Jenn Lyons

Aus dem Amerikanischen von
Urban Hofstetter und Michael Pfingstl

Klett-Cotta

Impressum

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Hobbit Presse

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Ruin of Kings. A Chorus of Dragons 1« im Verlag Tor Books, New York

© 2019 by Jenn Lyons

Für die deutsche Ausgabe

© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Birgit Gitschier, Augsburg

unter Verwendung der Daten des Originalverlags, Illustration: © Lars Grant-West

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96341-0

E-Book: ISBN 978-3-608-19175-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Für David, von dem der erste Same stammte, und für Mike,
der mir half, daraus eine ganze Welt wachsen zu lassen.
Außerdem für Kihrins drei Väter: Steve, Katt und Patrick.
Ohne euch wäre er nicht derselbe.

Euer Majestät,

im Folgenden findet Ihr eine vollständige Schilderung der Ereignisse, die dazu führten, dass die Hauptstadt niederbrannte. Vieles im ersten Teil basiert auf einer nachträglich niedergeschriebenen Unterhaltung zwischen zwei Personen, die an den Vorgängen maßgeblich beteiligt waren. Spätere Passagen beruhen auf meiner eigenen Rekonstruktion. Wo immer möglich habe ich Augenzeugenberichte einfließen lassen, und wenn ich mich zu Abschweifungen genötigt sah, habe ich mich stets bemüht, die Ereignisse in ihrem Kern streng wahrheitsgetreu darzustellen. Ergänzend ist der Bericht mit meinen Anmerkungen und Schlussfolgerungen versehen, die Euch hoffentlich hilfreich sind.

Ich bitte um Nachsicht, sollte ich Euch über Dinge belehren, in denen Ihr Euch weitaus besser auskennt als ich. Nach reiflicher Überlegung erschien mir das jedoch ratsamer, als davon auszugehen, all dies sei bekannt.

Ich hoffe, ein möglichst umfassendes Bild aller Begebenheiten wird Euch dazu bewegen, dem Erblord gegenüber Milde walten zu lassen. Diejenigen Ratsmitglieder, die für eine Anklage wegen Hochverrats und die Todesstrafe plädieren, kennen gewiss nicht die ganze Geschichte.

Euer Diener

Thurvishar D’Lorus

Teil 1

Ein Zwiegespräch zwischen einer Kerkermeisterin und ihrem Gefangenen

»Erzähl mir eine Geschichte.« Das Ungeheuer machte es sich vor den eisernen Gitterstäben von Kihrins Kerkerzelle bequem. Sie legte einen unscheinbaren kleinen Stein vor sich auf den Boden und stieß ihn in seine Richtung.

Klaue sah nicht wie ein Ungeheuer aus, sondern wie eine hübsche junge Frau um die zwanzig. Ihre Haut hatte den goldenen Ton von Weizen, und ihre glatten Haare waren braun. Die meisten Männer hätten sonst was dafür gegeben, einen Abend in der Gesellschaft einer solchen Schönheit verbringen zu dürfen. Allerdings wussten die meisten Männer auch nicht, dass sie ihren Körper in die schlimmsten Schreckensgestalten verwandeln konnte. Sie verhöhnte ihre Opfer, indem sie das Aussehen ihrer getöteten Liebsten annahm, bevor auch sie ihr zum Opfer fielen. Dass sie Kihrin in diesem Kerker bewachte, war in etwa so, als hätte man einem Hai die Aufsicht über ein Aquarium gegeben.

»Du machst wohl Witze.« Kihrin hob den Kopf und sah sie durchdringend an.

Klaue kratzte mit einem gefährlich aussehenden schwarzen Fingernagel am Mörtel der Wand hinter ihr herum. »Ich langweile mich.«

»Dann strick doch.« Der junge Mann erhob sich und ging zu den Gitterstäben. »Oder du machst dich nützlich und verhilfst mir zur Flucht.«

Klaue beugte sich vor. »Ach, mein Lieber, du weißt doch, dass ich das nicht kann. Jetzt komm, wir haben uns schon ewig nicht mehr unterhalten. Es gibt so viel zu erzählen, und es wird noch eine ganze Weile dauern, bis sie so weit sind. Erzähl mir alles, was du erlebt hast. Das wäre ein guter Zeitvertreib … bis dein Bruder zurückkommt und dich umbringt.«

»Nein.« Er sah sich nach etwas um, an dem sich sein Blick festhalten konnte, aber die fensterlosen Wände waren vollkommen kahl und boten keinerlei Ablenkung. Das einzige Licht im Raum stammte von einer magischen Lampe außerhalb der Zelle. Kihrin konnte kein Feuer mit ihr entfachen, dabei hätte er so gerne seine Strohmatratze angezündet – wenn er nur eine gehabt hätte.

»Langweilst du dich nicht auch?«, fragte Klaue.

Kihrin unterbrach die Suche nach einem geheimen Fluchttunnel. »Wenn sie zurückkommen, werden sie mich einem Dämon opfern. Nein, ich kann nicht gerade behaupten, dass ich mich langweile.« Er sah sich erneut im Raum um.

Mit Magie könnte er entkommen. Indem er das Tenyé der Stäbe veränderte und das Eisen aufweichte oder die Mauersteine so spröde machte wie vertrocknetes Laub – wenn Klaue nicht jede seiner Bewegungen beobachten würde. Noch schlimmer war allerdings, dass sie jeden Fluchtgedanken lesen konnte, sobald er ihm in den Sinn kam.

Und sie schlief nie.

»Aber ich esse«, kommentierte sie seine Überlegungen mit funkelndem Blick, »vor allem, wenn ich mich langweile.«

Er verdrehte die Augen. »Du wirst mich nicht töten. Diese Ehre gebührt jemand anderem.«

»Ich hielte es nicht für Mord, sondern für deine Rettung. Deine Persönlichkeit würde für alle Zeiten in mir fortbestehen, zusammen mit …«

»Hör auf.«

Klaue verzog das Gesicht und inspizierte betont beiläufig ihre spitzen Fingernägel.

»Und da du meine Gedanken sowieso lesen kannst, muss ich dir gar nicht erzählen, was passiert ist. Bediene dich einfach bei meinen Erinnerungen – so wie du mir auch alles andere genommen hast.«

Sie erhob sich. »Langweilig. Außerdem habe ich dir nicht alles genommen. Ich habe mir nicht alle deine Freunde geholt. Und auch nicht deine Eltern.« Klaue schwieg einen Moment. »Na ja, zumindest nicht deine richtigen.«

Kihrin starrte sie an.

Sie lachte und lehnte sich zurück. »Soll ich wirklich gehen? Wenn du mir keine Geschichte erzählst, besuche ich deine Eltern. Mit denen hätte ich bestimmt meinen Spaß. Allerdings würde ihnen unsere Begegnung wohl weniger Freude bereiten.«

»Das wagst du nicht.«

»Wer sollte mich davon abhalten? Deine Eltern sind ihnen egal. Denen geht es nur um ihren kleinen Plan, und für den brauchen sie weder deine Mutter noch deinen Vater.«

»Das bringst du nicht …«

»O doch!«, fauchte Klaue mit unmenschlich schriller Stimme. »Spiel nach meinen Regeln, Blauauge. Sonst trage ich bei meiner Rückkehr ein Kleid aus der Haut deiner Mutter, mit den Gedärmen deines Vaters als Gürtel. Und dann spiele ich dir wieder und wieder vor, wie sie gestorben sind, bis dein Bruder zurückkommt.«

Kihrin kehrte ihr schaudernd den Rücken zu und lief in seiner Zelle auf und ab. Er musterte den leeren Eimer und die dünne Zudecke, die in einer Ecke lag. Er suchte die Wände, die Zellendecke und den Boden ab. Er inspizierte die eisernen Gitterstäbe und das Schloss. Sogar sich selbst klopfte er ab, für den Fall, dass seinen Häschern etwas entgangen war, als sie ihm seine Waffen, die Dietriche, den Intaglio-Ring und seine Talismane abgenommen hatten. Einzig die Halskette hatten sie ihm gelassen. Die interessierte sie nicht, obwohl sie ein Vermögen wert war.

»Also gut, wenn du es so siehst …«, sagte Kihrin schließlich. »Wie könnte ich mich da weigern?«

Klaue hob die Hände vors Gesicht und klatschte begeistert. »Wunderbar.« Sie nahm den Stein und warf ihn Kihrin zu.

Er fing ihn auf. »Was ist das?«

»Ein Stein.«

»Klaue …«

»Ein magischer Stein«, sagte sie. »Erzähl mir nicht, dass ein Mann in deiner Lage nicht an magische Steine glaubt.«

Kihrin sah sich den Stein genauer an und runzelte die Stirn. »Jemand hat sein Tenyé verändert.«

»Ein magischer Stein eben.«

»Und was kann er noch mal?«

»Er hört zu. Da du die Geschichte erzählst, hältst du ihn fest. So sind die Regeln.« Sie grinste. »Erzähl von Anfang an.«

1

Die Sklavenauktion

(Kihrins Geschichte)

Als sie mich auf das Versteigerungspodest führten und ich den Blick über die Menge schweifen ließ, dachte ich: Hätte ich ein Messer, würde ich euch alle töten.

Und wenn ich nicht nackt wäre, fügte ich hinzu.

Außerdem war ich in Ketten. Ich hatte mich noch nie so hilflos gefühlt, und …

Wie, du glaubst mir nicht, dass das der Anfang ist, Klaue?1

Was meinst du überhaupt mit »Anfang«? Wessen Anfang? Meiner? So gut erinnere ich mich nicht daran. Deiner? Du bist Tausende von Jahren alt und hast dir die Erinnerungen ebenso vieler Opfer einverleibt. Du bist doch diejenige, die diese Geschichte hören will. Und das wirst du auch, aber zu meinen Bedingungen und nicht deinen.

Also noch mal von vorn.

Die Stimme des Auktionators dröhnte durch das Amphitheater: »Los Nummer sechs an diesem Morgen ist ein schönes Exemplar. Was für ein Gebot höre ich für diesen menschlichen Doltarimann?2 Er ist ein ausgebildeter Musiker mit einer ausgezeichneten Singstimme und erst sechzehn Jahre alt. Seht euch seine goldenen Haare an, diese blauen Augen und das hübsche Gesicht. Möglicherweise fließt sogar Vané-Blut in seinen Adern! Er ist eine willkommene Bereicherung für jeden Haushalt, aber wohlgemerkt nicht kastriert, meine Damen und Herren, also macht ihn besser nicht zum Aufseher über euren Harem!« Der Auktionator drohte anzüglich grinsend mit dem Finger, wofür er ein paar halbherzige Lacher erntete. »Das Eröffnungsgebot liegt bei zehntausend Ords.«

Mehrere seiner Zuhörer schnaubten amüsiert über den Preis.

Er war zu hoch.

An dem Tag sah ich völlig wertlos aus. Die Sklavenmeister von Kishna-Farriga hatten mich zwar gebadet, aber die Waschbürste hatte die offenen Peitschenstriemen auf meinem Rücken hellrot anlaufen lassen. Und nachdem ich monatelang in Ketten gelegen hatte, konnten meine kupfernen Armbänder die Abschürfungen an den Handgelenken kaum verbergen. Die dicken Blasen an meinem linken Fußknöchel waren entzündet und eitrig. Ich war von den typischen Quetschungen und Beulen übersät, die einen aufsässigen Sklaven kennzeichnen, und ich zitterte vor Hunger, aber auch wegen des steigenden Fiebers. Zehntausend Ords war ich auf keinen Fall wert. Nicht mal hundert.

Um ehrlich zu sein, ich hätte mich selbst nicht gekauft.

»Ach, seid doch nicht so, meine lieben Leute! Ich weiß, wie er aussieht, aber ich verspreche euch, er ist ein Rohdiamant, den man nur noch schleifen muss, damit er erstrahlt. Außerdem wird er euch keine Schwierigkeiten bereiten, denn seht her, ich halte sein Gaesch in der Hand! Will niemand hier zehntausend Ords für das Gaesch dieses hübschen jungen Sklaven ausgeben?« Mit diesen Worten streckte der Auktionator den Arm aus und präsentierte eine angelaufene Silberkette. Etwas Glänzendes baumelte von ihr herab, das im Sonnenlicht funkelte.

Die Menge konnte keine Einzelheiten erkennen, aber ich wusste, was er da hochhielt: einen von der salzhaltigen Luft schwarz verfärbten Silberfalken. Ein Teil meiner Seele war in dem Metall gefangen – das war mein Gaesch.

Er hatte recht, ich würde niemandem mehr Probleme machen. Nie wieder. Einen Sklaven mit einem Gaesch zu kontrollieren, ist ebenso wirkungsvoll wie grausam. Eine Hexe hatte einen Dämon beschworen, der mir ein Stück meiner Seele entrissen und auf dieses billige Souvenir übertragen hatte, das der Auktionator nun vor sich hielt. Jeder, der diesen verdammten Gaesch-Anhänger trug, konnte mich zu allem zwingen, wonach ihm der Sinn stand. Ganz gleich, was es war. Sollte ich einen Befehl verweigern, blühte mir ein qualvoller Tod. Also würde ich ausnahmslos alles tun, was der Besitzer meines Gaesch von mir verlangte, egal, wie sehr es mir widerstrebte oder wie abstoßend ich es fand.

Ich stand vor der Wahl, entweder zu gehorchen oder zu sterben.

Mein Körper mochte nicht viel wert sein, aber der gängige Preis für die Seele eines Menschen beträgt in Kishna-Farriga zehntausend Ords.

Die Menge wurde unruhig und betrachtete mich mit anderen Augen. Ein widerspenstiger Halbwüchsiger war das eine. Ein Halbwüchsiger, den man heilen, parfümieren und dazu bringen konnte, sich jeder Laune seines Eigentümers zu unterwerfen, dagegen etwas ganz anderes. Ich zitterte, aber nicht wegen der warmen Brise, die über meine nackten Arme strich.

Wenn man etwas für Sklavenversteigerungen übrighatte, war heute ein herrlicher Tag dafür. Die Sonne schien, es war heiß, und vom Hafen wehte der Gestank der ausgenommenen Fische herüber. Die möglichen Käufer hatten es sich auf gepolsterten Stühlen bequem gemacht, geschützt von Papierschirmen und Sonnensegeln.

Kishna-Farriga gehört zu den Freien Staaten3, die keinem ihrer Nachbarn Gefolgschaft schulden und ihre Unabhängigkeit den ständig wechselnden politischen Spannungen jenseits ihrer Grenzen verdanken. Länder, die keine direkten Handelsbeziehungen miteinander unterhalten wollen, nutzen Kishna-Farriga als Umschlagplatz für ihre Waren – darunter auch für Sklaven wie mich.

Ich selbst kannte nur die Sklavenmärkte des quurischen Oktagon, mit seiner unübersichtlichen Vielzahl von Privatgemächern und Auktionssälen. Die Sklavengruben in Kishna-Farriga hingegen sind längst nicht so raffiniert konstruiert und in einem einzigen Freiluft-Amphitheater untergebracht, das direkt neben dem berühmten Hafen aufragt. Auf den ansteigenden Steinstufen finden höchstens dreitausend Besucher Platz. Es passiert nicht selten, dass ein Sklave, der auf einem Schiff ankommt, nach kurzem Aufenthalt in den Zellen unter dem Amphitheater noch am selben Tag den Besitzer wechselt und wieder von dort aufbricht – während er die ganze Zeit den Geruch von totem Fisch in der Nase hat.

Ein bezaubernder Ort.

»Höre ich zehntausend?«, meldete sich der Auktionator wieder zu Wort.

Da sie nun sicher sein konnte, dass ich zahm war, hob eine in Samt gekleidete und offensichtlich »professionelle« Dame die Hand. Ich verzog das Gesicht. Auf keinen Fall wollte ich in ein Bordell zurück, aber ich befürchtete, dass es genau darauf hinauslief. Schließlich war ich alles andere als hässlich, und die meisten, die sich einen gegaeschten Sklaven leisten konnten, wollten die Anschaffungskosten auch wieder hereinholen.

»Zehntausend. Sehr gut. Höre ich fünfzehntausend?«

Ein fetter Kaufmann in der zweiten Reihe sah mich lüstern an und hob ein kleines rotes Fähnchen, um sein Interesse zu bekunden. Ich betrachtete die Farbe als Warnsignal. Als Meister wäre er nicht besser für mich als die Puffmutter, und vielleicht sogar noch schlimmer – egal, wie viel ich wert war.

»Fünfzehntausend! Höre ich zwanzigtausend?«

Ein Mann in der ersten Reihe hob die Hand.

»Zwanzigtausend. Sehr gut, Lord Var.«4

Lord Var? Wo hatte ich diesen Namen schon mal gehört?

Mein Blick blieb an ihm hängen. Er war ein ganz gewöhnlicher, mittelgroßer Mann, weder zu dünn noch zu dick und auf sympathische Weise unscheinbar. Seine Kleidung wirkte modisch, aber nicht extravagant. Er hatte schwarze Haare und olivbraune Haut wie die Quurer westlich der Drachenspitzen, doch seine Stiefel waren hoch und besaßen feste Schäfte, wie sie in den Ostlanden üblich sind. Vielleicht war er ein Jorat oder ein Yor. Sein Hemd allerdings erinnerte eher an die typische marakorische Kleidung als an eine Mischa oder den Usigi-Umhang der Eamithonen.

Kein Schwert und auch keine anderen sichtbaren Waffen.

Das einzig Bemerkenswerte an ihm waren seine selbstbewusste Haltung und die Tatsache, dass der Auktionator ihn kannte. Lord Var widmete dem Mann seine gesamte Aufmerksamkeit, während er mich kaum eines Blickes würdigte. Genauso gut hätte er auf ein paar Blechteller bieten können.

Ich betrachtete ihn genauer. Er trug keinen Schutz, weder offen noch verborgen, nicht einmal einen Dolch hatte er in einem seiner staubigen Stiefel stecken. Dennoch saß er ganz vorn, und keiner der zahlreichen Taschendiebe, die ich in der Menge entdeckt hatte, traute sich an ihn heran.

Ich war zwar noch nie in Kishna-Farriga gewesen, man musste jedoch kein Einheimischer sein, um zu wissen, dass nur ein Narr ohne Leibwächter zu einer solchen Auktion ging.

Ich schüttelte den Kopf und konnte mich kaum noch konzentrieren. Die Welt schien bloß aus Lärm, Licht und Kältewellen zu bestehen, die vermutlich von meinem Fieber herrührten. Eine meiner Wunden hatte sich entzündet. Wenn sich nicht bald ein Heiler darum kümmerte, würde irgendein bemitleidenswerter Trottel mit mir den teuersten Briefbeschwerer aller Zeiten erwerben.

Reiß dich zusammen. Ich blendete alles aus, die Menge, die Signale der Bieter und die Lage, in der ich mich befand, und ließ den Ersten Schleier von meinen Augen gleiten. Dann sah ich mir Var noch einmal an.

Ich hatte schon immer die Gabe besessen, hinter den Ersten Schleier blicken zu können. Eine Zeit lang hatte ich sogar gedacht, dass sie mich eines Tages aus den Elendsvierteln der Hauptstadt retten würde. Damals war ich noch so naiv zu glauben, es gäbe kein schlimmeres Schicksal als ein Leben in Armut.

Es existieren drei Welten, die einander überlappen, und jede davon wird von einer der Schwestern regiert: die Welt der Lebenden, die Welt der Magie und die Welt der Toten.5 Wie alle Sterblichen leben wir in Tajas Reich, doch schon als Kind erkannte ich, dass die Gabe, hinter den Ersten Schleier in Tyas magischen Herrschaftsbereich blicken zu können, einen immensen Vorteil bedeutet. Hinter den Zweiten Schleier können allein die Götter sehen, aber ich gehe davon aus, dass uns allen dieser Blick vergönnt sein wird, sobald wir die letzte Reise in das antreten, was dahinter liegt, in Thaenas Totenreich.

Jeder Zauberer trägt Talismane. Sie prägen diesem an sich wertlosen Nippes ihre eigenen Auren auf, um sich gegen die magischen Angriffe anderer Zauberer zu schützen. Talismane können sehr unterschiedlich aussehen, und ein kluger Magier verbirgt sie, indem er sie als Schmuckstücke tarnt oder in den Saum seiner Kleidung einnäht. Zauberer sind nicht leicht zu erkennen … es sei denn, man kann hinter den Ersten Schleier blicken und die mit Talismanen verstärkte Aura wahrnehmen, die einen echten Magier verrät.

So wie ich bei Relos Var. Zwar konnte ich keinen Talisman an ihm entdecken, aber seine Aura war furchterregend. Eine derart intensive und deutlich zu bemerkende Prägung hatte ich noch nie zuvor gesehen.6

Weder beim Toten Mann, noch bei Tyentso …

Und nein, meine bezaubernde Klaue, nicht einmal bei dir.

Mir wollte zwar nicht einfallen, woher ich seinen Namen kannte, aber ich konnte den Mann mit einem Wort beschreiben: gefährlich. Doch wenn ich Glück hatte …

Aber wem sollte ich jetzt noch etwas vormachen? Meine Glückssträhne war längst gerissen. Ich hatte meine Göttin, die sowohl die guten als auch die üblen Geschicke lenkt, erzürnt und ihre Gunst verloren. Ich wagte nicht einmal zu hoffen, dass Lord Var mich besser behandeln würde als die anderen. Es war egal, wer mich kaufte, ich würde so oder so bis ans Ende meiner Tage versklavt sein. Einem normalen Sklaven bleibt wenigstens noch die leise Hoffnung auf Flucht oder darauf, dass er sich eines Tages freikaufen kann. Gegaeschte Sklaven dagegen können nicht weglaufen, und es würde sie auch niemand befreien. Dafür sind sie einfach zu teuer.

»Zwanzigtausend sind geboten. Höre ich fünfundzwanzigtausend?«, rief der Auktionator, doch er war nicht mehr richtig bei der Sache, da er die Versteigerung schon für beendet hielt. Er konnte mit sich zufrieden sein. Zwanzigtausend Ords waren mehr, als er erwartet hatte.

»Zwanzigtausend zum Ersten, zum Zweiten. Und …«

»Fünfzigtausend«, ertönte eine klare Stimme von einer der oberen Sitzreihen.

Ein Raunen ging durch die Menge. Ich reckte den Hals, um zu sehen, wer das Gebot abgegeben hatte. In dem großen Rund blieb meine Suche zunächst erfolglos, doch dann sah ich, wie sich immer mehr Köpfe in Richtung dreier Gestalten mit schwarzen Kapuzenumhängen drehten.

Der Auktionator verpasste vor Verblüffung fast seinen Einsatz. »Die Schwarze Bruderschaft bietet fünfzigtausend. Höre ich fünfundfünfzigtausend?«

Der Mann, den er Lord Var genannt hatte, nickte dem Auktionator verärgert zu.

»Fünfundfünfzigtausend. Höre ich sechzigtausend?« Jetzt, da ein Bieterwettstreit entbrannt war, wirkte der Auktionator plötzlich wieder hellwach.

Eine der drei schwarz gekleideten Gestalten hob ein rotes Fähnchen.

»Sechzigtausend.« Der Auktionator nickte in ihre Richtung.

Ein Großteil der Leute blickte von Lord Var zu seinen verhüllten Kontrahenten. Die Auktion hatte sich zu einem heiß umkämpften Wettbewerb entwickelt.

»Höre ich fünfundsiebzigtausend?«

Var nickte erneut.

»Ich habe fünfundsiebzig. Höre ich hundert?« Der Auktionator sah das rote Fähnchen der schwarzen Gestalten aufsteigen. »Ich habe einhundert von der Bruderschaft. Höre ich hundertfünfzig?«

Var nickte.

»Hundertfünfzig. Höre ich zweihundert?« Das rote Fähnchen hob sich. »Ich habe zweihundert. Höre ich zweihundertfünfzig?« Var runzelte die Stirn, dann hob er kaum merklich die Finger. »Ich habe zweihundertfünfzig von Lord Var. Bietet die Schwarze Bruderschaft fünfhundert?«

Sie tat es.

Plötzlich musste ich einen starken Würgereiz unterdrücken, der nichts mit meiner Infektion zu tun hatte. War je ein Sklave so teuer verkauft worden? Es gab keinen Verwendungszweck, der einen derart hohen Preis rechtfertigte. Weder als Musiker noch als Lustknabe. Außer …

Ich kniff die Augen zusammen.

Ob sie wider alle Wahrscheinlichkeit wussten, wer ich war? Und was ich trug? Fast hätte ich an meine Halskette gegriffen. Der Schellenstein daran war diesen Preis wert und noch viel mehr, aber ich hatte ihn verborgen – mit dem einzigen Zauberspruch, den ich kannte.

Ich mochte gegaescht sein, man konnte mir jedoch nicht befehlen, etwas herauszugeben, von dem niemand wusste, dass ich es besaß.

»Die Schwarze Bruderschaft bietet eine halbe Million. Höre ich siebenhundertfünfzigtausend?« Die Stimme des Auktionators zitterte. Sogar er wirkte überrascht von der Zahl, die er gerade ausgesprochen hatte.

Lord Var zögerte.

»Lord Var?«, fragte der Auktionator.

Var verzog das Gesicht und warf den drei Gestalten einen bösen Blick zu. »Ja«, sagte er schließlich.

»Ich habe siebenhundertfünfzigtausend von Lord Var. Höre ich eine Million?«

Die schwarzen Gestalten zögerten keine Sekunde.

Lord Var stieß einen lauten Fluch aus.

»Eine Million Ords zum Ersten, zum Zweiten und …«, der Auktionator zögerte angemessen lange, »… zum Dritten. Verkauft an die Schwarze Bruderschaft für eine Million Ords. Meine Damen und Herren, damit haben wir einen neuen Rekord!« Das Ende seines Stabes krachte auf den Boden.

Ich musste mich sehr beherrschen, nicht dasselbe zu tun.

2

Das Haus Kazivar

(Klaues Geschichte)

… ihn mir zurück.

Natürlich habe ich dir den Stein weggenommen. Nun werde nämlich ich deine Geschichte weitererzählen.

Was heißt hier wieso? Ich bin jetzt dran. Und warum auch nicht? Es macht mir Spaß, und du kannst nicht das Geringste dagegen tun. Du willst ja nicht von Anfang an erzählen, also werde ich das übernehmen. Es hat keinen Sinn, Teile deiner Geschichte vor mir zu verheimlichen. Damit beschützt du niemandes Erinnerungen, nicht einmal deine eigenen. Ich werde dir jetzt deine Geschichte erzählen, damit du weißt, wie sie abgelaufen ist, und zwar aus der Sicht eines anderen. Genau genommen aus der Sicht vieler anderer. Denn das ist es, was ich bin: viele Augen. Daran kann keiner etwas ändern. Nicht einmal du, mein Lieber.

Hör auf, dich zu wehren. Diese Gitterstäbe sind dicker als dein Schädel.

Die Geschichte handelt von einem Jungen namens Krähe.

Ah. Dachte ich mir doch, dass dich das interessiert.

Eigentlich hieß er Kihrin7, aber er nannte sich gerne Krähe, weil der Name ihn anspornte und außerdem zu seinem Beruf passte: Krähe war ein Dieb, und zwar ein ganz besonderer – ein sogenannter Schlüssel. Er saß gerne auf den höchsten Simsen, wo er allein mit den Vögeln seinen Gedanken nachhing und Gaunereien plante. Er träumte vom Fliegen, von Freiheit und einer Welt, in der niemand ihn in Ketten legen konnte.

Was ziemlich ironisch ist, wenn man darüber nachdenkt.

Aber leider bekommen wir so gut wie nie, was wir uns erträumen, richtig?

Er war fünfzehn. In Quur galt er damit noch nicht als volljährig, doch er war zu alt, als dass man ihn noch als Kind hätte bezeichnen können. Wie alle, die zwischen zwei Welten gefangen sind, hasste er beide und sehnte sich gleichzeitig nach ihnen. Er selbst betrachtete sich seit seinem dreizehnten Lebensjahr nicht mehr als Kind. Damals war seine Lehrerin gestorben, und er hatte sich zum ersten Mal als Schlüssel der Schattentänzer verdingt.8

Vielleicht hatte Krähe ja recht, denn in den Elendsvierteln des Unteren Zirkels bleibt niemand lange ein Kind. Und die armen obdachlosen Gören, die sich Banden wie den Schattentänzern anschlossen, wurden noch schneller erwachsen.

Als Dieb hatte Krähe nur eine einzige Schwäche, die ihm schließlich zum Verhängnis werden sollte.

Er war neugierig.

Krähe hatte den Einbruch in das Haus eines wohlhabenden Händlers9 im Kupferviertel fast eine ganze Woche lang geplant. Der Mann war zur Hochzeit seiner Tochter gereist und würde erst in zwei Wochen zurückkehren. Damit blieb Krähe mehr als genug Zeit, das leere Haus auszukundschaften.

Als er jedoch dort ankam, merkte er, dass bereits jemand da war, allerdings aus ganz anderen Beweggründen als er.

Wenn du mich heute fragen würdest, ob es einen Zeitpunkt gab, der alles verändert hat, würde ich dir diesen einen Tag nennen – als du in das Haus Kazivar eingebrochen und aus reiner Neugier geblieben bist, obwohl es klüger gewesen wäre abzuhauen.

Aber du bist nicht weggelaufen, und deshalb ist das für mich der Anfang.

Der junge Mann geriet auf dem Fenstersims kurz ins Taumeln und stieß einen leisen Fluch aus. Als er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, spähte er in das schwach beleuchtete Zimmer. Abgesehen von den Schreien, die aus dem Inneren des Hauses drangen, herrschte absolute Stille. Erst jetzt merkte er, dass er den Atmen angehalten hatte. Das eigenartige Kribbeln in seinen Fingerspitzen tat er als Angst ab und ließ sich vom Sims ins Innere der Villa gleiten.

Drinnen schob er den Schlüsselring mit den Plättchen zurück unter seinen Gürtel. Die meisten Plättchen waren aus Holz – Bambus, Mahagoni, Zypresse und auch aus ein paar exotischen Sorten wie Kiefer und Eiche. Daneben hingen welche aus Glas, außerdem Keramikplättchen, die aus einheimischem Lehm gefertigt waren. Mit diesen Hilfsmitteln konnte er herausfinden, ob ein Haus verzaubert war oder ob jemand zum Beispiel Wachmänner angeheuert hatte, die Fenster und Türen mit Magie gegen Eindringlinge versiegelten. Schlüssel wie er beherrschen zwar selbst keine Magie, können jedoch hinter den Ersten Schleier blicken und feststellen, ob eine Tür, ein Schloss oder eine Kiste mehr sind, als sie zu sein scheinen. Für einen Dieb wie ihn bedeutete diese Fähigkeit den Unterschied zwischen Erfolg und einem jähen, blutigen Ende seiner kriminellen Laufbahn.

Der Fensterrahmen bestand aus geschnitztem Teakholz, die Scheiben waren aus trübem Glas. So weit war alles ganz normal. Keine Fallen und keine Zauberei.

Aber die Schreie. Diese Schreie aus dem Inneren des Hauses waren nicht normal. Da drin litt jemand schlimmere Schmerzen, als selbst ein Straßenkind wie Krähe es in seinen fünfzehn Lebensjahren je erlebt hatte.

Der junge Dieb schloss das Fenster hinter sich und ließ seinen Augen Zeit, sich an das schwache Licht zu gewöhnen. Er fragte sich, wer hier misshandelt wurde. War es der Eigentümer des Hauses (wie hieß dieser Händler noch mal?), der gerade geschlagen wurde? Oder war er derjenige, der eine schreckliche Bestrafung vornahm? Vielleicht war die Reise in den Norden ja nur vorgetäuscht und in Wirklichkeit befriedigte er gerade seine perverse Vorliebe für Folterungen oder Schlimmeres.