In deutscher Übersetzung sind bisher Der Dieb und Die Maske erschienen. Der Revolver ist lange vor diesen beiden Romanen entstanden. 2002 wurde die Geschichte in einer japanischen Literaturzeitschrift veröffentlicht, im Jahr darauf erschien sie als Buch beim Verlag Shinchōsha. Dass Der Revolver – mit anderen Worten: mein Debüt als Schriftsteller – nun auch auf Deutsch vorliegt, freut mich sehr. Allen Beteiligten, die das ermöglicht haben, und nicht zuletzt allen Leserinnen und Lesern möchte ich von Herzen danken.
Meine Lesereise im vergangenen Jahr durch Städte in Deutschland, Österreich und der Schweiz hat bei mir unvergessliche, tiefe Eindrücke hinterlassen. Es fühlt sich an wie ein kostbarer Schatz, der mein Schreiben inspiriert und bereichert, und ich wünsche mir sehnlichst, eines Tages wieder nach Europa zurückzukehren.
Fuminori Nakamura, 23. März 2019
»Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.«
Offenbarung des Johannes
Gestern – es kommt mir vor wie gestern – habe ich einen Revolver gefunden. Vielleicht auch gestohlen, ich weiß es nicht genau. Noch nie habe ich etwas so Schönes gesehen, er liegt in meiner Hand, als wäre er für mich gemacht. Bisher hatte ich überhaupt kein Interesse an Waffen, aber in dem Moment, in dem ich den Revolver sah, musste ich ihn haben.
Es regnete in Strömen. Als wolle es nie wieder aufhören. Ein Schirm nützte wenig, schräg kam das Wasser vom Himmel und durchnässte mich bis auf die Knochen. Es war schon spät am Abend, etwa elf Uhr. Der Dauerregen erschien mir wie ein Spiegel meiner Verfassung, und obwohl ich von den Knien abwärts klatschnass war und fror, ging ich aus irgendeinem Grund nicht nach Hause. Vermutlich, weil mir einfach nach Herumlaufen war und ich keine Lust auf meine Wohnung hatte. Mein Verhalten ist mir selber oft ein Rätsel. Ohne bestimmtes Ziel lief ich in die nächste Straße hinein, die Geschäfte waren alle bereits dunkel. Bei einem kleinen Park stand ein weißer Transporter. Ich erinnere mich genau an das Kätzchen, das unter dem Auto hervorlugte, mich mit seinen leuchtenden Augen fixierte. Wenn ich jetzt daran denke, war es nicht das erste Mal, dass mich eine Katze anstarrte, bevor etwas passierte. Im Nachhinein kommt es mir wie ein Zeichen vor, doch als ich die Katzenaugen sah, kümmerte es mich nicht.
Hinter dem Bahnübergang tauchte ich in ein Labyrinth verschlungener Straßen. Vom Dach eines alten, verlotterten Mietshauses pladderte Regenwasser ohrenbetäubend auf den Blechschrott, der überall herumlag. Der Lärm riss mich für einen Moment aus meiner Trance, und ich überlegte, ob es nicht doch besser wäre, schnell nach Hause zu gehen. Eine heiße Dusche, trockene Kleider. Dennoch lief ich weiter, ohne Ende, ohne Ziel. Ich kann es mir selbst nicht erklären. Andererseits war es schon vorgekommen, dass ich mich derart treiben ließ und, warum auch immer, genau das Gegenteil von dem tat, was ich eigentlich wollte. Durchnässt und in trostloser Stimmung setzte ich meinen Weg fort.
Das war gut so. Über mein Tun und Lassen habe ich mir kaum je Gedanken gemacht. Auch nicht über die Konsequenzen. Doch diesmal ist es anders. Wenn ich an mein nächtliches Abenteuer denke, empfinde ich fast so etwas wie Dankbarkeit. Denn wäre ich einfach nach Hause gegangen, läge dieser Revolver jetzt nicht in meiner Hand. Allein schon die Vorstellung, ihn nicht zu besitzen, lässt mich erschauern, was unsinnig sein mag, weil mir der Revolver von Anfang an nie gehört hat.
Irgendwo zog ich am Automaten einen Dosenkaffee. Ich hatte keinen Durst, aber es war mir fast zur Gewohnheit geworden, im Gehen Kaffee zu trinken. Ich riss die Lasche hoch und nahm einen Schluck. Am Himmel hingen schwere graue Wolken, so dass man weder Mond noch Sterne sah. Die letzten Spuren von Wärme, die der Tag hinterlassen hatte, waren durch den Regen wie weggewaschen. Mich fröstelte.
Doch ich lief und lief, lief und lief, ohne jeden Plan. Lauschte dem Rauschen des Regens, nippte an meinem Kaffee. Als die Dose leer war, zündete ich mir eine Zigarette an. Links und rechts drängten sich Wohnhäuser dicht aneinander. Nach einer Weile lichtete sich das Häusergewirr, und ich kam zu einer breiten Straße. Ohne die Geschwindigkeit zu drosseln, stoben die Autos an mir vorbei, besprühten mich mit Wasserfontänen, und weit und breit gab es keine Seitenstraße, in die ich mich hätte flüchten können. Die Regentropfen schienen im Scheinwerferlicht der entgegenkommenden Autos wie Myriaden Goldkörnchen zu funkeln. Und auch wenn das wirklich schön aussah, fror ich in meinen nassen Kleidern nun so sehr, dass es kaum mehr zu ertragen war.
Die Straße wurde zu einer Brücke. Statt den Fluss zu überqueren, stieg ich die grasbewachsene Böschung zum Ufer hinunter. Für einen Moment wollte ich einfach nur dem Regen entkommen, wollte unter dem Brückenbogen eine Zigarette rauchen und mir überlegen, was ich als Nächstes tun könnte. Der Fluss war durch den Regen angeschwollen, die Wassermassen schmatzten und glucksten im betonierten Uferdamm. Unter dem Brückengewölbe nahm das Rauschen des Wassers noch zu. Ich fühlte mich unwohl, doch daran war ich ganz allein schuld. Ich zündete mir eine Zigarette an und suchte nach einer Stelle, wo ich mich hinsetzen konnte.
Da sah ich etwas – einen schwarzen Schatten, dort, wo das Gras auf den Beton stieß. Er schien die Umrisse eines Menschen zu haben. Oder war es nur irgendwelcher Müll? Dafür erinnerte der Schatten zu sehr an einen menschlichen Körper. Jäh überkam mich das Bedürfnis zu fliehen. Mein flaues Gefühl verwandelte sich binnen Sekunden in panische Angst, aber meine Neugier war stärker. Ich riss mich zusammen und ging vorsichtig näher. Nach zwei, drei Schritten gab es keinen Zweifel mehr: Es war ein Mann. Mir stockte der Atem. Er trug einen schwarzen Anzug und lag, den Kopf zur Seite gedreht, auf dem Bauch. Sein linker Arm ragte schlaff ausgestreckt über den Kopf. Ich merkte, wie mein Herz immer schneller, immer lauter zu pochen begann. Wieder und wieder schluckte ich, um die trockene Kehle zu befeuchten.
Nun stand ich direkt neben ihm. Aus seinem kurzen angegrauten Haar schloss ich, dass der Mann in den Fünfzigern sein musste. Ich schaute ihm ins Gesicht. Ich hatte einen furchtbaren Anblick erwartet, aber es lag etwas Ruhiges, ja Friedliches in seinen Zügen. Nur die zugekniffenen Augen schienen missmutig irgendwohin zu starren. Der Mund war fast geschlossen. Ich sah überhaupt nichts Ekelerregendes, nur da, wo sein Kopf auf dem Betonboden lag, hatte sich eine große schwarze Lache gebildet. Zwischen den Fingern seiner linken Hand stachen Grasspitzen hervor. Ich weiß nicht, warum ich die ewig lange anstarrte. Der Saum des Jacketts war umgeschlagen, so dass das weiße Hemd zum Vorschein kam. Ich weiß nicht, warum ich auch ewig lange auf dieses Weiß starrte. Der Körper des Mannes strahlte eine ungeheure Präsenz aus, als gehörten das Gras und der Beton nur ihm allein. Wie angewurzelt stand ich da, aber nach einer Weile wurde mein Herzschlag ruhiger, und ich fand meine Fassung wieder. Es überraschte mich ein wenig, wie gut ich mit der Situation klarkam.
Nicht weit vom rechten Arm des Mannes entfernt lag etwas Schwarzes, dessen Umrisse sich deutlich abhoben. Jetzt, da mich die Leiche nicht mehr erschreckte, hatte ich es bemerkt. Wieder fing mein Herz zu rasen an, noch heftiger als zuvor. Ich kniete nieder, um mir den Gegenstand genauer anzusehen, hob ihn mit einem kraftlosen Arm auf, bis dicht vor meine Augen. Auf einmal spürte ich, wie mich ein überwältigendes Glücksgefühl durchflutete. Zugleich fand ich es unheimlich, dass nur schon der Anblick mich in solche Hochstimmung versetzte. Es war, als würde ich zerrissen. Gegen meinen Willen steigerte sich meine Aufregung immer weiter. Ich konnte sie nicht bändigen, konnte mich nicht beruhigen. Dass ich derart die Kontrolle verlor, machte mir Angst, doch dann gab ich auf und überließ mich ganz meinen Gefühlen. Mein Herz schlug wie wild, es schmerzte, und mein Blick verengte sich. In einem Winkel meines Bewusstseins nahm ich gerade noch wahr, wie alles um mich herum verschwamm und von weit her eine Stimme sagte: Dieser Revolver gehört von jetzt an dir. Die Worte mussten wohl aus mir selbst kommen; unzählige Male hallten sie in meinem Kopf wider. Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dann begann ich, sie zu wiederholen. Meine Augen wurden feucht. Es fühlte sich an, wie soll ich sagen, als würde ich mir selbst vergeben für das, was ich empfand. Wer weiß, vielleicht hatte ich in dem Moment auch einfach den Verstand verloren. Aber da ich jetzt wieder klar zu denken vermag, bin ich mir ziemlich sicher, dass es nur vorübergehend war.
Irgendwann erinnerte ich mich wieder an den Toten neben mir. Doch der kümmerte mich nicht mehr. Ein wildfremder Typ, mit dem ich nichts zu tun hatte. Ich zwängte den Revolver in die hintere Gesäßtasche meiner Jeans und zog das Hemd darüber. Mag sein, dass mir in dem Moment ein Lächeln übers Gesicht huschte. Übermütig geworden, kam mir der Gedanke, der Polizei meinen Leichenfund zu melden. Das schien mir dann aber doch zu riskant. Besser, mich mit dieser Angelegenheit nicht unnötig in Schwierigkeiten zu bringen. Schließlich könnte man mich als Mörder dieses Mannes verdächtigen; dabei verstieß ich bereits gegen das Gesetz, weil ich entschlossen war, den Revolver mitzunehmen. Auf einmal wurde mir mulmig und ich blickte mich verstohlen um, vergewisserte mich, dass ich von niemandem beobachtet wurde. Ich suchte den Boden ab, prüfte akribisch, ob ich nichts fallen gelassen oder sonst welche Spuren hinterlassen hatte, und entfernte mich langsam. Bei der Grasböschung, über die ich zurück zur Straße kraxeln musste, war besondere Vorsicht geboten. Ich verharrte im Schatten der Brücke und wartete, bis der Strom vorbeifahrender Autos abreißen würde, versuchte dabei, auf jedes noch so kleine Geräusch zu hören, doch das Rauschen des Verkehrs und das Rauschen des Flusses übertönten alles. Endlich ein günstiger Moment: Unauffällig trat ich auf die Straße und ging langsam weiter. Im Bewusstsein argwöhnischer Blicke, die mich verfolgen könnten, machte ich ein Gesicht, als wäre ich in Gedanken vertieft. Auf einmal merkte ich, dass mein Schirm geschlossen war. Hastig spannte ich ihn auf. Noch immer konnte ich mein Glück nicht fassen. Die mich von oben bis unten vollspritzenden Autos waren mir jetzt egal. Ich konzentrierte mich ganz auf den Revolver, den ich am Gesäß spürte – bis ich es nicht mehr aushielt, mich hinter ein Gebäude verdrückte und den Revolver aus der Tasche nahm. Die Außenbeleuchtung warf fahles Licht auf meinen Schatz. Er war wahnsinnig schön. Aber dann sah ich, dass der Revolver ganz verschmiert war, besonders an der Mündung. Blut. Ich erschrak und kramte hastig nach der Packung Papiertaschentücher, die ich stets bei mir trug, hielt ein Taschentuch nach dem andern in den Regen und wischte den Lauf sauber, bis alle aufgebraucht waren. Mir blieb nichts anderes übrig, als das blutig-feuchte Bündel in die rechte Hosentasche zu stopfen, weil es nirgendwo etwas zum Wegwerfen gab. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie unnötig diese Reinigungsaktion gewesen war. Wieder blickte ich mich um, in der Hoffnung, dass mich niemand beobachtete. Außer dem unablässigen Tropfen und Trommeln des Regens war nichts zu hören; es war beinahe gespenstisch. Erleichtert atmete ich auf und betrachtete erneut den Revolver, konnte mich nicht sattsehen daran. Dann schob ich ihn eilig wieder in die Gesäßtasche der Jeans, diesmal aber in die andere. Mir war, als würde seine Schönheit sich verflüchtigen, wenn ich ihn noch länger so offen in der Hand hielt. Ich kehrte zur Straße zurück, versuchte mein Hochgefühl zu dämpfen, das mich wie auf Wolken trug. Im gleichen langsamen Tempo ging ich weiter, aber es war jetzt klar, in welche Richtung es mich zog – nach Hause.
Ich schloss meine Einzimmerwohnung auf, trat langsam ein und verriegelte die Tür wieder hinter mir. Mitten in dem winzigen Raum stehend – er war sechs Tatamimatten groß und hatte einen Plastikbodenbelag in Holzoptik –, nahm ich meinen Revolver hervor. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich im tiefen, dunklen Glanz des Metalls versinken. Der Revolver war nur ein wenig größer als meine Hand. Der Lauf kurz, der Rücken geriffelt wie die Kiemen eines Fisches. Im Zentrum des Metallkörpers befand sich die zylindrische Trommel, in der sich wahrscheinlich die Patronen befanden. Ich stellte mir vor, wie sie sich drehte und ihre Ladung exakt dahin transportierte, wo sie hingehörte. Direkt unter der Trommel war ein Schraubenkopf mit Längsschlitz zu sehen, was mir plötzlich klarmachte, dass der Revolver von Menschenhand gemacht war. Das dunkelbraune Griffstück hatte in der Mitte einen runden, dekorativen Goldbeschlag und darum herum ein feinmaschiges Rautenmuster. In einer Vertiefung steckte eine weitere Schlitzschraube. Der Beschlag zeigte ein Pferd, das sich auf seinen Hinterbeinen aufbäumt und im Maul und auch zwischen den Vorderbeinen etwas wie eine Lanze hält. Darüber stand COLT, wobei das T angedunkelt war, vielleicht ein Rostfleck. Das gleiche Emblem fand sich noch einmal auf der Fläche zwischen Trommel und Griff. Auf derselben, linken Seite war in den Lauf ein Schriftzug eingraviert: LAWMAN MK III 357 MAGNUM CTG. Es handelte sich wohl um die Modellbezeichnung des Revolvers, aber mir erschienen die Buchstaben eher wie ein Geheimcode. MK III, Magnum – das klang unglaublich cool. Entschlossen richtete ich den Revolver auf ein imaginäres Ziel. Wie von selbst fanden alle fünf Finger ihren Platz, gaben dem Revolver und auch mir Halt. Als wäre es die natürlichste Sache der Welt, lag der Daumen auf dem Hahn, der Zeigefinger am Abzug, während die restlichen Finger den Griff stabilisierten. Die Berührung meiner Haut mit dem Revolver hatte eine geradezu elektrisierende Wirkung, mein ganzer Körper spannte sich an, und ich wusste, dieses Gefühl würde nie vergehen. Ich hielt den Revolver fest in der Hand, war wie bezaubert von seinem tiefdunklen Silberglanz. Und nun gehörte er mir, und ich würde ihn anschauen können, wann immer ich wollte. Sorgfältig überprüfte ich, ob nicht irgendwo noch ein Flecken Blut war. Fand ich etwas, wischte ich es sofort weg. Zum Schluss polierte ich den ganzen Revolver mit einem Tuch, wieder und wieder, bis er blitzsauber war. Dann schaute ich mich im Zimmer um, suchte nach einem geeigneten Ort, um meinen Schatz zu verstecken.
Mein Blick fiel auf eine braune Ledertasche in der Zimmerecke. Eine ehemalige Freundin, mit der ich nur einen Monat zusammen gewesen war, hatte sie mir vor langer Zeit geschenkt. In der Tasche bewahrte ich Versicherungsausweise, meinen Namensstempel, den Mietvertrag für die Wohnung und dergleichen Dokumente auf. Ich nahm alles heraus und legte den Revolver langsam hinein. Aber mir schien, etwas fehlte. Nach einigem Nachdenken schichtete ich mehrere Papiertaschentücher aufeinander und bedeckte damit den Boden der Tasche. Als ich den Revolver auf das weiche weiße Bett legte, erfüllte mich große Zufriedenheit. Eine Weile schaute ich reglos in die Tasche – bis ich mir einen Ruck gab, die Klappe zumachte und die Schnalle schloss.
Die Ereignisse dieser Nacht erschienen mir auch jetzt, in der Erinnerung, wie ein wundersamer, bizarrer Traum. Ein krasser Gegensatz zur Realität, die ich immer als eintönig und langweilig empfunden habe. Kaum war ich aufgewacht, kam mir alles wieder in den Sinn, und wieder durchflutete mich dieses Glücksgefühl. Aber schon im nächsten Moment packten mich Zweifel. Hastig öffnete ich die Ledertasche. Da lag er, der Revolver, als hätte er schon immer dagelegen. Er existierte also wirklich und war kein Hirngespinst. Ich betrachtete ihn lange. Seine Schönheit und Präsenz enttäuschten mich auch jetzt nicht, im Gegenteil. Es fühlte sich an, als würde der Revolver mir helfen, aus meiner verschlossenen Welt auszubrechen, als würde er mich dahin führen, wo alles möglich war.