Rena Brauné

Das Gesetz der Familie

Gemeinsam sind wir stark

 

 

 

© 2019

Kadera-Verlag, Norderstedt

www.kadera-verlag.de / verlag@kadera.de

 

Autoren-Kontakt: renabraune@mail.de

 

Die Geschichten mit ihren Personen, Namen,

Handlungen und Ereignissen sind frei erdacht,

Ähnlichkeiten mit der Wirklichkeit sind zufällig und unbeabsichtigt.

 

ISBN 978-3-948218-02-7 (Paperback)

ISBN 978-3-948218-03-4 (E-Book)

 

 

Das unendliche Nichts

 

In dicke Seemannsjacken eingemummelt stapften die beiden Freunde zum Strand, schnauften weiße Atemwolken vor sich her. Ihre Mützen hatten sie in die Stirn gezogen und die Hände tief in den Jackentaschen vergraben.

»Bannig kalt heute«, meinte der eine.

»Ja, in Asien war es wärmer«, kam es von dem anderen.

»Dafür allerdings gefährlicher«, erinnerte Jens, der jahrelang die Asienroute gefahren war. Aber wenn er an Shanghai dachte, lief es ihm kalt den Rücken herunter.

Die beiden Männer setzen sich schweigend und entspannt auf ihre Bank. Gleich würde die Sonne aufgehen. Es war zu ihrem Ritual geworden, gemeinsam die Sonne zu begrüßen.

Die beiden waren Seebären, die Seefahrt mit Wind, Wetter und Knochenarbeit hatte sie geprägt. Vor vier Jahren abgemustert, sie selbst nannten es ausgemustert. Sechzig Jahre ist ein gutes Alter, um an Land zu bleiben. Aber der Rhythmus der Seefahrt steckte ihnen im Blut. Alle vier Stunden Wachwechsel. Das führt im Laufe der Jahrzehnte zu einem anderen Schlafrhythmus. Meistens hatten sie zusammen auf einem Schiff angeheuert. Jens als Funker und Krischan als Steuermann, später dann als Kapitän. Jetzt, in der Heimat, waren sie unzertrennlich wie Pott und Pann. Schon als Jungen hatten sie die Insel »unsicher gemacht«, meistens auf harmlose Weise. Oft hatten die Erwachsenen ihnen mehr zum Scherz mit erhobener Faust gedroht, dennoch sollte es Grenzen setzen. Jetzt, wo sie selber alt waren, erinnerten sie sich lachend an manchen Streich. Einmal hatten die Kinder jedoch ein wirklich großes Ding gedreht.

Damals gab es auf der Insel noch viele Fischer, die vom Fang ihre Familien ernähren konnten. Wenn sie abends rausfuhren, musste jeder Handgriff sitzen. Es waren eingespielte Teams.

Den beiden Jungs war damals eine tolle Idee gekommen, wie sie meinten: »Wir ketten die Schiffe aneinander und nehmen die Schlüssel mit!« Gedacht, getan!

Die ersten Fischer, die das Desaster bemerkten, fluchten und schimpften auf die Bengels. Kein Zweifel, wer das Werk vollbracht hatte. Als die Väter der beiden, ebenfalls Fischer, zum Hafen kamen, hätten die anderen sie liebend gern ins Wasser geschubst, aber die beiden Väter waren ebenso wütend, wie ihre Kollegen. Schäumend vor Wut eilten sie nach Hause, rissen die Bengel aus den Betten und verpassten ihnen links und rechts ein paar saftige Backpfeife.

Es war das erste und einzige Mal, dass sie so richtig Dresche bezogen hatten. Normalerweise waren ihre Eltern sehr großzügig. Aber was sie sich jetzt geleistet hatten, war für alle teuer geworden. Die Ohrfeigen waren nicht genug.

Denn schließlich griff alles ineinander. Die Restaurants brauchten den Fisch immer ganz frisch. Viel wurde auch auf das Festland verkauft. Durch diesen bösen Schabernack hatten sie alle viel Zeit und Geld verloren.

Am nächsten Morgen, als die Schiffe wieder im Hafen waren, wurde beratschlagt, wie die beiden nachhaltig bestraft werden sollten. Es gab die verschiedensten Vorschläge.

Da in der darauffolgenden Woche die Sommerferien begannen, konnten sie mehrere Strafaktionen starten. In der ersten Woche sollten sie Decks schrubben – abwechselnd bei jedem Fischer. In der zweiten Woche, sollten sie mit den Fischern rausfahren und tüchtig mit anpacken. Immer auf einem anderen Schiff, aber nie beide zusammen. Sie sollten lernen, wie schwer die Arbeit wirklich war. Ein paar Fische fangen hört sich ja immer so leicht an.

Kaum zu glauben: Diese Arbeit war genau das Richtige für die Jungs, sie waren glücklich. Sie schworen sich, später »Kapitäne auf großer Fahrt« zu werden. Nachdem die Strafe abgearbeitet war, bettelten sie regelrecht darum, ab und zu mit rausfahren zu dürfen, diesmal zusammen.

Dann saßen die beiden dicht beieinander vorn im Bug, schauten bis zum Horizont und träumten von dem unendlichen Nichts.

 

Die Seefahrt soll ihr Leben sein

Nach ihrer Schulzeit haben sie gleich angeheuert und fühlten sich wie Sieger. Aber es wurden die härtesten fünf Jahre ihres Lebens. Viel Salzwasser geschluckt, über die Reling gespuckt und die Decks geschrubbt. Es wurde erst besser, als andere, jüngere Frischlinge an Bord kamen, die sie anlernen durften. Inzwischen hatten sie auch für sich festgestellt, welche Arbeit ihnen am meisten gefiel.

Krischan hatte viel Freude an der Nautik und wollte auf jeden Fall ein Schiff steuern. Er war ein großer blonder Schlacks und mit seinen blauen Augen ein absoluter Frauentyp. Er ließ so leicht nichts anbrennen, wenn sie an Land waren.

Jens, mit seinen dunklen Haaren und seinem stämmigen Körper, war genau das Gegenteil. Viel ruhiger und überlegter als Krischan. An Bord hatte der Maschinist ihm das Boxen beigebracht. Er fühlte sich wohl, wenn er für sich allein arbeiten konnte. Das Funken interessierte ihn stark. Dieses Gefühl, mit der ganzen Welt zu kommunizieren, war sehr reizvoll.

 

In den ersten Jahren hatte der Maschinist die beiden ein wenig unter seine Fittiche genommen. Er hatte ihnen ein paar Regeln beigebracht, wie Seeleute sich an Land verhalten sollten. Auf keinen Fall groß auffallen. Was bei Krischan nicht einfach war. Schon durch seine Höhe und die blonden Haare stand er wie ein Leuchtturm in der Meute aus Kinder und Frauen, die sie bei Landgang bedrängten. Der Maschinist hatte ihnen beigebracht: »Suche dir den Anführer der Kinderschar heraus. Dem gibst du ein paar kleine Scheine und der gibt den anderen etwas ab. Das klappte meistens ganz gut.«

Bei den Frauen ging es nicht so einfach, da hieß es gut aufpassen.

Aber Dank der Erfahrung des Maschinisten, der in jedem Hafen sein Stammlokal hatte und die Frauen ihn alle kannten, bekamen sie den Dreh schnell heraus.

Bis auf das eine Mal in Santos – zur Zeit des Karnevals. Die beiden waren allein an Land gegangen. Erfahren wie sie waren, meinten sie, wer soll uns schon was vormachen. Überall im Hafenviertel und in den angrenzenden Straßen wurde getanzt und gefeiert. Die Stimmung war ausgelassen und voller Lebensfreude. Die Kostüme aufwendig und fantasievoll, immer nur das Nötigste bedeckend. Überall wurden ihnen Getränke angeboten. An jeder Ecke wurden sie zum Mittanzen animiert. Sie hatten große Mühe, zusammenzubleiben.

Um ein bisschen zu verschnaufen, waren sie in ein riesiges, halboffenes Lokal gegangen. An einer Seite eine bunt dekorierte Bühne, es gab Live-Musik, Samba, Rhythmus, der sofort in die Beine geht. Jeder tanzte mit jedem. Die beiden waren fasziniert vom Temperament und der Beweglichkeit der Brasilianer.

Kaum hatte der Wirt sie erblickt, wieselte er auf sie zu und nahm sie ins Schlepptau. In der ersten Reihe vor der Bühne wurde ein Tisch für sie frei gemacht. Den dort sitzenden Personen wurde klipp und klar erklärt, jetzt wären wirklich zahlende Gäste da. Den beiden war das richtig unangenehm und auch etwas unheimlich. Was würden die Gäste machen, die vorher da saßen? Mussten sie nicht furchtbar wütend auf die Gringos sein, die ihre Plätze haben sollten? Nein, überhaupt nicht. Sie lächelten freundlich, und klopften Jens und Krischan auf die Schultern und verzogen sie sich auf die hinteren Plätze.

Zwei wunderschöne Mädchen wurden an den Tisch geführt, dazu wurden Sekt und Nüsse angeboten. Ja, da saßen sie nun und hatten das Gefühl, dass es nicht umsonst zu haben ist. Nur nichts anmerken lassen. Wie sollten sie aus dieser Patsche wieder herauskommen? Viel Geld hatten sie nicht bei sich.

Auf der Bühne wurde getanzt und zwei Mädel zogen Jens und Krischan zu sich hinauf. Die Stimmung und die Musik waren mitreißend. Sie mussten ständig aufpassen, die Hände der Mädels wollten überall hin.

Obwohl sie immer liebreizend angelächelt wurden, waren Krischan und Jens fix auf der Hut. Mit allen Mitteln versuchten, die Mädchen die Jungs auseinanderzubringen, die sich mühten, möglichst in der Mitte der Bühne zu tanzen. Die Mädel strebten immer wieder auseinander, eine links, die andere rechts. Bei Krischan hatten sie es fast geschafft.

Auf einmal drängte sich eine Gruppe wie verabredet in die Mitte. Das wollte Jens auf jeden Fall verhindern. Er legte seine kräftigen Hände um die Hüften des Mädel und drehte sie mit einem Ruck in Richtung Krischan. Ein hoher, spitzer Aufschrei folgte und ihre Hände fuhren in die Schamgegend. Die Kordel vom Tanga war gerissen. Die Reaktion aber war nicht schnell genug gewesen, und Jens hatte genug gesehen: Das Mädel waren gar kein Mädel!

Rücksichtslos machte Jens sich Platz, um zu Krischan zu kommen. Ein paar Boxhiebe taten ein Übriges. Bei Krischan angekommen, zog er an der Tangakordel von dessen Tänzerin rief ihm zu: »Komm!«

Mit einem Satz waren sie von der Bühne – nur schnell raus! Das gelang jedoch nicht so einfach, denn in Sekundenschnelle waren sie von einem Menschenring umschlossen. Dass sie völlig ohne Angst waren, kann man nun wirklich nicht sagen. Aber sie ließen sich das nicht anmerken, obwohl sich in ihrer Magengegend ein mulmiges Gefühl breitmachte.

Auf einmal hörten sie Trillerpfeifen, erst eine oder zwei, dann tönte es wie ein ganzes Orchester. Herein kam der Maschinist und bahnte ihnen eine Gasse nach draußen. Währenddessen ging das Pfeifkonzert draußen weiter. Vor dem Lokal warteten die Kinder mit ihren Vätern, denen die beiden heute ein großzügiges Trinkgeld gegeben hatten. Jens hatte sich beim Freikaufen, bei einem Schein, vertan. Der war eindeutig zu groß ausgefallen – doch jetzt schien er eine lebensrettende Wirkung zu haben.

Einer der Jungen lief in die Bar nebenan, in der sich der Maschinist aufhielt, und hatte ihm alles erzählt. Der hatte keine große Mühe, schnell einen Trupp Pfeifer zusammenzutrommeln, denn eine Trillerpfeife hat hier jeder. Sie ist das einfachste und beste Alarmgerät, das man sich vorstellen kann. Alle waren schnell bereit zu helfen, weil sie den Maschinisten gut leiden konnten und wussten, dass er nie kleinlich war.

Krischan und Jens mussten natürlich noch einmal viel Trinkgeld zahlen. Aber das war es allemal wert. Wer weiß, was ihnen sonst noch passiert wäre. Nachdem sie das Freundschaftsgeld gezahlt hatten, sagte der Maschinist: »Schultern gerade, Kopf hoch und ein flotter Schritt, aber nicht rennen.«

Als sie um die nächste Ecke bogen, waren sie jedoch nicht mehr zu halten. Sie rannten, bis sie auf dem Schiff in Sicherheit waren. Damals haben sie sich geschworen, nie wieder Karneval in Brasilien.

Nach diesem Abenteuer hatten sie Fracht für Santa Cruz in Argentinien. Die wurde schnell gelöscht, zum einen, weil es sich um Obst handelte, zum anderen wartete schon die neue Ladung auf sie.

 

Wahrlich dicke Luft an Bord

Die hatten vorerst keine Lust auf Landgang. Das Erlebnis von Santos steckte ihnen noch in den Knochen. Die neue Ladung bestand aus Düngemittel, fest verpackt in starken, gewebten Säcken auf Paletten gepackt. Beim Stauen wurde mit großer Sorgfalt vorgegangen. Denn es durfte nichts verrutschen oder nass werden.

Dem Kapitän passte diese Ladung überhaupt nicht. Er drückte sich gern drastisch aus: »Ich habe noch nie Scheiße gefahren, und das jetzt wird das letzte Mal sein!«

Die Crew konnte ihn gut verstehen, denn es kroch ein widerlicher, bestialischer Gestank durch das Schiff. Nur an Deck, an der frischen Luft, konnte man frei atmen. Jens konnte es in seiner Funkbude nur mit Atemmaske aushalten. Kurz nach dem Auslaufen hatte er eine Sturmwarnung auf dem Ticker.

»Schlimmer kann‘s nicht mehr kommen«, kommentierte der Kapitän. Alle Mann wurden unter Deck geschickt, um die Ladung zusätzlich zu sichern. Nicht auszudenken, wenn da was verrutschte: »Dann sind wir im Arsch«, meinte der Maschinist.

Der Kapitän änderte den Kurs etwas, sodass ihr Schiff die Nase im Sturm hatte. »Wenn uns diese Brecher von der Seite erwischen, kentern wir«, orakelte der Maschinist.

Er wusste, wovon er sprach, er hatte schon einmal in dieser Klemme gesteckt. Seinem damaliger Kapitän fehlte es an Erfahrung. Er hatte voller Panik reagiert. So schnell wie möglich wollte er dem Sturm entrinnen. Aber der war schneller da als gedacht und knallte voll auf die Breitseite. Das Schiff kenterte und wurde ein Spielball der riesigen Brecher. Zwei Männer der Crew wurden damals von der See verschluckt. Gott sei Dank war ein Tanker in der Nähe, sodass sie aus ihren Rettungsbooten geholt werden konnten. »Lange hätten wir das in unseren Nussschalen nicht mehr gemacht«, erzählte der Maschinist.

Ausgerechnet jetzt musste er das erzählen und allen kroch die Angst den Rücken runter. Obwohl er es nie zugeben würde, aber auch der Maschinist musste wohl seine eigene Angst rauslassen. Denn er sprach sonst nie über das schreckliche Ereignis. Meistens machte er nur eine abwertende Bewegung, wenn man ihn darauf ansprach.

Auch der Smutje, der sonst immer lustig vor sich hin pfiff, war still und in sich gekehrt. »Aber der Kapitän weiß, was er macht, er hat jahrelange Erfahrung in dieser Gegend«, meinte er.

Jens saß wie festgenagelt in seiner Funkbude und verfolgte jedes noch so kleine Geräusch, das aus dem Empfänger kam. Seine Ohren waren schon knallrot vor Anspannung. Er konnte ja sonst nichts tun. Nur hoffen und beten, dass es nicht allzu schlimm werden würde. Gebetet wurde wohl auf dem ganzen Schiff, auch wenn sich das wie fluchen anhörte. Auf See bist du in Gottes Hand, das weiß jeder und man merkt erst dann, wie klein wir alle sind.

Krischan, der als Steuermann oben direkt neben dem Kapitän stand, bekam das Tosen hautnah mit. Erst später vertraute er sich Jens an: »Ich hätte nie gedacht, dass die Wellen so hoch über uns hinweg peitschen können. Man hatte oft das Gefühl unter Wasser zu sein, anstatt darüber. Ich sage dir: Der Sturm kreischte und schrie, ich hatte die Hosen voll. Der Alte hatte das Ruder fest umklammert, als wollte er dem Schiff seinen Willen aufzwingen. Ansonsten – nach außen – die Ruhe in Person. Nur ganz knappe Befehle an die Maschine und an uns. Aber manchmal hat er gegen den Sturm geschrien: ›Du wirst nicht siegen, ich kenne dich, wir sind stärker!‹ Ich hatte große Angst, aber im Inneren war ich überzeugt, wir schaffen das. Mit diesem Kapitän geht alles.«

Eine Stunde ging das Getöse, obwohl es ihnen wie fünf vorkam. Dann flaute es ab und sie atmeten auf, aber der Kapitän meinte: »Ich weiß nicht so recht.«

Alle versuchten ihren normalen, geregelten Aufgaben nachzugehen. Der Smutje holte jede Menge an Essen hervor und brachte es in das Kasino. Die versammelte Mannschaft merkte, wie hungrig sie nach dieser Anspannung waren. Der Funker bekam sein Essen auf die Bude, denn noch gab es keine Entwarnung. Auch der Kapitän und die Steuercrew wurden auf der Brücke persönlich vom Smutje bedient, so konnte er selbst wenigstens ein paar Minuten frische Luft schnappen. Denn auch er hatte seine Zähne die ganze Zeit zusammen gebissen, um die Angst nicht rauszulassen. Und als er gerade auf dem Rückweg zur Kombüse war, musste das Schiff noch einmal einen riesigen Brecher einstecken.

Der Bug wurde hoch gehoben und steckte die Nase kurz in die Luft, um gleich darauf mit Wucht zurück in ein Wellental zu klatschen. Niemand unter Deck war darauf vorbereitet. Es gab ein wildes Durcheinander. Überall flogen Gegenstände umher, es schepperte und knallte. Den Funkgeräten passierte nichts, denn alles ist fest verschraubt. Aber Jens hatte sich den Kopf und das Bein gestoßen. Den Koch hatte es von den Beinen gerissen. Er hatte sich den Kopf angeschlagen und lag im Gang vor der Kombüse.

Er war nicht ganz bei sich, denn als sich die Kameraden um ihn kümmerten, sagte er immer wieder: »Zum Glück keine Suppe, Gott sei Dank.« Nachdem Funker und Smutje nach Erste-Hilfe-Art versorgt waren, wurde der Schaden inspiziert. In der Kombüse sah es aus wie nach einem Bombentreffer. Alles, was nicht aus Blech oder Plastik war, ging kaputt.

Einige Behälter mit Zucker, Mehl und Hülsenfrüchten waren umgekippt. Ein Kanister mit Olivenöl platzte, ebenso einige Milchtüten. So schwappte in der Kombüse eine eklige Pampe.

»Alles kein Problem, wozu haben wir denn unsere Frischlinge!« Darüber gab es keine zweite Meinung in der Crew. Hauptsache, es ist keinem etwas passiert. Und die Frischlinge, noch sehr grün im Gesicht, mussten nun alles aufräumen.

»Weißt du noch«, sagte Jens zu Krischan, »das mussten wir früher machen, – Kinderkram gegen das Chaos von heute.«

Der Rest der Reise verlief ohne Probleme und als das Schiff in Bremerhaven anlegte, musterten die beiden ab, um nach Hause zu fahren. Die Reederei hatte einen Funkspruch für Krischan geschickt. Eine kurze Nachricht nur, für Krischan aber mehr als eine Bitte – das war ein Notruf der Familie: »Komm nach Hause, Vater ist krank!«

Als Jens ihm die Nachricht übergab, sagte er: »Wir gehen beide.«

Die Reederei wusste Bescheid, sie würden für drei Monate aussteigen.

»Dann haben wir endlich mal richtigen Urlaub«, meinte Jens, um Krischan aufzuheitern. Denn der machte sich große Sorgen. Sein Vater krank – das hatte es noch nie gegeben. Das machte diesen Hilferuf so dramatisch.

»Es muss sehr ernst sein«, sagte er immer wieder zu Jens. Der versuchte, ihn mit optimistischer Hoffnung zu trösten, aber es gelang nicht.

 

Abschied vom Vater

Sie hatten vorher angerufen, so dass ein Freund sie mit seinem Boot abholen konnte. Der war auf der Überfahrt sehr einsilbig. Nein, er wüsste auch nichts Genaues. Ein Unfall seit es nicht gewesen. Aber der Vater wäre jetzt schon fast vier Wochen nicht mehr zum Fischen rausgefahren. Die anderen Fischer hätten jeder einen Teil von ihrem Fang für die Familie gegeben.

So machte man das hier. »Jeder für jeden«, hieß das Gesetz, wenn Hilfe gebraucht wurde. Außerdem hatte Krischan regelmäßig Geld von der Reederei überweisen lassen. So musste die Familie wenigstens keine Not leiden. Die beiden Freunde waren fast fünf Jahre nicht zu Hause gewesen, ein komisches Gefühl hatte sie ergriffen.

In Krischans Elternhaus brannte nur in der Küche Licht. Mit klopfenden Herzen betraten sie das Haus. Die Mutter saß still auf der Bank und hatte den Korb mit Flickzeug vor sich. Aber sie hielt ihre Hände still im Schoß. Als ob sie betet, ging es Krischan durch den Kopf. Er hatte seine Mutter noch nie ohne Arbeit gesehen. Es gab immer viel zu tun. Am Abend nähte, strickte oder besserte sie die kaputte Kleidung aus. Krischans Brüder waren zwei wilde Bengel von 14 und 15 Jahren, als er zur See ging. Jetzt waren sie erwachsen und wahrscheinlich nicht mehr so wild. Aber er würde sie morgen sehen. Jetzt musste er sich erst einmal um die Mutter kümmern, der die Tränen nur so herabstürzten.

Er hatte sie nie weinen gesehen, immer war sie stark und streng gewesen.

Jens drückte Krischans Mutter an seine breite Brust und murmelte: »Ich komme morgen wieder.« Und ab durch die Tür.

Krischan holte die Notfall-Flasche Aquavit aus dem Küchenschrank. Er meinte, den würde seine Mutter jetzt bestimmt brauchen. Dann haben sie fast die ganze Nacht zusammengesessen. So konnte sich die Mutter alles von der Seele reden.

»Gott sei Dank bist du jetzt da und kannst alles regeln. Mir traut er ja nichts zu. Ich bin nur eine Frau, gut für Haus und Kinder, aber planen und überlegen das kann ich doch nicht,« sagte sie etwas bitter.

»Der Doktor sagt, ich darf ihn nicht aufregen, und darum widerspreche ich auch nicht. Deine beiden Brüder sind auch hier. Sven versucht stark zu sein. Er ist auch schon bei den Fischern mitgefahren, obwohl er Schlosser ist. Aber Erik, unser Jüngster, der ja immer unser Sorgenkind war, wegen seiner vielen Krankheiten, dreht völlig durch. Er bekommt regelrechte Wutanfälle und neulich hat er sogar den Hund getreten.« Die Mutter drehte verzweifelt an ihrem Taschentuch.

»Ich weiß nicht was ich mit ihm machen soll. Zum Glück hat er seine Malerlehre abgeschlossen und wurde vom Meister übernommen. Ich habe mit dem Meister gesprochen, er ist sehr zufrieden mit ihm. Er sagt, je mehr man Erik abverlangt, desto besser wird er. Und Erik blüht bei ihm richtig auf. Ich hoffe, jetzt wo du da bist, wird alles gut,« murmelte die Mutter. Dabei fielen ihr die Augen zu.

Krischan legte die Mutter auf die Küchenbank und deckte sie vorsichtig zu. Aus dem Augenwinkel sah er noch, dass sich die Katze dazulegte und einkuschelte.

Dann stürmte er raus zum Strand, er musste an die frische Luft. Der Wind würde seinen Kopf wieder freipusten. Denn was er alles gehört hatte, ließ einen gewaltigen Schreck in seinem Inneren zurück. Der Vater wird sterben, das stand fest und höchstwahrscheinlich schon bald. Er hatte Magenkrebs, eine heimtückische Krankheit. Und er war viel zu spät zum Arzt gegangen, weil er es nicht ernst genommen hatte. Ab und zu hatte er über Magenschmerzen geklagt und einen kleinen Aquavit getrunken. Aber seit einigen Monaten hatte er überhaupt keinen Alkohol mehr getrunken, weil es immer so brannte.

Erst als er Blut spuckte, ging er zum Arzt und wollte die Diagnose einfach nicht wahrhaben. Bis er zusammenbrach und in das Krankenhaus kam. Aber da hatten sie ihn nach einer Woche wieder entlassen. Diagnos: Keine Behandlung mehr möglich. Jetzt bekam er Infusionen gegen die Schmerzen – Morphium – mehr konnte man nicht für ihn tun. Essen konnte fast gar nichts mehr, missmutig löffelte er nur noch Brei.

Krischan rannte den Strand rauf und runter. Er tobte und schrie, er weinte und jammerte. Wie ein Baby rollte er sich im Sand. Als seine hilflose Wut langsam abebbte, kamen auch wieder klare Gedanken.

Er musste mit dem Vater sprechen und hören, was der sich alles überlegt hatte. Denn sein Vater war immer ein ruhiger, überlegender Mann gewesen. Darum musste man sich seine Wünsche anhören und auch ausführen. Dann ging er zu Jens, um ihm alles zu erzählen. Er war sich sicher, dass Jens nicht schlief und nur darauf wartete, ihm beizustehen.

Aber Krischan musste gar nichts mehr erzählen, denn Jens wusste schon alles. Die beiden Mütter waren von klein auf Freundinnen, so wie Jens und Krischan. Dadurch wusste sie als Einzige auch genau Bescheid und hatte ihrem Sohn alles erzählt. Der Schock stand ihm noch im Gesicht, als Krischan kam.

So nahm Jens seinen Freund nur in den Arm und sagte: »Wir beide zusammen schaffen das.«

Daraufhin ging Krischan etwas gestärkt nach Hause, um am Morgen alles mit dem Vater zu besprechen.

 

Krischan bekam einen riesigen Schreck, der Vater hatte kaum noch Kraft, aber sein Geist wach und ansprechbar. Er flüsterte nur, seine Stimme hatte keine Kraft mehr: »Ich freue mich, dass du da bist, mein Sohn.«

»Mein Sohn« hatte der Vater nur ein einziges Mal zu ihm gesagt und das war, als Krischan sich zur See verabschiedete. Krischan hatte das noch immer im Ohr, damals sagte der Vater: »Mach uns keine Schande, mein Sohn!« Sonst sagte er immer nur Krischan oder Bengel!

Der Vater streckte ihm die Hand entgegen und ließ es zu, dass Krischan sie lange hielt und streichelte.

Wie Krischan vermutete, waren klare Pläne bei seinem Vater vorhanden. Er sagte: »Für lange Vorreden haben wir keine Zeit mehr. Ich werde dich nicht bitten, an Land zu bleiben, aber ich bitte dich, das Schiff zu verkaufen. Deine Mutter bekommt den Erlös und die Lebensversicherung. Deine Brüder sind keine Fischer, außerdem haben sie eine gute Ausbildung, sie müssen selber sehen, was sie daraus machen. Ich habe mit beiden schon gesprochen und sie sind einverstanden. Uns wurde auch nie etwas geschenkt und deine Mutter muss abgesichert sein. Sie möchte auf jeden Fall auf der Insel bleiben. Ihre Verwandten und alle ihre Freunde leben hier. Deine Brüder leben beide auf dem Festland und wollen da auch bleiben.«

Immer wieder holte der Vater mühsam Luft und presste seine Hand auf seinen Leib. »Es ist alles auch völlig richtig so, jeder hat sein eigenes Leben. Aber du bist ab jetzt das Familienoberhaupt und hast die Verantwortung. Ich weiß, du kannst das und deine Brüder werden auf dich hören. Sie verehren dich und haben sich immer über deine Fahrten genau informiert. Auf der Landkarte haben sie die Route abgesteckt. Auch haben sie mir versprochen, keinen Widerspruch gegen dich zu haben.«

Nach dieser sehr langen Rede fiel der Vater erschöpft zurück in die Kissen und schloss die Augen – was gesagt werden musste, war gesagt.

Am selben Abend traf Krischan sich mit den anderen Fischern am Hafen. Sie waren sehr erstaunt, als sie hörten, Krischan und Jens wollten im Konvoi mit hinausfahren.

Aber Krischan sagte: »Solange Vater lebt, fahre ich das Schiff.«

»Respekt Käptn,« sagten sie, »Wenn du Hilfe brauchst, sag einfach Bescheid.«

Zwei Wochen später starb der Vater. Fast alle Insulaner kamen zu seiner Beerdigung.

Krischan und Jens regelten den Nachlass. Jens konnte beim Verkauf des Schiffs besser verhandeln. Darum wurde ein guter Preis erzielt; der Käufer war ein Einheimischer. So blieb alles auf der Insel. Die Mutter wirkte nach außen gefasst und stark. Sie schickte die beiden jüngeren Söhne wieder zurück auf das Festland, sie hatten sich Urlaub genommen, um Abschied vom Vater zu nehmen. »Jetzt muss das normale Leben ja irgendwie weitergehen«, sagte sie.

Bei Krischan gestaltete es sich etwas anders. Er hatte noch viel zu erledigen und er wollte noch bei der Mutter bleiben. Er hatte sie ja mehrere Jahre nicht gesehen und wollte noch vieles fragen, was er sich früher nie getraut hatte.

Jens hatte von der Reederei einen Anruf bekommen, es war ein Funker ausgefallen, der ausgerechnet auf der Asienreise erkrankte. Er wurde gebraucht, also sagte er ja. Obwohl er Krischan gern geholfen hätte – es hieß Abschied nehmen vom Freund und der Familie. Das Leben fordert es oft anders, als man es selber möchte.

Krischan hatte in der letzten Zeit, die ihm mit dem Vater blieb, Gelegenheit gehabt, viel mit ihm zu sprechen. Er hatte den Eindruck, dass es den Vater erleichterte und er froh war, dass er ihm noch alles erzählen konnte. Denn über persönliche Dinge wurde in der Familie nie viel gesprochen.

Erst jetzt erfuhr Krischan, wie sich die Eltern kennengelernt hatten.

 

Wie der Vater die Familie gründete