G.S.

Die meisten Bücher, die ich mir als junger Mensch auslieh, waren in schwarzes Leinen gebunden und dufteten wunderbar moderig. Und sie hatten ein Vorwort. Ich gestehe, in den mehr als vierzig Jahren, die ich selbst schreibe, habe ich es manchmal bedauert, dass dies aus der Mode gekommen ist. Wehmütig erinnere ich mich insbesondere an manche Romane von Joseph Conrad, denen nicht nur ein Vorwort vorausging, sondern auch eines zur zweiten, gar zur dritten Auflage, ein Geleitwort, eine Vorbemerkung, eine Reihe persönlicher Texte, die mich fast ebenso begeisterten wie die Geschichte selbst.

Stellte der Schriftsteller auf diese Weise nicht am Rande seines Werks einen direkten Kontakt zum Leser her? Heutzutage sprechen die Romanciers gern in Zeitungen, im Rundfunk, im Fernsehen über ihre Bücher, aber so erreichen sie nicht immer ihre Leser.

Es soll hier nicht um meine literarischen Absichten gehen, geschweige denn um eine literarische Doktrin. Ich könnte mich auf die Formel beschränken, die auch für Filme gilt: »Die dargestellten Ereignisse sind frei erfunden, jede Ähnlichkeit zwischen den Figuren und lebenden Personen ist rein zufällig.«

Seit einigen Jahren ist diese Vorsichtsmaßnahme unerlässlich, wenn auch oft unwirksam, denn Zeitgenossen lieben es, sich in Romanen und Filmen wiederzuerkennen,

Das erschwert die Aufgabe des Romanciers ungemein. Vor fünfundzwanzig Jahren zum Beispiel schrieb ich in Paris den Roman Tropenkoller. Die Handlung spielt in Gabun, in Libreville, vor allem in einem Hotel zwischen der Stadt und dem Urwald. Ich konnte mich an den Namen des Hotels, in dem ich zwei Jahre zuvor abgestiegen war, nicht erinnern, außerdem wollte ich ihn auch gar nicht nennen. Deshalb wählte ich für das Hotel in meinem Buch den allerunwahrscheinlichsten Namen: Hôtel Central. Doch genau damit hatte ich ins Schwarze getroffen, und einige Wochen später kam die Besitzerin des gabunischen Hotels nach Paris, um mich zu verklagen.

Dergleichen habe ich in Variationen leider noch mehrmals erlebt. Wie einen geeigneten Namen finden, den kein Mensch auf der Welt trägt? Und was, wenn man seine Geschichte in einer Provinzstadt spielen lässt und den Präfekten, den Staatsanwalt, den Bürgermeister, den Polizeikommissar nennen muss? Was, wenn die geschilderte Figur ebenso fett und kahlköpfig ist wie die wirkliche? Wenn die Ehefrau im Buch so mager und geschwätzig ist wie …

Für einen meiner letzten Romane, Die Anderen, habe ich deshalb eine ganze Stadt erfunden samt Fluss, Palais de Justice, Kirchen, Straßen, Geschäften …

Wie aber sollte ich das Bicêtre gestalten, in dem ja ein Professor, Assistenzärzte, eine Oberschwester auftreten mussten?

Schilderte ich zum Beispiel die Oberschwester als rothaarig oder brünett, sanft oder autoritär, riskierte ich dann nicht, ein wirklichkeitsgetreues Porträt zu zeichnen?

Da es sich also nicht um einen Schlüsselroman handelt, wiederhole ich also die geläufige Formel: »Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist rein zufällig.«

Und ich sehne mich weiterhin nach den Vorworten in den Büchern des vergangenen Jahrhunderts. Sie waren so viel persönlicher und amüsanter.

Georges Simenon

Acht Uhr abends. Für Millionen Menschen – jeder in seiner kleinen, selbst erschaffenen oder erduldeten Welt – geht ein kalter, nebliger Tag zu Ende. Es ist Mittwoch, der 3. Februar.

Für René Maugras allerdings gibt es weder Tag noch Stunde, und die Frage nach der verstrichenen Zeit wird ihn erst später beunruhigen. Er befindet sich in einem tiefen Loch. Es ist darin so dunkel wie auf dem Meeresgrund, und es gibt keine Verbindung zur Außenwelt. Und doch, ohne dass er davon weiß, beginnt sich sein rechter Arm auf eine krampfhafte Art zu bewegen, während sich seine Wange bei jedem Atemzug merkwürdig bläht.

Das erste Zeichen, das von außen zu ihm dringt, ist ringförmig; klingende Ringe, die sich immer weiter ausdehnen und immer fernere Wellen bilden. Mit geschlossenen Augen versucht er ihnen zu folgen, sie zu begreifen, und da geschieht etwas, das er niemandem je erzählen wird: Er erkennt diese Wellen, und er möchte ihnen am liebsten zulächeln.

Als Kind lauschte er oft den Kirchenglocken von Saint-Étienne, deutete ernst in den blauen Himmel und sagte:

»Ninge …«

Das hat ihm seine Mutter kurz vor ihrem Tod erzählt. Er konnte das Wort »Ringe« noch nicht aussprechen, in

Auch hier gibt es Glocken. Er versucht nicht, die Schläge zu zählen, dafür ist er zu träge. Auch diese Trägheit ist ihm nicht unbekannt. Er hat sie schon einmal erlebt, und eine Zeit lang verwirrt sich alles in seinem Kopf. Ist er vielleicht noch der achtjährige Junge, der in höchster Eile aus der Schule ins Krankenhaus von Fécamp gebracht worden ist, dem man, während er sich brüllend wehrte, eine Maske aufs Gesicht gepresst hat, um ihm dann den Blinddarm zu entfernen?

Auch damals war da ein Loch und später, viel später, ein seltsamer Geschmack im Mund, eine tiefe Müdigkeit im ganzen Körper und schließlich, als er fortzutreiben begann, waren da die klingenden Ringe der vertrauten Glocken.

Er möchte jetzt lächeln, denn ihm geht ein Gedanke durch den Kopf, der ihn amüsiert. Auch wenn er nicht wirklich daran glaubt, ganz verwerfen mag er ihn nicht. Ist er vielleicht noch immer der kleine Junge in Fécamp, der in einem Krankenhauszimmer langsam aufwacht, und wird sein erster Blick auf eine dicke blonde rosige Schwester fallen, die an seinem Bett sitzt und strickt? Dann wäre alles Übrige nur ein Traum gewesen. Er hätte unter Narkose fast fünfzig Lebensjahre geträumt.

Das ist natürlich nicht wahr. Er weiß, dass es nicht wahr ist, er ist ein Mann von vierundfünfzig Jahren und hat das kleine Haus in der Rue d’Étretat schon vor langer Zeit verlassen. Und doch schien es ihm für ein paar Minuten, vermutlich nur Sekunden, möglich, und er möchte es überprüfen. Dazu braucht er nur die Augen aufzuschlagen, und etwas sehr Seltsames geschieht. Es ist gar nicht tragisch, im

Er hat keine Schmerzen. Seine große Trägheit ist ziemlich angenehm, ein wenig, als wäre er nicht länger ein Mensch. Er hat keine Probleme, keine Verantwortung. Ein einziger Grund treibt ihn an, seine Bemühung fortzusetzen: Er muss die Gewissheit haben, die vollkommene Gewissheit, dass die dicke blonde rosige Krankenschwester nicht an seinem Bett sitzt und strickt.

Ist von außen zu erkennen, was in ihm vorgeht? Die Ringe haben sich in weiter Ferne in Luft aufgelöst, und er nimmt ein anderes Geräusch wahr, das ebenfalls Erinnerungen in ihm weckt. Er ist zu müde, um sich zu fragen, welche. Ein Stuhl hat geknarrt, als würde sich jemand plötzlich erheben. Es muss ihm gelungen sein, die Lider ein wenig zu öffnen, denn ganz in der Nähe sieht er eine weiße Tracht, ein junges Gesicht und braune Haare, die unter einer Schwesternhaube hervorlugen.

Es ist nicht seine Krankenschwester, und enttäuscht schließt er die Augen wieder. Er ist wirklich zu müde, um Fragen zu stellen, lieber sinkt er wieder tief hinab in sein Loch.

Wird er später, in einigen Stunden oder Tagen, unterscheiden können, was er im Koma tatsächlich wahrgenommen und was ihm darüber berichtet wurde? Gibt es zum Beispiel auf dem Flur neben seinem Zimmer ein Telefon, und hört er gerade wirklich eine Frau sagen:

»Professor Besson d’Argoulet? … Er ist nicht zu Hause? … Wissen Sie, wo man ihn erreichen kann? Er wollte benachrichtigt werden, sobald …«

Um halb zehn weiß er noch immer nicht, dass es halb zehn ist, und das Aufwachen ist schlagartig und dramatisch, wie nach einem Albtraum, als hätte er geträumt, er müsste sich um jeden Preis an etwas Hartem festklammern, aber er kann nicht, seine Kräfte haben ihn verlassen; seine Gliedmaßen sind wie ausgeleiert, er hat sie nicht in der Gewalt. Dann will er schreien, um Hilfe rufen. Sein Mund öffnet sich. Er ist fast sicher, dass er den Mund weit öffnet. Aber es kommt kein Ton heraus.

Er muss unbedingt sehen, was um ihn herum ist. Sein Körper ist schweißbedeckt, seine Stirn feucht, und doch friert ihn, und er zittert am ganzen Leib und kann nichts dagegen tun.

»Keine Sorge … Es ist alles in Ordnung … Alles läuft gut …«

Er kennt die Stimme. Er versucht sie zu identifizieren, und plötzlich sieht er nicht nur ein Gesicht und eine weiße Haube, sondern auch ein fremdes Zimmer mit grün gestrichenen Wänden.

Neben dem Bett steht Besson d’Argoulet – er nennt ihn Pierre, denn sie sind seit dreißig Jahren befreundet. Über seinen Anblick müsste er eigentlich lachen: Unter dem offenen Kittel trägt er eine Frackweste und eine weiße Fliege.

»Ganz ruhig, René, mein Lieber. Es ist alles in Ordnung.«

Vielleicht für den Professor, der ihm zerstreut den Puls fühlt. Schließlich liegt nicht Besson in dem, was offenbar ein Krankenhausbett ist, um das herum sich die braunhaarige Schwester geschäftig bewegt. Er hat sich vorhin

»Es ist nichts Ernstes, René … Alle Untersuchungen bestätigen das … Wir machen noch ein paar weitere Tests, das ist lästig, aber leider unerlässlich. Audoire wird gleich hier sein …«

Wer ist Audoire? Ein Name, den er kennt oder kennen müsste, er, der alle wichtigen Leute in Paris kennt? Die Schwester hat auf ein Tablett eine Spritze mit einer sehr langen, sehr dicken Nadel gelegt. Sie scheint nervös auf die Geräusche im Flur zu lauschen, während sie Maugras nicht aus den Augen lässt, und als draußen eine Tür auf- und wieder zugeht, stürzt sie hinaus.

»Wunder dich nicht, wenn …«

Doch, er wundert sich. Denn er hat soeben den Mund geöffnet. Weder um sich zu beklagen, noch um Fragen zu stellen. Sondern weil er, den Blick auf die gestärkte Hemdbrust und die weiße Fliege gerichtet, sagen wollte:

»Es tut mir unendlich leid, mein Lieber, dass ich dir deinen Abend verderbe …«

Aber er hat keinen Ton herausgebracht. Er hat keine Stimme mehr. Nichts! Nicht einmal ein Röcheln. Nur etwas wie ein Pfeifen oder vielmehr Glucksen, denn immer wieder bläht sich seine Wange auf groteske Weise. Als versuchte ein Kind, Pfeife zu rauchen.

»Du wirst vermutlich einige Tage nicht sprechen können.«

Auf dem Flur wird geflüstert. Seine Sinne sind wach, ein paar zumindest, denn er nimmt Zigarettenrauch wahr.

»Du vertraust mir doch, nicht wahr? … Du weißt, dass ich dich nicht belügen würde?«

Nein! Er kennt Audoire nicht, er ist ihm nie begegnet. Das weiß er, denn er hat ein gutes Gedächtnis für Gesichter und erinnert sich an jeden Namen, auch wenn er den Menschen nur ein Mal vor Jahren ein paar Minuten lang gesehen hat. Audoire ist Arzt, denn er trägt einen weißen Kittel und eine runde Kappe auf dem Kopf. Sein Gesicht ist nichtssagend. Selten hat Maugras ein so leeres, ausdrucksloses, ja banales Gesicht gesehen und derartig mechanische Bewegungen.

Die beiden Männer geben sich die Hand und sehen sich stumm an, als bedürfte es keiner Worte, um einander zu verstehen, oder als hätten sie diese Szene geprobt. Dann wendet sich Audoire vom Fuß des Bettes aus an René.

»Sie sind ganz ruhig … Das ist gut. Wir müssen Ihnen noch ein wenig wehtun, und dann werden Sie friedlich schlafen.«

Man spricht also zu ihm wie zu einem Menschen, darüber ist er fast erstaunt. Gleichzeitig behandelt man ihn wie einen Gegenstand. Die junge Schwester schlägt die Decke zurück, und beschämt stellt er fest, dass er unten nackt ist. Zwischen den Beinen hat er eine Urinflasche, wie ein Greis, der sich einnässt.

Sie hält jetzt das eine seiner Knie fest, das zu zittern begonnen hat, und Professor Audoire nimmt eine Spritze vom Tablett, aber nicht die große mit der langen Nadel, sondern

Irgendetwas ist geschehen, an das er sich nicht erinnert. Er weiß nicht einmal, wo und wann es sich ereignet hat. Er runzelt die Stirn oder meint sie zu runzeln. Er ist sich keiner Sache mehr sicher, jetzt, da sein Mund stumm ist und seine Glieder ihm nicht mehr gehorchen.

Die beiden Männer in Weiß stehen da, warten und beobachten ihn; die Schwester hält immer noch sein Bein fest und sieht dabei unverwandt auf ihre Armbanduhr.

Es spielt keine Rolle, worum es hier geht. Es musste so kommen. Er hat immer gewusst, dass es so kommen würde, und ehrlich gesagt ist er erleichtert. Jetzt ist es vorbei. Er braucht sich nicht mehr damit zu befassen. Die anderen sollten sich seinetwegen keine Sorgen machen.

Sicherlich warten sie darauf, dass er einschläft. Warum? Will man ihn operieren? Ihm tut nichts weh, aber offenbar ist irgendetwas nicht in Ordnung.

»Geht es dir gut?«

Maugras versucht eine heitere Miene aufzusetzen, um sich bei Besson d’Argoulet zu bedanken, auch bei der Schwester und schließlich bei dem Mann namens Audoire, der mit Ehrerbietung behandelt wird. Wohl eine Kapazität wie Besson, vielleicht noch berühmter. Was ist wohl sein Spezialgebiet? Maugras kennt viele bedeutende Ärzte. Aus reiner Neugier denkt er darüber nach, aber dann verschwimmen seine Gedanken, und er meint in der Ferne wieder die Ringe der Glocken zu vernehmen.

»Es ist so weit …«

 

Er ist nicht gestorben, und die Sonne scheint ins Zimmer, in dem Besson d’Argoulet auf dem Platz der Schwester sitzt und eine Zigarette raucht. Der Professor trägt keinen Frack und auch keinen weißen Kittel. Mit seinen sechzig Jahren ist er noch immer ein gutaussehender Mann, höflich, gewandt und sehr geschmackvoll gekleidet.

»Wie fühlst du dich? Versuch noch nicht zu sprechen … Beweg dich nicht … Ich sehe an deinem Blick, dass du den Schock gut überstanden hast …«

Welchen Schock? Und warum fühlt sich sein Freund Pierre bemüßigt, in dem salbungsvollen Ton zu ihm zu sprechen wie sonst nur zu seinen Patienten?

»Du erinnerst dich wohl an nichts?«

Er möchte antworten:

»Doch!«

Denn tatsächlich hat er sich soeben erinnert, an den Salon im Hochparterre des Grand Véfour, über der Wendeltreppe, wo sie sich immer am ersten Dienstag im Monat zum Mittagessen treffen. Früher waren sie dreizehn, inzwischen, da einige gestorben sind, sind sie nur noch zu zehnt.

Wie viel Zeit mag seitdem verstrichen sein? Es könnte ebenso gut ein Tag wie eine Woche sein. Die Sonne schien nicht wie heute Morgen. Denn an der Art des Lichts, an dem zarten, matten Schein der Sonne, erkennt er, dass jetzt Morgen ist. Über die genaue Uhrzeit denkt er nicht nach, aber draußen, vor seinem Zimmer, wird der Boden gewischt, werden Eimer hin und her geschoben.

Er könnte sie alle aufzählen und an die richtigen Plätze setzen. Er sieht auch Victor vor sich, den Kellner, der sie seit mehr als zwanzig Jahren bedient, wie er mit einer sehr großen Flasche Armagnac um den Tisch herumgeht.

Er war aufgestanden, um bei seiner Zeitung anzurufen. Das Telefon befindet sich zwischen der Damen- und der Herrentoilette. Er hat mit Fernand Colère gesprochen, seinem Chefredakteur, der trotz seines Namens sanft wie ein Lamm ist.

Wenn er sich von der Zeitung entfernt, und sei es für eine Stunde, hat er das Bedürfnis, dort anzurufen, und er gibt mit schneidender, ein wenig schriller Stimme genaue Anweisungen.

»Nein! Ändere nichts auf der Eins … Nimm die dritte Spalte auf Seite drei heraus … Gib im Innenministerium Bescheid, da ist nichts zu machen, wir können den Vorfall unmöglich übergehen …«

Besson, der immer noch seine Zigarette raucht, meint ihm erklären zu müssen:

»Wir saßen alle bei Tisch im Grand Véfour. Du bist aufgestanden, um zu telefonieren, als der Likör serviert wurde. Dann bist du zur Toilette gegangen, und dort muss dich ein Unwohlsein überfallen haben, denn als Clabaud zehn oder

Warum diese umständliche, betont geduldige Sprechweise? Man behandelt ihn wie ein Kind. Oder wie einen Schwerkranken, ja, eher wie einen Schwerkranken, der er offenbar ist.

In einem Punkt irrt sich der Professor, bei all seiner Selbstsicherheit. Und auch das ist seltsam, so seltsam, dass Maugras, selbst wenn er sprechen könnte, nichts dazu sagen würde.

Es stimmt. Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, hat er die Tür zur Toilette geöffnet. Er hat sich vor das Porzellanbecken gestellt, in der lächerlichen Pose, die allen Männern vertraut ist. Er dachte an Colère und an den Vorstoß des Innenministers, als er plötzlich, aus heiterem Himmel, zu schwanken begann.

Er erinnert sich an ein hässliches Detail. Mit beiden Händen und seiner ganzen Kraft hat er sich an das schmuddelige Pissoir geklammert, ehe er es loslassen musste.

Was hat Besson gerade gesagt?

»Als Clabaud zehn oder fünfzehn Minuten später zur Toilette ging, hat er dich bewusstlos vorgefunden …«

Diese Worte sagen nichts darüber, wie genau er ihn gefunden hat. Aber Maugras sieht sich in dem engen Raum quer auf den Fliesen liegen, sieht, wie er sich verzweifelt bemüht, nicht etwa aufzustehen oder um Hilfe zu rufen, sondern seine Hose zuzuknöpfen.

Es ist rätselhaft: Er sieht sich wirklich so, wie irgendein anderer ihn hätte sehen können; er sieht sich von außen, so wie Clabaud ihn vermutlich vorgefunden hat. Ist eine solche Spaltung möglich?

 

Er ist ganz klar im Kopf. Vielleicht, so kommt es ihm vor, sogar klarer und hellsichtiger als normalerweise. Automatisch erfasst er, was um ihn herum vorgeht: die Modulation in der Stimme des Arztes, sein Zögern und sogar seine ungewöhnlichen Manschettenknöpfe mit dem griechischen Buchstaben. Er weiß nicht, welcher er ist, denn er hatte nur ein paar Monate Altgriechisch in der Schule. Im selben Augenblick fragt er sich, ob Besson d’Argoulet unbehaglicher zumute ist als ihm und ob er, was auch immer er vorgibt, weiterhin so beunruhigt ist wie auf der Toilette des Grand Véfour.

Gewiss, Maugras kann nicht sprechen, und eine Hälfte seines Körpers ist gelähmt. Auch das hat er allein entdeckt. Hat der Freund diese Reaktion oder vielmehr das Fehlen jeder Reaktion erwartet, seine Ruhe, die an Gleichgültigkeit grenzt?

Es ist Gleichgültigkeit. Als ginge ihn das, was in diesem kleinen, recht erbärmlichen Zimmer geschieht, nichts an, so wie ihn auch sein Körper nichts mehr angeht. Er ist nicht überrascht, in seinem Arm eine Nadel stecken zu sehen und daran befestigt einen Gummischlauch, der zu einem Glasgefäß führt, das zur Hälfte mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt ist.

Sein Blick ist dem Arzt nicht entgangen. Er beeilt sich zu erklären:

»Glukose. Damit du bei Kräften bleibst, bis du morgen oder übermorgen wieder selbst etwas essen kannst.«

Vermutlich spricht er mit allen schwerkranken Patienten

Besson scheint erraten zu wollen, welche Fragen er stellen würde, um sie sogleich zu beantworten.

»Du fragst dich wahrscheinlich, warum du hier und nicht in der Klinik in Auteuil liegst.«

Nach einem Nervenzusammenbruch vor vier oder fünf Jahren hatte ihn Besson für einige Tests nach Auteuil geschickt. Wie gewöhnlich hatte Maugras viel zu viel gearbeitet und sich in jeder Hinsicht verausgabt.

»Ich habe dich zunächst nach Auteuil bringen lassen, genauer gesagt, ich bin im Krankenwagen mit dir dorthin gefahren. Man hat dir das Zimmer gegeben, in dem du schon einmal warst, und deine Frau ist gleich gekommen. Mach dir ihretwegen keine Sorgen. Ich habe ihr erklärt, dass du außer Gefahr bist. Sie ist sehr gefasst. Ich rufe sie mehrmals täglich an. Sie wartet nur auf einen Wink von mir, um zu dir zu kommen.

Versuch nicht zu sprechen. Ich weiß, es ist äußerst unangenehm und bedrückend. Aber ich versichere dir, es handelt sich nur um eine vorübergehende Aphasie.«

Das musste so kommen. Während sein Freund spricht, wiederholt René diese vier Wörter für sich, so ruhig, als handelte es sich dabei um eine banale Feststellung.

Warum musste es so kommen? Das fragt er sich nicht. Er findet es sogar amüsant. Nehmen vielleicht auch die Wörter eine andere Bedeutung an? Oder kann sein träger Geist sie nicht mehr auseinanderhalten? Statt amüsant würde er zum Beispiel gern erleichternd sagen. Aber dieses Wort scheint nicht zu existieren. Es ist fast ein Spiel, das er insgeheim

Seit Langem, vielleicht schon immer, war er auf eine Katastrophe gefasst. In den letzten Monaten spürte er sie so nahe, dass er manchmal ganz nervös wurde, weil sie nicht eintrat.

Besson d’Argoulet redet um den heißen Brei herum, denn er fürchtet sich vor einem Wort, das er schließlich doch wird aussprechen müssen: He-mi-ple-gie.

»Ich will dir kurz erklären, warum du nicht mehr in Auteuil bist. Gleich nachdem ich festgestellt hatte, dass es sich um eine Hirnembolie handeln könnte, habe ich meinen Kollegen Audoire angerufen. Er ist Professor für Neurologie und Chefarzt hier in Bicêtre. Du hast bestimmt schon von ihm gehört … Der Arzt, der gestern Abend bei dir war und eine Lumbalpunktion vorgenommen hat. Audoire wollte dich lieber in seinem Krankenhaus haben. Seine Leute sind auf solche Fälle spezialisiert, und er vertraut ihnen vollkommen. Außerdem gibt es zwei Privatzimmer auf seiner Station. Eins davon war frei. Deshalb bist du seit Dienstagabend hier.«

In scherzendem Ton fügt Besson hinzu:

»Ich hoffe, du bist uns nicht böse, Audoire und mir, dass wir dich in dieses Krankenhaus verfrachtet haben. Sein Name hat ja keinen ganz so guten Klang … Deine Frau war übrigens ziemlich entsetzt. Ich habe ihr erklären müssen, dass du hier besser aufgehoben bist als in einer Privatklinik. Auch wenn der äußere Rahmen weniger erfreulich ist.«

Maugras blinzelt, unwillkürlich, und sein Freund fragt sich, ob es ein Zeichen ist.

»Ermüde ich dich zu sehr?«

Die Tür links neben seinem Bett hat Mattglasscheiben oder vielmehr gerillte Scheiben, durch die alles verzerrt erscheint. Von Zeit zu Zeit schlurfen verschwommene Gestalten vorüber, Männer auf Krücken, die sich völlig geräuschlos bewegen. Es ist ein wenig geheimnisvoll. Tragen sie Filzpantoffeln?

Besson hat seine kleine Rede, deren Faden er immer wieder aufnimmt, bestimmt vorbereitet.

»Du hast genügend medizinische Kenntnisse, sodass ich dich über die Schlüsse ins Bild setzen kann, zu denen Audoire und ich gekommen sind. Ich verlasse mich ganz auf Audoire. Er ist der Qualifiziertere auf diesem Gebiet.

Jedermann weiß ungefähr, was ein Schlaganfall mit halbseitiger Lähmung ist, also eine Hemiplegie, aber die meisten wissen nicht, dass es verschiedene Arten gibt, sowohl, was die Ursachen, als auch, was die Folgen angeht. Jede zeigt ein eigenes klinisches Bild, und für jede gibt es eine eigene Prognose …«

Wozu die vielen Worte? Wird man ihm nicht gleich sagen, dass seine Hemiplegie die einfachste und unbedenklichste ist?

»In deinem Fall hat die Lumbalpunktion ein klares Ergebnis erbracht. Kein pathologischer Befund. Das bedeutet, wir haben es mit einem schlichten Ictus apoplecticus zu tun, mit …«

Besson runzelt wie verärgert die Stirn und steckt sich bedächtig eine Zigarette an.

»Hörst du mir eigentlich zu?«

»Du glaubst mir nicht. Du denkst, ich will dich mit schönen Worten beruhigen …«

Ach, überhaupt nicht! So weit gehen seine Gedanken gar nicht. Es ist einfach so, dass er eine unsichtbare Grenze überschritten hat und sich in einer anderen Welt befindet. Er findet es fast komisch, dass diese bedeutende Persönlichkeit, Kommandeur der Ehrenlegion, die an seinem Bett sitzt und ihre Zeit mit überflüssigen Erklärungen vergeudet, sein Freund ist und dass sie sich duzen. Im Übrigen ist auch er selbst Kommandeur der Ehrenlegion!

Der Unterschied zwischen ihnen beiden ist nur, dass der eine jetzt halbseitig gelähmt ist, ein Hemiplegiker.

Wie Félix Artaud, sein bester Reporter, den man zum Amazonas wie nach Tibet oder Grönland schicken konnte, der die Regierungschefs aller mächtigen Staaten interviewt hat, der große, unermüdliche, laute Félix Artaud, der zwei oder drei Nächte ohne Schlaf auskam und, ohne auch nur zu schwanken, eine ganze Flasche Whisky austrank.

So wie er selbst war Artaud zusammengebrochen, um drei Uhr morgens in einem Luxushotel an den Champs-Élysées, in Begleitung einer jungen Amerikanerin.

Er war geschieden. Soviel man wusste, hatte er keine Angehörigen in Paris, und so rief man reichlich geheimniskrämerisch, René Maugras, seinen Chef, mitten in der Nacht ins Hotel. Maugras half dort dem Arzt und der Schwester, dem Freund die Hose anzuziehen, und fuhr im eigenen Auto dem Rettungswagen hinterher, der Artaud ins Amerikanische Krankenhaus in Neuilly brachte.

Artaud war erst fünfundvierzig. Ein Athlet, ehemaliger Rugbyspieler, streitlustig. Nicht Professor Audoire hat ihn

Stundenlang hat man Artaud untersucht, und auch er bekam eine Lumbalpunktion und dann ein Elektroenzephalogramm verpasst.

Wurde Letzteres auch bei ihm, Maugras, gemacht, als er bewusstlos war? Wie soll er jetzt danach fragen? In seinem Zustand ist er auf die anderen angewiesen. Sie müssen jede Frage erraten.

Als er damals zu Artaud ins Zimmer kam, steckte in dessen linkem Arm eine Nadel, die durch einen Gummischlauch mit einem Glasgefäß verbunden war, wie bei ihm.

Bei seinem zweiten Besuch war der Reporter nicht mehr bewusstlos, aber seine linke Wange zitterte merkwürdig, und jedes Mal, wenn er zu sprechen versuchte, brachte er nur unverständliche Laute heraus.

Er starb am fünften Tag im Morgengrauen, zu der Stunde, zu der er sonst schlafen ging.

Maugras hat noch einen anderen gekannt, dem es so ergangen ist. Jublin, den Dichter, der ständig in der Brasserie Lipp hockte. Er hatte auf dem Boulevard Saint-Germain einen Schlaganfall. Jublin muss schon über sechzig gewesen sein, und er hat noch fünf Jahre gelebt, angewiesen auf das Mitgefühl anderer, gelähmt, in einem Rollstuhl.

Und dann der berühmte Filmschauspieler … Genug! Es reicht! Besson d’Argoulet, immer so amüsant und ironisch bei ihren dienstäglichen Mittagessen, ist dabei, ihm ausführlich zu erläutern, dass sein Fall ganz anders liegt und dass in wenigen Wochen …

René öffnet die Augen weit, um ihm zu zeigen, dass er gar nichts denkt und dass ihm alles vollkommen egal ist.

Armer Pierre! Diese Seite seiner Persönlichkeit hat Maugras nie bedacht. Er kennt ihn als den großen Veranstalter von Abendgesellschaften, als den interessierten Pariser, dem man auf jeder Premiere begegnet, als den Gourmet bei den Mittagessen im Grand Véfour, als den literarisch Gebildeten, der sich den Luxus geleistet hat, zwischen zwei Berichten für die Medizinische Akademie eine Trilogie über das Leben von Flaubert, Zola und Maupassant zu schreiben.

Er hat ihn bei Tisch pittoreske »Fälle« und tragische Lebensgeschichten erzählen hören.

Ob er eines Tages auch seine erzählt?

Nie hat er ihn sich so vorgestellt, wie er ihn jetzt sieht: an einem Bett sitzend, nach Worten suchend, beharrlich bemüht, zu überzeugen, sich fragend, durch welchen Spalt er zu dem Geist eines Kranken vordringen kann.

»Streng dich doch nicht so an«, möchte er zu ihm sagen.

Besson wohnt in der Rue de Longchamp und ist in seinem englischen Sportwagen gekommen. Er hat ihn über die Champs-Élysées gesteuert, als die Stadt ihre Morgentoilette machte. Die Luft draußen ist kühl. Gleich wird Besson auf dem Hof des Krankenhauses wieder in sein Auto steigen und mit offenem Verdeck über die Porte

»Ich habe eine Privatschwester für dich aufgetrieben, Mademoiselle Blanche. Sie hat früher in meiner Abteilung gearbeitet und sitzt seit Dienstagabend an deinem Bett … Du kannst ihr voll und ganz vertrauen. Nachts wird eine andere, aber ebenso erfahrene sie ablösen.«

Und in leichtem Tonfall fügt er hinzu:

»Du hast sicher schon bemerkt, dass Mademoiselle Blanche hübsch ist. Das hat eine günstige Wirkung auf die Heilung. Ab morgen wird sie dich füttern, zunächst mit flüssiger Nahrung, und in drei, vier Tagen wird sie dich auffordern, einige Minuten dein Bett zu verlassen … Du hast es schon satt, nicht wahr? … Ich hatte gehofft, Audoire heute Morgen hier zu treffen. Ein Notfall muss ihn aufgehalten haben, aber er kommt bestimmt im Laufe des Vormittags vorbei. Ich selbst sehe am Nachmittag noch einmal herein.«

Maugras versteht den Blick, den der Freund, als er hinausgeht, der Schwester zuwirft, genau. Er bedeutet:

»Ich habe getan, was ich konnte, leider ohne viel Erfolg …«

Er scheint darüber nicht sonderlich erstaunt. Vielleicht verhält es sich bei den meisten Hemiplegikern ebenso.

Er kehrt noch einmal um.

»Man wird dir eine Spritze geben, die dich für einige Stunden schlafen lässt. Wenn Audoire nicht anders entscheidet, bringt man dich dann auf die Radiologie, wo eine röntgenologische Kontrastdarstellung des Gehirns gemacht wird. Nichts Gefährliches. Du merkst gar nichts davon, denn du bist dabei unter Narkose. Sei uns nicht böse,

Maugras protestiert nicht, hat gar nicht das Verlangen zu protestieren. Er ist niemandem böse. Auch dem Schicksal nicht.

Besson und die Krankenschwester flüstern auf dem Flur, wo immer noch schattenhafte Gestalten geräuschlos vorübergehen. Vermutlich gibt es auf der rechten Seite einen großen Saal, und die dort liegenden Patienten dürfen offenbar spazieren gehen.

Er kann es kaum erwarten, dass Mademoiselle Blanche wiederkommt. Er fühlt sich allein, wie auf der Toilette im Grand Véfour, und plötzlich überfällt ihn panische Angst.

Und dass man ihm bloß bald die versprochene Spritze gibt und er wieder in Schlaf versinken kann und vielleicht die klingenden Ringe der Glocken wiederfindet!

Er beobachtet die Schwester, als sie frisch, munter und lächelnd wieder hereinkommt, und er denkt, dass sie jeden Patienten so ansieht und dass wahrscheinlich jeder Patient ihr auf die gleiche Weise mit den Augen folgt, weil sie für jeden Jugend und Leben verkörpert.

Wenn er könnte, würde er ihr, während sie die Decke zurückschlägt, um ihm seine Spritze zu geben, zulächeln und ihr dafür danken, dass sie da ist, und sich dafür entschuldigen, dass er ihr so viel Mühe macht, vor allem dafür, dass er nicht daran glaubt, dass er ein schlechter Patient ist und keine Lust hat zu kämpfen.

Denn er hat keine Lust zu kämpfen. Wozu auch?

Es ist noch Nacht, aber er hat keinerlei Hinweis darauf, wie spät es ist. Sein erstes Gefühl ist Angst. Er glaubt sich allein in dem Zimmer, in das durch die Glastür ein gelbliches Licht aus dem Flur fällt. Außerdem steht die Tür einen Spaltbreit offen, sodass er wohl nur aus der Ferne von der Stationsschwester bewacht wird.

Als er den Kopf ein wenig dreht, stellt er fest, dass er sich getäuscht hat. Jemand schläft auf einem Klappbett zwischen seinem Bett und der Wand. Er kann das Gesicht nicht erkennen, sieht nur rote Haare, und er erinnert sich an die Nachtschwester, die man ihm am Abend zuvor vorgestellt hat. Sie ist Elsässerin, Joséfa, und spricht mit starkem Akzent. Sie ist weniger hübsch als Mademoiselle Blanche und lächelt auch weniger. Unter ihrer Schwesterntracht ahnt man einen fülligen, strammen Körper, und der gestärkte Stoff spannt über prallen Brüsten. Eine Tante, eine Schwester seiner Mutter, war auch so füllig und stramm, und auch sie hatte ebenmäßige, aber reizlose Gesichtszüge.

Er hat nicht gesehen, wie Joséfa sich hingelegt hat. Er wusste gar nicht, dass ein Klappbett in seinem Zimmer steht. Vielleicht hat man es hereingebracht, während er schlief, denn gleich nach der letzten Spritze ist er eingeschlafen. Was für eine Spritze war das? Das sagt man ihm nicht. Tags zuvor hat er mehrere bekommen, und jedes Mal

Nach den Geräuschen zu urteilen, muss die Nacht bald zu Ende sein. Es fahren schon Lastwagen auf der Straße, die, von der Porte d’Italie kommend, durch den Vorort führt, ehe sie zur Nationalstraße 7 wird. Hundertmal ist er Richtung Côte d’Azur auf dieser Straße gefahren, aber er hat sich nie für ihren Namen interessiert. Er weiß auch nicht, an welchen Tagen dort der Markt stattfindet, auf dem es nicht nur Lebensmittel gibt, sondern auch Kleidung.

Der Markt befindet sich ganz in der Nähe, kaum hundert Meter von dem Krankenhaus entfernt, in dem er jetzt liegt. Manchmal hat er im Vorbeifahren einen Blick auf diese grauen Gebäude geworfen. Sie stehen um einen großen Innenhof, dessen Einfahrt wie eine Kaserne von Uniformierten bewacht wird. Er dachte immer, dass hier nur Greise und unheilbar Kranke landeten. Man sah sie allein oder in kleinen stummen Gruppen auf dem Hof. Und auch die Irren. Bicêtre ist doch nicht nur ein Krankenhaus, sondern auch eine psychiatrische Anstalt?

Er fühlt sich nicht gedemütigt und ist auch nicht erschrocken darüber, dass er hier ist. Er hat zwar noch einen seltsamen Geschmack im Mund, doch sein Geist ist hellwach, trotz der Narkose von gestern Abend und obwohl er sich in seinem Bett nicht rühren kann. Für einen Augenblick hängt er den Gedanken nach, die ihm kommen, verscheucht sie, vermengt sie und trennt sie wieder voneinander.

Es sind keine traurigen Gedanken. Anders, als seine Umgebung vielleicht annimmt, ist er nicht verzweifelt; im Gegenteil, er könnte schwören, dass er noch nie eine vergleichbare Heiterkeit an sich erlebt hat.

Wie hätte er vor ein paar Tagen, noch am Dienstagmorgen, reagiert, wenn man ihm gesagt hätte:

»In wenigen Stunden wirst du plötzlich aufhören, ein normaler Mensch zu sein. Du wirst nicht mehr gehen können. Du wirst nicht mehr sprechen können. Du wirst mit deiner rechten Hand nicht mehr schreiben können. Du wirst die Leute um dich herum sich bewegen sehen, ohne dich mit ihnen verständigen zu können.«

Er hat nie einen Hund oder eine Katze besessen. Im Grunde mag er Tiere nicht. Vielleicht, weil er sich nie mit ihnen beschäftigt und nie versucht hat, sie zu verstehen. Aber er muss plötzlich an ihre Augen denken, die wahrscheinlich etwas ausdrücken wollen, was ihnen aber nicht gelingt.

Er ist nicht verbittert. Und wenn er sich gründlich erforschen würde, würde er entdecken, dass er nichts bedauert. Im Gegenteil. Er ruft sich sein früheres Leben ins Gedächtnis, den letzten Morgen, Dienstagmorgen, und es überrascht ihn, dass er dieses Leben geführt hat, dass er ihm Bedeutung beigemessen, dass er ein Spiel gespielt hat. Es erscheint ihm jetzt kindisch.

Als wollte er sich seine geistige Verfassung deutlich machen, sieht er ein Bild vor sich aus der Zeit, als er noch Muße hatte, Gemäldegalerien zu besuchen. Es ist ein Bild von Chirico und zeigt eine irgendwie synthetische Figur, eine Schneiderpuppe mit einem Holzkopf, die von kaltem Mondlicht umstrahlt ist.

In ebenso unbarmherzigem Licht erscheint ihm nun sein letzter Tag als sogenannter normaler Mensch. In Paris bewohnt er schon seit mehreren Jahren eins der Appartements

Sie hat vorher in der Rue de la Faisanderie versucht, den Haushalt zu bewältigen. Sie hat es mit gutem Willen und viel Energie getan, aber nach zwei Jahren war sie am Rand eines Nervenzusammenbruchs.

Nein, nicht am Rand. Sie hat tatsächlich einen Nervenzusammenbruch erlitten und sich wochenlang geweigert, ihr Zimmer zu verlassen, in dem sie Tag und Nacht im Dunkeln hauste.

Es ist nicht Linas Schuld, es ist seine Schuld. Er hat sie erwählt und ihr seine Lebensart aufgezwungen.

Gestern hat sie ihn besucht, nachdem man ihn aus der Radiologie wieder heraufgebracht hatte. Er war aus dem Nebel der Narkose noch nicht ganz wieder aufgetaucht, und alles war ihm noch gleichgültiger als jetzt.

Und doch hat er bemerkt, dass sie ein schwarzes Seidenkleid unter ihrem nerzgefütterten Gabardinemantel trug. Das ist in dem Milieu, in dem sie verkehren, in dem besonders Lina verkehrt, große Mode: Aus einer besonderen Art von Snobismus verbirgt man den kostbaren Nerz unter einem schlicht wirkenden Stoff.

Es muss jetzt ungefähr sechs Uhr sein. Die Nacht beginnt zu weichen, und auf die Fensterscheiben legt sich der Nebel.

Gestern hat er auch die Oberschwester kennengelernt, denn sie hat Lina hereingeführt. Er mag die Frau nicht. Sie wird Anfang sechzig sein, hat graues Haar, ein fast ebenso graues Gesicht und ist noch unpersönlicher als Professor Audoire.

Sie hat mitten im Zimmer gestanden, das nicht groß ist, und war wie manche Schauspieler von einer solchen Präsenz, dass nichts anderes neben ihr existierte. Ihr ruhiger Blick prüfte, schätzte ab, bemängelte.

Ein Monolith, der das ganze Krankenhaus tragen könnte.

Lina hat, eingeschüchtert durch ihre Anwesenheit, zunächst gezögert, sich über ihn zu beugen, um ihn zu küssen, und wie er es erwartet hatte, roch sie nach Alkohol. Sie hatte sicherlich einen oder zwei Whiskys getrunken, ehe sie die Residenz im George V verlassen hat, und er würde schwören, dass sie auf der Fahrt zum Krankenhaus ihren Chauffeur Léonard vor der erstbesten Bar hat halten lassen, um dort noch einen Whisky zu trinken.

Auch das nimmt er ihr nicht übel. Er ist daran gewöhnt. Noch am Dienstag erschien es ihm ganz natürlich, wie alles, was er selbst tat. Sie haben getrennte Schlafzimmer und Bäder, und der Salon bildet ein neutrales Gelände.

Dieses Arrangement hat sich als notwendig erwiesen, denn sie gehen selten gleichzeitig schlafen, und Lina bleibt morgens lange im Bett liegen, während Maugras schon um halb neun in den Bentley steigt, der unten auf ihn wartet, und sich zur Redaktion fahren lässt.

Er ist immer in Eile. Seit vielen Jahren ist er in Eile. Er nimmt sich nicht die Zeit, das Geschehen auf der Straße zu betrachten. Er merkt kaum, ob die Sonne scheint oder ob es nach Regen aussieht. Im Fond des Wagens arbeitet er, wirft einen ersten Blick in die Morgenzeitungen und kreuzt Artikel mit Rotstift an.

Er ist ein bedeutender Mann, und noch am Dienstag war

Jeden Sonntag hat er Minister, Parteiführer, Bankiers, Mitglieder der Académie, berühmte Schauspielerinnen auf seinem Anwesen in Arneville bei Arpajon empfangen. Es ist eigentlich ein Schloss, genauer gesagt ein Lustschlösschen, erbaut von einem Steuerpächter im 18. Jahrhundert.

»Guten Tag, Herr Direktor …«

Als Erster der Portier der Zeitung, dann folgten der Liftboy und die Bürodiener.

»Guten Tag, Monsieur Maugras …«

Wenn er die Redaktionsetage erreichte, wurde der Ton lockerer.

»Tag, René …«

Er traf Fernand Colère an, seinen Chefredakteur. Er ist gleich alt wie er und war schon dabei, als Maugras mit fünfundzwanzig die Rubrik »Stadtnachrichten« bei Le Boulevard leitete. Die kleine Zeitung gibt es nicht mehr.

Noch am Dienstag war er davon überzeugt, dass Colère ihm ganz ergeben ist und ihm aus Bewunderung praktisch sein Leben geweiht hat. Konnte er nicht alles von ihm verlangen? Begnügte sich Colère nicht damit, den Kopf zu senken, wenn ihm der Chef, verärgert über einen Irrtum, ein Versäumnis oder einen Fehler beim Umbruch, demütigende Vorwürfe machte?

Plötzlich sieht er seinen Chefredakteur in einem anderen Licht, ähnlich dem auf Chiricos Bild. Colère ist gar nicht

Maugras war überrascht, als Colère erschien, gleich nach Lina, die ihm Blumen mitsamt einer schmalen Kristallvase mitgebracht hat. Es sind übrigens wie immer gelbe Nelken, seine Lieblingsblumen. Und nur sechs, denn er mag keine großen Sträuße. Seine Sekretärin stellt ihm jeden Tag eine einzelne Blume auf den Schreibtisch. Lina meinte, im Krankenhaus hätten sie keine geeignete Vase für sechs Nelken und hat darum eine aus dem George V mitgebracht.