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Bertelsmann Stiftung (Hrsg.)

Opernsänger mit Zukunft!

Karriereaussichten für Nachwuchssänger
im deutschen Kulturbetrieb –
Analysen, Erfahrungen, Empfehlungen

Autoren:
Prof. Dr. Klaus Siebenhaar
Achim Müller
Institut für Kultur und Medienwirtschaft

Mit einem Begleittext von Jürgen Kesting

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar.

Für eine bessere Lesbarkeit verwenden wir entweder die weibliche oder die männliche Form von personenbezogenen Substantiven. Wenn nicht anders erwähnt, sind damit beide Geschlechter gemeint.

© 2019 Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh

www.bertelsmann-stiftung.de/verlag

Inhalt

Vorwort

Liz Mohn

Der Sänger im globalen Opernbetrieb

Jürgen Kesting

Kurzüberblick

Zur Sache

1. Die Aufgabe:
Problemhorizont und Forschungsdesign

Methodik

Sekundärquellen

Qualitative Experteninterviews

Qualitative und quantitative Befragung von Sängern

Gruppendiskussionen zur Entwicklung von Szenarien

2. Im Rahmen:
Diskurse und Transformationen

3. Der Betrieb:
Oper, Gesellschaft, Ensemble

Künstlerische Leistungsbilanz im weltweiten Vergleich

Betriebsstrukturen und gesellschaftliche Akzeptanz

Publika: quantitativ und qualitativ

Oper heute als Kunstform

Rückläufige Vorstellungszahlen

Ensemblepolitik

4. Die Ausbildung:
Studium, Curricula, Herausforderungen, Erwartungen

Ausbildungssystem und -situation gestern

Ausbildungssystem und -situation heute

Entwicklungen und Zahlen

Musikhochschulen zwischen Bologna-Prozess und »Kopfprämien«-Modell

Marktnachfrage und Ausbildung

Das Studium

Desiderate und Verbesserungspotenziale

Kooperationen

Curriculare Entwicklungen

Positionen der Studierenden

Bilanz mit Ausblick

5. Auf dem Weg:
Markt, Karrieren

Das Marktmodell

Der Absatzmarkt für Musiktheater

Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt für Opernsänger

Folgen der wirtschaftlichen und künstlerischen Situation der Sänger

Brücken und Helfer für den Markteintritt

Opernstudios

Kleine Häuser, erste Engagements und nächste Schritte

Wettbewerbe

Mittler

Künstleragenturen und Konzertdirektionen

ZAV

6. Perspektiven, Alternativen:
Veränderungspotenziale, andere Wege

Ausgangspunkt: Ausbildungssystem – drei Gebote

Perspektiven der Operngesangsausbildung: Sieben Empfehlungen

Drei Alternativen mit Perspektive

Alternative 1: Seitenwechsel Chor

Alternative 2: Der freie Musiktheaterbetrieb

Alternative 3: Gesangs- und musikbasierter Systemwechsel

Szenario: Kommunale Opernstudios mit Laborcharakter

Zum Schluss

7. Dokumentation:
Leitfragen, Stichprobenprofile, Fragenkatalog, Exzerpte

Quellen

Die Autoren

Vorwort

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Liebe Leserinnen und Leser,

die Sprache der Musik vermittelt uns einen unerschöpflichen Reichtum durch ihre Vielfalt an Melodien und Ausdrucksformen für unsere Gefühle sowie durch ihren Reichtum an kulturellen Schätzen. Sie weckt bei Menschen Emotionen, reißt soziale und kulturelle Mauern ein, indem sie Menschen miteinander verbindet. Musik fördert Gemeinschaft, indem sie Menschen unterschiedlicher Nationalitäten und Kulturen zusammenführt. Sie vermittelt Werte wie Toleranz, Zusammengehörigkeit und Disziplin. Musik ist ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft.

Deutschland hat eine weltweit einzigartige Dichte öffentlich geförderter Institutionen im Bereich klassischer Musik und Musiktheater. Dutzende Musikhochschulen und Akademien bilden Sänger und Sängerinnen für den Opern- und Konzertbereich aus. Nicht zu vergessen die vielen Musikschulen, die bereits Kinder und Jugendliche durch die musikalische Früherziehung an die Musik heranführen. Dazu kommt noch eine große und vielfältige Chorlandschaft.

Dadurch ist nicht nur auf der nationalen Ebene, sondern auch international der Kreis talentierter Sängerinnen und Sänger kontinuierlich gewachsen. Nicht zuletzt durch die Öffnung Osteuropas und Asiens, und zunehmend auch Afrikas, ist gerade der Opernbetrieb zu einem globalen Wettbewerb um Verträge und Auftritte geworden.

Seit über 30 Jahren fördere ich im Projekt NEUE STIMMEN bei der Bertelsmann Stiftung junge Künstlerinnen und Künstler, die aus der ganzen Welt zu uns nach Deutschland kommen, um Teil dieser einzigartigen Kultur- und Theaterlandschaft zu werden, welche untrennbar mit unserer Identität und Geschichte verbunden ist. NEUE STIMMEN hat sich zu einem der renommiertesten Opernwettbewerbe der Welt entwickelt und zahlreiche internationale Karrieren maßgeblich befördert. Rund 80 Prozent der Endrundenteilnehmer bekommen später Verträge.

Aber der Weg in diesen wunderschönen Beruf ist schwer. Er verlangt von den jungen Künstlerinnen und Künstlern viel Disziplin, Talent sowie Durchhaltevermögen. Eine persönliche und nachhaltige Förderung und Begleitung ist daher enorm wichtig. Musikförderung bedeutet für mich, unsere traditionsreiche Kultur zu wahren und an die kommenden Generationen zu vermitteln. Die jetzigen und kommenden Sängergenerationen brauchen Menschen, die sich für Kunst und Künstler einsetzen und verantwortlich fühlen.

Welche Erfahrungen machen Opernsängerinnen und -sänger zu Beginn ihrer Karriere? Wie funktioniert der Opernbetrieb? Warum braucht es heute auch ein hohes Maß an Bühnenpräsenz, um aus dem großen Kreis der Talente herauszustechen? Was erwartet die jungen Künstlerinnen und Künstler während ihrer Ausbildung in Deutschland und auf ihrem Berufsweg? Diese und weitere Fragen beantwortet die vorliegende Studie »Opernsänger mit Zukunft!«.

Ich freue mich sehr, Ihnen diese Studie der Bertelsmann Stiftung vorstellen zu dürfen, die sich eingehend mit den Herausforderungen beschäftigt, vor denen junge Sängerinnen und Sänger heutzutage stehen, um sich ihren beruflichen Traum vom Leben als erfolgreicher Künstler zu erfüllen. Sie ist eine ausführliche Bestandsaufnahme, zeigt zudem auf, wo Handlungsbedarf besteht, und gibt Empfehlungen für Weiterentwicklungen im Musikbetrieb.

Bei meinen Reisen begegne ich überall auf der Welt Menschen, die sich über politische Differenzen und sprachliche Grenzen hinweg von der Musik berühren lassen. Musik geht ins Herz und in die Seele eines Menschen.

Ich wünsche Ihnen eine inspirierende Lektüre.

Ihreimage

Stellvertretende Vorsitzende des Vorstands der Bertelsmann Stiftung Präsidentin des Internationalen Gesangswettbewerbs NEUE STIMMEN

Der Sänger im globalen Opernbetrieb

Jürgen Kesting

»Der Künstler ist nichts ohne die Begabung, aber die Begabung ist nichts ohne Arbeit.«

Émile Zola

Geschichten, dass früher alles besser war, werden gern erzählt, aber ungern gehört. Dazu gehören die Geschichten von Sängern, die ihre jungen Kollegen eindringlich vor den Gefahren warnen, in die sie sich selbst begeben haben. Oder in denen sie umgekommen sind. Aber vielleicht ist eine Geschichte von gestern ein Thema oder ein Wegweiser für morgen.

In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg war der englische Plattenproduzent Walter Legge nach Wien gekommen, um eine Reihe weltbekannter Künstler und einige der größten Talente für seine Firma (EMI) zu verpflichten. Im Januar 1946 hörte er im Theater an der Wien eine junge Sopranistin als Rosina in Rossinis »Il Barbiere di Siviglia« – eine »brillante, frische Stimme, durchschossen von einem Lachen (»shot with laughter«), nicht groß, aber bewunderungswürdig projiziert, mit bezaubernden hohen Pianissimi«. Er hörte sie auch in anderen Rollen. Als er ihr einen Vertrag anbot, bestand sie – »Ich möchte nicht, dass Sie die Katze im Sack kaufen« – auf einem richtigen Probesingen. Ihm imponierte, wie hartnäckig sie war, und so wurde das Vorsingen zu einem Härtetest. Nachdem sie einige Stücke aus ihrem Repertoire dargeboten hatte, begann er, mit ihr an einem kleinen Lied aus Hugo Wolfs »Das Italienische Liederbuch« zu arbeiten: »Takt für Takt, Wort für Wort, Inflektion für Inflektion; ein Lied, in dem von Silbe zu Silbe und manchmal auf nur einem Ton die Emotionen wechseln.« Nach anderthalb Stunden stand Herbert von Karajan, der Legge auf die Sängerin aufmerksam gemacht hatte, auf: »Walter, Sie sind ein Sadist. Quälen Sie das Mädchen nicht. Ich habe Ihnen schon vor Wochen gesagt, dass sie vielleicht die beste Sängerin in Europa ist.«

Es war Elisabeth Schwarzkopf – die wenige Jahre später den Produzenten heiratete, über den sie dankbar sagen sollte, dass er für sie und ihren Klavierpartner die Rolle des Coach übernahm und für sie auch das geeignete Opernrepertoire auswählte. Sie stand knapp drei Jahrzehnte auf der Bühne, fast vier auf dem Konzertpodium. Nur weil sie Glück hatte, mehr Glück als alle anderen? Oder weil ihr die innere Kausalität von Karriere und Charakter bewusst und wichtig war? Ihre Erfahrungen gaben ihr die Berechtigung, in einem Interview zu sagen: »Ich habe den Eindruck, als bröckele die Kunst des Singens allmählich und leider fast unbemerkt ab. Jahrhundertelang haben die Sänger beständig an ihrer Technik gearbeitet; sie addiert sich aus Hunderten von Details, die es mühsam zu erlernen gilt. Das kostet natürlich Zeit, die sich nicht jeder nimmt, zumal wenn schon auf halbem Wege bedeutende Verträge locken.« Auch Maria Callas beherrschte all diese Details, als sie 1947 zu ihrem Debüt nach Europa kam. »In der Vokalmusik des 19. Jahrhunderts gab es keinen einzigen Takt«, so wieder Walter Legge, »der sie technisch und musikalisch vor eine Hürde gestellt hätte.«

Damit sind zwei Komplexe angesprochen: jener der musikalischen Technik und jener der künstlerischen Verantwortung beim Aufbau einer entsprechenden Laufbahn. Wenn es in der vorliegenden Studie über die Zukunft der Opernsänger heißt, dass viele von ihrer freiberuflich ausgeübten Arbeit nicht leben können, sind mehrere Fragen zu stellen:

Überschätzen viele ihr Talent, wenn sie den Beruf des Sängers wählen?

Fehlt es an Fleiß für die beständige Arbeit an der Technik?

Verlassen manche zwar mit guten Zeugnissen, aber ohne ausreichende Qualifikation die Hochschulen?

Ist die Konkurrenz zu groß und ist der Markt zu klein und bietet zu wenig Chancen?

Welche Fähigkeiten gehören dazu, sich den eigenen Weg durch den Opernbetrieb, den schon Arturo Toscanini als ›Dschungel‹ bezeichnete, zu bahnen?

Für diesen Weg gibt es kein verlässliches Navigationssystem, auch weil es in den letzten Jahren mehrere Paradigmenwechsel – gesellschaftliche wie immanent musikalische – gegeben hat:

Waren bis in die 1970er-Jahre die Hauptwerke von Mozart sowie die des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts die Säulen des Repertoires, kam es seit Mitte der 1980er-Jahre zu einer Renaissance der Barockoper, die lange Zeit aus dem Repertoire verschwunden war – der Ansicht folgend, dass Kunstwerke, die uns nichts mehr angehen, nicht mehr aufgeführt werden. Auch nicht mehr aufgeführt werden konnten, weil den Sängerinnen und Sängern die musikalischen und technischen Voraussetzungen fehlten, um der Formensprache dieser Musik gerecht zu werden.

Wichtige Impulse für diese Renaissance gab die »historische Aufführungspraxis«, die sich gegen die Darstellung oder gar die »Überformung« der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts wehrte und die »Klangrede« der alten Musik wiederentdeckte. Die Karriere von Cecilia Bartoli ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie eine erlesen schöne, aber vergessene Musik durch eine genialische Sängerin mit Leben gefüllt werden kann.

Diese Wiederentdeckung erzwang, nur zu konsequent, auch einen grundlegenden Paradigmenwechsel des Singens. Dieser Wechsel ist, in aller Vereinfachung, als Abkehr vom dramatisch gesteigerten Espressivo-Gesang zu beschreiben, der die Extreme der Phonation erfordert, auch als Rückkehr zum ornamentalen und verzierten Gesang des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts. Dies war die Basis für ein neues »Spezialistentum«. Dank des erweiterten Repertoires gibt es für junge Sängerinnen und Sänger je nach spezifischer Qualifikation mehr Möglichkeiten.

Eines der Ergebnisse dieser Wiederentdeckung war die Etablierung eines neuen Stimmfachs: das des Countertenors – den es allerdings in der Barockoper des 18. Jahrhunderts nie gegeben hatte. Händel etwa hat den Countertenor in keiner der von ihm betreuten Opernaufführungen – an die 700 – eingesetzt. Dem Countertenor fielen nun die Rollen zu, die einst von den Kastraten gesungen worden waren. Erinnert sei hier daran, dass Franco Fagioli, heute einer der herausragenden Sänger des neuen Fachs, 2003 den Wettbewerb »NEUE STIMMEN« gewann.

Zu einem soziopolitischen Paradigmenwechsel kam es durch die Globalisierung, die auch den Opernmarkt erfasste und viele Künstlerinnen und Künstler aus Osteuropa und Russland auch aus ökonomischen Gründen in den Westen zog. Im Zuge dieser Entwicklung suchen viele Sängerinnen und Sänger aus China und Korea nach Studienplätzen insbesondere an deutschen Hochschulen. Vor allem aber gewann die Oper – vier Jahrhunderte hindurch eine europäische Kunstform – in Ländern wie China, Korea oder auch in den Emiraten an Bedeutung. In China etwa sind in den vergangenen Jahren rund fünfzig (!) Opernhäuser fertiggestellt worden. Im Oman hat Sultan Qabus ibn Sa‘id Al Sa‘id, den man als aufgeklärten Monarchen bezeichnen kann, ein Opernhaus gebaut. In Abu Dhabi war das Ensemble der Bayreuther Festspiele mit Wagners »Die Walküre« zu Gast. Kleiner ist der Markt nicht geworden, die Anforderungen aber sind dank medial verbreiteter Vorbilder größer.

Talent

»Die drei wichtigsten Voraussetzungen für einen Sänger: Erstens: Stimme. Zweitens: Stimme. Drittens: Stimme.«

Gioachino Rossini

Seine Stimme sei klein und sie klinge wie der Wind, »der durch die Ritzen eines Fensters pfeift«. Wie kann oder wie soll ein junger Sänger solch eine Beurteilung verkraften, zumal wenn er sie von einem bedeutenden Lehrer hört? Kann er noch an sich glauben? Wenn er labil oder schwach ist, wird ihm die Zukunft unerreichbar erscheinen. Der Tapfere mag sich hingegen an den Satz halten, dass jede künstlerische Leistung ein Sieg über die menschliche Trägheit ist (Herbert von Karajan). Diesen Sieg hat der von seinem ersten Lehrer vernichtend beurteilte Enrico Caruso errungen: Er glaubte nicht nur fest an seine Begabung, sondern arbeitete auch unermüdlich an sich. Selbst nach seinen ersten Erfolgen an der Metropolitan Opera nahm er Kritik zum Anlass, mit einem Lehrer noch einmal an seiner Technik zu feilen. Auch der Erfolg bei einem Wettbewerb, wie viel Arbeit er auch gekostet haben mag, ist weder ein Wert an sich noch ein Garant für eine Karriere, sondern nur ein Versprechen.

Eine Geschichte – se non è vero è molto ben trovato – erzählt, dass Adelina Patti mit ihrem ersten Schrei das »F‘‘ traf (»normale« Babys erreichen das »A« oder das »B«; sie entfernen damit den Schleim, wie es auch Sänger tun, indem sie hüsteln). Adelina Patti war, und diese Geschichte ist verbürgt, sieben Jahre alt, als sie bei einem Wohltätigkeitskonzert in New York auf einem Tisch stehend Normas Arie »Casta diva« sang. Sie hatte die Arie nur durchs Hören gelernt. In den folgenden fünf Jahren reiste sie als »Kindersopran« umher, bevor sie 1859 in London in der Titelpartie von Vincenzo Bellinis »La Sonnambula« debütierte. Wie ihr Biograf Herman Klein berichtet, gestützt auf verlässliche Zeugnisse bedeutender Musiker, hatte sie eine angeborene Technik: »Korrektes Atmen, Skalen, Triller, Ornamente, Fiorituren – das alles fiel ihr einfach von Natur aus zu.« Und wenn ihr etwas beigebracht werden musste, so konnte sie es dank eines »wunderbaren Ohrs« sofort umsetzen.

Ein Sonderfall, gewiss. Aber es gibt durchaus Beispiele dafür, dass sich aus dem stimmlichen Talent eines Knabensoprans, je nach Ablauf der Mutation, eine schöne helle Tenorstimme entwickeln kann (Jussi Björling, Nicolai Gedda, Peter Schreier). Ebenso wichtig, ja entscheidend ist, dass die stimmliche Entwicklung und die technische Schulung Hand in Hand gehen. Schon der junge Sänger wird, etwa bei einem Wettbewerb, nach zahlreichen Parametern beurteilt, zum einen nach den natürlichen Qualitäten seiner Stimme, zum anderen nach seinen technischen Fertigkeiten, auch nach seiner Persönlichkeit, die selbst bei einem kurzen Auftritt (auch bei einem Wettbewerb) spürbar wird. In ihrem Monitum hatte Elisabeth Schwarzkopf gesagt, dass die Gesangskunst sich aus Hunderten von Details addiert. In einem praxisnahen Schema des Korrepetitors und Sammlers Prof. Dr. Jörg Calliess werden sie spezifiziert:

Tabelle 1: Beispiel-Schema

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Quelle: eigene Darstellung

Weitere primäre stimmliche Parameter sind Tragfähigkeit und Durchsetzungskraft: die des Klangs sind der Reichtum an Farben und dynamische Abstufungen (messa voce und messa di voce), die der Musikalität sind Eleganz, rhythmisches Timing, Klarheit der Artikulation, Eloquenz der Aussprache. Viele dieser Fähigkeiten sollte ein junger Sänger mitbringen, denn die Hoffnung, er könne sie noch erwerben, wenn er einmal auf der Bühne steht, ist trügerisch. Im Gegenteil, durch die Anforderungen der Bühne wird die Technik extrem gefordert oder auch gefährdet.

Bei diesen Anforderungen geht es heute, von renommierten Pädagogen sehr bedauert, vor allem um Kraft (Power), Durchhaltefähigkeit (Stamina) und um Ausdruck im Sinne von Emotionalität. Wird aber ein Sänger dafür gelobt, er habe sich aus der leidenschaftlichen Identifikation mit seiner Rolle bis hin zur Selbstaufopferung »verausgabt«, ist das ein gefährliches, ein gefährdendes Lob auf seine Kosten. Überdies muss er damit rechnen, aus der Perspektive diktatorischer Dirigenten und Regisseure als künstlerischer Ignorant hingestellt zu werden, wenn er um eine Probenpause bittet, weil er erschöpft ist, oder wenn er nicht vom Bühnenhintergrund eine Fortissimo-Phrase singen will.

Auf der Suche nach dem Fach oder: Das Alter und das Altern der Stimme

»Singe immer mit der Stimme, die du hast, und nicht mit der, die du gern hättest.«

Léopold Simoneau, frankokanadischer Tenor

Die Einteilung der Stimme in Fächer war und ist der Versuch des 20. Jahrhunderts, Probleme zu lösen, die im 19. Jahrhundert geschaffen wurden, insbesondere durch die Partien von Verdi und Wagner, später die von Richard Strauss und die Komponisten der veristischen Schule. Es sind Partien, die weniger vokale Finessen als Volumen, Kraft und trompetenhafte Brillanz der hohen Töne verlangen. Rudolf Kloibers »Handbuch der Oper« verzeichnet an die zwei Dutzend »Fächer« und die ihnen zugewiesenen Rollen: von der Soubrette, dem lyrischen Koloratursopran und dramatischen Koloratursopran über den lyrischen Sopran und jugendlich dramatischen Sopran bis zum dramatischen Sopran. Ähnlich die Vielzahl bei den anderen Stimmgattungen. In den Zeiten des Ensembletheaters wurden nach dieser Einteilung Verträge für die jeweiligen »Fächer« abgeschlossen.

Eine goldene Regel dafür, wann ein Sänger, sobald umfassend ausgebildet, für welche Rollen »fertig« ist, existiert nicht. Es gibt Sängerinnen und Sänger mit von der Anlage her lyrischen Stimmen, die lange Zeit im entsprechenden Fach bleiben, auch wenn sie im Verlauf der Zeit an Klangreichtum gewinnen. Lyrische Stimmen sind in der Regel Stimmen der Jugend. Eine junge, eine geborene Hochdramatische gibt es nicht. Auch wenn sich Richard Strauss für seine Salome eine Sängerin mit dem Körper einer Siebzehnjährigen und der Stimme einer Isolde wünschte: Wann je hätte es den hochdramatischen Sopran oder den Heldentenor im Alter von 25 Jahren gegeben? Heute gibt es ihn, wegen der erwähnten höheren Anforderungen an Volumen, Kraft und Durchsetzungskraft, weniger denn je.

Dabei ist beim Begriff »dramatisch« zu ergänzen, dass zwar größte vokale Energien für Brünnhilde–Isolde–Turandot–Elektra unabdingbar sind, dramatischer Ausdruck aber nicht in Phon gemessen und schon gar nicht durch Affektsimulationen bewirkt werden kann. Auch wenn es »Frühstarter« gegeben hat – Adelina Patti mit 16, Ernestine Schumann-Heink mit 17, Lilli Lehmann mit 20, Marcella Sembrich mit 21, Enrico Caruso und Titta Ruffo mit 21, in jüngerer Zeit auch Plácido Domingo mit 20 –, beginnt eine Karriere üblicherweise mit Mitte zwanzig. Sie findet ihren Höhepunkt in den Dreißigern und Vierzigern und sollte bis in die Fünfziger in ersten Partien fortgesetzt werden können.

Bei kluger Steuerung – also durch die Auswahl eines der Stimme gemäßen Repertoires – können die Grenzen des ursprünglichen Fachs behutsam erweitert, nicht aber überschritten werden. Behutsam? Wie ist es denn zu der Klage gekommen, dass Sänger des »großen Fachs« kaum noch zu finden sind? Wie groß muss die Not sein, dass James Levine 2009 bekannte, es werde für die Metropolitan Opera à la longue kaum möglich sein, »›Don Carlo‹, ›La forza del destino‹, ›Un ballo in maschera‹ oder ›Aida‹ aufzuführen.« Dass Riccardo Muti feststellte, es sei heute »unmöglich, eine Oper wie ›La forza del destino‹ angemessen zu besetzen.«

Zitiert werden diese Dirigenten in einer sorgfältigen Feldstudie von Andrew Moravcsik: »Where have the Great Big Verdi Voices gone?«. Der Autor, Professor of Politics and Public Affairs an der Princeton University, hat mehr als 135 »opera professionals« – aktive und frühere Sängerinnen und Sänger, Dirigenten, Impresarios, Casting Directors, Berater, Coaches, Begleiter, Gesangslehrer, Verwaltungsexperten, Kritiker und Agenten in zehn Ländern – zum Stand des dramatischen Gesangs befragt. Die Antworten auf einen Nenner gebracht: Viele große Partien sind nicht länger auf dem Niveau der 1980er-Jahre zu besetzen, und an etlichen großen Theatern werden sie mit Sängerinnen und Sängern besetzt, deren Stimmen die Spuren des Verschleißes tragen und die ihre Karriere mit reduzierten Mitteln fortsetzen müssen. Dies führt natürlich dazu, dass das Publikum (Kritiker inbegriffen) sich an die sinkenden Standards gewöhnt und die Maßstäbe verliert.

Karriere als Selbstopfer

»Du kannst so rasch sinken, dass du zu fliegen meinst.«

Marie von Ebner-Eschenbach

Was bedeutet das für junge Sängerinnen und Sänger und die Planung ihrer Laufbahn? Eine Erinnerung an die Praxis früherer Ensembletheater ist hier vielleicht doch angebracht. Die meisten Sänger, fachspezifisch engagiert, konnten sich während ihres ersten Engagements bewähren und dann Schritt für Schritt an größere Bühnen wechseln. Intendanten wie Dirigenten mussten schon aus eigenem Interesse ihre Sänger pfleglich behandeln. Schließlich wurden sie morgen und übermorgen und auch im nächsten Jahr gebraucht. Ein Dirigent wie Clemens Krauss, nur ein Beispiel, ließ seinen Heldentenor nach dem Tristan den Tamino singen, um die Stimme zu lockern; oder er setzte ihn in einer italienischen Partie ein, um die Stimme für die drei Tage später folgende Partie des Tannhäuser zu lockern. Gewiss hat es schon damals auf Gastspiele erpichte Stars gegeben. Aber bis in die 1950er-Jahre konnten auch große Rollen aus dem hauseigenen Ensemble besetzt werden.

Seit Beginn des Jetzeitalters ist das einst verpönte »Gastierwesen« die Regel. In der Folge werden heute an allen Bühnen der Musikmetropolen für zentrale Partien internationale Stars engagiert, die ihre Paradepartien sechsmal hier, sechsmal dort und sechsmal andernorts singen. Es gibt Soprane, die sich, wie auf der Plattform »Operabase« dokumentiert, zwei Jahre lang der Belastung aussetzen, ausschließlich Partien wie Kundry, die Färbersfrau, Turandot, Isolde, Brünnhilde und Elektra zu singen; oder Tenöre, die nur als Florestan, Tannhäuser, Siegfried, Tristan, Otello und Bacchus gebucht werden – oft drei oder vier Jahre im Voraus, ohne dass ein Theater sicher sein könnte, dass sie dann noch über die Qualitäten verfügen, derentwegen sie engagiert worden sind. Und jedes Mal werden sie bis an die Grenzen und darüber hinaus gefordert, weil es den Dirigenten am Hause X wenig schert, ob der Star in sechs Wochen am Hause Y noch bei Stimme ist. Heute ist schon in den Curricula junger debütierender Sängerinnen und Sänger zu lesen, welche Partien sie weltweit und unter welchen Dirigenten gesungen haben. Würde der Name über diesen »Biografien« durch den einer Kollegin oder eines Kollegen ausgetauscht, würde es kaum jemand bemerken.

Berufsanfänger bekommen folglich nur selten die Chance, sich in Ruhe zu entwickeln. Gerade kleine Bühnen suchen nach jungen Sängerinnen und Sängern, die vielseitig sind und fachübergreifend eingesetzt werden können. Die wichtigsten Kriterien für ihr Engagement sind, wie der bekannte Gesangslehrer Rudolf Piernay in seinem Buch »Klassischer Gesang als Beruf und Berufung« feststellt, nicht mehr die eigentlich grundlegenden technischen Qualitäten, sondern die »Frage des Stimmumfangs nach oben und unten und der Belastbarkeit der Höhe, wie auch der oberen Grenze des Stimmumfangs«. Damit werden junge Sänger der Gefahr ausgesetzt, nicht nur ständig an ihre Grenzen gehen zu müssen, sondern oft auch darüber hinaus. Es gab Zeiten, in denen dies als »Körperverletzung« (Franziska Martienssen Lohmann: »Der wissende Sänger«) angesehen wurde. Das Problem wird dadurch verschärft, dass junge Sänger während der Probenzeit an neuen Inszenierungen abends singen müssen.

Der erwähnte Mangel im dramatischen Fach führt zwangsläufig dazu, dass vielversprechende Sängerinnen und Sänger nach ersten Erfolgen »indecent offers« ausgesetzt werden, wie einige Soprane dem Magazin »Opera News« berichteten. Wenn einem Koloratursopran die Partie der Salome angeboten wird oder einem lyrischen Sopran die der Isolde, zeugt dies entweder von Unkenntnis oder von Verantwortungslosigkeit, wenn nicht von beidem. Ein aktuelles Beispiel: Bei den Salzburger Festspielen 2018 bekam die Sopranistin Asmik Grigorian für ihre Darstellung der Salome hymnische Kritiken, auch vom Verfasser dieses Beitrags. Tags darauf kam die Anfrage, ob ich sicher sei, dass sie in drei Jahren »definitiv die Elektra singen« könne. Die litauische Sängerin tat das, was viele Kolleginnen und Kollegen nicht taten oder wagten: Sie schlug das Angebot aus

Wer den Opernbetrieb in den vergangenen vier bis fünf Jahrzehnten verfolgt hat, konnte sehen, wie oft gerade außergewöhnlich begabte Sängerinnen und Sänger auf der Karriereleiter zwei Stufen auf einmal genommen haben: nach unten. Lyrische Soprane, die sich, im Vertrauen auf kurze Erfolge, mit Partien wie Mozarts Konstanze, Donizettis Lucia, Verdis Violetta oder Bergs Lulu überfordert haben und in der Versenkung verschwanden. Die französische Sopranistin Nathalie Dessay kann hier namentlich genannt werden, weil sie selbst eingestand, dass sie nur als »Typ« eine Violetta in »La Traviata« war, aber nicht dank ihrer Stimme. Welch ein Missverständnis – und von den Intendanten und Regisseuren ein Zynismus –, in der äußeren Erscheinung schon eine Musik-Gestalt zu sehen.

»Hört, ihr Leut‘, und laßt euch sagen.«

»Diese Comprimarios, diese Heroen der Bühne, haben meine volle Sympathie. Sie sind die Protagonisten eines flüchtigen Augenblicks.«

Tito Gobbi, italienischer Bariton

Da es in vielen Opern nur zwei oder drei erste Rollen gibt, aber vier oder fünf zweite und dazu einige für Stichwortgeber, müssen etliche Sänger als »comprimario« beginnen: mit kleinen Rollen. Selbst bei Wettbewerben erfolgreiche junge Sänger, die in die Nachwuchsstudios der größeren Theater engagiert werden, beginnen in aller Regel als »Sekondarier«. Von »kleinen« Rollen zu sprechen ist allerdings nicht angebracht. Ein kluger britischer Theaterslogan lautet: »There are no small parts, only small players.« Und der ausgefuchste Theaterkenner Bertolt Brecht sagte: »Je besser die Qualität bei der Besetzung einer Nebenrolle ist, desto besser ist die Inszenierung.« Brecht spielt mit dieser Einsicht, wenn am Ende der »Dreigroschenoper« der reitende Bote des Königs verkündet: »Damit ihr wenigstens in der Oper seht, wie einmal Gnade vor Recht ergeht.« Es liegt also nur am Darsteller, dies in einen vielsagenden Satz zu verwandeln, die Brecht’sche Botschaft vom schönen, aber falschen Schein der Oper also sinnfällig zu machen.

Der Comprimario muss so verwandlungsfähig sein wie der Mann mit den tausend Gesichtern. Für ihn gilt es, in wenigen Minuten, wenigen Sekunden unterschiedlichsten Figuren eine unverwechselbare Physiognomie zu geben. Die Annalen der Oper verzeichnen »comprimarios with a capital C«, wie Tito Gobbi schreibt, der wohl auch deshalb zu einem »Genie der Darstellung« geworden ist, weil er als junger Sänger jahrelang mit herausragenden Comprimarios auf der Bühne gestanden hat. Die Karriere eines Comprimario kann nicht nur künstlerisch lohnend sein, sondern auch finanziell. In der Zeit, da sich Stars von den Strapazen großer Partien erholen müssen, kann er drei oder vier Aufführungen singen (und dies ein Leben lang).

Wie wunderbar endlich die Chancen eines »Cameo«-Auftritts – die Möglichkeit, in wenigen Minuten zum Hauptdarsteller zu werden. In Richard Wagners »Die Meistersinger von Nürnberg« hat der Sänger des Hans Sachs eine Aufgabe zu bewältigen, die auf das Gelingen des Unmöglichen ausgerichtet ist. Er muss rund zweieinviertel Stunden mit vollem Stimmeinsatz singen, in der hohen wie in der tiefen Lage. Aber verlangt der Titel der Oper nicht auch, dass für alle Figuren Meistersinger aufzubieten sind – auch für den Nachtwächter, der im zweiten Akt zweimal nur fünf kurze Verse zu singen hat? Dass es keine kleine Rolle ist, merkt man, wenn diese Verse – »Hört, ihr Leut‘, und laßt euch sagen« – von einem großen Sänger gesungen werden. Dann werden sie zu einem magischen Moment. Wenn Barbarina in »Le Nozze di Figaro« über die verlorene Nadel klagt, kann die Sängerin innerhalb von sechzig Sekunden zum Mittelpunkt der Aufführung werden – so wie auch Arturo in »Lucia di Lammermoor«, Marullo in »Rigoletto«, Flora in »La Traviata«, Paolo in »Simon Boccanegra«, Mercédès in »Carmen«, Olga in »Eugen Onegin«, der Gottesnarr in »Boris Godunow«, Arlecchino in »Pagliacci«, der Mesner in »Tosca« oder Annina in »Der Rosenkavalier« zu Protagonisten werden können.

Das Grammophon als Lehrer

»Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen.«

Johann Wolfgang von Goethe, »Faust«