Ina Brandt

Eulenzauber

Ein goldenes Geheimnis

Mit Illustrationen von
Irene Mohr

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In der Reihe Eulenzauber von Ina Brandt
sind im Arena Verlag erschienen:

Eulenzauber. Ein goldenes Geheimnis (Band 1)
Eulenzauber. Rettung für Silberpfote (Band 2)

Ina Brandt
arbeitete nach dem Germanistikstudium einige Jahre als
Lektorin, bevor sie sich als Autorin selbstständig machte.
Seitdem hat sie zahlreiche Kinderbücher veröffentlicht. Mit
»Eulenzauber« erfüllt sie sich einen lang gehegten Traum,
den ihr ein kleiner Waldkauz in vielen Nächten aus dem
Garten zugerufen hat. Die Autorin lebt mit ihrem Mann
und ihren beiden Töchtern in der Nähe von Stuttgart.

Irene Mohr
wurde in Hamburg geboren und hat dort an der
Fachhochschule für Gestaltung Grafikdesign studiert.
Seitdem arbeitet sie als Illustratorin und Grafikerin für
verschiedene Kinderbuchverlage. In ihrem Atelier hat sie
eine Malschule gegründet und dort viele Jahre Kurse für
Kinder und Erwachsene gegeben. Wenn sie keine Bücher
illustriert, ist sie am liebsten in der freien Natur – zwar
ohne Eule, aber dafür gerne mit Pinsel und Staffelei.

 

Für alle, die mich dabei
unterstützt haben, dass die
kleine Eule nun fliegen darf.

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1. Auflage 2015
© 2015 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag- und Innenillustration: Irene Mohr
Covergestaltung: Max Meinzold
ISBN 978-3-401-80595-5

www.arena-verlag.de

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Diese Zeilen hinterlasse ich dem Menschen, der daran glaubt, dass es Zaubereulen wirklich gibt! Dem, der bereit ist, ihr Geheimnis zu wahren und ihre Kräfte weise zu nutzen. Dem, der seine Eule gefunden hat, die bloß er verwandeln kann. Nur wenn die beiden wirklich füreinander bestimmt sind, wird das Wunder wahr.

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1

Die Faltins ziehen um

Flora saß auf der Rückbank des alten Kombis und ließ die Landschaft an sich vorüberziehen. Es war schon einige Zeit her, seit sie das letzte Dorf passiert hatten. Seitdem gab es nichts als Obstwiesen und Getreidefelder. Flora stöhnte. Sie würde eingehen vor Langeweile!

Auf der Rückseite des großen Möbelwagens vor ihnen prangte in roter Schrift: »Umzüge mit Herbig-Fröhlich! Fröhlich und bequem in Ihr neues Zuhause!«

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So ein Quatsch!, dachte Flora grimmig. »Bequem« war es die letzten Wochen wirklich nicht gewesen. Tagelang hatte Floras Mutter Kartons gepackt, die dann überall in der Wohnung herumstanden und den Weg versperrten. Zum Schluss hatte Flora drei Tage dieselbe blöde Jeans anziehen müssen, die sie sowieso hasste. Aber alles andere steckte schon in irgendeiner Kiste. Das einzig Gute war gewesen, dass irgendwann auch alle Töpfe und Pfannen eingepackt waren. Zum Mittagessen hatte es dann immer leckere Pizza oder Schnitzelbrötchen gegeben. Aber »Fröhlich und bequem in Ihr neues Zuhause« konnte man deswegen trotzdem nicht sagen. Flora hätte viel lieber weiter in der Stadt gewohnt. Bei ihrer besten Freundin Zoe, die sie schon jetzt vermisste.

»Ich muss mal«, unterbrach Felix, Floras jüngerer Bruder, ihre Gedanken.

Floras Mutter fuhr herum. Ihre hellblauen Augen funkelten hinter den Gläsern ihrer eckigen Hornbrille. »Das geht jetzt auf keinen Fall«, erklärte sie entschieden. »Wir müssen hinter dem Möbelwagen bleiben. Du warst doch auf der Toilette, bevor wir abgefahren sind. Das ist nicht mal eine Stunde her.«

»Ich muss aber trotzdem«, maulte Felix. Floras Mutter seufzte. So war es immer mit Felix. Kaum saß er im Auto, musste er aufs Klo. Oder ihm wurde schlecht.

»Wir sind ja bald da«, versuchte Frau Faltin, ihn zu beruhigen. Und tatsächlich tauchte bereits das gelbe Ortsschild mit der Aufschrift »Tannenbach« auf. Der Möbelwagen drosselte das Tempo. Vor ihnen schmiegten sich die Häuser des Dorfes aneinander. Es war in ein Tal von sanft ansteigenden Wiesen und Wäldern eingebettet. Rote Dachziegel glänzten in der Sonne und in der Ferne stach die Spitze eines Kirchturms in den blauen Himmel.

Floras Blick blieb am Bild eines Eulenkopfes auf einem riesigen Hinweisschild hängen. »Greifvogelpark Federstein« stand darauf.

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»Ach, hier geht’s also nach Federstein«, murmelte ihre Mutter und schaute der schmalen Straße hinterher, die rechts von ihnen abzweigte.

»Woher kennst du Federstein?«, wollte Flora wissen.

»Hab ich in einer Broschüre gelesen. Dort gibt’s einen der größten Wildparks mit Greifvögeln und Eulen«, erklärte Frau Faltin.

»Können wir da mal hin?«, fragte Flora. Das klang spannend!

»Jetzt lass uns erst mal ankommen«, erwiderte Frau Faltin, während sie versuchte, ihre wilden braunen Locken in einem Pferdeschwanz zu bändigen.

Sie fuhren durch einen Kreisverkehr, bogen rechts ab, dann zweimal links und hielten schließlich vor einem großen, alten Bauernhaus. Neben der roten Eingangstür prangte das Schild: »Tierarztpraxis Doktor Schellhammer«. Darunter stand ein Blumenkübel mit Margeriten, deren Köpfe traurig nach unten hingen.

»Die brauchen dringend Wasser«, stellte Floras Mutter fest, während sie sich abschnallte.

»Und ich brauch dringend ein Klo«, meldete sich Felix erneut von der Rückbank.

»Dann immer rein in unser neues Heim«, meinte Doktor Faltin, Floras Vater, gut gelaunt und schnappte sich den Schlüssel, der auf der Mittelkonsole lag. Normalerweise fand Flora seine selbst erdachten Reime ziemlich witzig, aber nicht heute. Sie hatte keine Lust auf dieses »neue Heim«. Als sie mit ihren Eltern vor ein paar Wochen mal kurz hier gewesen war, hatte es überall im Haus ganz komisch gerochen.

Zögernd folgte Flora ihrer Mutter in den ersten Stock. Im Erdgeschoss befand sich die Praxis, die Floras Vater nun übernehmen würde. Damit erfüllte er sich einen Herzenswunsch, denn er hatte schon immer Landtierarzt werden wollen. Aber irgendwie war er in der Kleintierpraxis in der Stadt hängen geblieben. Bis er die Anzeige von Doktor Schellhammer gesehen hatte, der einen Nachfolger suchte. Dreißig Jahre hatte er hier als Tierarzt gearbeitet, und mindestens so alt war auch die Einrichtung der Praxis, meinte Floras Vater. Er hatte viel Geld für moderne Geräte ausgegeben, einen neuen Computer für die Anmeldung gekauft, den Fußboden erneuern lassen und das Wartezimmer schick eingerichtet. Deswegen war auch kein Geld für die Wohnung im ersten Stock mehr übrig gewesen. Sie war nur frisch gestrichen worden. Die Wände empfingen sie nun strahlend weiß. Es roch nach Farbe, und das war immerhin besser als der muffige Geruch bei ihrem letzten Besuch.

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»Wo ist Kinderzimmer eins?«, ertönte da die Stimme eines Möbelpackers hinter Flora.

»Das bist du, Flora«, rief ihre Mutter strahlend, als ob in der Kiste ein Riesengeschenk steckte. »Hier entlang, bitte.«

Kopfschüttelnd folgte Flora ihrer Mutter.

»Super, wie viel Platz du jetzt hast, oder?«, fragte Frau Faltin und strich ihrer Tochter liebevoll ein paar besonders widerspenstige Locken aus dem Gesicht. Die hatte Flora von ihr geerbt, nur waren Floras Locken blond. Aber mit ihren katzenartigen grünen Augen und den vielen Sommersprossen auf der Nase sah sie ihrer Mutter sonst eigentlich gar nicht ähnlich.

»Hmm«, grummelte Flora. Tatsächlich wirkte der leere Raum größer als ihr altes Kinderzimmer, aber trotzdem konnte sich Flora nicht darüber freuen.

»Und schau mal, unser Garten!«, fuhr ihre Mutter fort und öffnete das Fenster. Sie sog tief die Luft ein. »Herrlich, wie gut es hier riecht, nicht wahr?«

Flora nickte mühsam. Früher hatte sie auf die Straße geblickt, in der ein paar Häuser weiter ihre Freundin Zoe wohnte. Für Flora gab es keine schönere Aussicht als diese!

»Wo soll das hin?« Zwei weitere Männer standen mit einem Regal im Zimmer und schauten Floras Mutter fragend an.

»Das kommt an diese Wand«, entschied sie. »Und den Schreibtisch stellen wir vor das Fenster. Dort hast du genug Licht bei den Hausaufgaben, Flora.«

Floras Magen krampfte sich zusammen. Hausaufgaben! Das erinnerte sie daran, dass in zwei Wochen die großen Ferien zu Ende waren und sie in die neue Klasse kam. Schon bei dem Gedanken daran wurde ihr ganz schlecht. Ach, wenn das alles doch nur ein Traum wäre und sie gleich wieder in ihrem alten Zimmer aufwachen würde! Das Kreischen einer Bohrmaschine riss Flora aus ihren Gedanken. Nein, das war kein Traum. Sie waren angekommen!

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2

Fast wie im Urlaub

Am nächsten Morgen wurde Flora von lautem Glockenläuten geweckt. Verschlafen blickte sie sich um. Was war das für ein Lärm? Wo war sie? Schlagartig fiel es ihr wieder ein. Die erste Nacht in ihrem neuen Zuhause! Na prima, wenn hier jeden Sonntag so ein Krach war. Das war’s dann wohl mit Ausschlafen. Müde tappte sie zum Fenster und öffnete es. Rechts in der Ferne glänzten die goldenen Zeiger der Kirchturmuhr in der Sonne. Es war bereits neun! Unter ihr sah sie eine Katze durch das hohe Gras schleichen, bis sie zwischen den Tannen im hinteren Teil des Gartens verschwand. Vielleicht wollte sie von dort weiter in den Wald, der sich gleich an die Obstwiesen anschloss? Flora gähnte und streckte sich. Ihr Bauch fühlte sich wie ein einziges, großes Loch an. Sie hatte Hunger!

Als sie in die Küche kam, wühlte ihre Mutter gerade kopfüber in einer Umzugskiste.

»Wo habe ich nur das Kaffeepulver hin?«, hörte Flora sie murmeln.

»Da ist es doch«, schaltete sich Flora ein und deutete auf die goldene Packung, die neben dem Spülbecken stand.

»Super! Ich wusste, dass ich es schon in der Hand hatte«, antwortete ihre Mutter erleichtert. »Guten Morgen, Flora!«

»Morgen«, murmelte Flora und setzte sich an den großen Küchentisch. »Hast du das Müsli auch schon gefunden?«

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»Ja, hab ich!«, erwiderte ihre Mutter und hielt ihr strahlend die Packung hin. Flora fragte sich, warum ihre Mutter so gut aufgelegt war. In der Wohnung herrschte das reinste Chaos. Nur die Küche wirkte mit den hellen Holzmöbeln und den rot getupften Vorhängen schon recht gemütlich. Im Gang dagegen stapelten sich unzählige Kartons. Normalerweise bekam Frau Faltin bei Unordnung immer schlechte Laune. Aber heute schien sie das kein bisschen zu stören.

Floras Vater kam mit Felix pfeifend aus dem Bad. Seine dunklen Locken klebten nass am Kopf und sein Gesicht glänzte frisch rasiert.

»Also, wir Männer sehen heute Morgen bedeutend besser aus als ihr«, bemerkte er mit einem Blick auf Flora und ihre Mutter, die beide noch im Schlafanzug steckten.

»Warte nur ab, das wird sich nach dem Frühstück gleich ändern«, versprach Floras Mutter lachend. »Aber jetzt brauch ich erst einmal einen Kaffee.«

Bis zum frühen Nachmittag arbeiteten Floras Eltern unentwegt: Sie packten aus, putzten, rückten, hämmerten, bohrten, schleppten … und stöhnten. Es war ein ziemlich heißer Tag. Eigentlich viel zu heiß für jede Anstrengung. Flora und Felix waren schon bald nach draußen geflüchtet, um den neuen Garten zu erforschen. Er war ziemlich verwildert und ringsum von einer dichten Hecke umgeben. Der hintere Teil wurde von drei ausladenden Tannen eingenommen und auf der Wiese davor standen verstreut ein paar knorrige Apfelbäume. Das Schönste aber war ein riesiger, alter Nussbaum. Um seinen dicken Stamm schmiegte sich eine verwitterte Holzbank, auf die sich Flora und Felix jetzt fallen ließen. Flora fragte sich, ob der alte Tierarzt mit seiner Familie auch hier gesessen hatte? Auf jeden Fall musste er Kinder gehabt haben, denn hinten bei den Tannen hatten Flora und Felix die Reste eines verfallenen Baumhauses entdeckt.

»Hier kann man bestimmt super Fußball spielen«, meinte Felix. »Dort wäre das eine Tor« – er deutete auf zwei kleine Apfelbäume – »und hier drüben dann das andere. Vielleicht kann Papa ja mit mir was bauen.«

»Bevor Papa hier irgendwas baut, muss er erst mal mähen. Sonst kannst du das mit dem Fußballspielen vergessen«, meinte Flora mit einem Blick auf das Gras, das ihr fast bis zum Knie reichte.

»Ist der Garten nicht toll?«, rief ihnen da ihre Mutter von oben zu. Sie stand auf dem Balkon, von dem eine Wendeltreppe direkt nach unten zu ein paar überwucherten Steinplatten führte. Hier hatten früher bestimmt einmal Tische und Stühle gestanden. »Habt ihr Lust auf ein Picknick?«

»Oh ja!«, rief Felix sofort begeistert. Auch Flora fand die Idee gar nicht schlecht. Sie halfen ihrer Mutter, zwei große Picknickdecken, belegte Brote und Teller mit Gemüse und Obst in den Garten zu tragen. Kurze Zeit später streckte sich Flora genüsslich aus, verschränkte einen Arm hinter dem Kopf und biss zufrieden in die allerletzte Karotte. Sie blickte in den blauen Himmel und beobachtete einen Schwarm Mücken, der in der Luft tanzte. So einen tollen Garten hatten sie in der Stadt nicht gehabt. Und Picknicke kannte sie nur von Ausflügen. Oder vom Urlaub. Aber hier auf der eigenen Wiese zu liegen, war eigentlich noch viel schöner.

Auch die nächsten Tage hatte Flora immer wieder das Gefühl, im Urlaub zu sein. Sie schlenderten mit ihrer Mutter durchs Dorf, als ob sie einen Ferienort kennenlernten. Sie schauten sich die Kirche mit dem großen Marktplatz davor an, gingen zum Bäcker, Metzger und dem Schreibwarenladen, der sich direkt neben der Feuerwache befand. Dort kaufte Frau Faltin drei Fußball-Stickerkarten für Felix und er hatte tatsächlich Glück! Endlich war die des Torwarts dabei. Strahlend starrte Felix auf den Sticker in seinen Händen. Die Karte hatte ihm schon so lange gefehlt. Fußball war für ihn wirklich das Größte!

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»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«, fragte die freundliche Verkäuferin.

»Nein, heute nicht, vielen Dank«, erwiderte Floras Mutter. »Aber wir kommen sicher bald wieder, wenn wir wissen, was wir noch alles für die Schule brauchen. Wir sind erst vor ein paar Tagen hergezogen.«

»Ach, sind Sie die Frau vom neuen Tierarzt?«

Floras Mutter schmunzelte. »Ja, woher wissen Sie das?«

»Das hat sich schnell herumgesprochen«, erwiderte die Verkäuferin. »Übrigens: Ich heiße Maria Schuster.« Mit einem Lächeln streckte sie Floras Mutter die Hand hin. Dann erklärte sie ihr ausführlich, dass man in dem kleinen Laden auch Bücher bestellen, Pakete verschicken und Sachen zur Reinigung abgeben konnte. »Und ich helfe auch sonst gern, wenn Sie irgendwelche Fragen haben. Ich kenne mich hier im Dorf ganz gut aus«, beendete sie endlich ihren Vortrag.

»Können wir jetzt gehen?«, drängte Felix. Bestimmt konnte er es nicht mehr erwarten, die neue Fußballkarte in sein Sammelbuch zu kleben.

»Ja, wir müssen weiter«, stellte Frau Faltin mit einem Blick auf die Uhr fest.

»Na, dann bis bald!« Frau Schuster winkte zum Abschied.

»Puh, die redet aber viel«, meinte Flora, als sie wieder auf der Straße standen.

Frau Faltin lachte. »Ja, da hast du recht. Das glaube ich ihr aufs Wort, dass sie hier sehr gut Bescheid weiß. Bestimmt kennt sie jeden, der zu Papa in die Praxis kommt.«

»Meinst du, es kommt überhaupt jemand?«, wollte Felix wissen.

»Ganz sicher«, erwiderte Frau Faltin voller Überzeugung. »Papa ist ein guter Tierarzt. Das wird sich schnell herumsprechen. Und er kann schließlich nicht nur gut mit Tieren umgehen, sondern auch mit Menschen.«

»Was man von Frau Timmig nicht gerade behaupten kann«, meinte Flora. »Die ist irgendwie so mürrisch.« Dabei sah die kleine, etwas pummelige Sprechstundenhilfe mit den wirren schwarzen Haaren eigentlich ganz sympathisch aus.

»Ach, das wird schon noch«, antwortete Frau Faltin. »Für sie ist jetzt eben vieles anders. Sie hat nicht nur einen neuen Chef, sondern muss sich auch noch mit dem neuen Computer zurechtfinden. Das ist für eine Frau in ihrem Alter nicht leicht.«

Frau Timmig hatte nur noch zwei Jahre, bis sie in Rente ging. Floras Vater hatte seinem Vorgänger versprochen, dass sie noch so lange bei ihm arbeiten durfte. Jetzt erklärte Herr Faltin ihr täglich das neue Computerprogramm. Danach sah er immer ziemlich erschöpft aus.

Flora wollte ihrem Vater unbedingt auch in der neuen Praxis einmal zur Hand gehen. Schon früher hatte sie ihn ab und zu begleitet, wenn er abends noch einmal nach den kranken oder frisch operierten Tieren geschaut hatte. Er fand, dass sie dafür ein gutes Händchen hatte. Und Flora liebte es, die müde dreinblickenden Hunde, Katzen und Meerschweinchen ganz vorsichtig zu streicheln und ihnen mit leiser Stimme gut zuzureden. Sie war nämlich der festen Überzeugung, dass Tiere alles verstanden, was man zu ihnen sagte.

Ihr Vater hatte ihr versprochen, dass sie auch in Tannenbach mithelfen durfte. Aber erst einmal sollte sie in der neuen Klasse »Fuß fassen«. Was für ein blöder Ausdruck! Am liebsten hätte Flora nicht einmal einen einzigen Zeh über die Schwelle des Klassenzimmers gesetzt. Aber es nützte alles nichts. Der erste Schultag rückte immer näher!

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3

Lauter neue Gesichter

Als Flora ein paar Tage später mit ihrer neuen Lehrerin das Klassenzimmer betrat, wurde es mucksmäuschenstill. Es war genauso schrecklich, wie Flora es sich ausgemalt hatte. Zwanzig neugierige Augenpaare richteten sich auf sie und Flora spürte, wie ihr Kopf zu glühen anfing. Sie wusste sofort, dass nun der blöde feuerrote Streifen auf ihrer Stirn erschien. Ausgerechnet jetzt! Dieser Fleck zog sich von ihrer Nase über die Stirn bis zu den Haaren und tauchte immer dann auf, wenn Flora aufgeregt war. Und sie konnte nichts dagegen tun. Wie sie ihn hasste!

»Flora, setz dich doch dort hinten in die Bank«, erklang da die Stimme von Frau Hauser. Flora hatte gar nicht gehört, was die Lehrerin alles gesagt hatte.

»Für den Anfang sitzt du leider allein. Aber wir wechseln alle vier Wochen durch, dann wird sich das ändern«, fuhr sie fort. Doch Flora hatte gar nichts dagegen, hinten für sich zu sitzen. So konnten die anderen sie wenigstens nicht weiter anstarren.

Bis zur großen Pause las die Klasse gemeinsam eine Geschichte und dann durfte sich jeder selbst eine überlegen und aufschreiben. Das machte Spaß, denn Flora dachte sich wahnsinnig gern Geschichten aus. Am liebsten spannende mit Tieren in Not. Wie zum Beispiel die von dem neugierigen, kleinen Kätzchen, das den Schuppen des Nachbarhauses erforscht hatte und dann eingesperrt worden war. Flora war noch ganz ins Schreiben vertieft, als es klingelte. Alle schnappten sich ihre Pausenbrote und stürmten nach draußen. Flora ging zögernd hinterher.

»Komm, ich begleite dich«, sagte Frau Hauser und legte einen Arm um Floras Schulter. Sie stellte sich mit ihr zu einer Gruppe von Mädchen.

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»Frau Hauser, gestern hatte ich null Fehler bei der Springstunde«, berichtete gleich eine von Floras neuen Mitschülerinnen aufgeregt. Sie hatte lange braune Haare, die von einem Stirnband aus ihrem runden, etwas blassen Gesicht gehalten wurden.

»Prima, Nathalie!«, lobte sie die Lehrerin. Da erklang bitterliches Weinen aus der anderen Ecke des Pausenhofs. Ein Erstklässler saß mit aufgeschlagenem Knie am Boden und Frau Hauser eilte zu ihm.

»Dafür musste ich Chester zu allem antreiben«, fuhr ein anderes Mädchen fort. Es war ziemlich groß und so dünn wie eine Bohnenstange. »Er hätte sich am liebsten überhaupt nicht bewegt.«

»Was man von Daisy nicht gerade behaupten kann«, schaltete sich nun ein drittes Mädchen ein, bevor es einen großen Biss von seinem Pausenbrot nahm. Unter dem dichten Pony, der ihre blauen Augen halb verdeckte, musterte sie Flora neugierig. »Reitest du auch?«

Flora schüttelte den Kopf.

»Na ja, macht ja nichts«, meinte das Mädchen und lächelte etwas mühsam.

»Magst du etwa keine Pferde?«, fragte Nathalie mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Doch, doch, klar«, beteuerte Flora. Was bildete die sich denn ein? Wer nicht reitet, mag auch keine Pferde?

»Und was hast du nachmittags sonst so gemacht?«, wollte das große, dünne Mädchen wissen.

»Einmal in der Woche war ich beim Einradfahren. Sonst hab mich mit meiner Freundin getroffen«, erklärte Flora.

»Einradfahren?«, fragte Nathalie und warf Flora einen abschätzigen Blick zu. »Und so was macht Spaß?«

Flora nickte nur. Diese Nathalie hatte ja keine Ahnung! Was stellte die nur für doofe Fragen? Flora hätte sich am liebsten ganz weit weg gewünscht. Doch da klingelte zum Glück die Pausenglocke.

In den nächsten Tagen ging Flora den Mädchen aus dem Weg. Die große Pause war für sie der Horror. Sie schlenderte ziellos umher, denn das war immerhin noch besser, als allein dazustehen. Wie sehr sie Zoe vermisste! Sonst hatte sie sich immer auf die Pause gefreut, weil sie dann miteinander spielen konnten. Und jetzt? Jetzt spielte Zoe mit den anderen Mädchen aus Floras alter Klasse. Aber bei ihrem letzten Anruf hatte sie gesagt, dass das natürlich nicht dasselbe sei. Was hätte Flora darum gegeben, wenn Zoe jetzt hier sein könnte!

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Hier und da schnappte Flora Gesprächsfetzen ihrer Mitschüler auf. Es schien nur zwei Themen zu geben: Pferde und Fußball. Na toll!

Felix hatte es gut. Er hatte längst neue Freunde gefunden und tauschte eifrig Sammelkarten aus.

»Ich hab heute meinen allerletzten Sticker bekommen!«, berichtete er begeistert, als die Familie gemeinsam beim Mittagessen saß. »Jetzt hab ich endlich alle Spieler zusammen!«

»Super!«, freute sich Herr Faltin mit ihm. »Und du, Flora, was hast du in der großen Pause gemacht?«

»Nichts«, erwiderte Flora und stocherte widerwillig in ihrem Gemüse herum. Seit ihre Mutter vormittags in dem Laden bei der alten Mühle arbeitete, brachte sie dauernd irgendwelches Grünzeug mit. Ständig probierte sie neue, extra gesunde Rezepte aus. Und die schmeckten manchmal wirklich gruselig, fand Flora.

»Ich muss heute Nachmittag noch mal eine Stunde ins Geschäft«, verkündete Frau Faltin. »Wir müssen noch den Rest vom Mühlenmüsli verpacken. Willst du nicht mitkommen, Flora? Felix ist bei Ben zum Fußballspielen und du könntest dann einmal sehen, wo ich arbeite.«

Flora stöhnte innerlich. Na, das klang ja spannend! Sie konnte beim besten Willen nicht verstehen, was daran so toll war, Haferflocken, Äpfel oder Salat zu verkaufen. Aber Floras Mutter kochte nun einmal für ihr Leben gern. Und noch viel lieber backte sie. Es machte ihr Spaß, Kunden zu beraten und ihnen Tipps zu geben.

»Keine Sorge, du musst nicht mithelfen«, fuhr Frau Faltin fort. Ihr war Floras Unwillen nicht entgangen. »Saskia, die Tochter der Müllers, ist auch da. Ich dachte, du könntest sie und ihren Hund Zorro vielleicht bei einem Spaziergang begleiten?«

»Die Müllers haben einen Hund?«, fragte Flora erstaunt.

»Ja, einen schwarzen Labrador. Er ist ganz lieb und freut sich bestimmt, dich kennenzulernen«, fügte Frau Faltin mit einem Augenzwinkern hinzu. »Also, was ist, kommst du mit?«

»Na klar!«, antwortete Flora sofort. Das klang viel besser als ein weiterer langweiliger Nachmittag zu Hause!

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4

Mit Zorro im Wald

Zwei Stunden später radelte Flora mit ihrer Mutter zur Mühle. Sie fuhren an dem kleinen Fluss entlang, der sich wie eine Schlange durchs Tal wand. Vorbei an Getreidefeldern, deren haarige Ähren helle Flecken gegen das Grün des Waldes bildeten. Ein Mäusebussard erhob sich lautlos aus einer der hohen Tannenspitzen und landete nicht weit von Flora auf einem der vielen Apfelbäume, die den Weg säumten. Verträumt blickte Flora ihm nach. Was für riesige Schwingen er hatte. Wenn sie doch auch nur einmal so fliegen könnte!

Schon bald sahen sie den hohen Getreidespeicher der Mühle, der seinen lang gezogenen Schatten auf einen modernen Flachdachbau mit viel Glas warf. Dahinter lag halb verdeckt das große, alte Mühlenhaus mit seinen vielen, kleinen Fenstern und den braunen Holzbalken, die sich wie dunkle Bänder über die weiß getünchten Wände zogen. Vor dem Laden befanden sich Tische mit Erdbeeren und Kartoffeln. Eine Frau, etwa so alt wie Floras Mutter, steckte gerade ein paar Sonnenblumen in die glänzenden Milchkannen, die links und rechts des Eingangs standen.

»Ah, da seid ihr ja!«, rief sie, als sie Flora und ihre Mutter entdeckte. »Hallo, ich bin Magda Müller«, begrüßte sie Flora und streckte ihr die Hand hin.

»Hallo«, erwiderte Flora und war erstaunt über Frau Müllers festen Händedruck. Die hübsche blonde Frau mit den blauen Augen war nicht besonders groß, steckte aber voller Energie.

»Komm, ich bring dich gleich zu Saskia«, fuhr Frau Müller fort.

»Und ich fange schon mal mit dem Müsli an«, verkündete Floras Mutter und schnappte sich eine der rot-weiß karierten Schürzen, die neben der Eingangstür hingen.

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Flora folgte Frau Müller in einen Raum, der durch hohe Glaswände vom Laden abgetrennt war. Dort wurden sie von einem Rattern und Stampfen empfangen, das den Boden unter Floras Füßen vibrieren ließ. Große Trichter hingen von der Decke, an deren Ende prall gefüllte Säcke befestigt waren.

»Das ist unsere Mehlstube«, erklärte Frau Müller mit erhobener Stimme. »Hier kommt das fertige Mehl an, das in den Stockwerken darüber gemahlen wird.«

»Ganz schön laut hier«, rief Flora zurück.

Frau Müller nickte. »Neuere Mühlen sind leiser, aber unsere ist schon sehr alt und hat so ihre Eigenheiten. Wenn was kaputt ist, muss man jede einzelne Schraube kennen, um sie wieder zum Laufen zu bringen. Das ist ein bisschen wie bei einem alten Auto.«

Flora nickte. Mittlerweile hatten sie den Raum durchquert und Frau Müller öffnete eine schwere graue Tür. Sie traten auf eine schmale Brücke, unter der leise gurgelnd der Fluss hindurchströmte. Flora staunte über die dicken Holzplatten zu beiden Seiten des Ufers.

»Das ist unser Wehr«, sagte Frau Müller. »Wenn der Wasserspiegel steigt, können wir es schließen, um die Mühle vor Hochwasser zu schützen. Komm weiter, Saskia ist bestimmt im Garten.«

Kaum hatten sie die andere Seite des Flusses erreicht, kam ein großer schwarzer Hund um die Ecke gerast. Laut bellend blieb er vor ihnen stehen.

Flora streckte ihm die Hand hin. Er kam sofort näher, schnüffelte an ihren Fingern und begann, sie abzuschlecken. »Schmeckt das gut?«, fragte sie grinsend.

»Zorro schmeckt alles!« Vor Flora stand ein Mädchen mit langen braunen Haaren, die von einer großen Sonnenbrille aus dem Gesicht gehalten wurden. Floras Mutter hatte gesagt, Saskia sei dreizehn, doch Flora fand, sie sah viel älter aus. Vielleicht lag das aber auch nur an den dicht getuschten Wimpern und dem rosa Lipgloss?

»Hi, ich bin Saskia«, stellte sie sich vor.

»Und ich Flora«, erwiderte Flora etwas schüchtern.

»Prima, dass ihr beide heute zusammen spazieren geht«, schaltete sich Frau Müller ein. »Sicher darfst du Zorro auch mal führen, oder, Saskia?«

Saskia nickte nur.

Flora fühlte sich plötzlich etwas unbehaglich. Hatte Saskia überhaupt Lust, sie mitzunehmen?

»Also, dann viel Spaß!«, verabschiedete sich Frau Müller und ging wieder zurück Richtung Wehr.

»Ich hol noch schnell die Leine«, meinte Saskia und verschwand in der Eingangstür.

Zorro war inzwischen unter einem großen Busch verschwunden und kam mit einem knallgelben Tennisball im Maul zurück. Er legte ihn Flora vor die Füße und schaute sie erwartungsvoll an. Flora grinste und warf den Ball in Richtung der großen Wiese, die sich hinter dem Haus erstreckte. Mit hüpfenden Ohren jagte Zorro dem Ball hinterher.

»Ball spielen liebt er«, erklärte Saskia, die gerade zurückkam. »Davon kann er nicht genug kriegen. Manchmal ist das ganz schön nervig.«

Flora konnte sich gar nicht vorstellen, wie man davon genervt sein konnte. Wenn sie einen eigenen Hund hätte, würde sie alles für ihn tun.

»Seit ich in Wasserburg zur Schule gehe, habe ich einfach nicht mehr so viel Zeit«, fuhr Saskia fort. »Dann gehen meine Eltern auch mal mit ihm spazieren.«

»Wie ist es denn so in Wasserburg auf der Schule?«, erkundigte sich Flora. Während Saskia ihr von ein paar Mädchen aus ihrer Klasse erzählte, vom Hip-Hop-Kurs und dem Gitarrenunterricht, gingen sie einen staubigen Feldweg entlang. Flora schwitzte. Puh, es war ganz schön heiß heute. Sie atmete auf, als sie schließlich den schattigen Waldrand erreichten.

»Soll ich dir noch die Ruine der alten Burg zeigen?«, fragte Saskia und kramte ihr Handy aus der Hosentasche.

»Oh ja!«, sagte Flora begeistert. Das klang aufregend!

Doch Saskia murmelte nur: »Ah, Meli hat geschrieben. So ein Mist und hier ist mal wieder kein Empfang.« Genervt steckte sie das Handy ein. »Also, komm«, wandte sie sich an Flora. »Beeilen wir uns. Sonst wundert sich Meli, warum ich nicht antworte.«

Flora war nicht wohl in ihrer Haut. Sie hatte das Gefühl, Saskia lästig zu sein. Wenn Flora nicht wäre, würde sie jetzt bestimmt umdrehen.

Eine Weile gingen die Mädchen schweigend nebeneinanderher. Der Weg wurde immer steiler und schlängelte sich in zahlreichen Kurven durch den Wald. Als sie um die letzte Biegung kamen, öffnete sich vor ihnen eine große, mit Gras bewachsene Lichtung. In ihrer Mitte erhob sich ein hoher Turm, der zahlreiche, halb verfallene Mauern überragte. Dichte Kissen mit Moos wucherten darauf und schimmerten hellgrün in der Sonne. Schmetterlinge und blau glänzende Libellen tanzten durch die Luft. Von irgendwoher erklang der Ruf eines Kuckucks. Plötzlich war Floras Unbehagen verflogen und ihr Herz pochte wie wild. Was für ein verzauberter Ort hier mitten im Wald!

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5

Huh-huh-huh

»Wow, das ist ja wunderschön!«, brachte Flora schließlich hervor. Saskia war schon weitergegangen und steuerte eine Bank an, die im Schatten einer großen Eiche am Rand der Lichtung stand.

»Hm«, sagte sie bloß und ließ sich auf die Bank fallen. »Lass Zorro mal los, dann kann er sich ein bisschen austoben.«

»Wenn man sich vorstellt, dass hier wirklich einmal Leute gelebt haben«, meinte Flora und nahm neben Saskia Platz.

»Nicht nur gelebt, sondern auch gekämpft«, erwiderte Saskia, während sie kritisch ihre lackierten Fingernägel musterte. »War sicher ganz schön hart damals.«

Flora blickte auf die Lichtung und sah Bilder von Rittern vor sich, die glänzende Schwerter umherwirbeln ließen. Geschützt hinter den dicken Mauern der Burg fieberte eine hübsche Prinzessin ängstlich dem Ende der Schlacht entgegen. Geschrei erfüllte die Luft, in das sich das aufgeregte Wiehern von mächtigen Pferden mischte … Und heute war es hier so friedlich und still.

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»Huh-huh-huh!«, erklang es da plötzlich aus den Bäumen. Ganz tief und weich hörte sich dieser Ruf an. Und so nah! Flora blickte sich suchend um.

»Klingt wie ’ne Eule«, meinte Saskia, der Floras Blicke nicht entgangen waren.

»Hört man die nicht nur nachts?«, fragte Flora.

»Keine Ahnung«, erwiderte Saskia, die schon wieder auf ihr Handy starrte. Da tönte es wieder: »Huh-huh-huh!« Kurz und dreimal hintereinander. Es klang irgendwie geheimnisvoll. So lockend und flehend. Flora musterte jede einzelne Baumkrone ganz genau, konnte aber nicht entdecken, woher die Rufe kamen.

»Komm, wir müssen zurück«, verkündete Saskia und sprang auf. »Es ist spät. Deine Mutter wartet bestimmt schon.«

Schade. Flora wäre gern noch geblieben. Sie vermutete, dass es Saskia eher darum ging, endlich ihrer Freundin Meli zu antworten. Die Mädchen nahmen Zorro an die Leine und machten sich auf den Heimweg. Als sie gerade die letzten Bäume erreicht hatten, hörten sie es plötzlich wieder: »Huh-huh-huh!«

Flora blieb wie angewurzelt stehen. Suchend blickte sie sich um. Da! Zwischen den Zweigen einer Tanne entdeckte sie zwei orangegelbe Kreise mit schwarzen Punkten darin. Was für Augen! Sie gehörten einem kleinen Vogel, dessen puschelige Ohren steil nach oben standen. Sein braunes Gefieder mit den dunklen Streifen war fast nicht von der Farbe des Baumstamms zu unterscheiden.

»Schau doch«, flüsterte Flora aufgeregt. Sie wagte nicht, die Hand zu heben, sondern deutete nur mit dem Kopf in Richtung der Tanne.

Saskia folgte ihrem Blick. »Aha, doch eine Eule«, meinte sie. Sie klang nicht besonders beeindruckt.

Flora war sich da nicht so sicher, sagte aber nichts. Die Eulen, die sie mal im Zoo gesehen hatte, waren viel größer gewesen.

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»Los, wir müssen weiter«, drängte Saskia.

Doch Flora konnte sich nur schwer von dem Anblick des kleinen Vogels losreißen. Unverwandt starrte er sie aus seinen unergründlichen Augen an. Dann schob er sich mit seinen langen Krallen sogar noch ein bisschen näher an sie heran und legte den Kopf schief. Warum nur war er ihnen hinterhergeflogen?

»Jetzt komm schon!«, rief Saskia, die schon weitergegangen war. Widerstrebend folgte ihr Flora. Als sie bereits wieder auf dem Feldweg waren, erklang es noch einmal leise »Huh-huh-huh« aus den Bäumen.

»Die macht sich aber wichtig«, stellte Saskia mit einem Grinsen fest. »Vielleicht fliegt sie noch zum Abendessen ins Gasthaus?«

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Flora schaute sie fragend an. »Wie meinst du das?«

»Na, es heißt doch ›Zur Goldenen Eule‹«, erwiderte Saskia. »Kennst du das nicht?«

Flora schüttelte den Kopf.

»Es liegt am Ende der Straße, die zum Reitverein führt«, erklärte Saskia.

»Komischer Name für ein Gasthaus.«

»Das gibt es schon lang«, antwortete Saskia. »Meine Oma hat mal erzählt, dass der Opa vom jetzigen Wirt immer abends mit einer Eule im Garten gesessen hat. Verrückt, oder? Deswegen hat er das Gasthaus so genannt. Da hängt heute noch ein Bild von seiner Eule.«

Wahnsinn! Ein Wirt mit einem Vogel als Freund? So etwas hatte Flora noch nie gehört. Vögel scheuten doch normalerweise die Nähe zu Menschen. Diese Eule musste wirklich etwas Besonderes gewesen sein. Flora beschloss, ihre Eltern zu überreden, am Wochenende einmal in dem Gasthaus essen zu gehen.

Als sie die Mühle erreichten, kam ihnen Floras Mutter mit einer Kiste Karotten entgegen.

»Ah, da seid ihr ja!«, begrüßte sie die Mädchen. »War es schön?«

»Echt cool!«, erwiderte Flora strahlend. »Da ist eine richtig große Ruine mitten im Wald. Und eine Eule haben wir auch gesehen!«, sprudelte sie hervor.

»Eine Eule?«, wunderte sich Frau Faltin. »Ich dachte, die schlafen tagsüber.«

»Ich glaube, der war langweilig«, meinte Saskia. »Sie ist uns sogar hinterhergeflogen.«

»Tatsächlich?«, fragte Frau Faltin erstaunt. »Was es hier nicht alles gibt! Ist doch toll, oder, Flora?«