Das Glas,
das Blei und Gold beschert

 

 

 

 

Für Keith John Mastrorocco,
der diese Geschichte inspiriert hat.

 

Es hatte die ganze Nacht geschneit. Die Flocken waren so dicht auf Londra herabgewirbelt, als fielen die Sterne vom Himmel, um die Stadt für den Weihnachtsabend zum Strahlen zu bringen. Der Schnee hatte das Kopfsteinpflaster mit einem Teppich bedeckt, der all die Geräusche dämpfte, mit denen Londra erwachte, und so weich war, dass Tabetha fast vergaß, wie kalt er sich unter ihren ausgetretenen Schuhen anfühlte. Die engen Gassen, die sie hinunter zum Flussufer nahm, waren dieselben wie jeden Tag, aber die schäbigen Häuser, die sie säumten, sahen an diesem frühen Morgen aus, als gehörten sie ins Schaufenster eines Bäckers: mit Dächern aus Zuckerguss und Schornsteinen, die Puderzucker in den sich langsam aufhellenden Himmel bliesen. Für einen Augenblick konnte Tabetha fast daran glauben, dass der Schnee, wenn er wieder schmolz, all die Hässlichkeit und Traurigkeit, die unter ihm lag, mit sich nehmen würde. Vielleicht würde Londra sich dann endlich als der strahlende, magische Ort zeigen, von dem ihre Mutter ihr jeden Abend erzählt hatte, als sie noch in dem Dorf an der Küste gelebt hatten.

Tabetha dachte nicht mehr oft daran zurück. Die zugigen Katen am Strand eines grauen Meeres, die Netze, die sie ihrem Vater geholfen hatte zu flicken, die Fische, die zusammen mit Seesternen und winzigen Seepferdchen ihren letzten Atemzug auf den Planken seines Bootes getan hatten – all das schien so unwirklich wie die schneebedeckten Häuser, an denen sie vorbeiging. Ihr Vater war kurz nach ihrem siebten Geburtstag ertrunken, und ihre Mutter hatte die Taschen gepackt, um ein neues Leben in Londra zu beginnen, in jener weit entfernten, von Licht und Gelächter erfüllten Stadt, von der sie Tabetha so oft erzählt hatte. Aber sie hatten schon sehr bald herausgefunden, dass das Licht und das Gelächter so teuer kamen, dass nur die reichen Bewohner Londras den Preis bezahlen konnten.

Ihre Mutter war zwei Jahre nach ihrer Ankunft gestorben. Sie war am Ende selbst kaum mehr gewesen als eine der Geschichten, die sie so gern erzählt hatte – Märchen, zu schön, um wahr zu sein, inmitten all der Armut und Dunkelheit, die ihre Tochter seither erfahren hatte. Es war nicht leicht, elternlos in Londra zu überleben, doch in drei Tagen würde Tabetha Brown ihren fünfzehnten Geburtstag begehen. Sie hatte sich zur Feier ein kleines Stück Kuchen versprochen, aber noch musste sie das Geld für solch einen Luxus verdienen.

Mit dem Erwachsenwerden wurde das Leben einfacher. In den ersten Jahren nach dem Tod ihrer Mutter war Tabetha oft so hungrig gewesen, dass sie versucht gewesen war, in in ihr Dorf zurückzukehren. Doch dann hatte sie sich daran erinnert, wie oft ihr Großvater ihre Mutter angeschrien und sie die Schläge seiner rauen Hand auf ihrem Gesicht gespürt hatte oder seinen Stock auf ihrem Rücken. Nein. Das Leben war überall schwer und Londra war nun ihr Zuhause.

Sie hob einen Stein auf und scheuchte eine magere Katze von einer kleinen Gestalt fort, die ausgestreckt im Schnee lag. Es war ein Hob, dem die Kälte die dünnen Arme und Beine stocksteif gefroren hatte. Die winzigen Männer und Frauen waren in Londra beinahe so zahlreich wie Mäuse und Ratten in den armen und reichen Vierteln der Stadt. Hobs wurden nicht viel größer als Krähen und konnten ziemlich mürrisch sein, aber sie waren fleißige Arbeiter. Als Bezahlung für ihre Dienste verlangten sie meist nur ein altes Hemd oder einen Mantel, um sich Kleidung daraus zu schneidern, etwas zu essen für ihre Familien – die, zugegeben, recht groß ausfallen konnten – und eine Behausung unter einer Treppe oder einem Schrank. Sie arbeiteten in Restaurants und Fabriken und in den großen Herrenhäusern auf der anderen Seite der Stadt. Die Dankbarkeit, die sie verdienten, wurde ihnen jedoch nicht immer zuteil, und gerade im Winter fand man viele von ihnen tot auf den Straßen.

Dieser hier atmete noch, also lehnte Tabetha das winzige Geschöpf gegen das Schaufenster eines Ladens, in der Hoffnung, dass die Wärme, die durch die Glasscheibe drang, ihm den Frost aus den Gliedern treiben würde.

Kurz nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie für einen Schornsteinfeger gearbeitet, der sie so viele Schornsteine hatte hinaufklettern lassen, dass ihre mageren Beine schon bald mit Ruß und Narben übersät gewesen waren. Sie war sicher gewesen, dass sie enden würde wie all die anderen Kinder, die die Schornsteinfeger in ihre Dienste zwangen. Irgendwann rutschten sie ab und brachen sich das Genick. Aber bevor das geschah, hatte eine Hobfamilie ihr zur Flucht verholfen. Diese Freundlichkeit hatte sie ihnen nie vergessen.

Dem Schornsteinfeger war nie aufgefallen, dass sie ein Mädchen war. Es war für niemanden leicht, in Londra zu überleben, aber für Frauen war es fast unmöglich – das elende Schicksal ihrer Mutter war trauriger Beweis dafür gewesen –, also trug Tabetha ihr Haar kurz und kleidete sich wie ein Junge. Anfangs hatte sie ihr langes Haar und ihre Kleider vermisst, doch inzwischen waren ihr die Hosen und Hemden, die sie trug, lieber – auch wenn sie immer mehr Lumpenschichten tragen musste, um ihre Brüste zu verbergen.

Fünfzehn … nein, das Leben würde nicht viel leichter werden.

Sie fand drei weitere Hobs, bevor sie die steile Treppe erreichte, die zum schlammigen Ufer der Temse hinabführte, und gleich neben den Stufen eine einzelne Münze, die im Schnee funkelte wie ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk. Das war ein guter Auftakt für einen Tag, der sie gewöhnlich traurig machte. Vielleicht würde sie sich nun sogar endlich ein Paar alte Schuhe von dem Leprechaun kaufen können, der unter der Treppe des Theaters hauste, in dessen zugigem Hinterhof sie nachts Unterschlupf fand.

Schon zwei Dutzend Schlammlerchen waren an diesem frühen Weihnachtsmorgen damit beschäftigt, das gefrorene Flussufer nach Kupferdraht, alten Münzen und anderen Dingen abzusuchen, die sich verkaufen ließen. Tabetha kannte sie alle. Die meisten waren deutlich älter als sie. Das Schlammlerchenhandwerk war kein gesundes Geschäft: Der vor Schmutz starrende Matsch reichte ihnen oft bis zu den Knien und schon die kleinste Wunde konnte tödliche Infektionen verursachen. Dann waren da noch die Gezeiten. Tabetha hatte mit eigenen Augen gesehen, wie die steigende Flut eine alte Frau und ihren Sohn davongerissen hatte. Aber das Flussufer war ein gefährlicher Ort, selbst wenn Ebbe herrschte und der Schlamm wie an diesem Morgen gefroren war, denn es war das Jagdgebiet von Wassermännern und Kelpies, ganz zu schweigen von betrunkenen Matrosen, Elfenstaub-Dealern und Schmugglern aller Art.

Keiner der anderen Schlammlerchen ahnte, dass Ted, wie Tabetha sich gewöhnlich vorstellte, ein Mädchen war. Sie hielt sich ohnehin von den anderen fern, denn sie war sicher, dass jeder Einzelne sie bestehlen würde, falls sie ihnen die Gelegenheit gab. Man konnte niemandem trauen. Niemandem. Sie hatte nur überlebt, weil sie das nie vergaß.

Als Tabetha den Fuß der Treppe erreichte, fiel ihr eine unvertraute Gestalt auf: ein untersetzter Mann mit sich lichtendem Haar, der für eine Schlammlerche viel zu gut gekleidet war. Er drückte Limpey gerade einen Zettel in die Hand. Vielleicht war er ein Prediger, der sie alle davon überzeugen wollte, morgen zum Weihnachtsgottesdienst in irgendeine Kirche zu gehen. Einige der anderen würden einer solchen Einladung sicher nachkommen, denn sie waren alle sehr talentierte Taschendiebe. Tabetha hatte sich in dem Gewerbe auch versucht, aber das Stehlen erfüllte sie mit Scham, während sie auf die Dinge, die sie im Flussschlamm fand, oft sehr stolz war. Sie waren so verwaist und angeschlagen wie sie selbst, aber sie hatten den Fluss überlebt, sie hatten einen weiten Weg hinter sich, und sie alle hatten ihre eigene Geschichte zu erzählen.

Keiner der anderen Schlammlerchen hatte Tabethas Geduld, wenn es darum ging, das Ufer abzusuchen, oder ihre scharfen Augen, wenn es galt, in dem Schlamm und Abfall, den der mächtige Fluss aus weit entfernten Ozeanen herbeitrug, einen Schatz zu erspähen, oder zwischen all dem, was er aus den Ablagerungen längst vergessener Zeiten wusch. Tabetha war nicht sicher, ob sie die Temse liebte oder hasste. Manchmal fühlten sich ihre Ufer wie ihr einziges Zuhause an, aber an Tagen wie diesem – wenn andere Menschen im Kreis ihrer Familien in ihren Häusern saßen – fühlte sie sich beim Anblick all des weiten, rastlos fließenden Wassers nur noch heimatloser.

Hör auf!, fuhr sie sich an. Selbstmitleid war das Gift, das sie am meisten fürchtete. Es fraß an ihrem Herzen.

Meist wateten sie alle barfuß mit hochgekrempelten Hosenbeinen durch den giftigen Schlamm, doch die Kälte zwang sie alle, die löchrigen Stiefel anzubehalten.

Das Stück zerschlissenes Seil, das Tabetha schon nach wenigen Schritten entdeckte, war ein gutes Beispiel für die Schätze, die die anderen so leicht übersahen. Sie stellte sicher, dass ihr Gesicht nichts als Langeweile ausdrückte, als sie sich danach bückte, damit sie den anderen nicht verriet, dass sie etwas Wertvolles gefunden hatte. Ein paar schimmernde Schuppen klebten an dem Seil: die Schuppen einer Meerjungfrau. Der Fluss hatte sie den ganzen weiten Weg von der Südküste hergetragen, wo Tabetha sie früher in der Nähe ihres Dorfes oft am Strand gesehen hatte.

Meerjungfrauenschuppen waren bei Schneidern sehr gefragt, denn sie bestickten mit Vorliebe die Gewänder ihrer wohlhabenden Kunden damit. Tabetha schob ihren Fund vorsichtig in einen der Lederbeutel, die sie an den alten Gürtel gebunden hatte, den der Fluss ihr gebracht hatte, als sie bemerkte, dass der gut gekleidete Fremde, den sie von der Treppe aus gesehen hatte, sie beobachtete. Trotz seines Alters sah er kräftig und schnell aus – immer eine wichtige Einschätzung, falls man rasch die Flucht ergreifen musste. Aber keiner der anderen Schlammlerchen schien beunruhigt. Der Mantel des Mannes war nicht ganz so gut geschneidert wie der des Bankiers, der seinen Kutscher jeden Sonntag nach der Kirche an der Treppe halten ließ, um eine Handvoll Pennys zu ihnen hinunterzuwerfen – aber seine Stiefel kosteten sicher mehr, als Tabethas Fundstücke ihr in zehn Jahren einbringen würden, für den Schal um seinen stämmigen Hals würde sie mindestens drei Jahre im Schlamm wühlen müssen. Was war sein Beruf? Normalerweise konnte sie das erraten, aber nicht in diesem Fall.

»Ich habe gehört, du bist einer der besten Schlammlerchen hier am Fluss.«

Sein Akzent klang nach Neukalendonien. Tabethas Großvater stammte aus dem Norden. Und was das Kompliment betraf, so hatte er sich das hundertprozentig ausgedacht, um ihr zu schmeicheln. Von den anderen Schlammlerchen hätte keiner zugegeben, dass sie mehr von ihrem schmutzigen Handwerk verstand als die meisten von ihnen.

Der Fremde hatte eine Narbe auf der Stirn und eine weitere an seiner Hand, aber er sah nicht wie ein Soldat oder ein Berufsboxer aus, und kein Polizist hätte sich je solche Stiefel leisten können. Aus seiner Manteltasche lugte ein Däumling. Seine blassen Bernsteinaugen musterten Tabethas Taschen und Beutel. Däumlinge waren sehr talentierte Diebe, und obwohl sie kaum größer als eine Ginflasche waren, konnte sich selbst der schnellste menschliche Langfinger nicht mit ihnen messen.

»Keine Sorge. Er stiehlt nur auf meine Anweisung.«

Seine dünnen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und enthüllten drei Silberzähne. Tabetha versuchte, sie nicht anzustarren. Sie waren mit irgendwelchen alt aussehenden Schriftzeichen bedeckt.

»Hast du je ein Stück Glas gefunden, das aussah, als könnte es eine Scherbe von dem hier sein?«

Das Stück Papier, das er aus der Tasche zog, war ein Zeitungsausschnitt. Als er ihn Tabetha reichte, fiel ihr auf, dass seine linke Hand mit Brandnarben bedeckt war und ihm zwei Fingernägel fehlten. Er hatte ganz offensichtlich einen gefährlichen Beruf.

Auf dem Zeitungsausschnitt war eine Illustration zu sehen, eine von diesen schwarz-weißen Kupferstichen, die sie sich so gern anschaute. Tabetha konnte nicht lesen, aber diese Bilder erlaubten ihr, dennoch etwas über die Welt zu lernen, und sie hob jede Zeitung auf, die sie auf der Straße fand, nur um sie anzusehen. Die Illustration, auf die sie nun starrte, war allerdings ziemlich langweilig, verglichen mit denen, die Schlachten oder exotische Städte zeigten. Sie zeigte nur ein Glas mit schlankem Stiel und ein paar eingravierten Sandfeen und Feuerelfen.

»Niemand wird davon was finden, Mister«, sagte sie. »So dünnes Glas hat keine Chance, den Fluss zu überleben.«

Glas, Porzellan, gebrannter Ton … der Schlamm der Temse war gespickt mit Millionen von Scherben, von Tassen, Flaschen und Tellern, und es verlangte ein sehr gut geschultes Auge, um zu erkennen, ob sie irgendeinen Wert hatten. Bei den meisten war das nicht der Fall, aber die älteren brachten manchmal etwas Geld von den Händlern in der Celt Street ein, die besessen von allem waren, was alt war. Tabetha liebte die Geschichten, die sie erzählten, wenn sie ihnen etwas brachte, das ihre Begeisterung weckte: Geschichten von vergessenen Königen und Rittern, verzauberten Schwertern, Feen, für die liebeskranke Prinzen sich umbrachten, oder kinderfressenden Hexen. Sie hatte schon viele von den kleinen Tiegeln gefunden, in denen die Hexen ihre Zaubertränke verkauften. Man fand sie fast so häufig wie die Tonpfeifen, mit denen Männer Elfenstaub rauchten. Die Pfeifenköpfe waren oft wie Gesichter geformt und brachten gutes Geld.

»Was ist so besonders an dem Glas?«, fragte Tabetha und gab dem Fremden den Zeitungsausschnitt zurück.

»Behalt das.« Er schenkte ihr ein weiteres Silberzahn-Lächeln. »Das Glas hat nur sentimentalen Wert, aber ich zahle drei Silberschillinge, wenn du mir eine Scherbe davon bringst.«

Sentimentaler Wert? Sie alle glaubten, dass man Kinder so leicht für dumm verkaufen konnte. Aber drei Silberschillinge … das war mehr, als sie in zehn guten Monaten verdiente, selbst wenn sie den Schlamm jeden Tag sechzehn Stunden am Stück absuchte.

»Du kannst mich im Roten Löwen finden. Du weißt, wo das Wirtshaus ist?«

Tabetha nickte. Der Rote Löwe war eine Schenke für reiche Leute, die sich gern den Anschein gaben, weniger wohlhabend zu sein.

»Frag nach Bartholomew Jakes.« Der Blick des Däumlings hing immer noch an ihren Beuteln. »Aber vergiss es, falls du die Scherbe nicht vor Ende des ersten Weihnachtstags findest. Ich brauch sie spätestens morgen Nacht und ich bin nicht interessiert an alten Münzen oder was du sonst normalerweise verkaufst.«

Er nickte ihr zu, zupfte eine Möwenfeder vom gut geschneiderten Ärmel und stapfte in seinen teuren Stiefeln zu der Treppe zurück, die hinauf zur Straße führte.

Tabetha betrachtete das Bild in ihrer Hand und warf einen Blick hinüber zu den anderen. Der Zahnlose Harry, Limpey, Froschfresser … Sie alle hielten den Zeitungsausschnitt in der Hand, und sie erwiderten ihren Blick mit derselben angriffslustigen Miene, mit der sie zu ihnen hinübersah. Tabetha hatte sich nur ein Mal mit einer anderen Schlammlerche angefreundet. Midget. Ein Wassermann hatte ihn getötet, als er einer Holzkiste nachgeschwommen war, die auf den schmutzigen Wellen vorbeitrieb. Sie hatte mehr als eine Woche lang nicht zum Fluss hinuntergehen können. Es ist schwer, einen Freund zu verlieren, besonders dann, wenn man nur den einen hat.

Es begann erneut zu schneien. Der Fluss schluckte die Flocken wie ein riesiges, nasses, grauhäutiges Ungeheuer, und Tabetha suchte den kalten Schlamm ab, bis die Sonne, verschleiert von Schornsteinrauch, unterging und das Wasser der Temse so schwarz wurde wie die Stiefel, die der vernarbte Fremde getragen hatte. Sie fand etwas Kupferdraht, einen Schuh, der so verrottet war, dass er auseinanderfiel, als sie ihre kalten Zehen in das nasse Leder zwang, einen Zinnlöffel und ein paar Münzen, von denen eine ziemlich alt aussah. Zusammen mit den Meerjungfrauschuppen war das keine schlechte Ausbeute, aber Tabetha stellte erneut sicher, dass sie enttäuscht dreinblickte, während sie auf die Treppe zuging.

Das Flussufer war nachts sogar noch gefährlicher und selbst die mutigsten Schlammlerchen blieben nur bis zum Sonnenuntergang. Tabetha war sicher, dass sie alle nach dem Glas gesucht hatten, aber natürlich hätte sich keiner von ihnen einen Erfolg dadurch anmerken lassen, dass er früher aufbrach oder gar – wie ein Junge namens Auster es einmal dummerweise getan hatte – die Treppe pfeifend und mit einem selbstzufriedenen Lächeln hinaufsprang. Der Zahnlose Harry und Limpey hatten ihm noch in derselben Nacht den goldenen Ring gestohlen, den er gefunden hatte – nachdem sie ihn grün und blau geschlagen hatten.

Nein. Keiner von ihnen lächelte, als sie die Treppe hinaufstiegen. Sie alle trugen ihr Schlammlerchengesicht, ausdruckslos und beschmiert mit Flussdreck. »Wir sollten uns einfach in Goyl verwandeln, Ted«, hatte Midget einmal im Scherz zu ihr gesagt. »Mit einer Haut aus Stein und Feuer in den Augen.«

Niemand von ihnen hatte je einen Goyl zu Gesicht bekommen. Sie lebten auf dem Kontinent und hassten es, das offene Meer zu überqueren, also gelangten sie nur sehr selten nach Albion. Aber es gab niemanden, der nicht von ihnen gehört hätte. Sie waren die steinhäutigen Geschwister der menschlichen Rasse: goldäugig und unter der Erde zu Hause, wo sie ihre Städte aus Edelsteinen bauten. Tabetha stellte sie sich wie die Statuen vor dem Palast der Königin vor, die mit leeren Marmoraugen von ihren Sockeln herabstarrten.

Es gab Gerüchte, dass der Goyl-König die Flotte von Albion versenkt hatte und dass sie Flugmaschinen bauten und Menschen mit ihren Klauen in Goyl verwandeln konnten. Aber das waren bloß Geschichten, um Kinder zu erschrecken. Midget hatte manchmal den Goyl gespielt und sie das Ufer entlanggejagt, seine schlammtriefenden Finger in die Luft krallend, als könnte er sie in Fetzen reißen. Verflucht sollte der Wassermann sein, der ihn umgebracht hatte! Sie vermisste Midget sehr. Manchmal träumte sie, dass der Wassermann sie auch mit sich hinabzog, tief, tief hinunter auf den Grund des Flusses, um sie zwischen seinen Bergen von geraubtem Gold gefangen zu halten – wie alle Wassermänner es, glaubte man den Geschichten, mit jungen Mädchen taten.

Der Schnee machte es leichter, sich den Gestank des Schlammes von den Händen zu waschen. Die anderen hasteten eilig nach Hause, was auch immer das für ein armseliger Platz war, an dem sie Unterschlupf für die Nacht fanden. Aber Tabetha beschloss, erst noch bei einem Wirtshaus vorbeizugehen, das den Fluss überblickte und hauptsächlich von Matrosen und Hafenarbeitern besucht wurde: Fuentes’ Suppenküche. Tabetha konnte den Namen natürlich nicht lesen, aber das Metallschild über der Tür – geformt wie ein Seehund mit einem Frauenkopf – hatte schon immer ihre Neugier geweckt, und vor ein paar Monaten hatte die Kälte sie schließlich durch die schmale Tür in den verrauchten Schankraum getrieben.

Die Gerüche, die sie empfingen, als sie an diesem Heiligabend die Tür öffnete, waren so köstlich, dass sich ihr leerer Magen sofort schmerzhaft zusammenzog.

Die Bedienung, die an der Theke eine Auseinandersetzung mit einem betrunkenen Gast hatte, war vermutlich nicht älter als Tabetha, obwohl das rote Kleid, das sie trug, sie sehr erwachsen aussehen ließ. Die Perlen in ihrem kastanienbraunen Haar erwiesen sich als Irrlichter und Graselfen, als Tabetha näher trat, aber der Lippenstift und die mit Ruß nachgezogenen Augenbrauen waren echt. Ihr Name war Ofelia, soweit Tabetha sich erinnerte. Sie war die älteste Tochter der Besitzer und bediente gewöhnlich die Gäste oder half beim Abwasch.

Tabetha war gekommen, um mit Ofelias Mutter zu sprechen, aber sie konnte sie nirgends entdecken. Die Fuentes hatten die Suppenküche erst vor einem Jahr eröffnet. Es gab Gerüchte, dass sie eine Trollfrau als Köchin beschäftigten, die, bevor sie nach Londra gekommen war, drei Männer in ihrem Heimatland umgebracht hatte, die ihre Kochkünste nicht gewürdigt hatten. Jedermann wusste, dass Trolle sehr empfindlich waren und tödlich, wenn sie in Wut gerieten, aber da Tabetha die Küche der Fuentes nie betreten hatte, war sie nicht sicher, ob sie die Geschichte glauben sollte. Ein paar von den anderen Schlammlerchen schworen auch, dass Ofelias Mutter eine Hexe war, doch sie behaupteten das von so ziemlich jeder Frau, besonders von denen, die es schafften, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.

Es hieß, dass Alfonso Fuentes, Ofelias Vater, einer der Hauptgärtner im Palast der Königin war, und man munkelte, dass einiges von dem Gemüse in den Fuentes-Suppen aus den königlichen Gärten stammte. Tabetha hatte sich entschieden, die Geschichte zu glauben, denn ihr gefiel die Vorstellung, königliche Tomaten und Lauchstangen zu kosten, wenn sie in dem bescheidenen Wirtshaus ihre Suppe aß. Die Hexengerüchte dagegen waren eindeutig Unsinn, da alle Fuentes-Frauen schwarze Augen hatten und die von Hexen bekanntlich grün waren und katzenartige Pupillen hatten. Aber wen interessiert das, solange sie nicht zur kinderfressenden Sorte gehörte? Die Suppen, die die Fuentes servierten, ließen einen daran glauben, dass die Welt ein guter Ort war. Da war es das Risiko wert, dass eine Hexe sie servierte. Und, was es noch besser machte – die Fuentes akzeptierten als Bezahlung die Münzen, die Tabetha am Fluss fand.

Das kleine Restaurant war so warm und einladend wie immer an diesem kalten Heiligen Abend, und es war keine Überraschung, dass überall an den Wänden Briefe und Postkarten von Gästen hingen, die an den schlichten Holztischen ein Stück Zuhause gefunden hatten. Die meisten kamen von Orten, von denen Tabetha noch nie gehört hatte, und sie alle bestätigten das Versprechen, das der Fluss ihr zuflüsterte, wenn sie sein schlammiges Ufer absuchte: dass die Welt weit und voller wundersamer Dinge, Geschöpfe und Orte war.

»Guten Abend. Könnte ich bitte etwas von der scharfen Bohnensuppe haben?«, fragte sie und scheuchte eine Graselfe von ihrer Stirn, die kaum größer als eine Münze war. Ihr Staub war sehr begehrt, denn er bescherte süße Träume, aber Tabetha konnte es sich nicht leisten, sich in ihnen zu verlieren. Solche Träume waren eh nur Lügen, und wenn man aus ihnen erwachte, war es nur noch schwerer, sich der Wirklichkeit zu stellen.

Ofelia Fuentes untersuchte die drei leicht verbogenen Münzen, die Tabetha auf die Theke gelegt hatte, mit ihrer linken Hand. Es war ihre einzige Hand. Ofelia Fuentes’ rechter Arm endete kurz unter dem Ellbogen, aber man vergaß das schnell, wenn man sah, wie geschwind sie sich hinter der Theke bewegte.

»Die hier behältst du besser«, sagte sie und gab Tabetha eine der Münzen zurück. »Dafür bekommst du bei den Händlern in der Celt Street vielleicht mehr als eine Suppe.« Sie hatte eine ziemlich tiefe Stimme für ein Mädchen, und ihr Akzent ließ selbst einfache Worte geheimnisvoll klingen. »Die anderen zwei genügen«, sagte sie zu dem Hob, der die Schalen füllte.

Die Portion war noch üppiger als sonst.

»Unsere Weihnachtsportion«, erklärte Ofelia und schob die Suppe über die Theke.