Cover

Mami
– Staffel 10 –

E-Book 1818-1827

Sina Holl
Annette Mansdorf
Myra Myrenburg
Lisa Simon
Rosa Lindberg
Susanne Svanberg
Eva-Maria Horn

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-143-6

Weitere Titel im Angebot:

Weitere Titel im Angebot
Weitere Titel im Angebot
Cover

Johannes, das Pflegekind

Roman von Mansdorf, Annette

  »Guten Morgen, Marion. Ich habe Brötchen geholt, willst du?«

  »Dann komm doch gleich rein und frühstücke mit mir.«

  Kristin tat gar nicht erst so, als habe sie nicht genau diese Einladung bezweckt. Sie betrat den Flur der Nachbarwohnung und folgte Marion in die Küche.

  »Na, wie war es gestern abend? Hast du den tollen Mann wiedergetroffen?«

  »Ja, allerdings.«

  Kristin verzog das Gesicht. Es war nicht ganz so gelaufen, wie sie erwartet hatte.

  »Hat er nicht angebissen?«

  »Nein, er war mit einer anderen da. Die hat ihn gehütet wie ihren Augapfel. Keine Chance. Abgesehen davon, wenn die sein Typ ist, habe ich sowieso keine guten Karten.«

  »Wieso? Wie sah sie denn aus?«

  Kristin hielt ihre Hände gut zwanzig Zentimeter vor ihren Busen.

  »So sah sie aus. Dolly Buster ist nichts dagegen.«

  »O Gott. Dann gehört er wohl zu den Männern, die besser sehen als denken können. Vergiß ihn.«

  »Schon geschehen. Soll ich den Tisch decken?«

  »Mach ruhig. Ich muß Johannes aus dem Bett fischen. Wenn er jetzt so lange schläft, bekomme ich ihn mittags nicht ins Bett.«

  Marion ging hinaus. Kristin öffnete den Kühlschrank und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Wenn ihr Kühlschrank je so gut bestückt wäre… Irgendwie vergaß sie immer einzukaufen. Das war allerdings nicht weiter schlimm, denn sie mußte ja auch niemanden versorgen. Das Single-Leben hatte seine Vor- und Nachteile.

  Marion und sie waren erst seit einem guten Vierteljahr Nachbarinnen. Kristin hatte hier eine kleine Buchhandlung übernehmen können, aber die Fahrt von dem kleineren Ort außerhalb von Hamburg hierher war einfach zu weit, um sie jeden Tag anzutreten. Mit viel Glück hatte sie die hübsche Neubauwohnung neben Marion bekommen und sich fast sofort mit ihrer Nachbarin angefreundet. Sie waren im gleichen Alter, nämlich sechsundzwanzig, aber damit hörten auch schon alle Ähnlichkeiten auf.

  Während Marion dunkle lange Haare hatte und zu ihrem Kummer ein bißchen mollig war, fand sich Kristin fast zu zierlich bei ihrer Größe. Ihre Haare gefielen ihr allerdings gut, sie waren rotblond und von Natur aus lockig. Sie hatte viel Temperament und fuhr sich manchmal mit den Fingern durch das Haar, wenn sie etwas erklärte oder ungeduldig war. Bei dieser Frisur sah es trotzdem gut aus. In der Buchhandlung konnte sie schließlich nicht herumlaufen, als sei ihr Fön explodiert.

  Der Tisch war fertig gedeckt, der Kaffee lief durch und in der Pfanne brutzelten Eier und Speck, als Marion mit dem zweijährigen Johannes auf dem Arm wieder zurückkam.

  Kaum hatte er Kristin gesehen, streckte er die Arme aus. »Titin!«

  »Guten Morgen, mein Schatz. Na, hast du du gut geschlafen?«

  »Auch das.« Er deutete auf die Eier in der Pfanne. Das würde wieder eine Diskussion geben. Marion achtete streng darauf, daß Johannes nur das bekam, was für ihn richtig und gesund war. Meistens war es nicht so, was Johannes wollte.

  »Nein, Johannes, das ist nichts für dich. Du bekommst dein Müsli. Hmm, das schmeckt lecker.«

  Johannes sah das ganz anders. Kaum saß er in seinem Hochstühlchen und hielt den Löffel in der Hand, forderte er noch energischer Eier mit Schinken.

  »Da, haben!«

  Sein dicker Finger bohrte sich in den Bauch seiner Mutter, die zwischen ihm und dem begehrten Objekt stand, so daß er es nur riechen, aber nicht sehen konnte. Sie schüttelte den Kopf und stellte die Schüssel mit dem fein geschroteten Müsli vor ihn hin. Kaum war die Milch dazugefüllt, haute Johannes mit dem Löffel hinein, daß es spritzte.

  »Johannes! Du gehst gleich wieder ins Bett, wenn du so ungezogen bist.«

  »Und wenn wir ihm ein kleines bißchen geben? Nur, daß er den Geschmack hat? Vielleicht ist er dann zufrieden«, schlug Kristin zögernd vor.

  Sie wußte, daß solche Ratschläge von Müttern nur sehr ungern gesehen wurden. Ihre Schwester Sabina hatte drei Kinder und fuhr Kristin jedesmal über den Mund, wenn sie einen Vorschlag zur Güte machte.

  »Was ist das für eine Erziehung, wenn man ständig nachgibt, weil man den Konflikt nicht aushält?« fragte Marion streng.

  »Na, ich würde sagen, es ist ein bißchen entspannender für beide. Ich wette, Johannes muß noch nicht auf Cholesterinwerte achten…«

  Sie hoffte, daß Marion lächeln würde, aber statt dessen verzog ihre Freundin das Gesicht und sah einen Moment ziemlich ärgerlich aus.

  Kristin nahm sich vor, ihr nicht mehr hineinzureden. Von einem entspannenden Frühstück könnte jetzt zwar keine Rede sein, da Johannes nun brüllte und seine Müslischale an den äußersten Rand des kleines Tischchens vor sich schob, während seine Mutter sich mit verbissenem Gesicht bemühte, ihr Ei und den Schinken schmackhaft zu finden und sein Schreien auszublenden, aber was hatte sie erwartet? Es war letzten Sonntag dasselbe gewesen.

  Vielleicht mußte Marion einfach mehr raus. Sie konnte nicht mehr ausgehen, seit es Johannes gab, weil sie zu den sogenannten alleinerziehenden Müttern gehörte und auch niemanden hatte, der Johannes am Freitag oder Sonnabend mal zu sich nahm, damit sie ins Kino, essen gehen oder einfach einmal allein sein konnte. Kristin hatte es ihr bereits mehrere Male angeboten, aber sie hatte den Eindruck, daß Marion ihr Johannes nicht anvertrauen wollte. Wahrscheinlich befürchtete Marion, daß er dann jede Menge Eier, Schinken und Schokolade zu essen bekäme. Schokolade war nämlich ein absolutes Tabu.

  An eine Unterhaltung war nütürlich nicht zu denken, solange Johannes schrie. Kristin bewunderte Marions Geduld. Sie hätte ihm bereits ihren Teller hingestellt, nur damit er endlich still war. Am besten, sie schaffte sich vorsichtigshalber keine Kinder an. Für die Arterhaltung hatte ihre Schwester mit den drei Kindern ja eigentlich auch schon gesorgt, soweit es ihre Familie betraf. Außerdem liebte Kristin ihren Beruf über alles. Wenn sie von den Büchern umgeben mit Kunden sprach, gab es nichts, was ihr fehlte. Saß sie dann abends zu Hause, fiel ihr allerdings schon das eine oder andere ein. Sie hatte eine kurze, feste Partnerschaft hinter sich. Zwei Jahre war sie auf Zehenspitzen gegangen, um das mimosenhafte Wesen ihres Freundes nicht zu belasten, indem sie unüberlegte Worte von sich gab. Dann war sie schließlich so mit den Nerven fertig gewesen, daß eine Kleinigkeit genügt hatte, um ihn zum Ex-Freund werden zu lassen. Den Abend würde sie nie vergessen. Jens hatte sich hinter seinen Computer verschanzt wie jeden Abend, während sie den Abwasch machte. Als das Telefon klingelte, war es einer seiner Computerfreunde gewesen. Eine geschlagene Stunde hatte er am Telefon gesessen, vor sich den Bildschirm, und pausenlos gequatscht und gelacht. Eigentlich hatten sie zusammen einen Film sehen wollen, aber Kristin wußte, wenn sie ihn daran erinnern würde, wäre er sofort wieder auf hundertachtzig und hätte behauptet, sie gönne ihm seine Freunde nicht. Also hatte sie allein geschaut und allein gekocht – vor Wut.

  Er hatte das Gespräch schließlich beendet und war fünf Minuten später in der Tür erschienen.

  »Ich gehe noch mal zu Björn. Er hat da ein kleines Problem mit dem Computer.«

  Plötzlich hatte Kristin ihre Situation glasklar gesehen. Jens lebte sein Leben, wie es ihm gefiel, während sie pausenlos Rücksicht nehmen sollte. Wenn er jetzt ging, würde er vor zwei Uhr nachts nicht erscheinen, dabei hatte sie gerade heute gehofft, daß er sich auch einmal wieder ihrer annehmen würde. Sex wurde nicht mehr sehr groß geschrieben in ihrer Beziehung. Morgen hatte er sowieso eine Verabredung. Sie saß hier herum, kochte und machte den Haushalt, und Jens hielt sie wie ein Haushälterin.

  »Am besten fragst du ihn gleich, ob du dort für eine Zeit wohnen kannst. Ist doch sowieso praktischer, dann spart ihr das Telefongeld.«

  »Was soll denn das heißen? Dir wäre es wohl am liebsten, wenn ich keine Freunde hätte, was?« fuhr er sie sofort an.

  »Doch, mir ist das sehr lieb, daß du Freunde hast. Dann sitzt du ab morgen wenigstens nicht auf der Straße.«

  »Wovon redest du, zum Teufel?«

  »Es ist aus mit uns. Davon rede ich.«

  »Also wirklich, Kristin, das ist ja wohl ein schlechter Scherz, oder? Du bist wieder mal überreizt.«

  »Allerdings, weit überreizt. Und deshalb ist ja auch Schluß. Ich möchte wieder allein sein. Ungestört Fernsehen, und wenn das Telefon klingelt, ist es für mich. Das war’s, jetzt kannst du gehen.«

  Wutentbrannt war er verschwunden. Als er dann in der Nacht gekommen war, um zwei, wie sie geahnt hatte, war er sofort zärtlich geworden. Kristin hatte sich kerzengerade im Bett aufgesetzt und ihm dann noch einmal unmißverständlich klargemacht, daß es damit vorbei sei. Am nächsten Morgen hatte sie seine Sachen zusammengepackt und spätestens, als sie begann, die Kabel von seinem Computer und dem Zubehör aus den diversen Steckdosen zu ziehen, war er aus dem Bett gesprungen. Sein Spielzeug durfte sie nicht anfassen.

  Das war es dann gewesen. Seitdem achtete Kristin streng darauf, daß die Männer, die sie kennenlernte, als Hobby nicht etwa »Computer« angaben. Allerdings wurde es damit immer schwerer, denn alle Welt schien vernetzt oder verkabelt zu sein.

  Eine Zeitlang hatte sie ein bißchen gelitten, aber inzwischen fand sie den Zustand, allein zu leben, recht angenehm. Es bedeutete ja nicht, daß es keine Männer in ihrem Leben gäbe. Sie wurde oft eingeladen und nahm manche Einladung ins Kino, Theater oder zum Essen auch an. In der Buchhandlung lernte sie eine Menge Menschen kennen, darunter auch den einen oder anderen akzeptablen männlichen Mensch. Ihre Computerecke mit der Fachliteratur war beliebt und gut sortiert. Wenn sich jedoch ein Kunde für Geschichte, Reisen oder ähnliches interessierte, wurde sie aufmerksamer. Vielleicht war einmal einer dabei, der sie davon überzeugen konnte, ihr Alleinsein aufzugeben.

  Bei Marion verhielt es sich dagegen viel komplizierter. Sie hatte sich vor fünf Jahren in einen Mann verliebt, und zwar so erdbebenmäßig, daß auch sein spätes Geständnis, er sei verheiratet, sie nicht mehr von ihm abbringen konnte. So führte sie das Leben einer heimlichen Geliebten, die darauf wartete, daß er seiner Frau endlich zumuten konnte, die Wahrheit zu erfahren und die versprochene Scheidung einreichte. Für Kristin war klar, daß das erst am St. Nimmerleinstag passieren würde, aber Marion glaubte weiterhin an ihren Derrik. Selbst die Tatsache, daß er mit Marion zusammen einen Sohn hatte, schien ihn nicht dahingehend zu beeinflussen, seine kinderlose Ehe endlich zu beenden. In Kristins Augen war er ein ausgemachter Schuft, und das hätte sie ihm zu gern einmal gesagt. Aber Marion achtete streng darauf, daß sie sich nicht über den Weg liefen. Ihre rotgeweinten Augen konnte sie dagegen nicht so gut vor Kristin verbergen. Es mußte echt stressig sein, ständig auf Anrufe oder heimliche Besuche zu warten. Mit den Sorgen, wenn Johannes krank war, stand sie sowieso allein da. Sie konnte Derrik ja nicht einmal zu Hause anrufen.

  Kristin mußte sich bei diesem Thema immer noch viel mehr zusammenreißen als bei der Erziehung von Johannes. Sie hatte Marion schon das eine oder andere Ratgeberbuch geschenkt, das dieses Thema ausführlich behandelte, denn laut Statistik wurden die heimlichen Geliebten nur äußerst selten geheiratet, aber Marion ließ sich nicht hineinreden. Blauäugig glaubte sie weiterhin, daß Derrik eines Tages ganz zu ihr kommen würde.

  Johannes stellte sein Schreien ein, als die beiden Frauen die Eier und den Schinken gegessen hatten. Kristin dröhnten die Ohren, aber Marion bestrich sich seelenruhig einen Toast mit Butter und Marmelade und gab ihrem Sohn ein Stück ab. Er schob es in den Mund und kaute strahlend, so als habe er einen Sieg davongetragen. Vielleicht war Marions Methode doch nicht ganz falsch.

*

  Am Montag hatte Kristin alle Hände voll zu tun in der Buchhandlung. Sie würde heute sicherlich nicht vor neun Uhr abends nach Hause kommen, wie sie es einschätzte. Die neue Ware mußte ausgepackt, ausgezeichnet und einsortiert werden. Wenn sie das ihrer Verkäuferin überließe, würde sie hinterher nichts mehr wiederfinden. So gut Frau Schneider mit Kunden zurechtkam, so unfähig war sie, Bücher nach Sachgebieten und obendrein noch nach dem Alphabet einzusortieren.

  Kristin trug heute eher praktische Kleidung, weil sie bei dieser Tätigkeit immer ein bißchen staubig wurde. Sonst achtete sie darauf, sich chic zu machen, weil sie hier im Laden Gelegenheit dazu hatte. Zu Hause lief sie dagegen meistens in Jeans und T-Shirt herum, weil sie dort sowieso kaum jemand sah.

  Sie kam gerade aus dem Lager, als sie mit einem jungen Mann zusammenstieß, der einen Schritt rückwärts machte, um eine Frau mit einem Kinderwagen vorbeizulassen.

  »Hoppla… oh, entschuldigen Sie. Ich hoffe, ich habe Ihnen nicht weh getan.«

  Kristin blickte in die blauesten Augen, die sie je gesehen hatte.

  »Nein, gar nicht. Schon in Ordnung.«

  »Wo ich Sie gerade umrennen wollte… können Sie mir vielleicht helfen? Ich suche ein Fachbuch.«

  Kristin lachte. Er hatte Humor. Sein Lächeln war ansteckend. Hoffentlich war sein Gebiet nicht gerade Informatik…

  »Es ist ein Informatik-Fachbuch. Hier, ich habe den Titel aufgeschrieben. Den kann man nämlich sonst nur pfeifen.«

  Schade. Damit schied er aus. Es sei denn, er wollte das Buch für einen Freund haben, als Geschenk…

  »Ich studiere nämlich Informatik, und brauchte es ganz dringend. In zwei Buchhandlungen könnte man es mir besorgen, aber ich brauche es möglichst sofort.«

  Na, das hatte ja gerade noch gefehlt. Der Computer war nicht nur sein Hobby, sondern sogar sein Beruf.

  Pech gehabt, die blauen Augen würden jemand anderen bezaubern, sie jedenfalls bestimmt nicht.

  »Ich kenne das Buch. Wenn Sie Glück haben, steht es sogar noch da«, gab Kristin schon etwas weniger begeistert zurück.

  »Das wäre ja umwerfend. Ich werde sofort alle meine Kommilitonen zu Ihnen schicken.«

  »Dann bekommen Sie sogar Prozente.«

  Immerhin, Freundlichkeit schadete nicht. Er war ein netter Kunde.

  Das Buch stand tatsächlich noch im Regal. Begeistert blätterte er darin herum. »Sie können sich gern dahinten setzen und sich einen Tee einschenken. Das gehört bei mir zum Service.«

  »Mein Gott, ein Engel hat mich zu Ihnen geführt.«

  Er strahlte sie an, daß Kristin ein Kribbeln im Magen verspürte. Vielleicht vergaß ja

nicht jeder Mann, daß es

noch mehr gab außer diesen verdammten Bildschirmen mit Tastatur und Vernetzungsmöglichkeit…

  »Ich finde, es gehört einfach dazu, in Büchern auch stöbern zu können. Allerdings hatte ich am Anfang etwas Mühe, die Leute wieder loszuwerden, die hier regelmäßig ihre Teepause einlegten, bevor sie weiterzogen.«

  »Das kann ich mir vorstellen. Aber Sie erscheinen mir energisch genug, um sich nicht ausnutzen zu lassen.«

  Gut, daß er das gleich erkannte. Kristin nickte.

  »Ja, wenn man ein Geschäft führt, muß man das können. Aber jetzt muß ich Sie allein lassen. Ich habe noch eine Menge zu tun.«

  »Sie sind hier die Inhaberin, ja? Sagen Sie mir Ihren Namen? Ich heiße übrigens Frederik Holl.«

  »Angenehm, Kristin de Bruhs.«

  »Was für ein schöner Name.«

  »Mein Vater ist Holländer. Daher kommt er.«

  »Dann sind Sie also nicht verheiratet.«

  »O nein, Gott sei Dank nicht.«

  Er grinste. Kristin fand ihre Antwort ein bißchen übertrieben, weil sie keineswegs deutlich machen wollte, daß sie ehefeindlich war.

  Eigentlich hatte sie ihm nur durch die Blume zu verstehen geben wollen, daß sie frei war. Na, nun war es keine Blume, sondern eher ein Zaunpfahl gewesen.Er würde schon nicht glauben, daß sie ihn anmachen wollte.

  Frederik hielt sich noch eine gute Viertelstunde in der Leseecke auf, bis es ihm dort zu lebhaft wurde, weil eine Mutter ihre zwei Kinder dort geparkt hatte, die sich gegenseitig etwas »vorlasen«, und dabei in Streit gerieten. Er bezahlte sein Buch, versprach, bald wiederzukommen und drehte sich an der Tür noch einmal um, um zu winken. Kristin ging wieder ins Lager zurück und überließ Frau Schneider den Verkauf.

  Am Nachmittag machte sie eine Pause. Sie brauchte täglich einen Cappuccino und war in dem Bistro in der Nähe ihrer Buchhandlung Stammkundin. Sie mußte gar nicht mehr extra bestellen, kaum hatte sie Platz genommen, wurde ihr der Cappuccino serviert. Sie trank ihn mit Sahne statt mit geschäumter Milch, was natürlich ein Sakrileg war. Aber der Besitzer des Bistro, ein Italiener aus Umbrien, verzieh es ihr, weil er gern ein bißchen mit ihr flirtete.

  »Signorina de Bruhs, wie schön, Sie zu sehen.«

  Das sagte er jeden Tag, außer am Sonntag, weil dann hier geschlossen war. Kristin begrüßte ihn ebenfalls und dankte ihm für den Cappuccino. Meistens nahm er sich einen Moment Zeit, um mit ihr zu plaudern, aber heute war viel zu tun. Draußen regnete es, und es saßen hier mehr Leute als sonst.

  Kristin war das ganz lieb. Sie dachte noch immer an den Mann mit den blauen Augen. Offenbar hatte sie mal wieder einen kleinen Notstand. Vielleicht sollte sie Markus’ Einladung ins Kino doch endlich annehmen. Er nervte sie schon seit drei Wochen damit. Markus war eine Art Notnagel, was er natürlich nicht wußte. Er hielt sich für den besten Fang, den eine Frau machen könnte. Aber im Vergleich mit Frederik Holl schnitt er noch schlechter ab als so schon. Sie mußte sich nur vorstellen, den ganzen Abend mit seinen Heldentaten unterhalten zu werden. Markus war Rechtsreferendar, aber ihm zufolge hielt sich die Kanzlei nur durch seine überragende Leistung überhaupt so gut. Kristin kannte alle Fälle, die dort je bearbeitet worden waren, davon war sie überzeugt. Markus ließ nichts aus, um zu prahlen. Nein, das tat sie sich lieber nicht an. Dann lieber zu Hause auf der Couch liegen und weiter träumen. Vielleicht kam Frederik ja bald wieder, um die Bekanntschaft fortzusetzen. Kristin war sicher, daß sie ihm auch gefallen hatte.

  Wie immer fand sie ihre Pause viel zu kurz. Sie mußte wieder zurück in die Buchhandlung, sonst würde sie heute noch später nach Hause kommen. So schön war es nicht, spät abends allein im Geschäft zu bleiben. Geräusche klangen anders, unheimlicher, und ihr Auto stand in der Tiefgarage, die um diese Zeit sämtliche Horrorvorstellungen in Kristin weckte, wenn sie es holen mußte.

  Vor der Buchhandlung traf sie Marion. Johannes saß in der Karre und lutschte hingebungsvoll an einem Traubenzuckerlolly.

  »Hallo, wolltest du zu mir?«

  »Ja. Ich dachte, ich besuche dich mal. Das heißt, könntest du einen Moment auf Johannes aufpassen? Ich muß etwas einkaufen und kann ihn da so schlecht mit hineinnehmen. Die… Umkleidekabinen sind so eng.«

  »Was willst du denn kaufen?«

  »Äh… Unterwäsche. Ich brauche dringend etwas Neues.«

  Also stand vermutlich Derriks Besuch an. Kristin unterdrückte eine Bemerkung dieser Art und nickte.

  »Klar. Kommst du zu mir, Johannes? Wollen wir die Mama in Ruhe einkaufen lassen?«

  Johannes verstand zwar nicht, worum es ging, aber er ließ sich gnädig von ihr in den Laden schieben. Marion versprach sich zu beeilen und hastete los. Kristin empfand Mitleid mit ihr. Es mußte wirklich frustrierend sein. Was immer Marion tat, es reichte nie, Derrik für sich zu gewinnen.

  Sie schob die Karre in die Leseecke und holte ein Kinderbuch unter dem Tisch hervor. Es war nicht zum Verkauf bestimmt, sondern sollte die Kleinen unterhalten, solange die Eltern aussuchten. Johannes interessierte sich im Moment aber mehr für seinen Lolly und beachtete das Häschen gar nicht, das Kristin ihm zeigte.

  Als sie aufschaute, begegnete sie dem Blick eines Mannes, der an der Kasse stand und sie offenbar interessiert beobachtet hatte. Er lächelte leicht, doch nun ging Frau Schneider zu ihm, um zu kassieren und das Buch einzupacken. Er drehte sich zu ihr um.

  Kristin fühlte sich für einen Moment etwas verwirrt. Warum hatte er sie so angesehen, als…

  Ja, wie eigentlich? Der Blick ging über das normale Maß von Interesse hinaus, das Kristin von vielen Männern kannte. Er war eindringlicher gewesen, irgendwie… besonders. Sie beobachtete ihn weiter, aber jetzt schien er sich nicht noch einmal zu ihr umdrehen zu wollen. Schade eigentlich. Es hätte sie interessiert, ob sie sich getäuscht hatte.

  »Da, haben!« verlangte Johannes und deutete auf das Buch. Den Stiel von seinem Lolly warf er einfach auf den Boden.

  »Erst muß ich dir die Finger abputzen. Warte.«

  Sie zog ein Tempotaschentuch aus der Hosentasche und bemühte sich, das klebrige Zeug von seinen kleinen Fingern zu entfernen. Wieso so ein Ding nun gesünder sein sollte als ein Stückchen Schokolade, war ihr ein Rätsel. Es klebte wie Pech.

  Nachdem Johannes zufriedengestellt war, war der Mann bereits gegangen. Kristin hatte das komische Gefühl, eine Chance verpaßt zu haben. Sie stellte lakonisch fest, daß ihr Hormonhaushalt offenbar ziemlich durcheinander sein mußte, wenn sie heute schon zwei Männern nachtrauerte.

*

  Marion hatte Johannes früh ins Bett gesteckt, so daß sie sich in Ruhe auf Derrik vorbereiten konnte. Heute würde er bis nach Mitternacht bei ihr bleiben können, das hatte er ihr jedenfalls versprochen. Sie haßte es, wenn er so schnell wieder verschwand, wofür Derrik kein Verständnis hatte.

  »Aber Schatz, ich liebe dich doch! Du darfst nicht denken, daß es mir nicht recht ist. Aber Maren fühlte sich heute nicht gut. Ich hätte eigentlich gar nicht kommen dürfen…«

  So oder ähnlich lauteten dann seine Antworten.

  Was interessierte sie, wie es Maren ging? Fragte er eigentlich je danach, wie es ihr ging, wenn sie dauernd allein war, vor allem an Feiertagen oder zu besonderen Gelegenheiten? Sie konnten nicht einmal miteinander ausgehen aus lauter Angst, daß jemand sie mit Derrik sah.

  Jedesmal nahm sie sich vor, ihm ein Ultimatum zu stellen, denn ganz so dumm, wie Kristin zu glauben schien, war Marion auch nicht. Aber wenn er dann da war, sie lieb in den Arm nahm und anlächelte, war das nicht mehr wichtig. Außerdem war er Johannes’ Vater, und der Kleine hatte ein Recht auf ihn. Im Moment war das vielleicht noch nicht so wichtig, aber wenn Johannes größer wurde…

  Nachdem sie geduscht und sich eingecremt hatte, nahm sie den neuen BH und den Slip aus der hübschen Verpackung. Leuchtend rot, es sah toll aus zu ihrer hellen Haut. Wahrscheinlich würde Derrik die Luft wegbleiben, wenn er das sah. Das Geld war es wert, obwohl Marion sehr rechnen mußte. Derrik konnte nicht regelmäßig zahlen, damit es seiner Frau nicht auffiel. Gott sei Dank verdiente sie meistens ausreichend, obwohl sie nicht mehr soviel tun konnte, seit es Johannes gab. Als selbständige Grafikerin war sie jedoch in der glücklichen Lage, zu Hause zu arbeiten, so daß sie sich wirklich gut um ihr Kind kümmern konnte. Vielleicht würden sie eines Tages doch eine Familie sein und dann…

  Ach was, sie sollte jetzt nicht daran denken, sonst würde sie gleich wieder mit Forderungen kommen, sobald Derrik da war. Damit hatte sie schon mehr als einmal Schiffbruch erlitten. Ein paarmal war Derrik gleich wieder gegangen. Das wollte sie zumindest heute nicht riskieren. Sie hatten sich drei Wochen nicht gesehen, weil Derrik mit Maren verreist gewesen war. Na gut, es war nicht direkt eine Urlaubsreise gewesen, sie hatten ihre Mutter besucht, die kränkelte, aber für Marion machte das kaum einen Unterschied. Der Gedanke, daß er Tag und Nacht mit seiner Frau zusammen war… gräßlich.

  Manchmal, in klaren Momenten, hatte sie alles so furchtbar satt…

  Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, daß es höchste Zeit wurde, sich fertig anzuziehen. Sie mußte das Essen noch fertig machen. Es gab Spaghetti mit einer tollen Sauce, ein kompliziertes Rezept, das sie sich da ausgesucht hatte. Dazu sollte es noch Salat geben, und den mußte sie noch waschen und anrichten. Die Spaghetti brauchten ja nicht lange.

  Marion war gerade damit beschäftigt, dem Tisch den letzten Schliff zu geben, als es klingelte. Derrik hatte einen Schlüssel, aber den vergaß er oft im Auto.

  »Hallo, mein Schatz. Schön, dich zu sehen.«

  Er umarmte sie. Marion hielt vergeblich nach Blumen Ausschau. Er wußte, daß sie solche Gesten mochte. Aber wahrscheinlich hatte Derrik keine Zeit gehabt, sie noch zu besorgen.

  »Hmm, du duftest gut… Ich habe Appetit auf dich…«

  »Erst einmal essen wir?«

  »Ich habe schon gegessen. Böse?«

  Ihre Enttäuschung machte sich in einem harten Knoten im Magen bemerkbar. Er wußte doch, wie gern sie für sie beide kochte! Warum beachtete er das eigentlich nicht?

  Oh, heute war kein guter Abend. Marion spürte ihre Gereiztheit. Sie mußte sich zusammenreißen, damit es keinen Krach gab. Wem wäre damit geholfen? Niemandem. Sie wollte so gern wieder einmal in den Arm genommen werden und sich einbilden können, daß sie eine normale Partnerschaft führten.

  »Na, vielleicht probiere ich noch ein bißchen«, lenkte er ein. Natürlich schmeckte es ihr auch nicht besonders, weil Derrik ihr gegenüber saß und in seinem Essen herumstocherte.

  »Laß es stehen. Du mußt ja nicht.«

  »Es schmeckt wunderbar. Du hast dir soviel Mühe gegeben… Hätte ich das gewußt…«

  »Du wußtest es«, rutschte es Marion heraus.

  Er runzelte die Brauen.

  »Was willst du damit sagen?«

  »Ach, Derrik, du weißt, daß ich gern für uns koche. Das ist doch nicht neu.«

  »Entschuldige, aber ich habe mich unter großer Mühe für heute abend frei gemacht. Aber ich habe keine Lust, mir jetzt Vorwürfe anzuhören. Das kann ich zu Hause.«

  Zu Hause. Damit wollte er natürlich sagen, daß hier kein Zuhause für ihn war. Marion preßte die Lippen zusammen.

  »Nun komm, lächel doch mal wieder. Wie geht es Johannes? Schläft er schon?«

  »Ja. Hast du ihm etwas mitgebracht?«

  Wenn ihr schon nicht, dann doch wohl seinem Sohn…

  »Nein, dazu blieb keine Zeit. Außerdem weißt du viel besser, was er braucht.«

  »Mein Gott, wenn du dich öfter kümmern würdest, wüßtest du das auch.«

  War sie verrückt geworden? Sie wußte, daß sie mit solchen Bemerkungen alles aufs Spiel setzte! Wozu die teure Wäsche, wenn sie ihn jetzt vergraulte. Marion hoffte, daß er jetzt nicht gleich aufstehen würde. Sie wollte sich jetzt zusammenreißen.

  »Ich fürchte, so wird das nichts.«

  »Tut mir leid. Es war ein harter Tag.«

  Das wollte er hören. Sein Lächeln kehrte zurück. Marion entspannte sich.

  Nach dem Essen setzten sie sich ins Wohnzimmer. Derrik legte den Arm um sie und zog sie an sich. Er begann an ihrem Ohrläppchen zu knabbern, die Einstimmung für mehr. Aber komisch, diesmal wollte es einfach nicht wirken. Kein Kribbeln, kein Bedürfnis nach Zärtlichkeit, gar nichts. Marion war verwirrt. Sie zwang sich, seine Küsse zu erwidern.

  »Du bist heute komisch.«

  Er lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an, obwohl er wußte, daß Marion das nicht mochte.

  Sie unterdrückte eine Bemerkung und nahm es hin. Warum empfand sie nur diese merkwürdige Apathie? Wurde sie krank? Oder war sie einfach nur so voller Erwartung gewesen, die durch den unglücklichen Beginn jetzt in sich zusammengefallen war?

  »Ich glaube, wir versuchen es ein andermal, okay? Dann kann ich noch ein bißchen aufarbeiten…«

  »Warum können wir uns nicht einmal unterhalten? Ich meine, kommst du nun her, um mit mir zu schlafen?«

  »Also, entschuldige, bisher hast du das von mir erwartet! Ich hätte dich sehen mögen, wenn ich es nicht versucht hätte!«

  Stimmte das? Wahrscheinlich. Marion wurde immer unsicherer. Sie sollte jetzt aufhören zu reden und… Aber nein. Es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen. In ihrer Beziehung stimmte etwas nicht. Sie sollten darüber sprechen, was es war.

  Sie setzte sich ein Stück seitwärts und drehte sich ihm zu.

  »Wie lange soll es noch weitergehen, Derrik? Wirst du eigentlich je mit deiner Frau sprechen? Was ist mit Weihnachten? Johannes sieht den Tannenbaum dieses Jahr schon viel bewußter. Es wäre schön, wenn sein Vater auch dabei wäre.«

  »Ich komme am ersten oder zweiten Feiertag für zwei, drei Stunden. Das weißt du doch.«

  »Nein, das genügt mir nicht.«

  »Also, sei mir nicht böse, Marion, aber ich lasse mir nicht

die Pistole auf die Brust setzen.«

  »Nach fünf Jahren? Nennst du das die Pistole auf die Brust setzen? Habe ich nicht genügend Geduld bewiesen?«

  »Im Grunde schon. Aber Maren…«

  »Deine Maren! Immer nur Maren! Ich kann es nicht mehr hören! Wenn du sie so schützen mußt, warum betrügst du sie denn überhaupt? Ich meine, du tust uns doch beiden Unrecht, ihr und mir! Was ist denn das für eine Liebe?«

  Sie war aufgestanden, weil es sie nicht mehr auf der Couch hielt. Jetzt fühlte Marion so eine Wut, daß sie bereits wußte, was als nächstes passieren würde.

  »Müssen wir jetzt über Liebe diskutieren? Wenn du mir nicht glaubst, daß ich dich liebe, dann laß es. Dann erspare ich mir diesen Streß in Zukunft.«

  »Es ist also nur Streß?«

  »Na ja, wenn du dich aufführst…«

  »Darf ich keine eigene Meinung haben? Darf ich keine Forderungen stellen? Nur weil ich eine heimliche Geliebte bin? Was wäre wohl, wenn ich mal mit deiner Frau spräche? Vielleicht ist sie gar nicht so ahnungslos, wie du glaubst, sondern will nur nicht auf die Versorgung verzichten? Warum machst du nicht endlich Nägel mit Köpfen?«

  »Und wenn ich mich für sie entscheiden würde?« fragte er lauernd.

  Für einige Sekunden stockte Marion bei dieser Vorstellung der Atem. Aber nun war sie soweit gegangen, daß sie nicht einfach einen Rückzieher machen konnte. Heute schien der Tag der Entscheidung zu sein.

  »Das mußt du selbst wissen. Ich habe dir dann offenbar nicht viel bedeutet all die Jahre. Johannes auch nicht, aber das merke ich schon daran, daß du weder für ihn zahlst noch ihm Geschenke machst.«

  »Das reicht, Marion. Du hörst von mir.«

  Er stand auf und ging in den Flur hinaus. Um seinen Mantel anzuziehen, brauchte er ganz schön lange. Er wartete vermutlich darauf, daß sie ihm um den Hals fiele und sich entschuldigte. Nein. Das würde sie nicht tun. Offenbar hatte sie ihre Fähigkeit, die Beine zu bewegen, verlassen. Marion stand stocksteif da und konnte kaum atmen.

  Schließlich schlug die Tür zu. Derrik hatte wirklich noch gewartet, ob sie es sich anders überlegen würde. Sie hätte sich wortreich entschuldigen müssen, vielleicht ein paar Tränchen dazu, und alles wäre erst einmal wieder in Ordnung gewesen.

  Plötzlich erschien ihr dieses Verhältnis zu Derrik so armselig, so verlogen, daß sie den Gedanken kaum ertragen konnte. Was ließ sie da bloß mit sich machen? Kein Wunder, daß Derrik sie gar nicht mehr ernstnahm! Sie hatte sich als Persönlichkeit ja selbst längst aufgegeben!

  Heulend warf sie sich auf die Couch. Ihr war hundeelend zumute. Mit Derrik mußte es vorbei sein. Entweder er entschied sich jetzt für sie, oder es war zu Ende.

  Irgendwann schlief sie auf der Couch ein. Als sie wach wurde, war ihr Körper total verkrampft, der Kopf schmerzte, die Augen waren verschwollen. Marion schlich ins Badezimmer, zog sich aus, ohne auch nur einen Blick in den Spiegel zu werfen und ging dann ins Bett. Es war frisch bezogen. Sie hatte sogar das Laken ein wenig parfümiert…

  Nun lag sie allein hier.

*

  Kristin öffnete, als es Sturm klingelte. Wer kam um diese Zeit und dann noch mit diesem Drive zu ihr? Natürlich fand sie ihren Bademantel wieder mal nicht. Das Nachthemd war eher bequem, sie konnte ruhig so die Tür öffnen…

  Draußen stand Marion. Sie sah völlig fertig aus.

  »Mein Gott, was ist denn mit dir passiert?«

  »Ich muß dich um Hilfe bitten. Ich habe um elf einen Termin, der ganz wichtig ist. Aber jetzt hat mein Babysitter abgesagt. Könntest du…?«

  »Na klar. Ich nehme ihn mit ins Geschäft und dann kannst du ihn da abholen.«

  »Danke, ich bin dir sehr dankbar.«

  »Sag mal, willst du nicht einen Kaffee mit mir trinken? Du siehst nicht gut aus.«

  »Ich habe mit… Derrik Schluß gemacht. Glaube ich.«

  »Glaubst du? Was heißt denn das?«

  »Ich habe ihn vor die Wahl gestellt. Er ist gegangen. Ich weiß nicht, ob er noch einmal wiederkommt. Ich hätte den Termin normalerweise sausen lassen, aber jetzt, wo ich nicht mehr damit rechne, daß er … zurückkommt, muß ich mich glaube ich, mehr um meinen Job kümmern. Ich möchte mehr Geld verdienen. Ich muß… mal raus. Mit Johannes verreisen. Irgend etwas…«

  Das klang nun wirklich ernst. Kristin zog ihre Nachbarin herein. Marion zögerte, weil Johannes allein war. Aber er schlief noch fest und konnte nicht allein aus dem Bett klettern. Gegen einen Kaffee war sicher nichts zu sagen. Zumal sie jetzt gar nicht gern allein sein wollte. Kristin hatte zwar nie einen Hehl daraus gemacht, was sie von ihrer Art der Partnerschaft hielt, aber sie war ehrlich und hatte auch einige Menschenkenntnis. Vielleicht konnte sie abschätzen, wie Derrik entscheiden würde.

  Zuerst mußte Marion erzählen, was überhaupt passiert war. Sie gab es so genau wie möglich wieder. Schließlich sollte Kristin die Situation ja beurteilen können.

  Mehrmals verzog Kristin angewidert das Gesicht, aber sie enthielt sich jeder Unterbrechung.

  »Ja, und dann hat er eine ganze Weile gebraucht, um sich den Mantel anzuziehen. Er hat natürlich gedacht, ich würde kommen und mich entschuldigen. Aber das konnte ich irgendwie nicht. Es ging einfach nicht, verstehst du? Als wäre ich auf den Fleck gebannt, auf dem ich stand.«

  »Und das war auch gut so. Du hast ihm endlich einmal eine Seite gezeigt, die er an dir nicht kennt. Ich bin richtig stolz auf dich.«

  Kristin sah sie an wie eine Mutter ihr Kind, das eine große Tat vollbracht hatte.

  »Aber wenn es jetzt nichts bringt?«

  »Du hast es ja gar nicht in der Absicht getan, daß es etwas bringt. Merkst du das nicht? Du hattest echt die Nase voll. Wirklich und wahrhaftig. Und das finde ich so gut. Wenn du so anfängst, wirst du dir auch in Zukunft nicht mehr soviel gefallen lassen. Er wird sich anstrengen müssen, wenn er dich nicht verlieren will.«

  »Aber ich will ihn nicht verlieren. Jedenfalls nicht wirklich…«, gab Marion kleinlaut zurück.

  Kristins Einschätzung erschreckte sie plötzlich. Das hatte sie nicht hören wollen.

  »Du weißt es nur noch nicht, aber dein Unterbewußtsein ist aufgewacht. Und das ist ganz toll. Es geht aufwärts. Paß auf, bald wirst du entdecken, daß es auch noch andere Männer gibt, solche, die nicht verheiratet sind.«

  »Kristin, ich will das nicht.«

  »Willst du ewig die Geliebte bleiben? Das kannst du mir nicht erzählen. Dann würdest du dich nicht beschweren, nicht heulen, sondern dein Leben genießen wie es ist. Logo?«

  Dem konnte Marion nicht unbedingt widersprechen.

  »Na also. Dann bleib jetzt auf dieser Linie. Er muß wirklich glauben, daß du lieber auf ihn verzichtest, als so wiederzumachen. Nur dann hast du noch eine Chance, daß sich etwas ändert. Das bist du eigentlich auch Johannes schuldig. Ich meine, er hat doch nichts von einem Vater, der sowieso nicht anwesend ist.«

  Damit war Kristin Marions letztem Argument zuvorgekommen. Und auch das klang logisch.

  »So, nun mach nicht so ein Gesicht. Trink deinen Kaffee, richte dich toll her, zieh die neue Unterwäsche an und sei erfolgreich. Das gibt dir Selbstbewußtsein.«

  Bei der Erwähnung der neuen Unterwäsche empfand Marion einen schmerzhaften Stich. Die hundert Mark hatte sie umsonst ausgegeben.

  »Weißt du, daß ich mich immer style, wenn ich ins Geschäft gehe? Nicht für die anderen, einfach für mich. Ich fühle mich gut, wenn ich eingecremt bin und weiß, daß ich Seidenwäsche trage. Ein sinnliches Vergnügen«, fuhr Kristin vergnügt fort.

  »Willst du damit behaupten, daß du nicht auf Mr. Right wartest? Ich mag nicht gern allein leben.«

  »Wenn man den richtigen Mann findet, ist das okay. Aber wieviel Frösche mußt du geküßt haben, um zu wissen, daß die meisten eben kein Prinz werden? Ich glaube, daß man erst dann Glück hat, wenn man gelernt hat, auch gut zu sich selbst zu sein. Kannst du nachlesen. Warte mal, wo habe ich das Buch…«

  Kristin stand auf. Im Wohnzimmer standen an allen Wänden Bücherregale. Marion hörte sie herumlaufen und vor sich hinmurmeln. Sie wußte, daß es keinen Sinn hatte, Kristin davon abhalten zu wollen, das Buch zu suchen. Sie trank schon einmal ihren Kaffee aus, weil sie langsam unruhig wurde. Wenn Johannes aufwachte, wollte sie zu Hause sein.

  »Hier. Lies das mal. Ist gut.«

  »Danke. Ich schaue später mal rein. Ich bringe dir Johannes in einer halben Stunde, ja?«

  »Gut, dann kann ich noch duschen. Und vergiß die Unterwäsche nicht.«

  »Für die kurze Zeit braucht er keine neue… ach so, du meinst mich…«

  »Ja, eben. Vergiß dich nicht immer.«

  Marion beschloß, Kristins Rat einfach einmal zu folgen. Schaden konnte es nicht, und dann wurde die sündteure Wäsche wenigstens getragen.

  Johannes war bester Laune, als ihn Kristin übernahm. Sie mußten noch den Babysitz für das Auto befestigen, dann lud sie die Karre hinten in den Kombi und fuhr zur Buchhandlung. Kristin liebte es, den Laden morgens aufzuschließen. Sie begrüßte die Bücher wie Freunde, aber das mußte ja keiner wissen.

  Frau Schneider kam zehn Minuten später. Sie war entzückt, daß Johannes hier war und spielte hingebungsvoll mit ihm, während Kristin alles für den Tag vorbereitete. Johannes krabbelte auf dem Teppichboden herum und spielte Eisenbahn. Frau Schneider immer hinterher. Ein wahrhaft ergötzender Anblick.

  Das mußte auch der erste Kunde denken, der den Laden betrat. Es war Frederik Holl.

  »Nanu, habt ihr hier auch einen Kinderhort?«

  »Nein, nicht direkt. Hallo.«

  Johannes landete vor Kristins Füßen und wollte auf den Arm. Frau Schneider erhob sich etwas mühsam und klopfte sich den Rock ab. Sie war rot geworden.

  »Danke, Frau Schneider. Sie können jetzt erst einmal eine Pause machen, wenn Sie wollen.«

  »Soll ich ihn mitnehmen?«

  »Nein. Ich behalte Johannes hier.«

  »Ist das Ihr Kleiner?« wollte Frederik wissen.

  »Und wenn?« stellte Kristin eine Gegenfrage.

  »Oh, nichts. Es gibt unter meinen Kommilitoninnen eine Menge Mütter.«

  »Mögen Sie Kinder?«

  »Ja, schon. Aber ich kenne mich nicht besonders gut aus mit ihnen.«

  Johannes beäugte Frederik neugierig. Vielleicht überlegte er, ob sich der Versuch lohne, das zu ändern.

  Plötzlich schoß er auf Kristins Arm vor. Sie hätte ihn fast fallenlassen vor Schreck, aber Frederik hatte schon die Arme ausgestreckt, um Johannes abzufangen.

  »Mein Lieber, du hast ein Temperament…«

  »Johannes, mach das nicht noch mal. Wenn du jetzt gefallen wärest…«

  »Da. Haben«, wandte der Kleine seinen etwas beschränkten Wortschatz an und deutete auf den Kugelschreiber, der in Frederiks Tasche steckte.

  »Den kannst du nicht haben. Damit schmierst du nur alles voll. Nimm das Bilderbuch.«

  Johannes wollte kein Bilderbuch, er wollen einen Kugelschreiber. Und das tat er jetzt mit Stufe 1 auf seiner Schreibskala kund.

  »O Gott, bitte gehen Sie ihm aus den Augen. Sonst schreit er so lange, bis er den Kugelschreiber bekommt.«

  »Ich wollte mich noch mal bei den Büchern umsehen.«

  »Ja, tun Sie das. Ich bin dort hinten, wenn Sie Hilfe brauchen.«

  Kristin bedauerte zutiefst, daß sie gerade heute die Ehre hatte, auf Johannes aufzupassen. Sonst wäre sie dem blauäugigen Frederik nicht von der Seite gewichen. Er gefiel ihr heute noch besser als gestern. Sein blaues Hemd betonte die Farbe seiner Augen noch. Ob er das wußte oder es extra angezogen hatte? Aber wahrscheinlich dachten nur Frauen in solchen Bezügen.

  »Johannes, du hörst jetzt sofort auf zu schreien, sonst setze ich dich in die Karre und schieb dich einfach in die Ecke.«

  Die Drohung richtete gar nichts aus. Johannes verrenkte sich den Hals nach Frederik. Er hatte den Kugelschreiber keineswegs vergessen, auch wenn er ihn jetzt nicht sehen konnte.