Lewitscharoff, Sibylle Der höfliche Harald

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Impressum

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Wiederveröffentlichung einer früheren Ausgabe

 

© dieser Ausgabe, Piper Verlag GmbH, 2019
© 1999 Bloomsbury Verlag GmbH Berlin
Illustriert von Sibylle Lewitscharoff
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: FinePic®, München

 

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Widmung

Schlau wie 2 Professorsköpfe,

klüger noch als Schipfensteer,

hat geholfen viel & sehr

– Wer? –

Ulrich Moritz, Lebeherr.

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Die drei S.

In Zwirnegg schlug es zwölf Uhr. Die fünfhundertachtzehn Beamten der Stadt ließen ihre Papiere sinken. Es war noch keine Minute verstrichen, da zogen sie die Schubladen auf und langten nach den flachen Päckchen in Aluminiumfolie, die sie dort neben Radiergummis, runden Briefmarkenschwämmen, Bleistiftstummeln und ein bisschen Staub verwahrt hatten, streiften alsdann die Folie von ihren Mittagsbroten, musterten die Gurken-, Salami- und Käsescheiben auf weicher Butter, schlossen die Brote sorgfältig und bissen – nach einem ernsten Blick in die Kollegenrunde und nicht ohne einander Mahlzeit! zuzurufen – hinein. Friseur und Bäcker, Schneider und Schuster taten es ihnen nach. Sie ließen die Rollläden herunter oder hängten ein Schild in die Ladentür: Mittagsruhe von 12.30– 14.00 Uhr. Man saß ein gutes Stündchen geruhsam beim Bier.

Die Zwirnegger Bäuche glucksten vor Behagen und sperrten ihre Nabel auf.

Draußen wehte der Mittagswind, heiß und unberechenbar. Seit mindestens fünfhundert Jahren hatte kein so böser Wind mehr in Zwirnegg geweht. Papierfetzen trieb er im Kreis herum, Blechbüchsen ließ er durch die Straßen rollen. Den Menschen, die jetzt noch im Freien herumliefen, wurden die gefährlichsten Ideen in ihre Köpfe geblasen. Plötzlich taten sie Dinge, die sie fünf Minuten später schon bereuen sollten. Vor seinem Laden haute der Metzger dem Lehrling die Mütze vom Kopf. Der Tankwart rannte im Zorn dreimal um seine Tankstelle. Am Ende der Straße balgten sich zwei Hunde, eine Katze guckte von oben zu. Nebenan ging das Gartentor auf, und ein kleiner Junge wurde auf die Straße geschubst.

Dahinter kam seine Mutter zum Vorschein. »Kinder müssen rechtzeitig fort. Da hilft nichts«, behauptete sie und stellte sich breit in die Toröffnung. »Es ist soweit. Einmal muss Schluss sein.«

Dem Jungen war das ganz und gar nicht geheuer. So etwas hatte er die Mutter noch nie sagen hören, auch ihre Stimme kam ihm merkwürdig vor. Er machte kehrt. Am liebsten wäre er zwischen dem linken Bein der Mutter und dem Torpfosten in den Garten zurückgeschlüpft. Das gelang ihm aber nicht. Um sie zu erweichen, probierte er es mit seinem sanften Blick. Diesmal war es zwecklos. Genausogut hätte er versuchen können, einen Stein zu erweichen, oder die Turnstange hinterm Haus.

»Lass dich hier erst wieder blicken, wenn du ein Held geworden bist«, sagte die Mutter, »und vergiss nicht: zu einem Helden gehört eine Braut. Hübsch muss sie sein, sonst kommt sie mir nicht über die Schwelle. Nun aber los, verschwinde!« Es endete damit, dass Harald sich mit zögernden Schritten entfernte. Immer wieder blieb er stehen und drehte sich um. Eine Hand in die Hüfte gestemmt, stand die Mutter wie ein jedesmal kleinerer Wachtposten da. Verzagt malte er sich aus, dass er bestimmt nicht weit kommen würde. In seiner Hosentasche befanden sich nur fünf Mark und zwei zerbrochene Kekse. Ganz schön wenig, wenn man in die Welt muss! Den Kopf voller Sorgen, bog er in die Straße ein, die hinab zum Fluss führte.

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Es dauerte nicht lang, da stand er vor einem klapprigen Kahn, der am Ufer festgemacht hatte. Ein dicker gemütlicher Mann mit Bart werkelte darauf herum. Während Harald ihm zuschaute, beruhigte er sich ein wenig. Ob er den Mut finden würde, den Mann anzusprechen? Schließlich gab er sich einen Ruck und sagte: »Hallo.«

»Hallo«, erwiderte der Mann und lüpfte seine Kappe. »Was machst du hier so allein?«

»N–nichts.« Aus Verlegenheit bohrte Harald mit der Spitze seines linken Schuhs ein Loch in die Erde.

»Nichts ist verdammt wenig«, sagte der Mann, »im übrigen siehst du mir aus wie ein frisch hinausgeworfenes Kind. Willst du nicht auf mein Schiff kommen, da können wir alles Weitere besprechen.« Und mit der größten Selbstverständlichkeit streckte er die Hand über die Reling und half Harald hinüber.

»Na also, dann wollen wir erst mal was trinken«, sagte er, kaum dass Harald den ersten Fuß an Bord gesetzt hatte, und verschwand in seiner Kajüte. Gleich darauf kehrte er mit zwei Blechtassen und einer Kanne Jamaika-Rum zurück. Sie machten es sich auf einer Bank bequem.

»Scharfes Gesöff«, meinte der Mann. Nachdem er den ersten Schluck genommen und Haralds Becher randvoll geschenkt hatte, stellte er sich ohne Umschweife vor: Drago sei sein Name, ein schöner Name, wie Harald wohl zugeben müsse, er schmücke Kapitän, Steuermann und Maat auf diesem Kahn, alle drei zugleich, denn Drago war alles in einem. Er sah ihn herausfordernd an: »Und du?«

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Harald nahm einen Schluck Rum. Dass er neuneinhalb Jahre alt und erst zweimal in seinem Leben verreist war, und zwar beide Male zu seiner Großmutter nach Kalkrück, wen kümmerte das schon? Der dreifache Seemann meinte dazu nur jaja und soso, in Anbetracht der Langeweile seines bisherigen Lebens sei er auf einem Schiff ganz gut aufgehoben.

»Kann ich mich irgendwie nützlich machen?« fragte Harald und schickte einen besonders braven Blick durch seine Brillengläser.

»Aber ja«, sagte Drago. »Du kannst dich mit den Sidonies beschäftigen, das wäre mir eine große Hilfe.« Und ohne dass noch ein Wort der Erklärung gefolgt wäre, wurde Harald in die Kajüte geschickt. Sich am Geländer festhaltend, stieg er die steile Treppe hinab. Auch in der Kajüte ging es beengt zu, aber sie machte ihm gleich einen behaglichen Eindruck. Auf dem Tisch lagen drei Mäuse und schnarchten. Harald wollte nicht unhöflich sein und rückte behutsam einen Stuhl vom Tisch weg. Sofort fuhren die drei in die Höhe.

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»Huch!« machte Sidonie-Isabell.

»Hach!« quiekte Sidonie-Karamell.

Sidonie-Grisaline hatte es die Sprache verschlagen.

»Gottchen, Kind! Hast du uns erschreckt«, knüpfte Sidonie-Isabell das Gespräch an.

»Das machst du wohl immer so, wie?« wollte Sidonie-Karamell wissen, die einen grundsätzlichen Argwohn gegen Kinder hegte.

»Nein, nein«, beteuerte Harald und war in allem bemüht, den schlechten Eindruck zu verscheuchen, der nun einmal heraufbeschworen war.

Sidonie-Grisaline lenkte ein wenig ein. »Na gut«, sagte sie, »ausnahmsweise wollen wir dir Glauben schenken.«

Sidonie-Isabell war aber keinesfalls zufriedengestellt. »Und?« fragte sie bohrend. »Warum bist du überhaupt gekommen? Das hat doch einen Grund, oder?«

»Der Kapitän hat mir aufgetragen, mich um euch zu kümmern«, antwortete Harald wahrheitsgemäß, merkte aber gleich, dass er einen schweren Fehler begangen hatte. Alle drei Sidonies pfiffen empört durch die Zähne.

»Ist ja noch schöner«, ärgerte sich die eine. »Was für ein Unfug!« schalt die andere. Sidonie-Grisaline winkte ab: »Kennen wir, kennen wir. Immer schickt er uns jemand unter dem Vorwand, uns zu unterhalten. Und worauf läuft es hinaus?«

»Auf gar nichts!« Die Antwort besorgten sie diesmal zu dritt, eine Antwort so unwiderleglich wie der berühmte Satz von der Dreimaligkeit, welcher besagt, eine Maus ist eine Maus ist eine Maus, und zwar zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Obendrein klang das Ganze wie hundertmal geübt.

»Wir haben in jedem Fall das Nachsehen«, fuhr Sidonie-Karamell unwillig fort, »es bleibt immer an uns hängen. Wir müssen nämlich dich unterhalten, das ist der Knasterbaster, der zum Himmel stinkt.« Zur Bekräftigung spuckte sie einen Batzen auf den Tisch, ein braunes Gewölle mit grünlichem Schleim. »Das ist doch nicht wahr!« Harald war leider zu aufgebracht für eine wirkungsvolle Verteidigung. »Mich hat noch nie jemand unterhalten müssen, weil... weil...«

»Na gut«, sagte Sidonie-Isabell gönnerhaft, »wir wollen es auf einen Versuch ankommen lassen.« Die Mäuse steckten ihre Köpfe zusammen und tuschelten. Sie kicherten wie die Erbsen, ringelten ihre Schwänze zweimal um sich herum, kreuzten die Vorderpfoten über ihren Bäuchen und hockten sich steif hin.

»Naaaa ...«, machte Sidonie-Isabell nach einer Weile genüsslich, »du wolltest uns doch was erzählen, Kleiner. Wir sind ganz Ohr.«

Auf Haralds blassem Gesicht zeigten sich rote Zornflecken. Wüste Bilder von Mausmartern schossen ihm durch den Kopf. Er überlegte angestrengt, mit welcher Geschichte er das freche Pack ein für allemal zum Schweigen bringen könnte.

»Also«, sagte er und holte tief Luft, »es war einmal ...« Weiter kam er nicht. Die drei Sidonies ließen sich glucksend auf den Rücken fallen. Vor lauter Lachen blieb ihnen die Luft weg, und sie wedelten wie verrückt mit den Pfoten.

»Es war einmal...! Es war einmal...! Ein unerhörter Anfang!« platzte es aus ihnen heraus.

Harald ärgerte sich sehr über die Unterbrechung, wollte aber nicht lockerlassen. »Es waren einmal ein Räuberkönig und seine Frau«, fuhr er mit ruhiger Stimme fort, »die lebten froh und sorgenfrei...«

»Kokolores!« quietschte Sidonie-Grisaline dazwischen. »Ein König, sorgenfrei?«

»Einem König drückt die schwere Krone aufs Haupt«, ergänzte Sidonie-Karamell, »verkaufe uns bitte nicht für dumm.«

»Es waren einmal ein Räuberkönig und eine Räuberkönigin«, beharrte Harald, »die lebten froh und sorgenfrei. Ihr einziger Kummer war ...«

»Ertappt!« schrie Sidonie-Isabell. »Deine Geschichte ist voller Widersprüche. Erst leben sie sorgenfrei, dann haben sie Kummer. Keine vernünftige Maus kann sich darin zurechtfinden!«

So ärgerlich er war, Harald musste lachen, als Sidonie-Isabell sich vorbeugte und mit erhobener Pfote, einem schmalen Händchen aus durchsichtigem Horn, auf ihn einpiepste. »Wenn ihr unbedingt eine Geschichte hören wollt«, sagte er schließlich, »dann müsst ihr auch still sein. Sonst kann kein Mensch was erzählen.«

»Bitte, bitte. An uns soll’s nicht liegen«, meinte Sidonie-Grisaline. Sie verdrehte die Augen nach oben und gab sich betont aufmerksam. Zu allem Überfluss bemerkte sie noch ganz nebenbei: »Einleitungen überhören wir generell.« Ihre erlöschende Stimme ließ alle wissen, dass man ihr zuviel zugemutet hatte. Harald straffte den Rücken, verschränkte die Arme und nahm den Faden wieder auf. Er erzählte vom Räuberkönig Ferdinand und seiner Frau Rosalie, die keine Kinder bekamen, wie sie sich grämten und man um sie herum schon zu murren begann, bis eines Tages die Tür des Räuberhorstes von selbst aufsprang und eine zarte Fee hereintrat, die ein dickes rosa Räuberkind, den kleinen Filibuster, in ihren Armen hielt...

Als Harald aufsah, um die Wirkung der Geschichte auf seine Zuhörerinnen zu überprüfen, merkte er, dass alle drei fest schliefen. »Dann brauche ich mich nicht länger zu bemühen«, sagte er und hörte sofort mit dem Erzählen auf.

Leise klirrten zwei Gläser, und am Futteral des Fernrohrs klickte unentwegt ein loser Druckknopf gegen das Metallstück auf der Unterseite, leicht wie ein Vogel, der pickt. Über der Tür schwebte ein ausgestopfter Alligator, und bei jedem Ruck, der durch den Schiffsleib ging, schaukelte er mit. Überhaupt alle Dinge, die schweren wie die leichten, die aus Holz wie die aus Glas, wurden von einem Zittern erfasst – das Straußenei in seinem silbernen Halter, die gekreuzten Speere an der Wand und die vielen bäuchlings ausgestellten Flaschen, in denen winzige Fregatten mit geblähten Segeln steckten.

Erst jetzt hörte Harald den Motor brummen. Sie waren also unterwegs, und das schon eine ganze Weile. Die Mäuse rührten sich nicht. Überflüssig, sie im Schlaf zu bewachen, dachte Harald, und kletterte wieder an Deck.

Drago stand in seinem Steuerhaus und blickte gleichmütig auf den Fluss, dessen träge Wassermassen sich durch grüne Wiesen und braungelbe Stoppeläcker wälzten.

»Na, wie kommst du zurecht?« fragte er beiläufig und guckte dabei geradeaus, wo das Wasser dieselben stumpfen wellen warf wie am Ufer. »Die Mäuse benehmen sich etwas eigenartig«, sagte Harald vorsichtig.

»Du bereust es schon?« erkundigte sich Drago.

»Nein, nein«, beteuerte Harald, »aber ich gebe mir alle Mühe und ...«

»Das bisschen Mäusehüten wirst du mit der Zeit schon hinkriegen«, sagte Drago und zündete sich die Pfeife an.

Harald schwieg. Er traute sich nicht, den Kapitän zu fragen, wohin die Reise ging. Ein Held zu werden war sicher schwer, und Harald zweifelte, ob es ihm je gelingen würde.

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Verschluckt!

Nun waren sie schon Tage unterwegs, ganze Tage und ganze Nächte. Der Fluss war mit einem größeren Fluss zusammengeflossen, und sie fuhren auf einem breiten Strom. An Dörfern und Städten ging es vorüber, an Städten mit Wolkenkratzern und weiten Brücken, die den Fluss überspannten. Autos, zu dichten Schlangen gestaut, krochen auf ihnen ans andere Ufer. Mächtige Schiffe tauchten auf, Schiffe, die ihre Schornsteine wie Hüte ins Genick legten, wenn sie unter den Brücken durchschlüpften. Neben ihnen wirkte Dragos alter Kahn lächerlich – wie ein Stück Holz, das man ins Wasser geworfen hatte und das der Fluss vor sich her trieb, wie es ihm passte. Harald hatte sich eingelebt. Sein Lieblingsplatz war das eingerollte Tau am Bug. Dort hockte er oft stundenlang, den Rücken an eine Kiste gelehnt. Vor allem nachts, wenn es noch warm war, saß er gern auf Deck, froh, dass keiner ihn herumkommandierte oder ins Bett schickte. Einmal schaute er zu, wie ein hellerleuchteter Zug am Ufer entlangglitt, eine Weile neben dem Schiff herlief und dann in die Ferne vorauseilte, immer in Richtung Norden. Norden, der war in Haralds Vorstellung merkwürdig steil, und gegen ihn anzuklimmen war sicher schwer. Ob der Zug geradewegs nach Norden fuhr?

In Gedanken besetzte Harald ein Abteil mit verschiedenen Leuten. Mit viel zu vielen, wie er gleich darauf feststellen musste: eine alte Frau mit Perücke, Hut und Pudel, eine Mutter mit vier kleinen Kindern, zwei Soldaten und ein Ehepaar mit filzgrünen Lodenmänteln und Hirschknopfwesten. Am Fenster links saß ihr Sohn, ein prächtiger Zwölfender, auf den beide sehr stolz waren. Das Abteil war gestopft voll, und zu ihrem Unglück brachten es die Passagiere einfach nicht fertig, ihr Gepäck auf der Ablage zu verstauen. Ein fürchterliches Durcheinander, in dem zu allem Überfluss auch noch gesungen wurde. Dabei war der Hirsch natürlich sehr im Wege.

»Obacht, mein Geweih«, hörte Harald ihn röhren und wunderte sich, warum er ausgerechnet auf einen Hirsch gekommen war. Kaum dass alle saßen, begann das Gezerre und Gezurre von neuem, jetzt wurden die Taschen mit den Vesperbroten heruntergeholt. Wie laut das Einwickelpapier beim Auspacken knisterte! Wie laut die Münder kauten und schmatzten und selbst während sie aßen weitersangen!

Hoch im Norden sitzt der Frost

auf eis’gem Gipfel in Nordost,

säuft Prickelbier und Grönlandmost

bei schmaler Schnee- und Zapfenkost.

Zwei Dosenverschlüsse zischten, eine Bierflasche rülpste, und schwupp! war das Abteil davongeflogen. Vom vielen Nachdenken über die Vesperbrote hatte Harald selbst Hunger bekommen. Er langte nach einem Apfel und benagte ihn von allen Seiten. Den Butzen warf er anschließend ins Wasser.

»Man lässt nichts verkommen«, mischte sich Sidonie-Grisaline ein, die die ganze Zeit auf der Kiste gesessen und alles mit angesehen hatte.

»Vom Kerngehäuse eines Apfels und dessen Stiel leben zwei Mäuse achtzehneinhalb Stunden oder eine Maus entsprechend länger«, fügte sie belehrend hinzu.

»Ich glaube fast, du willst uns absichtlich ans Leder«, behauptete Sidonie-Isabell, »einer Maus verweigern, was ihr zukommt, heißt nach ihrem Leben trachten oder ihr nichts gönnen, was auf dasselbe hinausläuft.«

»Entschuldigung«, murmelte Harald, bei dem sich sofort das schlechte Gewissen meldete, »ich habe hier noch eine halbe Banane ...«

»Wie bitte? Eine halbe?« Diesmal war es Sidonie-Karamell, die sich aufregte. »Du bietest uns eine angebissene Banane an? Mit deinem Zahnabdruck? Ganz abgesehen davon, dass es unhygienisch ist, erstaunt mich deine Unhöflichkeit doch sehr!«

Harald seufzte. Es war schwer, mit den Sidonies auszukommen. Verdrossen aß er die halbe Banane auf und versuchte, die Beschwerden der Mäuse zu vergessen, die nicht aufhörten, ihm vorzurechnen, wie viele Mäuseleben damit vergeudet wurden und wie vertan diese Nahrung im Magen eines geizigen kleinen Jungen war. Insgeheim malte er sich aus, wie er jede einzelne Sidonie am Schwanz packen und über Bord werfen würde, genau wie den Apfelbutzen!

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Vor ihnen dehnte sich das grüne Meer. Eine Weile waren sie noch am Küstensaum entlanggefahren, dann sah man ringsum nichts als Wasser, das in der Ferne einen flachen Bogen bildete, hinter den der graue Himmel niedersank. Inzwischen war es kälter geworden, und Drago hatte Harald eine Jacke gegeben. Mit ihren ausgebeulten Taschen reichte sie ihm bis zu den Waden. Harald fühlte sich sehr wohl in der Jacke, überhaupt mochte er Drago gern, und die Dienste, die der Kapitän von ihm verlangte, führte er geschickt aus. Drago ernannte ihn abwechselnd zum Büchsenöffnerkönig, Bohnenchef oder Knotenkaiser, je nachdem, ob Harald mit dem stumpfen alten Büchsenöffner eine Büchse in Nullkommanichts aufkriegte, auf dem Spirituskocher Bohnen warm machte oder das Schlingen von Seemannsknoten übte.

Es war am Donnerstag vor Allerseelen. Der Himmel war grau und dunstig und vom Meer kaum zu unterscheiden. Harald hockte auf seinem Tau und kniff die Augen zusammen. Da sah er einen weißen Fleck am Horizont.