Roland Barthes

Mythen des Alltags

Vollständige Ausgabe

Aus dem Französischen von
Horst Brühmann

Suhrkamp

Inhalt

Vorwort

Mythologien

Die Welt des Catchens

Der Harcourt-Schauspieler

Die Römer im Film

Der Schriftsteller in Ferien

Die Kreuzfahrt des Blauen Blutes

Stumme und blinde Kritik

Seifenpulver und Detergenzien

Der Arme und der Proletarier

Marsmenschen

Die Operation Astra

Ehegeschichten

Dominici oder der Triumph der Literatur

Ikonographie des Abbé Pierre

Romane und Kinder

Spielsachen

Wie Paris nicht unterging

Bichon bei den Negern

Ein sympathischer Arbeiter

Das Gesicht der Garbo

Gewalt und Lässigkeit

Wein und Milch

Beefsteak und Pommes frites

Nautilus und Trunkenes Schiff

Tiefenreklame

Einige Worte von Monsieur Poujade

Adamov und die Sprache

Einsteins Gehirn

Der Jet-man

Racine ist Racine

Billy Graham im Vélodrome d’Hiver

Der Prozeß gegen Dupriez

Schockphotos

Zwei Mythen des Jungen Theaters

Die Tour de France als Epos

Der Guide bleu

Die mit dem klaren Blick

Ornamentale Küche

Die Kreuzfahrt der Batory

Der vom Streik betroffene Bürger

Afrikanische Grammatik

Die Weder-noch-Kritik

Striptease

Der neue Citroën

Minou Drouet und die Literatur

Photogene Kandidaten

Der verlorene Kontinent

Astrologie

Bürgerliche Gesangskunst

Plastik

Die große Familie der Menschen

Im Varieté

Die Kameliendame

Poujade und die Intellektuellen

Der Mythos heute

Der Mythos ist eine Rede

Der Mythos als semiologisches System

Die Form und der Begriff

Die Bedeutung

Lektüre und Entzifferung des Mythos

Der Mythos als entwendete Sprache

Die Bourgeoisie als anonyme Gesellschaft

Der Mythos ist eine entpolitisierte Rede

Der linke Mythos

Der rechte Mythos

Notwendigkeit und Grenzen der Mythologie

Anmerkungen des Übersetzers

Die Texte der Mythen des Alltags wurden zwischen 1954 und 1956 geschrieben; das Buch erschien 1957.

Es verfolgt zwei Ziele: einerseits das einer Ideologiekritik, die sich auf die Sprache der sogenannten Massenkultur richtet; andererseits das einer ersten semiologischen Demontage dieser Sprache. Ich hatte gerade Saussure gelesen und daraus die Überzeugung gewonnen, man könne, wenn man die »kollektiven Vorstellungen« als Zeichensysteme behandelt, darauf hoffen, vom biederen Anprangern loszukommen und en détail die Mystifikation deutlich zu machen, die die kleinbürgerliche Kultur in universelle Natur verwandelt.

Es liegt auf der Hand, daß die beiden Intentionen, die am Ausgangspunkt dieses Buches standen, sich heute nicht mehr auf die gleiche Weise verfolgen lassen (weshalb ich auf Korrekturen verzichtet habe). Nicht daß ihm sein Gegenstand abhanden gekommen wäre; doch die Ideologiekritik ist im selben Moment, in dem sie plötzlich wieder dringend gefordert war (im Mai 1968), feiner geworden oder bedarf jedenfalls der Verfeinerung; und die semiologische Analyse, die – zumindest was mich angeht – mit dem abschließenden Essay der Mythen begann, hat sich weiterentwickelt, ist genauer, komplexer, vielfältiger geworden; sie bezeichnet nun den theoretischen Ort, an dem in unserem Jahrhundert und bei uns im Westen eine gewisse Befreiung des Signifikanten stattgefunden hat. Deshalb könnte ich auch in der hier vorliegenden Form keine neuen Mythologien schreiben.

Was jedoch – außer dem Hauptfeind, der bürgerlichen Norm – bleibt, ist die Notwendigkeit, diese beiden Ansätze zu verbinden: keine ideologiekritische Anprangerung ohne das Instrument einer Feinanalyse; keine Semiologie, die nicht bereit wäre, in Semioklastik überzugehen.

Februar 1970 · R. B.

Vorwort

Die folgenden Texte entstanden im Zeitraum von etwa zwei Jahren, zwischen 1954 und 1956, jeweils aus aktuellem Anlaß. Ich versuchte damals, regelmäßig Überlegungen zu einigen Mythen des französischen Alltagslebens anzustellen. Das Material dieser Überlegungen (ein Zeitungsartikel, eine Photographie in einer Illustrierten, ein Film, eine Theateraufführung, eine Ausstellung) konnte ganz unterschiedlich und das Thema durchaus willkürlich sein; natürlich ging es um Dinge, die mir aktuell schienen.

Ausgangspunkt dieser Überlegungen war zumeist ein Unbehagen an der »Natürlichkeit«, die von der Presse, von der Kunst, vom gesunden Menschenverstand ständig einer Wirklichkeit zugesprochen wird, die – auch wenn es die unsere ist, in der wir leben – eine durchaus geschichtliche Wirklichkeit ist. Kurz, ich litt darunter, daß in der Erzählung unserer Gegenwart ständig Natur und Geschichte miteinander vertauscht werden, und ich wollte dem ideologischen Mißbrauch auf die Spur kommen, der sich nach meinem Gefühl in der dekorativen Darstellung des Selbstverständlichen verbirgt.

Von Anfang an schien mir der Begriff Mythos geeignet, über diese falschen Evidenzen Aufschluß zu geben. Ich verstand das Wort zunächst in einem traditionellen Sinn. Aber damals schon teilte ich eine Überzeugung, aus der ich dann alle Konsequenzen zu ziehen versucht habe: Der Mythos ist eine Sprache. Auch wenn ich mich mit Dingen befaßte, die von Literatur scheinbar sehr weit entfernt waren (ein Catch-Kampf, ein tischfertiges Gericht, eine Ausstellung von Kunststoffartikeln), hatte ich nicht den Eindruck, damit die allgemeine Semiologie unserer bürgerlichen Welt zu verlassen, deren literarische Seite ich in früheren Essays behandelt hatte. Erst nachdem ich eine Reihe aktueller Ereignisse untersucht hatte, unternahm ich den Versuch, den zeitgenössischen Mythos methodisch zu definieren. Diesen Text habe ich ans Ende des Bandes gestellt, da er die vorangehenden Materialien lediglich systematisiert.

Diese im Monatsrhythmus verfaßten Essays erheben nicht den Anspruch einer organischen Entwicklung. Was ihren Zusammenhang herstellt, ist ihre insistierende Wiederholung. Denn ich bin zwar nicht sicher, ob – wie das Sprichwort behauptet – die Wiederholung von Dingen Wohlgefallen weckt; aber ich glaube, daß sie zumindest etwas bedeuten. Und Bedeutungen sind es, die ich stets in ihnen gesucht habe. Sind es meine Bedeutungen? Anders gesagt, gibt es eine Mythologie des Mythologen? Gewiß – und der Leser wird selbst erkennen, welche Wette ich damit eingehe. Doch im Grunde glaube ich, daß sich die Frage so gar nicht stellt. Die »Entmystifizierung« – um ein Wort noch einmal zu gebrauchen, das allmählich Verschleißerscheinungen zeigt – ist keine olympische Heldentat. Soll heißen, daß ich mich nicht der traditionellen Überzeugung anschließen kann, zwischen der Objektivität des Gelehrten und der Subjektivität des Schriftstellers gebe es eine natürliche Kluft, so als folgte der eine seiner »Freiheit« und der andere seiner »Berufung«. Beides dient nur dazu, die realen Beschränkungen ihrer Situation zu verschleiern oder zu nobilitieren. Ich beanspruche für mich, den Widerspruch meiner Zeit auszuleben, der den Sarkasmus zur Bedingung von Wahrheit machen kann.

R. B.

Mythologien

Die Welt des Catchens

Die emphatische Wahrheit der Geste in

den großen Situationen des Lebens …

Baudelaire1

Die Wirkung des Catchens liegt darin, daß es ein übertriebenes Schauspiel ist. Hier findet man eine Emphase, wie sie in den antiken Theatern geherrscht haben muß. Übrigens ist das Catchen ein Freiluftspektakel, denn das Wesentliche am Zirkus oder der Arena ist nicht der Himmel (ein romantischer Wert, der mondänen Festen vorbehalten ist), sondern der jähe, senkrechte Lichteinfall: Noch auf den hintersten Rängen der verkommensten Pariser Säle hat das Catchen teil am Wesen der großen Sonnenschauspiele, des griechischen Theaters und der Stierkämpfe: Hier wie dort erzeugt ein schattenloses Licht ungehemmte Emotion.

Es gibt Leute, die Catchen für eine unwürdige Sportart halten. Aber das Catchen ist kein Sport, und es ist nicht unwürdiger, beim Catchen einer Darstellung des Schmerzes beizuwohnen als den Leiden eines Arnolphe oder einer Andromache.2 Sicher, es gibt ein falsches Catchen, das sich um einen hohen Preis den Anschein eines regulären Sports gibt, aber das ist belanglos. Wahres Catchen, fälschlich als Amateur-Catchen bezeichnet, findet in zweitklassigen Sälen statt, in denen sich das Publikum spontan über den Schaucharakter des Kampfes verständigt, so wie es das Publikum eines Vorortkinos tut. Dieselben Leute entrüsten sich dann darüber, daß das Catchen ein manipulierter Sport sei (was ihm nebenbei seine Schändlichkeit nehmen sollte). Dem Publikum ist es völlig egal, ob beim Kampf getrickst wird oder nicht, und es hat recht; es überläßt sich der primären Macht des Spektakels, die darin besteht, jedes Motiv und jede Konsequenz zu beseitigen. Wichtig ist ihm nicht, was es glaubt, sondern was es sieht.

Dieses Publikum weiß das Catchen sehr wohl vom Boxen zu unterscheiden; es weiß, daß Boxen ein jansenistischer Sport ist, der auf der Vorführung einer hervorragenden Leistung beruht. Auf den Ausgang eines Boxkampfes kann man wetten; beim Catchen hätte das keinen Sinn. Der Boxkampf ist eine Geschichte, die sich vor den Augen des Zuschauers entfaltet; beim Catchen hingegen ist jeder einzelne Moment intelligibel, nicht die Dauer. Der Zuschauer interessiert sich nicht für die aufsteigende Linie des Kampfglücks, sondern für eine Momentaufnahme bestimmter Leidenschaften. Das Catchen erfordert daher die unmittelbare Lektüre einer Abfolge von Bedeutungen, ohne daß es notwendig wäre, sie miteinander zu verbinden. Der rational voraussehbare Verlauf des Kampfes interessiert den Liebhaber des Catchens nicht, während ein Boxkampf stets ein Zukunftswissen einschließt. Anders gesagt, das Catchen ist eine Summe völlig funktionsloser Spektakel: Jeder Moment zwingt zur vollen Wahrnehmung einer Leidenschaft, die jäh und isoliert auftritt, ohne jemals in einem Resultat ihre Krönung zu finden.

So besteht die Aufgabe des Catchers nicht darin, zu gewinnen, sondern genau die Gesten zu vollführen, die man von ihm erwartet. Vom Judo sagt man, es enthalte einen geheimen Anteil an Symbolik; seine Kampfkraft äußert sich in zurückgehaltenen, präzisen, aber knappen Gesten, die genau, doch gleichsam mit hauchdünnem Strich vorgezeichnet sind. Das Catchen hingegen zeigt maßlose Gesten, deren Bedeutung bis zum Äußersten ausgereizt wird. Ein Judo-Kämpfer ist fast nie am Boden, er rollt sich um sich selbst, entwindet sich, weicht der Niederlage aus oder verläßt, wenn sie offenkundig ist, sofort das Spielfeld; wer beim Catchen zu Boden geht, tut es in übertriebener Weise, nimmt bis zum Schluß den Blick der Zuschauer ein, bietet das unerträgliche Schauspiel seiner Ohnmacht.

Diese Funktion der Emphase ist genau die des antiken Theaters, dessen Antrieb, dessen Sprache und Requisiten (Masken und Kothurne) überdeutlich zur Erklärung einer Notwendigkeit beitrugen. Die Geste des besiegten Catchers, die der Welt eine Niederlage bedeutet, die er keineswegs maskiert, sondern betont und wie einen Orgelpunkt hält, entspricht der antiken Maske, der die Aufgabe zukam, den tragischen Ton des Schauspiels zu bezeichnen. Beim Catchen wie auf den antiken Bühnen schämt man sich nicht seines Schmerzes, man versteht zu weinen, findet Gefallen an Tränen.

Jedes Zeichen des Catchens ist also völlig durchsichtig, da immer alles sofort verständlich sein muß. Sobald die Gegner den Ring betreten haben, ist dem Publikum die Rollenverteilung klar. Wie beim Theater bringt die körperliche Erscheinung jedes Kämpfers überdeutlich zum Ausdruck, welches Rollenfach er besetzt. Thauvin – in den Fünfzigern, fettleibig und hinfällig –, dessen asexuelle Häßlichkeit stets zu weiblichen Spitznamen Anlaß gibt, stellt mit seinem Fleisch die Merkmale des Widerwärtigen zur Schau; seine Rolle besteht darin, das organisch Abstoßende zu verkörpern, das im klassischen Begriff des »Schweins« (ein Schlüsselbegriff jedes Catch-Kampfs) zum Ausdruck kommt. Der von Thauvin bewußt geweckte Ekel geht daher sehr weit in der Ordnung der Zeichen: Nicht nur bedient er sich der Häßlichkeit, um Niedertracht zu bedeuten, sondern diese Häßlichkeit verdichtet sich noch in einer besonders widerwärtigen Eigenschaft der Materie: der fahlen Schlaffheit eines toten Stücks Fleisch (das Publikum nennt Thauvin »eine Schwabbel«); so daß das leidenschaftliche Verdammungsurteil der Menge ihre Urteilskraft nicht überfordert, sondern auf unterster Ebene ihrer Laune entspricht. Der Saal wird darum in Raserei geraten, wenn Thauvin später ein Bild bietet, das ganz seinen physischen Voraussetzungen entspricht; seine Handlungen stimmen vollkommen mit der essentiellen Schmierigkeit seiner Person überein.

Den ersten Schlüssel für den Kampf liefert also der Körper des Catchers. Ich weiß von Anfang an, daß alle Handlungen Thauvins, seine Verrätereien, Grausamkeiten und Feigheiten, den ersten Eindruck von Schändlichkeit, den er mir vermittelt, nicht enttäuschen werden: Ich kann mich darauf verlassen, daß er klug und konsequent alle Gesten einer gewissen unförmigen Niedertracht vollführt und so das Bild des widerlichsten Schweinehunds, einer Hyäne, restlos ausfüllt. Die Catcher verfügen also über eine Physis, die ihr Verhalten ebenso vorzeichnet, wie bei den Gestalten der Commedia dell’arte Kostüm und Posen von vornherein die künftige Rolle anzeigen: So wie Pantalone nie etwas anderes sein kann als ein lächerlicher Hahnrei, Arlecchino ein gewiefter Diener und der Dottore ein pedantischer Dummkopf, so wird Thauvin immer nur den abscheulichen Verräter, Reinières (großer Blonder mit schlaffem Körper und wirrem Haar) immer nur das Bild einer verblüffenden Passivität, Mazaud (kleiner arroganter Gockel) das einer grotesken Überheblichkeit und Orsano (effeminierter Jazzfan, der anfangs im blau-rosa Bademantel auftrat) das doppelt pikante Bild einer rachsüchtigen »Schlampe« abgeben (une salope, denn ich glaube nicht, daß das Publikum des Élysée-Montmartre dem Littré folgen und das Wort salope als maskulin verstehen wird).

Die Physis der Catcher legt also ein elementares Zeichen fest, das im Keim schon den ganzen Kampf enthält. Doch dieser Keim entfaltet sich, denn in jedem Augenblick des Kampfes, in jeder neuen Situation läßt der Körper des Catchers das Publikum das herrliche Vergnügen einer Laune auskosten, die sich ganz natürlich mit einer Geste verbindet. Die verschiedenen Bedeutungsstränge erläutern sich wechselseitig und bilden ein höchst intelligibles Schauspiel. Das Catchen gleicht diakritischen Schriftzeichen: Außer über die Grundbedeutung seines Körpers verfügt der Catcher über episodische, doch stets passend eingesetzte Erläuterungen, die durch Gesten, Posen und Mimiken fortwährend zur besseren Lesbarkeit des Kampfes beitragen und damit die Bedeutungsintention bis zur äußersten Evidenz treiben. Bald triumphiert der Catcher mit abscheulich verzerrter Visage, während er auf dem guten Sportler kniet; ein andermal wirft er der Menge ein süffisantes Grinsen zu, das baldige Rache ankündigt; dann wieder schlägt er, bewegungsunfähig auf der Matte, mit den Armen heftig auf den Boden, um allen die Unerträglichkeit seiner Lage zu bedeuten; oder er errichtet schließlich ein komplexes Gefüge von Zeichen, die verständlich machen sollen, daß er mit gutem Recht das stets vergnügliche Bild des Nörglers verkörpert, der unermüdlich über seine Unzufriedenheit schwadroniert.

Es handelt sich also um eine wahrhafte Menschliche Komödie, in der die gesellschaftlich nuanciertesten Formen der Leidenschaft (Anmaßung, Beharren auf dem guten Recht, raffinierte Grausamkeit, ein Sinn fürs »Heimzahlen«) auf glückliche Weise stets mit dem Zeichen zusammentreffen, das sie zu bündeln, auszudrücken und triumphal bis in die hintersten Winkel des Saals zu tragen vermag. Es leuchtet ein, daß es auf dieser Ebene nicht mehr darauf ankommt, ob die Leidenschaft echt ist oder nicht. Was das Publikum verlangt, ist das Bild der Leidenschaft, nicht die Leidenschaft selbst. Ein Wahrheitsproblem gibt es beim Catchen sowenig wie beim Theater. Hier wie dort richtet sich die Erwartung auf die nachvollziehbare Gestaltung moralischer, gewöhnlich verborgener Situationen. Dieses Ausstülpen der Innerlichkeit zugunsten äußerer Zeichen, diese Erschöpfung des Inhalts durch die Form ist das eigentliche Prinzip der triumphierenden klassischen Kunst. Das Catchen ist eine unmittelbare Pantomime, tausendmal wirksamer als die Pantomime im Theater, denn die Geste des Catchers bedarf keiner Narration, keines Bühnenbilds, mit einem Wort: keiner Übertragung, um als wahr zu erscheinen.

Jeder Moment des Catchens gleicht also einer Algebra, die unmittelbar die Beziehung zwischen einer Ursache und ihrer dargestellten Wirkung enthüllt. Gewiß gibt es bei den Catch-Liebhabern eine Art intellektuelles Vergnügen daran, zu sehen, wie perfekt die moralische Mechanik funktioniert: Manche Catcher sind große Komödianten, nicht weniger unterhaltsam als eine Figur von Molière, da es ihnen gelingt, den Zuschauer zu einer unmittelbaren Lektüre ihres Innenlebens zu nötigen: Ein Catcher mit anmaßend-lächerlichem Charakter (in dem Sinne, in dem Harpagon3 ein Charakter ist), Armand Mazaud, erheitert regelmäßig den Saal durch die mathematische Strenge seiner Transkriptionen, indem er die Bedeutungsabsicht seiner Gesten bis zum Äußersten zuspitzt und seinem Kampf den Eifer und die Präzision eines großen scholastischen Disputs verleiht, bei dem es neben der formellen Bemühung um Wahrheit zugleich um den Triumph des Stolzes ging.

Was dem Publikum somit geboten wird, ist das große Spektakel von Schmerz, Niederlage und Gerechtigkeit. Das Catchen führt den menschlichen Schmerz mit der ganzen Verstärkung der tragischen Masken vor: Der Catcher, der unter der Wirkung eines als grausam geltenden Griffs leidet (eines verdrehten Arms, eines eingeklemmten Beins), bietet die überhöhte Gestalt des Leidens; wie eine primitive Pietà stellt er sein durch unerträgliche Bedrängnis übertrieben verzerrtes Gesicht zur Schau. Man begreift wohl, daß Scham beim Catchen unangebracht wäre, daß sie der willentlichen Ostentation zuwiderliefe, der Vorführung des Schmerzes als der eigentlichen Bestimmung des Kampfes. So sind auch alle schmerzerzeugenden Handlungen besonders spektakulär, wie die Geste eines Zauberkünstlers, der seine Karten in die Höhe hält: Man verstünde nicht einen Schmerz, der ohne erkennbare Ursache aufträte; eine verborgene, effektiv grausame Geste verstieße gegen die ungeschriebenen Gesetze des Catchens und bliebe soziologisch wirkungslos, eine verrückte Geste, die nur stören würde. Vielmehr wird das Leid ausgiebig und mit inniger Überzeugung zugefügt, denn alle müssen mitbekommen, nicht nur daß der Mensch leidet, sondern auch und vor allem, warum. Was die Catcher einen Griff nennen, das heißt irgendeine Figur, die es erlaubt, den Gegner unbegrenzt bewegungsunfähig zu halten und ihn auf Gedeih und Verderb in der Gewalt zu haben, dient eben dazu, auf konventionelle, das heißt verständliche Weise das Schauspiel des Leidens anzubahnen, methodisch die Bedingungen des Leidens herbeizuführen: Die Bewegungsunfähigkeit des Besiegten erlaubt es dem (vorläufigen) Sieger, sich in seiner Grausamkeit einzurichten und dem Publikum jene erschreckende Trägheit des Folterers zu vermitteln, der sich der Auswirkung seiner Gesten sicher ist: Wenn er dem ohnmächtigen Gegner rüde übers Gesicht fährt, seine Wirbelsäule mit starken, regelmäßigen Faustschlägen bearbeitet oder zumindest auf der sichtbaren Oberfläche diese Gesten vollführt, erscheint das Catchen als der einzige Sport, der sich nach außen hin den Anschein der Folter gibt. Doch auch hier wieder ist nur das Bild im Spiel, und der Zuschauer will gar nicht, daß der Kämpfer wirklich leidet, er genießt nur die Perfektion einer Ikonographie. Es ist nicht wahr, daß das Catchen ein sadistisches Schauspiel wäre: es ist nur ein intelligibles Schauspiel.

Es gibt eine weitere, noch spektakulärere Figur als den Griff, nämlich die Manschette, jenes heftige Aufklatschen der Unterarme, das stumpfe Geräusch des verdeckten Faustschlags, den man dem Gegner auf die Brust versetzt und der den Körper des Besiegten ostentativ niedersacken läßt. Mit der Manschette erreicht die Katastrophe ihr Höchstmaß an Evidenz, so sehr, daß die Geste im Zweifelsfall nur noch als Symbol erscheint. Das aber hieße, zu weit zu gehen, die moralischen Regeln des Catchens zu verlassen, nach denen jedes Zeichen zwar übertrieben klar sein muß, aber die Absicht der Klarheit nicht durchscheinen darf; das Publikum ruft dann »Schmu«, nicht weil es das Fehlen tatsächlichen Leidens bedauerte, sondern weil es den Kunstgriff verdammt: Wie beim Theater verläßt man das Spiel ebenso durch ein Übermaß an Echtheit wie durch ein Übermaß an Künstlichkeit.

Wir haben bereits gesagt, wie sehr sich die Catcher einen bestimmten vorgezeichneten physischen Stil zunutze machen, um vor den Augen des Publikums das totale Bild einer Niederlage zu entfalten. Nichts könnte die beispielhafte Erniedrigung des Besiegten klarer und leidenschaftlicher bezeichnen als die Schwerfälligkeit der großen weißen Körper, die steif zu Boden stürzen oder, mit den Armen rudernd, in den Seilen hängen, die Trägheit der massigen Körper, die von all den gepolsterten Matten des Rings erbarmungslos widergespiegelt werden. Jeder Regung beraubt, ist das Fleisch des Catchers nur noch eine widerwärtige, auf dem Boden ausgebreitete Masse, die alle Erbitterung und allen Jubel hervorruft. Es gibt hier, nach antikem Muster, einen Paroxysmus der Bedeutung, der unweigerlich an die römischen Triumphzüge mit ihrer schwelgerischen Fülle von Intentionen erinnert. In anderen Momenten zeigt die Paarung der beiden Catcher eine weitere antike Figur, nämlich die Gestalt des Bittflehenden, wehrlos Ausgelieferten, der gebeugt, auf den Knien, die Arme über den Kopf erhoben hält und den Körper langsam niedersenkt vor der vertikalen Spannung des Siegers. Anders als beim Judo ist die Niederlage kein konventionelles Zeichen, das, sobald es erreicht ist, wieder verlassen wird: Sie ist kein Endpunkt, sondern vielmehr eine Dauer, eine Darbietung, sie nimmt die alten Mythen des öffentlichen Leidens und der öffentlichen Erniedrigung wieder auf: das Kreuz und den Pranger. Der Catcher wird gleichsam im hellen Tageslicht, vor aller Augen gekreuzigt. Ich habe einen auf dem Boden ausgestreckten Catcher sagen hören: »Es ist tot, das Jesulein da am Kreuz«, und diese ironische Rede enthüllte die tiefen Wurzeln eines Schauspiels, das die Gesten selbst der ältesten Läuterungen vollführt.

Doch was das Catchen in erster Linie mimetisch darstellen soll, ist ein rein moralischer Begriff: die Gerechtigkeit. Die Idee des Bezahlens ist für das Catchen wesentlich, und das »Gib ihm Saures« der Menge bedeutet vor allem ein »Laß ihn bezahlen«. Es handelt sich natürlich um eine diesseitige Gerechtigkeit. Je erbärmlicher die Handlung des »Schweins«, desto größeres Vergnügen bereitet dem Publikum der Hieb, der es ihm gerechterweise heimzahlt: Wenn der Verräter – der selbstverständlich ein Feigling ist – sich hinter die Seile flüchtet und mit unverschämter Mimik sein vermeintliches Recht reklamiert, wird er gnadenlos zurückgezerrt, und die johlende Menge sieht befriedigt, wie die Regelverletzung mit einer verdienten Bestrafung geahndet wird. Die Catcher verstehen es sehr gut, der Macht der Empörung des Publikums zu schmeicheln, indem sie ihm die letzte Grenze des Begriffs der Gerechtigkeit anbieten, jene äußerste Zone der Konfrontation, in der es genügt, die Regel nur ein wenig zu überschreiten, um die Schleusen für eine Welt der Raserei zu öffnen. Für einen Liebhaber des Catchens gibt es nichts Schöneres als die rächende Wut eines verratenen Kämpfers, der sich mit Leidenschaft nicht auf einen glücklichen Gegner, sondern auf das ätzende Bild der Unfairneß wirft. Natürlich ist der Lauf, den die Gerechtigkeit nimmt, hier viel wichtiger als ihr Inhalt: In erster Linie ist das Catchen eine quantitative Reihe von Vergeltungen (Auge um Auge, Zahn um Zahn). Das erklärt, warum den Wendungen des Kampfglücks für das Stammpublikum des Catchens eine Art moralischer Schönheit zukommt: Sie genießen es wie eine gelungene Romanepisode, und je größer der Kontrast zwischen dem Erfolg eines Schlags und der Wendung des Schicksals ist, desto näher rückt der Augenblick, in dem ein Kämpfer seine Fortüne verliert, und desto günstiger wird das Mimodram beurteilt. Das Recht ist also die Instanz einer möglichen Überschreitung: Erst der Existenz des Gesetzes verdankt das Spektakel der Leidenschaften, die es übertreten, seinen ganzen Wert.

Begreiflich also, daß von fünf Catch-Kämpfen vielleicht einer regelgemäß verläuft. Einmal mehr gilt es zu verstehen, daß Regelkonformität hier ein Rollenmodell oder ein Genre ist, wie im Theater: Die Regel ist keineswegs wirklich zwingend, sondern macht den konventionellen Schein von Regelhaftigkeit aus. So ist ein Kampf, der die Regeln beachtet, nichts anderes als ein übertrieben höflicher Kampf: Die Kämpfer treffen mit Eifer, doch nicht mit Wut aufeinander; sie verstehen es, ihre Leidenschaften zu bemeistern, stürzen sich nicht erbittert auf den Besiegten, halten mit dem Kampf inne, sobald sie die Anweisung dazu erhalten, und verabschieden sich am Ende einer besonders hitzigen Episode, in der sie dennoch anständig zueinander geblieben sind. Natürlich ist dem zu entnehmen, daß all diese höflichen Aktionen dem Publikum durch höchst konventionelle Gesten der Fairneß signalisiert werden: einander die Hand geben, die Arme heben, demonstrativ einen nutzlosen Griff lösen, der der Perfektion des Kampfes schaden würde.

Umgekehrt existiert die Unfairneß hier nur in Gestalt übertriebener Zeichen: dem Besiegten einen heftigen Fußtritt versetzen, hinter die Seile flüchten und sich dabei ostentativ auf ein rein formelles Recht berufen, sich vor oder nach dem Kampf weigern, dem Partner die Hand zu geben, die offizielle Unterbrechung dazu benutzen, den Gegner hinterrücks anzufallen, ihm einen verbotenen Schlag versetzen, wenn der Ringrichter gerade wegblickt (einen Schlag, der natürlich nur Wert und Nutzen hat, weil die Hälfte des Saals ihn sehen und sich darüber empören kann). Das Böse ist das natürliche Klima des Catchens; der regelgemäße Kampf hat deshalb Ausnahmecharakter, die Zuschauer sind darüber ein wenig erstaunt und sehen darin eine unzeitgemäße und leicht sentimentale Rückkehr zur sportlichen Tradition (»Komisch, die halten sich ja an die Regeln«); von so viel Güte in der Welt fühlen sie sich plötzlich gerührt, doch würden sie zweifellos vor Langeweile und Gleichgültigkeit sterben, wenn die Catcher nicht sehr rasch zu der Orgie böser Gefühle zurückkehrten, die allein einen guten Catchkampf ausmachen.

Konsequent weitergedacht, müßte das regelgemäße Catchen zum Boxen oder zum Judo führen, während das wahre Catchen seine Eigentümlichkeit aus all den Exzessen gewinnt, die es zu einem Spektakel und nicht zu einem Sport machen. Das Ende eines Boxkampfs oder eines Judotreffens ist nüchtern wie die Konklusion eines Beweises. Das Catchen folgt einem ganz anderen Rhythmus, denn seine natürliche Richtung ist die der rhetorischen Erweiterung: die Emphase der Leidenschaften, die Erneuerung der Paroxysmen, die Gereiztheit der Entgegnungen münden zwangsläufig in ein bizarres Durcheinander. Manche Kämpfe, gerade die gelungensten, werden von einem finalen Chaos gekrönt, einer wahnwitzigen Fantasia, in der Regeln, Gattungsgesetze, Weisungen des Kampfrichters und die Grenzen des Rings untergehen, in einer triumphalen Unordnung verschwinden, die auf den Saal übergreift und die Catcher, ihre Betreuer, den Kampfrichter und die Zuschauer durcheinanderwirbelt.

Es wurde schon bemerkt, daß das Catchen in Amerika als eine Art mythologischer Kampf zwischen Gut und Böse gilt (mit politischem Unterton, denn der böse Catcher wird immer als ein Roter betrachtet). Das französische Catchen deckt eine ganz andere Heroisierung ab, die in den Bereich des Ethischen, nicht mehr des Politischen fällt: Was das Publikum hierzulande sucht, ist die fortschreitende Ausgestaltung eines ausgesprochen moralischen Bildes: des perfekten Schweinehunds. Man kommt zum Catchen, um den neuen Aventüren einer großen Hauptrolle, ein und derselben Figur beizuwohnen, beständig und wandlungsfähig wie Guignol oder Scapin, einfallsreich in unerwarteten Wendungen und dennoch immer ihrem Rollenfach treu. Das Schwein entpuppt sich als ein Charakter Molières oder ein Porträt La Bruyères, das heißt als eine klassische Entität, eine Wesenheit, deren Handlungen nur bezeichnende, in der Zeit verstreute Epiphänomene sind. Dieser stilisierte Charakter gehört keiner Nation und keiner Partei an, und ob sich der Catcher Kuzchenko nennt (mit dem Beinamen der Schnauzbart, wegen Stalin) oder Yerpazian, Gaspardi, Jo Vignola oder Nollières, der Zuschauer schreibt ihm kein anderes Vaterland zu als das der »Regularität«.

Was also ist ein Schwein für dieses Publikum, das sich – so wie es scheint – zum Teil aus »Irregulären« zusammensetzt? Im wesentlichen ein labiler Charakter, der Regeln nur anerkennt, wenn sie ihm nützen, und gegen die formale Beständigkeit von Haltungen und Einstellungen verstößt. Ein unberechenbarer, folglich asozialer Mensch. Er sucht Zuflucht beim Gesetz, wenn es ihm vorteilhaft scheint, und verrät es, wenn ihm dies wiederum nützlich dünkt; bald leugnet er die förmliche Grenze des Rings und schlägt weiter auf einen Gegner ein, der von Rechts wegen von den Seilen geschützt wird, bald stellt er diese Grenze wieder her und beansprucht den Schutz dessen, was er einen Augenblick zuvor mißachtet hat. Diese Inkonsequenz, mehr noch als Verrat oder Grausamkeit, bringt das Publikum außer sich: Nicht in seiner Moral, sondern in seiner Logik gekränkt, betrachtet es den Widerspruch der Argumente als den schändlichsten aller Fehler. Der verbotene Schlag wird regelwidrig nur, wenn er ein quantitatives Gleichgewicht zerstört und die ausgeglichene Heimzahlungsbilanz stört; was das Publikum verdammt, ist keineswegs die Verletzung der blassen offiziellen Regeln, sondern die fehlende Rache, die ausbleibende Strafe. So ist für die Menge nichts erregender als der emphatische Fußtritt, der dem besiegten Schwein versetzt wird: die Freude am Strafen erreicht ihren Gipfel, wenn sie sich auf eine mathematische Berechnung stützt; dann ist die Verachtung ungebremst: Es handelt sich nicht mehr um ein »Schwein«, sondern um »eine Schlampe«, sprachliche Geste der äußersten Erniedrigung.

Eine derart präzise Zielbestimmung setzt voraus, daß das Catchen genau das ist, was das Publikum erwartet. Die Catcher, Männer mit reicher Erfahrung, verstehen es ausgezeichnet, die spontanen Episoden des Kampfes so hinzubiegen, daß sie dem Bild entsprechen, das sich das Publikum von den großen, überwältigenden Themen seiner Mythologie macht. Ein Catcher kann verärgern oder abstoßen, nie wird er enttäuschen, denn er erfüllt über eine fortschreitende Verfestigung der Zeichen stets bis zum Schluß, was das Publikum von ihm erwartet. Beim Catchen existiert alles nur ganz, es gibt kein Symbol, keine Andeutung, alles ist restlos da; die Geste läßt nichts im Schatten, unterbricht jeden störenden Nebensinn und bietet dem Publikum zeremoniell eine reine und volle, abgerundete Bedeutung wie etwas Natürliches. Diese Emphase ist nichts anderes als das volkstümliche, uralte Bild der vollkommenen Intelligibilität des Realen. Was das Catchen mimetisch darstellt, ist also eine ideale Verständlichkeit der Dinge, eine Euphorie, in der die Menschen für eine Weile der grundlegenden Uneindeutigkeit der alltäglichen Situationen enthoben sind und einen Panoramablick über eine eindeutige Natur werfen können, in der die Zeichen endlich den Ursachen entsprechen, ohne Hindernis, ohne Verlust und Widerspruch.

Wenn der Held oder das Schwein des Dramas – der Mann, den man noch ein paar Minuten zuvor erlebt hat, wie er, von moralischer Raserei gepackt, sich bis zur Größe einer Art metaphysischen Zeichens erhob – anschließend ruhig, unerkannt, mit einem Köfferchen in der Hand und seiner Frau am Arm, den Saal verläßt, kann niemand mehr daran zweifeln, daß das Catchen eine Verwandlungskraft besitzt, wie sie dem Schauspiel und dem Kultus eignet. Im Ring und noch in der Tiefe ihrer freiwilligen Schmach bleiben die Catcher Götter, weil sie für ein paar Momente der Schlüssel sind, der die Natur öffnet, die reine Geste, die Gut und Böse voneinander scheidet und die Figur einer endlich erkennbaren Gerechtigkeit enthüllt.

Der Harcourt-Schauspieler

In Frankreich ist man nicht Schauspieler, wenn man nicht von den Harcourt-Studios photographiert wurde. Der Harcourt-Schauspieler ist ein Gott; er tut nie etwas: er wird aufgenommen, während er ruht.

Ein Euphemismus aus der mondänen Welt gibt diese Haltung wieder: Der Schauspieler, so heißt es, ist »in der Stadt«. Natürlich handelt es sich um eine ideale Stadt, die Stadt der Komödianten, in der es nichts gibt außer Festen und Liebe, während er sich auf der Bühne rückhaltlos und angestrengt »verausgabt«. Und diese Verwandlung muß im höchsten Grade überraschen: Erregung muß uns ergreifen, wenn wir an den Treppenaufgängen des Theaters, gleich einer Sphinx am Eingang des Heiligtums, das olympische Bild eines Schauspielers aufgehängt finden, der die Haut des rasenden, allzu menschlichen Ungeheuers abgelegt und endlich zu seinem zeitlosen Wesen wiedergefunden hat. Darin liegt die Genugtuung des Schauspielers: Dafür, daß seine Priesterfunktion ihn manchmal zwingt, Alter und Häßlichkeit zu verkörpern, jedenfalls sich seiner selbst zu entäußern, erhält er hier sein ideales Gesicht zurück, befreit (gleichsam chemisch gereinigt) von den Spuren beruflich bedingter Unreinheit. Beim Übergang von der »Bühne« zur »Stadt« kehrt sich der Harcourt-Schauspieler keineswegs vom »Traum« ab und der »Wirklichkeit« zu. Ganz im Gegenteil: auf der Bühne kräftig, aus Fleisch und Knochen, unebene Haut unter der Schminke; in der Stadt glatt, das Gesicht von der Wirkung abgeschliffen, aufgelockert vom sanften Licht des Harcourt-Studios. Auf der Bühne manchmal alt, zumindest ein Alter unterstreichend; in der Stadt ewig jung, für immer auf dem Gipfel der Schönheit. Auf der Bühne von der verräterischen Materialität einer scheppernden Stimme blamiert, wie eine Tänzerin von ihren Waden; in der Stadt vollkommen stumm, das heißt mysteriös, von einem tiefen Geheimnis erfüllt, das man bei jeder schweigenden Schönheit vermutet. Auf der Bühne zu trivialen oder heroischen Gesten verpflichtet; in der Stadt beschränkt auf ein Gesicht, das jeder Regung enthoben ist.

Und dieses reine Gesicht wird darüber hinaus völlig überflüssig, das heißt zum Luxus, durch den absurden Blickwinkel, so als müßte der Photoapparat von Harcourt – der das besondere Anrecht hat, jene überirdische Schönheit einzufangen – sich in den unwahrscheinlichsten Zonen eines knappen Raumes aufbauen, als müßte dieses zwischen der groben Erde des Theaters und dem strahlenden Himmel der »Stadt« schwebende Gesicht ertappt, für einen kurzen Augenblick seiner natürlichen Zeitlosigkeit beraubt und dann wieder demütig seinem einsamen, königlichen Lauf überlassen werden. Bald den Blick mütterlich zu einem flüchtigen Boden gesenkt, bald ekstatisch erhoben, scheint das Gesicht des Schauspielers seine himmlische Wohnstatt in einem Aufstieg ohne Hast und Anstrengung zu erreichen, im Gegensatz zu einer zuschauenden Menschheit, die, einer anderen zoologischen Klasse zugehörig, sich nur mit den Beinen (und nicht mit dem Gesicht) zu bewegen vermag und ihre Wohnung zu Fuß erreichen muß. (Vielleicht wäre es einmal an der Zeit, eine historische Psychoanalyse abgeschnittener Ikonographien zu versuchen. Vielleicht ist das Gehen – mythologisch – die allertrivialste, also menschlichste Geste. Jeder Traum, jedes Idealbild, jeder soziale Aufstieg erübrigt als erstes die Beine, sei es auf dem Porträt, sei es durch das Auto.)

Reduziert auf ein Gesicht, auf Schultern und Haare, bezeugen die Schauspielerinnen die keusche Unwirklichkeit ihres Sexus – was sie in der Stadt offenkundig in Engel verwandelt, nachdem sie auf der Bühne Geliebte, Mütter, Luder und Soubretten waren. Die Männer hingegen – mit Ausnahme der jugendlichen Liebhaber, die dem engelhaften Genre angehören dürfen, da ihr Gesicht wie das der Frauen noch der Vergänglichkeit unterliegt –, die Männer bekräftigen ihre Virilität durch irgendein städtisches Attribut, eine Pfeife, einen Hund, eine Brille, ein Kaminpolster, triviale, für den Ausdruck der Männlichkeit jedoch notwendige Dinge, eine männlichen Wesen vorbehaltene Kühnheit, mit welcher der Schauspieler »in der Stadt« nach dem Vorbild angesäuselter Götter und Könige zum Ausdruck bringt, daß er sich nicht scheut, manchmal ein Mensch wie alle anderen zu sein, der seine Gelüste (Pfeife), Zuneigungen (Hund), Schwächen (Brille) und sogar ein irdisches Zuhause (Kamin) besitzt.

Die Ikonographie von Harcourt verflüchtigt die Materialität des Schauspielers und führt eine notwendig triviale »Bühne« fort, da sie vermittels einer trägen und folglich idealen »Stadt« funktioniert. Der Bühne kommt hier ein paradoxer Status zu. Sie ist die Realität; die Stadt hingegen ist Mythos, Traum, Wunderwelt. Gelöst von der allzu körperlichen Hülle der Profession, gewinnt der Schauspieler sein rituelles Wesen als Heros zurück, als menschlicher Archetyp an der Grenze der physischen Normen der anderen Menschen. Das Gesicht ist hier ein romanhafter Gegenstand; seine Gleichmut, seine göttliche Weichheit suspendieren die alltägliche Wahrheit und bieten die Verstörung, den Genuß und schließlich die Sicherheit einer höheren Wahrheit. In ihrer Scheu vor Enttäuschungen, die einer Epoche und einer sozialen Klasse entspricht, die zu reiner Vernunft ebenso unfähig sind wie zu einem kraftvollen Mythos, bekräftigt die gelangweilte Menge, die in den Pausen defiliert, daß diese unwirklichen Gesichter tatsächlich diejenigen sind, denen man in der Stadt begegnet, und verschafft sich so ein gutes Gewissen für die vernünftige Annahme, hinter dem Schauspieler stehe ein Mensch: Doch im selben Moment, in dem der Mime entblättert wird, läßt das Harcourt-Studio einen Gott auftreten, und dieses ganze bürgerliche Publikum, dieses blasierte und zugleich verlogene Publikum, ist zufrieden.

Für einen jungen Komödianten ist die Harcourt-Photographie folglich ein Initiationsritus, ein Gesellenbrief, der Ausweis seiner Berufszugehörigkeit. Ist er wirklich inthronisiert, solange er nicht mit dem Öl der Sainte-Ampule von Harcourt gesalbt ist? Dieses Rechteck, in dem sich zum ersten Mal – je nach dem auf Dauer gewählten Rollenfach – sein idealer Kopf, sein kluges Aussehen, seine sinnliche oder schalkhafte Erscheinung zeigt, bezeugt den feierlichen Akt, mit dem die gesamte Gesellschaft ihre Bereitschaft bekundet, ihn von ihren eigenen physischen Gesetzen zu befreien, und ihm die Leibrente eines Gesichts gewährt, das am Tage der Taufe als Gabe all diejenigen Eigenschaften empfängt, die sonst beim gemeinen Fleisch zumindest nicht gleichzeitig bestehen können: ein unvergänglicher Glanz, eine von allem Bösen unberührte Verlockung, Geisteskräfte, die mit der Kunst oder der Schönheit des Schauspielers nicht zwangsläufig einhergehen.

Das ist der Grund, weshalb die Photographien etwa einer Thérèse Le Prat oder Agnès Varda zur Avantgarde zählen: Sie lassen dem Schauspieler stets sein leibhaftes Gesicht und weisen ihm mit vorbildlicher Bescheidenheit offen und ehrlich seine soziale Funktion zu, die darin besteht, zu »repräsentieren« und nicht zu lügen. Für einen Mythos, der so entfremdet ist wie der der Schauspielergesichter, ist diese Entscheidung höchst revolutionär: An den Treppen nicht die klassischen, auf Hochglanz gebrachten, kraftlosen, (je nach Geschlecht) engelhaft oder viril überhöhten Harcourt-Porträts aufzuhängen ist eine Kühnheit, deren Luxus sich nur wenige Theater leisten.

Die Römer im Film

In Julius Caesar von Mankiewicz4 tragen alle Personen Haarfransen auf der Stirn. Bei manchen sind sie gelockt, bei manchen glatt, bei anderen gekräuselt und bei wieder anderen geölt. Stets sind sie jedoch sorgfältig zurechtgemacht, und Kahlköpfe wurden nicht erlaubt, obwohl doch die römische Geschichte eine ganze Menge davon hervorgebracht hat. Auch wer wenig Haare hat, kam nicht so leicht davon, denn der Friseur des Films hat sein Handwerk bestens verstanden und aus dem spärlichen Haarwuchs eine letzte Strähne zu flechten vermocht, die den Rand der Stirn erreicht, eine jener niedrigen römischen Stirnen, wie sie von jeher für eine spezifische Mischung von Geradlinigkeit, Tugend und Eroberungssinn kennzeichnend war.

Was hat es nun mit diesen unvermeidlichen Haarfransen auf sich? Sie zeigen ganz einfach das Römertum an. Man sieht hier unverhüllt am Werk, was das Schauspiel im wesentlichen antreibt, nämlich das Zeichen. Die Haarsträhne auf der Stirn liefert die überströmende, von niemandem zu bezweifelnde Evidenz, daß wir uns im alten Rom befinden. Und diese Gewißheit bleibt: Die Schauspieler sprechen, handeln, quälen sich und erörtern »universelle« Fragen, ohne etwas von ihrer historischen Wahrscheinlichkeit zu verlieren, dank dieser kleinen, über die Stirn drapierten Strähne; ihre Universalität kann sich sogar unbesorgt ausdehnen, den Ozean überqueren und die Jahrhunderte durchlaufen bis zu den Yankeegesichtern der Hollywood-Komparsen, darauf kommt es nicht an; denn jeder kann sich ruhig und bequem in der stillen Gewißheit einer Welt ohne Uneindeutigkeit einrichten, in der die Römer römisch sind vermöge eines ganz einfach lesbaren Zeichens: der Haare auf der Stirn.

Ein Franzose, für den die amerikanischen Gesichter immer noch etwas Exotisches haben, wird die Verbindung dieser Morphologien von Gangster-Sheriffs und kleiner römischer Stirnfranse für komisch halten, eher für einen gelungenen Varieté-Gag. Auf uns wirkt das Zeichen also offenbar übertrieben, es bringt sich in Mißkredit, indem es seine Absicht erkennen läßt. Doch diese gleiche Haarfranse auf der einzigen von Natur aus romanischen Stirn des Films, der Marlon Brandos, macht uns Eindruck, ohne uns zum Lachen zu bringen, und es ist nicht ausgeschlossen, daß der Erfolg dieses Schauspielers in Europa zum Teil auf die perfekte Integration der römischen Haartracht in die allgemeine Morphologie der Person zurückgeht. Unglaubwürdig hingegen ist Julius Caesar mit seinem Gesicht eines angelsächsischen Advokaten, das durch tausend Nebenrollen in Kriminalfilmen oder Komödien bereits verschlissen ist, er, dessen gutmütiger Schädel von einer Strähne mühsam überdeckt wird.

Ein Unter-Zeichen in der Ordnung der Haar-Bedeutungen ist das der nächtlichen Überraschungen: Portia und Calpurnia, mitten in der Nacht geweckt, sind ostentativ unfrisiert; bei der ersten, jüngeren der beiden sind die Haare in fließender Unordnung, das heißt, das Fehlen der Morgentoilette zeigt sich sozusagen im Primärzustand; bei der zweiten, reiferen ist das Defizit um einen Schritt weiter bearbeitet: Ein Zopf windet sich um den Hals und fällt über die rechte Schulter wieder nach vorn, so daß sich das traditionelle Zeichen der Unordnung aufdrängt, die Asymmetrie. Doch diese Zeichen sind zugleich übertrieben und läppisch: sie behaupten eine »Natürlichkeit«, der sie nicht einmal konsequent treu zu bleiben wagen: sie sind nicht »offen«.

Ein weiteres Zeichen dieses Julius Caesar: Alle Gesichter schwitzen unaufhörlich. All die strengen und angespannten Gesichtszüge der Männer aus dem Volk, der Soldaten und Verschwörer triefen von reichlichem (Vaseline-)Schweiß. Und die Großaufnahmen wiederholen sich so oft, daß Schweiß hier offenbar ein mit Bedacht gewähltes Attribut darstellt. Wie die römischen Haarfransen oder der nächtliche Zopf ist auch der Schweiß ein Zeichen. Wofür? Für Moralität. Alle schwitzen, weil alle innerlich mit etwas ringen; wir sollen uns hier am Ort einer Tugend fühlen, die sich schrecklich quält, das heißt im Mittelpunkt der Tragödie, und dem Schweiß kommt es zu, diese Qual sichtbar zu machen: Das Volk, schockiert durch Caesars Tod, dann aufgewühlt durch die Argumente des Marcus Antonius, das Volk schwitzt und kondensiert sparsam in einem einzigen Zeichen die Heftigkeit seiner Erregung und die Roheit seines Standes. Und auch die ehrenwerten Männer Brutus, Cassius, Casca transpirieren unaufhörlich und bezeugen damit, welche ungeheure physische Anstrengung es ihnen innerlich abverlangt, ihre Tugend in ein Verbrechen münden zu lassen. Schwitzen heißt denken (was natürlich auf einem Postulat beruht, das einem Volk von Geschäftsleuten wohl anstünde, nämlich daß Denken ein heftiger, katastrophischer Vorgang ist, von dem der Schweiß nur das geringste äußere Zeichen liefert). Nur einer im ganzen Film schwitzt nicht, bleibt glattrasiert, weich, undurchdringlich: Caesar. Als das Objekt des Verbrechens bleibt Caesar natürlich trocken, denn er weiß nicht, er denkt nicht, er muß die porenreine, solitäre, glatte Oberfläche eines Beweisstücks behalten.

Auch hier ist das Zeichen doppeldeutig; es bleibt an der Oberfläche und verzichtet doch nicht darauf, sich den Anschein von Tiefe zu geben; es will verständlich machen (was lobenswert ist), gibt sich aber gleichzeitig als spontan (was verlogen ist), erklärt sich zugleich für absichtsvoll und unvermeidlich, künstlich und natürlich, hervorgebracht und vorgefunden. Dies kann uns in eine Moral des Zeichens einführen. Eigentlich dürfte das Zeichen nur in zwei extremen Formen auftreten: entweder als offen intellektuelles, durch seine Distanz reduziert auf eine Algebra, so wie im chinesischen Theater eine Fahne ein ganzes Regiment und nichts sonst bedeutet; oder als Zeichen, das – tief eingewurzelt, gleichsam jedesmal neu erfunden – eine innere und geheime Seite verrät, Signal eines Augenblicks und nicht mehr eines Begriffs ist (das wäre zum Beispiel die Kunst Stanislawskis5). Doch das Zeichen dazwischen (die Haarfransen des Römertums oder die Transpiration des Denkens) verweist auf ein herabgesunkenes Schauspiel, das die naive Wahrheit ebenso fürchtet wie die völlige Künstlichkeit. Denn so erfreulich es ist, wenn ein Schauspiel dazu dienen soll, die Welt klarer zu machen, liegt in der Vermengung von Zeichen und Signifikat eine keineswegs unschuldige Doppeldeutigkeit. Und diese Doppeldeutigkeit ist dem bürgerlichen Schauspiel eigentümlich: Zwischen das intellektuelle und das viszerale Zeichen stellt diese Kunst heuchlerisch ein Bastardzeichen, das ebenso elliptisch wie prätentiös ist und dem sie den hochtrabenden Namen des »Natürlichen« gibt.

Der Schriftsteller in Ferien

Gide las Bossuet, als er den Kongo hinunterfuhr. In dieser Haltung verdichtet sich ziemlich gut das Ideal unserer Schriftsteller »in Ferien«, so wie sie vom Figaro photographiert werden: die Verbindung banaler Muße mit dem Prestige einer Berufung, die durch nichts aufzuhalten oder zu entwerten ist. Solche Reportagen sind soziologisch höchst aufschlußreich, weil sie uns untrüglich darüber belehren, welche Vorstellung sich unsere Bourgeoisie von ihren Schriftstellern macht.

Was sie zunächst zu überraschen und zu entzücken scheint, diese Bourgeoisie, ist ihre eigene Großmut, anzuerkennen, daß auch Schriftsteller Leute sind, die gemeinhin Ferien machen. »Ferien« sind eine neuere soziale Tatsache, deren mythologische Entwicklung zu verfolgen interessant wäre. Zunächst eine Unterbrechung des Schulunterrichts, wurden sie seit der Einführung des bezahlten Urlaubs6 zu einem proletarischen, zumindest der Arbeitswelt zugehörigen Phänomen. Daß diese Erscheinung nun auch Schriftsteller betreffen könnte, daß diese Spezialisten der menschlichen Seele ebenfalls unter das allgemeine Statut der heutigen Arbeit fallen könnten, ist eine Art, unsere bürgerlichen Leser davon zu überzeugen, daß sie sich auf der Höhe der Zeit befinden: Man schmeichelt sich, die Notwendigkeit bestimmter prosaischer Gegebenheiten anzuerkennen, man paßt sich dank der Lektionen Siegfrieds und Fourastiés7 den »modernen« Realitäten an.

homme de lettres