtsdokument Nr. 19A

Von: Proktor 1A – Abteilung Fantasten <proc1A@kingdomcorp.com>

An: alle Mitarbeiter – Abteilungen Sicherheit & Ausbildung <stdirect@kingdomcorp.com>

Betreff: Ana

Datum & Uhrzeit: 8. September, 2:32 p.m.

 

Ana besitzt eine ausgeprägte Naturverbundenheit und verwendet einen Großteil ihrer Freizeit darauf, mit Vertretern vormals ausgestorbener Arten im Park zu interagieren [sie spricht mit ihnen, singt ihnen vor, striegelt sie, füttert sie und reagiert in angemessenem Rahmen auf ihre programmierbaren Gefühlsäußerungen – Zuneigung, Angst, Freude, Schmerz usw.].

Obwohl sich diese besondere Neigung bisher nicht negativ auf ihre Gesamtbeurteilung als Fantastin auszuwirken scheint (auf der Bewertungsskala erreicht sie regelmäßig durchschnittlich 92 Punkte), sollten wir vielleicht darüber nachdenken, ob wir ihre Vorliebe für Tiere nicht als Motivationsanreiz nutzen, um ihre Interaktion mit den Gästen zu verbessern und ihre soziale Entwicklung weiter zu fördern.

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Gerichtsprotokoll

MS. BELL: Mr. Casey, würden Sie bitte Ihren Hut abnehmen?

 

MR. CAMERON CASEY, EHEMALIGER CHEFTRAINER IM EAA- UND HYBRIDEN-PROGRAMM DER KINGDOM CORPORATION: Jawohl, Ma’am. Bitte vielmals um Entschuldigung, Euer Ehren.

 

DAS GERICHT: Ms. Bell, bitte fahren Sie fort.

 

MS. BELL: Mr. Casey, wie lange waren Sie im Kingdom beschäftigt?

 

MR. CASEY: Ich bin gleich nach der Schule eingestellt worden, also vor knapp zehn Jahren.

 

MS. BELL: Und in dieser Zeit waren Sie ausschließlich als Tiertrainer tätig?

 

MR. CASEY: Ja.

 

MS. BELL: Ist das immer Ihr Berufswunsch gewesen? Mit Tieren zu arbeiten?

 

MR. CASEY: Mein Leben lang.

 

MS. BELL: Mit ganz bestimmten Tieren?

 

MR. CASEY: Hauptsächlich mit Raubtieren. Bären. Wölfen. Großkatzen – Tigern, Löwen, Leoparden. Denen kann keiner blöd kommen, das gefällt mir. Niemand sagt ihnen, was sie zu tun haben.

 

MS. BELL: Haben Sie ihnen nicht gesagt, was sie zu tun haben?

 

MR. CASEY: Na ja, schon …

 

MR. ROBERT HAYES, HAUPTVERTEIDIGER DER KINGDOM CORPORATION: Einspruch. Das tut nichts zur Sache.

 

DAS GERICHT: Stattgegeben.

 

MS. BELL: Mr. Casey, sind Sie bei der Arbeit jemals verletzt worden?

 

MR. CASEY: Nein. Ich bin angefaucht, gebissen und gekratzt worden, aber es war nie etwas Ernstes. Ich habe diese Hybriden von klein auf großgezogen. Sie haben mich respektiert. Sie haben mir vertraut. Sie haben mich geliebt.

 

MS. BELL: Wollen Sie damit sagen, Sie glauben, dass alle Hybrid-Arten des Parks Gefühle haben? Sie glauben, dass sie Zuneigung empfinden können?

 

MR. CASEY: Ich denke, ich wollte damit sagen, dass sie es verstanden haben, mir zu gehorchen.

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Im November des Eisbären

Zweiundzwanzig Monate vor dem Prozess

Der Berg ist hoch, und wir schweben im Sessellift mit baumelnden Füßen weiter dem Sugar Summit entgegen, dem berühmten Indoor-Berggipfel von Winter Land, der erfahrenen und unerfahrenen Abenteuerlustigen jede Menge bietet: familienfreundliche Anfängerhänge, Pulverschneeabfahrten für Snowboarder und tückische schwarze Pisten mit hohem Schwierigkeitsgrad – und alles in einer unberührten Winterlandschaft, wie sie die meisten Leute außerhalb des Parks nie erlebt haben und auch nie erleben werden.

Mutter sagt, dass es draußen, hinter dem Grünen Licht, für Schnee zu warm geworden sei.

»Wie hoch geht es denn noch?«, fragt Kaia leise, obwohl sie den Gipfel genauso gut sehen kann wie ich. Im lavendelfarbenen Dämmerlicht sieht sie wie ein Engel aus, in ihrem Dekolleté funkeln kleine hellrosa Kristalle.

»Wir sind gleich da«, antworte ich. Ich finde es schade, dass Nia nicht mitgekommen ist. Aber sie hat sich nie so für neugeborene Hybriden interessiert wie ich.

Ich atme die eisige Luft ein. Sie riecht lecker nach warmem Kakao.

Viele Meter unter uns galoppieren Gäste auf scheckigen Islandpferden durch den Schnee oder trinken in gemütlichen Berghütten heiße Schokolade. Andere baden in heißen Quellen, laufen Schlittschuh auf gefrorenen Teichen oder entspannen sich im Crystal Château, einem luxuriösen Kurbad, das ganz aus Eis erbaut ist. Selbst der Abendhimmel ist hier magisch, eine Simulation des Sonnenspektrums in elektrischen Blautönen und Plasmagrün, die in unterschiedlichen Nuancen über uns tanzen und wirbeln.

Ich gucke wieder nach unten, als ich ein Warnsignal aus meinem System empfange.

Es ist kaum zu glauben, aber irgendwo da unten, verborgen im Schnee, lauert ein wildes Tier – ein Geschöpf, das hier nicht willkommen ist. Ein kleiner, räudiger Wolf, hat einer der Wächter gesagt, der nicht bemerkt hat, dass ich lausche. Oder vielleicht ein Fuchs. Tollwütig. Bissig. Gefährlich.

Muss sich irgendwo am Tor ein Loch gebuddelt haben. Nervt das gesamte Säbelzahntiger-Gehege.

Ich zoome mit den Linsen so weit wie möglich an die Bergflanke heran und suche sie sorgfältig ab, ohne genau zu wissen, wonach. Als ich mehrere kleine Tierkadaver entdecke – dem Aussehen nach Kaninchen – und dann eine rote Spur, die in den verschneiten Wald führt, stöhne ich laut auf und rutsche näher zu Kaia hinüber. Ich bin so gebaut, dass ich Minusgrade aushalte, wie sie nirgendwo auf der Erde vorkommen und früher, vor dem Schmelzen der Polkappen, nicht einmal in den kältesten Antarktis-Nächten erreicht wurden. Aber heute Abend ist es nicht die eisige Luft, die mich erschaudern lässt, sondern die Vorstellung, dass uns aus dem Wald da unten glühend gelbe Augen belauern.

Ich atme mehrmals tief durch und erinnere mich selbst daran, dass unsere Mühe belohnt wird, sobald wir unser Ziel erreicht haben.

Sobald wir ihn zu sehen bekommen.

Ursus maritimus.

Einen Eisbären.

Den ersten seiner Art seit über fünfzig Jahren.

Bekannt für seine zukunftweisende Forschung, seine erstklassige interaktive Technologie und sein engagiertes Eintreten für den Naturschutz, ist das Kingdom nicht nur für die größten und besten Achterbahnen und Fahrattraktionen weltweit verantwortlich, sondern hat es sich auch zur Aufgabe gemacht, den bedrohtesten Tierarten der Erde, von denen viele in der freien Natur nicht mehr zu finden sind, zu neuem Leben zu verhelfen. In den Jahren seit meiner Ankunft im Juni des Fleckenkauzes hat unser Team aus hochklassigen Wissenschaftlern jeden Monat eine EAA, eine Ehemals Ausgestorbene Art, in unserer Kingdom-Familie begrüßen können.

Vögel. Fische. Amphibien. Säugetiere. Beuteltiere. Reptilien.

Wir haben sogar einen Dinosaurier, wenn auch einen kleinen, der nicht größer ist als ein Huhn.

»Bist du sicher, dass uns Mr. Casey reinlässt?«, frage ich Kaia, während über uns die Sterne funkeln und überall in The Kingdom Glocken das Ende des Tages einläuten. »Sie schließen bald.«

Kaia hat die Augen zu. Sie leidet unter Höhenangst. »Er hat gesagt, dass ich später kommen soll«, sagt sie. »Und dass ich eine Freundin mitbringen soll.«

Ich kann nicht sagen, was mich an dem Bären so begeistert – ich mag eigentlich alle Tiere gern –, aber irgendwie ist sein Erscheinen etwas ganz Besonderes. Vielleicht liegt es an dem Märchen, das uns Mutter vor Jahren vorgelesen hat. Es handelt von einer Prinzessin, die von einem goldenen Kranz träumt, und einem weißen Bären, der ihn ihr bringt. Aber vielleicht liegt es auch daran, dass der letzte Winter-Land-Neuzugang, ein Narwal, gestorben ist, bevor er ausgewachsen war. Dieses Jungtier kommt mir wie ein Neuanfang vor.

Dann setzt uns der Lift ab, und wir stapfen durch den knirschenden Kunstschnee zum Arktis-Haus, in dem jetzt keine Gäste mehr sind. Bis auf das friedliche Blau des Beckens ist es drinnen dunkel, und noch im selben Moment, als ich durch die automatische Glastür trete, bin ich davon überzeugt, dass das Eisbärenjunge das schönste Geschöpf ist, das ich jemals gesehen habe.

Es schlummert auf einem Felsvorsprung direkt hinter der Scheibe, und sein Hybrid-Fell strahlt so weiß, dass es aus Schnee sein könnte.

Ich brauche gerade mal drei Sekunden, um mir jedes Körperteil einzuprägen, von den kleinen quadratischen Tatzen über die herzförmige Nase bis zu dem dicken Bäuchlein, das bei jedem Atemzug leicht anschwillt. »Hallo, Kleiner«, flüstere ich und lege die Handflächen an die kalte Scheibe. »Willst du mein Freund werden?«

»Sieh mal einer an, da seid ihr ja endlich«, ertönt plötzlich eine Stimme hinter uns. Ich erkenne sie sofort. Sie gehört Cameron Casey, einem Tiertrainer aus Texas mit schokoladenbraunem Haar, smaragdgrünen Augen und einem Lächeln, das so strahlend und ebenmäßig ist, dass man glauben könnte, er wäre mit Absicht so designt worden. »Ihr kommt spät, Ladys«, sagt er und zwinkert uns dabei zu. »Ich habe fast nicht mehr mit euch gerechnet.«

»Auch Wunder brauchen ihre Zeit«, erwidert Kaia und klimpert mit den Wimpern.

Es ist ein Standardspruch, aber Mr. Casey lacht, als hätte er ihn noch nie gehört. »Du bist mir vielleicht eine, Kaia«, sagt er und küsst sie auf die Wange. »Das muss ich dir lassen.«

Sie kichert. »Man braucht keine Flügel, um zu fliegen.«

Sie ist ein gutes Mädchen, aber sie gehört zu den älteren Modellen und gibt ständig nur vorgeschriebene Sprüche von sich, statt sich mal etwas Eigenes auszudenken, was sie bei den The Kingdom-Besuchern unter sieben Jahren aber sehr beliebt macht.

Manchmal sagen meine Schwester hinter ihrem Rücken gemeine Dinge über sie. Dass ihre Hardware defekt sei. Dass ihre Prozessoren langsam sind. Oder Schlimmeres.

»Die Investoren scheint ihr Geplapper bei ihren vierteljährlichen Klausuren nicht zu stören«, habe ich Eve einmal sagen hören, als sie in ein Abendkleid in Illusionsblau schlüpfte, einer Farbe, die deshalb so heißt, weil sie sich im Mondlicht verändert. »Obwohl sie dort vielleicht gar nicht viel reden.« Sie lachte. »Nicht dass Kaia sich daran erinnern würde.«

Ich weiß nicht, was Kaias Gedächtnis damit zu tun hat, und ich finde auch nicht, dass sie langsam ist. Ich glaube, sie ist schlauer als wir alle und geht nur gern auf Nummer sicher. Im Übrigen sollte Eve aufpassen, was sie sagt. Von uns sieben hat sie die älteste Technologie und somit auch die fehleranfälligste. Sollte bei einer von uns ein kompletter Systemaustausch fällig werden, dann bei ihr.

Mr. Casey ruckt mit dem Kopf in meine Richtung. »Warum hast du nicht die sexy Meerjungfrau Pania mitgebracht, sondern die da?«, fragt er Kaia leise, allerdings nicht so leise, dass ich es nicht hören kann. Ich höre nämlich ausgezeichnet, besser als jeder Mensch und jedes Tier.

Es macht mir nichts aus, dass Mr. Casey Nia lieber mag – ihr silbernes Haifischhaut-Kleid ist in dieser Saison besonders hinreißend. Aber ich werde nie begreifen, was die Leute an Meerjungfrauen so fasziniert. In Sagen und Märchen sind Meerjungfrauen überhaupt nicht süß, freundlich oder nett, sondern Monster, die Seeleute mit ihrer Schönheit und ihrem Zauber aufs Meer hinaus locken, um sie zu quälen. Sie zu ertränken. Sie zu fressen.

»Er ist großartig«, sage ich laut und ringe mir in der Hoffnung, Mr. Casey freundlich zu stimmen, ein Lächeln ab. »Wie alt, sagten Sie, ist er?«

Es klappt. Mr. Casey wird entspannter. Man kann sagen, was man will, aber er liebt seinen Beruf. »Knapp vier Monate. Der kleine Teufel hat sich mit Robbenfleisch den Bauch vollgeschlagen. Deshalb ist er so müde. Aber keine Sorge, er wird bald wieder aufwachen und um Nachschub betteln.« Unvermittelt pocht er gegen die Scheibe. Ich folge seinem Blick und bemerke im Gehege einen Wartungsarbeiter, der vornübergebeugt schmutzigen Schnee auf eine Rutsche schaufelt, die, wie ich weiß, in die Verbrennungsanlage tief unter The Kingdom führt. »Hey, Chen! Vergiss nicht, das Wasser aufzubereiten. Es sieht grün aus, und morgen werden in aller Herrgottsfrühe Journalisten hier aufkreuzen.«

Mir fallen sofort die dunklen, schrägen Augen des jungen Mannes auf. Eine kleine Narbe über seiner Oberlippe. Schwarzes Haar glänzt im Licht wie das Gefieder eines Raben. Irgendwie kommt er mir bekannt vor, obwohl mir klar ist, dass er ein neuer Mitarbeiter sein muss.

Doch ich vergesse nie ein Gesicht.

»Hast du gehört, was ich gesagt habe?« Mr. Casey schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, als der andere ihn nur anstarrt.