Lacroix und die Toten vom Pont Neuf

»Maigret, Telefon für Sie.«

Er ärgerte sich, dass die raue Stimme ihn aus seinen Gedanken riss. Eben erst war er wirklich angekommen in der vertrauten Umgebung zwischen den roten Backsteinwänden, hatte zufrieden die genaue Anordnung von Stiften, Notizbuch und Akten auf seinem Schreibtisch betrachtet und die leicht muffige Luft des fensterlosen Büros eingeatmet, in der alter Pfeifenduft festhing. Irgendwann würde er dem Korsen den Kopf abreißen.

Commissaire Lacroix erhob sich schwerfällig aus dem Sessel und mühte sich in das Großraumbüro seiner Kollegen. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, nahm er Paganelli den Hörer aus der Hand.

»Oui, Lacroix?«

»Bonjour, Commissaire. Mercier hier, Quai des Orfèvres.«

»Commissaire général?«

»Willkommen zurück, Lacroix. Ich würde Sie gern nach Ihrem Urlaub fragen, aber dafür ist keine Zeit. Die Kollegen im ersten Arrondissement sind überlastet. Wir brauchen Sie!«

»Was ist passiert, Arnaud?«

»Ein toter Clochard. Und um das Klischee vollständig zu bedienen: Er liegt unter dem Pont Neuf. Zwei Verkehrspolizisten sichern den Tatort.«

»Spezialsicherung mit den Kollegen aus dem Achten. Der Staatsbesuch aus Spanien und Italien. Die sind alle am Élysée bei der ominösen Mittelmeerkonferenz. Sie müssen übernehmen!«

Lacroix sah auf die große Wanduhr, die den schmucklosen Raum endgültig wie eine Bahnhofshalle aussehen ließ. Es würde nichts werden mit einem ausgiebigen Frühstück nach den Ferien.

»Wir machen uns auf den Weg.«

»Merci, mon cher.« Der Commissaire général hatte aufgelegt, bevor Lacroix etwas erwidern konnte.

Im Büro herrschte die Ruhe des frühen Morgens. Diese behäbige Routine, die ein solcher Anruf von jetzt auf gleich durchbrechen konnte.

»Paganelli, wissen Sie, wo Capitaine Rio ist?«

Von dem Korsen waren nur die dunklen Haare zu sehen, sein Gesicht steckte hinter Le Parisien.

»Café holen«, murmelte er.

»Rufen Sie sie bitte an. Wir fahren in fünf Minuten los.«

»Wird gemacht«, murmelte er und dann noch etwas, das Lacroix zum Glück nicht verstand.

Er ging in sein Büro, nahm sein Notizbuch und seine Pfeifentasche, griff den grauen Mantel vom Haken und hielt kurz inne. Sollte er? Sein Zögern ärgerte ihn. Selbstverständlich sollte er. Er nahm den braunen Hut, setzte ihn auf und warf sich den Mantel über. Es war Herbst. Man brauchte Hut und Mantel. Sollten sie doch reden.

Ohne ein Wort ging er an Paganelli vorbei ins Treppenhaus. Der Korse schnallte sich sein Holster um und folgte

Was war nur aus der guten alten Tasse café crème geworden, dachte Lacroix. Sitzend und in aller Ruhe im Café oder am Schreibtisch genossen. Er würde das nie verstehen.

»Bonjour, Commissaire. Ich freue mich, dass Sie wieder da sind. Es ist kalt geworden, nicht?«

»Der Herbst …«, antwortete Lacroix gedankenverloren. »Madame, Sie können gleich mitkommen.«

Jade Rio machte auf der Stelle kehrt und folgte ihrem Commissaire. Sie stammte ursprünglich aus dem Überseedépartement Mayotte, arbeitete nun aber schon seit zwölf Jahren an Lacroix’ Seite, erst als Kriminalassistentin, nun als Capitaine. Er hatte sie unmittelbar nach ihrem Abschluss an der Polizeiakademie eingestellt. Sie kannte seine Arbeitsweise wie keine Zweite, und sie konnten sich immer aufeinander verlassen.

Obwohl Lacroix eine Woche in den Ferien gewesen war, hing immer noch das Hors-service-Schild am Fahrstuhl. Drei Etagen. Doch der Abstieg war nicht das eigentliche Problem.

»Was ist denn so dringend?«, fragte Rio den Korsen.

»Ein Mord am Pont Neuf, wir müssen den faulen Säcken von rive droite unter die Arme greifen.«

Im zweiten Stock stand eine Schulklasse vor dem Musée de la préfecture de police, das ausgerechnet in Lacroix’ Kommissariat beheimatet war. Die Knirpse waren vielleicht acht oder neun Jahre alt. Die beiden Lehrerinnen blickten auf, als sie die Polizisten kommen sahen, und

»Schauen Sie ruhig hin, das ist er«, rief er und wies mit dem Finger auf Lacroix. »Direkt aus dem Museum: unser Commissaire Maigret. Wir müssen ihn uns kurz für eine wichtige Ermittlung ausleihen. Aber keine Sorge, wir bringen das wichtigste Exponat nachher wieder zurück.« Er lachte sein heiseres Lachen.

»Hör auf, Adolphu!«, flüsterte Rio. »Du weißt doch, dass er das hasst.«

Lacroix ging weiter die Treppen herunter, sah sich nicht um und öffnete schon die Pfeifentasche. Er würde den Brigadier im Auto ausräuchern.

»Wir holen den Wagen und sammeln Sie vorne ein. In Ordnung, Commissaire?«, brachte Paganelli mühsam hervor. Er lachte immer noch.

Lacroix nickte. Er spürte den kalten Wind und zog seinen Mantel enger um sich, als die Tür aufschwang. Draußen standen vier Beamte, die den Eingang der Préfecture bewachten, Maschinengewehre in den Händen. Er nickte ihnen zu, einer der jungen Männer salutierte.

Lacroix hörte den Verkehr auf dem Boulevard Saint-Germain rauschen, doch hier auf der engen Rue de la Montagne-Sainte-Geneviève war es ruhig, dörflich beinahe, der kleine Bäcker gegenüber, daneben der Eisenwarenhändler. Die Straße war eine der ältesten von Paris, sie führte steil bergan quer durchs fünfte Arrondissement. Auf dem Hügel, der nach der Pariser

Das Kommissariat war schmucklos, ein Neubau aus den Sechzigern. Außer einem kleinen Schild wies nichts darauf hin, dass im zweiten Stock ein Museum lag, das – zwar etwas verstaubt, dafür aber auch wunderbar verschroben – die Geschichte der Pariser Polizei erzählte. Ausgestellt wurden alte Waffen, Uniformen aus den vergangenen Jahrhunderten und Bilder und Geschichten aus dem alten, kriminellen Paris. Der Eintritt war frei, und so waren es meistens Schulklassen, die die alten Revolver bewunderten und aufgeregt die Beschreibungen von abscheulichen Morden lasen. Touristen kamen nur wenige.

Lacroix ging ein paar Schritte, wie er es jeden Morgen tat. Schon von Weitem erkannte ihn Eric Hoche, der vor seinem Kiosk die Zeitungen sortierte.

»Monsieur le Commissaire, Sie sind zurück!« Er hob die Hand zum Gruß, und Lacroix trat näher.

»Monsieur Hoche, schön, Sie zu sehen. Wie laufen die Geschäfte?«

Der ältere Mann wiegte den Kopf hin und her. Eine Marotte.

»Ach, wenn Sie im Urlaub sind, ist mir immer langweilig. Ihre Kollegen lesen ja nicht. Wenn Sie weg sind, ist hier tote Hose. Ach, verzeihen Sie – Kundschaft.«

Er ließ Lacroix stehen und ging in den grünen Kiosk, um eine Frau zu bedienen, die stehen geblieben war, um die aktuelle Le Monde zu kaufen. Lacroix sah die Berge von verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften, und sofort besserte sich seine Laune. In der Auvergne war er

»Monsieur Hoche, ich komme später noch einmal vorbei«, sagte er, als er seine Kollegen in einem Zivilfahrzeug um die Ecke biegen sah.

»Bis später, Monsieur le Commissaire«, rief der Zeitungshändler und widmete sich wieder der Unordnung vor seinem Laden.

Die Möwen hatten ihm gefehlt. Sie waren der Beweis, dass seine Stadt eben doch am Meer lag. Die Normandie war ganz nah, der Fluss zu seinen Füßen führte dorthin. Die Möwen waren die Botschafter des Atlantiks. Sie flogen über ihnen, als sie an der Buchhandlung Shakespeare and Company vorbei- und weiter an der Seine entlangfuhren. Sie flogen tief, bald würde es Regen geben. Heute wohl nicht, aber vielleicht in der kommenden Nacht?

Über den Quai des Grands Augustins rauschte der Verkehr. Die Roller schlugen aus wie Hasen, wenn sie versuchten, sich zwischen weißen Transportern und knallbunten Kleinwagen vorbeizuschlängeln. Lacroix und seine Kollegen stiegen aus und betrachteten die Szenerie. Die Einfahrtsstraße über den Pont Neuf war offen, die Verkehrspolizisten hatten nur den Zugang zur kleinen Uferpromenade abgesperrt. Von einem toten Clochard wurde nicht viel Aufheben gemacht.

Dennoch drängelten sich die Touristen hinter der Absperrung. Vielleicht konnte man ja ein Foto machen. Die ganz besondere Urlaubserinnerung. Lacroix war es völlig fremd, dass jede menschliche Regung, jede Schönheit oder Hässlichkeit festgehalten werden musste. Am Ende, nach ihrer Reise, wussten die armen Teufel wahrscheinlich nicht einmal, in welcher Stadt sie gewesen waren,

Lacroix zog noch einmal an der Pfeife, um kurz darauf die Glut am Geländer der Treppe auszuklopfen, die hinunter zum Ufer führte. Der Himmel war blau, doch voller kleiner weißer Wolken. Die Seine nahm die Sonne auf und warf sie als funkelnde Lichtfetzen zurück. Die Maler auf dem Quai würden später ihre Freude daran haben. Weiter vorn war schemenhaft Notre-Dame zu erkennen, der steinerne Justizpalast ließ nur einen schmalen Blick auf die Kathedrale zu. Der Quai des Orfèvres lag rechts von ihnen.

Warum wollte Mercier, dass ausgerechnet er diesen Fall übernahm? Der Commissaire général hätte seine eigenen Beamten zu Fuß schicken können. Lacroix hatte fast ein Jahrzehnt im Hauptquartier der Pariser Polizei auf der wunderschönen Île de la Cité gearbeitet. Dann hatte er um Versetzung gebeten, weil er sein eigener Chef sein wollte. Seit zwanzig Jahren leitete er nun das Kommissariat im fünften Arrondissement, und er hatte seine Entscheidung keinen Tag bereut.

Der junge Verkehrspolizist in der blauen Uniform hob den Arm zum Gruß, als Lacroix an ihm vorbeiging. Mit Rio und Paganelli im Schlepptau stieg er die Treppe hinunter. Der Justizpalast verschwand hinter der Quaimauer, und sie tauchten ein in die Pariser Schattenwelt. Tagsüber waren die Wege unter den Quais Flanierpfade für amerikanische Studentinnen, die sich mit Weinflaschen und bärtigen Franzosen bewaffnet an der Spitze der Insel niederließen, wo sich der Fluss in seine beiden Arme teilte.

Unter dem Pont Neuf standen drei Männer um die Leiche herum. Es waren zwei Kollegen von der Spurensicherung und Docteur Obert, der Gerichtsmediziner. Seine Gestalt war Lacroix so angenehm vertraut, als wären sie zusammen aufgewachsen. Tatsächlich kannten sie sich seit Jahrzehnten. Das hagere Gesicht, das Lacroix immer an einen Windhund erinnerte. Schüttere graue Haare, die sich der Docteur über den wohlgebräunten Schädel kämmte. Das kleine Feuermal auf der Stirn, das ihn aus der Masse heraushob und das er nicht zu verstecken suchte. Sie waren etwa gleich alt, aber Lacroix befand wie stets, dass er selbst deutlich jünger aussah.

Er entdeckte schon von Weitem das Blut, das es sogar aus dem Schatten der Brücke herausgeschafft hatte. Es hatte sich über die Pflastersteine verteilt und ein braunrotes Bild geformt, das aussah, als hätte es ein Expressionist ersonnen. Lacroix versuchte, den schon angetrockneten Lachen auszuweichen, trat immer nur auf saubere Steine. Kurz vor der Leiche aber blieben ihm nur die weißen Sandsteine, die den Randstreifen bildeten. Einen Schritt weiter floss die Seine.

Der Schatten der Brücke verdunkelte die Szenerie, Lacroix sah die Beine des Opfers, der Rest wurde vom Gerichtsmediziner verdeckt. Neben dem Toten lagen seine

»Commissaire Lacroix, da sind Sie ja!«

»Bonjour, Docteur Obert.«

»Eine ziemliche Sauerei. Er ist verblutet.«

Der Gerichtsmediziner zog die Handschuhe aus und trat einen Schritt zur Seite. Damit gab er den Blick auf die Leiche frei. Lacroix betrachtete das graue Gesicht des alten Mannes, seine Augen waren geschlossen, er sah friedlich aus, als schliefe er. Erst auf den zweiten Blick sah Lacroix die klaffende Wunde an seinem Hals, einmal von links nach rechts war dem Alten die Kehle durchtrennt worden. Der Schnitt sah ziemlich sauber aus, als wäre alles Blut einfach aus dem Mann herausgelaufen.

»Wie lange ist er tot?«

Dem Windhund gelang es, seiner ohnehin knittrigen Stirn neue Falten hinzuzufügen.

»Schwer zu sagen. Seit vier Uhr? Fünf? Seiner Körpertemperatur nach zu urteilen, seit ungefähr fünf Stunden.«

»Wann wurde er gefunden? Eben gerade erst?« Das wunderte Lacroix. Bei all dem Blut und an einem so prominenten Ort.

»Fragen Sie die Beamten. Ich bin auch gerade erst angekommen.«

»Rio, gehen Sie hoch, und schicken Sie mir den, der ihn gefunden hat. Paganelli, schauen Sie, ob Sie andere Clochards finden, die etwas gesehen haben könnten.«

Beide nickten und schwärmten aus. Die Kollegen der Spurensicherung holten unterdessen neue Utensilien aus

Lacroix blickte nach oben, sah die feinen Ziselierungen des Pont Neuf, den Stein, der die Jahrhunderte überdauert hatte. Die älteste Brücke der Stadt, die dennoch neue Brücke hieß. Er versuchte, ruhig zu atmen und seine Gedanken zu sortieren.

»Es ist ein einziger Schnitt, oder?«

»So sieht es für mich aus.«

»Wie schwer ist es, einem Schlafenden die Kehle zu durchtrennen?«

»Leichter als bei einem Wachen, Lacroix. Aber ja: Beim Eindringen des Messers wacht das Opfer für gewöhnlich auf und beginnt sich zu wehren. Es muss also rasend schnell gegangen sein. Sehen Sie den Schnitt: echte Präzisionsarbeit, kein Abrutschen, kein Zögern. Zack und durch. Und der hier …«, er zeigte auf den Toten, »hat sich nicht gewehrt. Keinerlei Abwehrspuren. Vielleicht war er so betrunken, dass er überhaupt nichts gespürt hat.« Obert zögerte einen Moment. »In jedem Fall ein Akt von absoluter Gewalt. Wut. Mehr kann ich erst sagen, wenn ich ihn auf dem Tisch hatte. Armer Kerl.«

Sie blickten noch einen Moment auf den Toten herab, ehe Lacroix zum Rucksack des Opfers ging und ihn ein Stück entfernt von der Blutlache ausschüttete. Er enthielt Klamotten, ein zerschlissenes Buch und einige Dokumente. Lacroix breitete die speckigen Papiere aus und überflog sie. Eine Aufnahmebestätigung für eine Obdachlosenunterkunft ganz in der Nähe. Sie war vor

»George Maille«, las Lacroix, »geboren 1951 in Grenoble.«

»Haben wir eine Adresse?«

»Nur eine Verwaltungsadresse für seine Post.«

»Das gibt es?«

»Ja, die Stadt hat damit vor einigen Jahren begonnen. Als die Zahl der Obdachlosen immer weiter anstieg.«

Die Clochards, in der Behördensprache als SDF – sans domicile fixe – bezeichnet, können ihre Post dorthin schicken lassen. So können sie ein Handy besitzen, Rechnungen und Wahlunterlagen erhalten.

Der Docteur grummelte kurz, dann beugte er sich wieder über die Leiche. »Kann ich ihn mitnehmen?«

»Ja. Die Tüten, die Flasche und den Rucksack auch, bitte. Keine Wertgegenstände.«

Lacroix steckte den Personalausweis ein, legte die Kleidung des Mannes fein säuberlich zusammen und steckte alles wieder in den Rucksack.

Rio und Paganelli kamen zurück. Rio hatte einen Verkehrspolizisten im Schlepptau. Der Korse kam allein angeschlurft, sein Gang war so gleichgültig wie sein Gesichtsausdruck.

»Commissaire, das ist Agent de surveillance Masson.«

Der junge Mann, der eben am Absperrband gestanden hatte, trug seine Uniform wie eine zu weit gewordene Haut. Er hatte einen gelben Balken auf dem

»Bonjour, Agent Masson. Haben Sie den Toten gefunden?«

»Nein, wir haben hier nur abgesperrt. Früh am Morgen hat eine Touristin den Mann entdeckt. Gegen sechs. Sie wollte wohl hier joggen.«

»Jetzt ist es halb zehn. Was hat denn so lange gedauert?«

Agent Masson zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung, wir haben gleich angerufen, aber im Kommissariat im ersten Arrondissement hat ewig keiner über Funk geantwortet. Und als wir endlich jemanden erreicht haben, haben die gesagt, sie kümmern sich. Und dann hat es wieder ewig gedauert, bis sie angerufen und gemeldet haben, dass jetzt Sie kommen würden, Commissaire.«

Lacroix seufzte. Sie hätten zwei Stunden früher hier sein können. Doch Masson war noch nicht fertig.

»Das Problem ist, dass wir die Touristin – sie war Holländerin – gebeten haben zu warten. Hat sie auch die ganze Zeit, aber dann …«

Lacroix ahnte schon, was kommen würde.

»Ein anderer Tourist hat versucht, an der Absperrung vorbeizukommen, und ich musste meiner Kollegin helfen, ihn aufzuhalten. Und dann ist die Holländerin einfach abgehauen. Hat sich unter die Passanten gemischt und war weg. Ich habe sie noch gesucht, aber … Verzeihen Sie, Commissaire.«

»Es ist nicht Ihre Schuld. Haben Sie wenigstens die Personalien?«

»Herrgott noch mal … Gut. Nein, nicht gut. Haben Sie vielen Dank.«

Masson nickte und ging zurück zu seiner Kollegin.

Paganelli sah hinter ihm her. »Faule Bande. Haben nichts zu tun, außer einen Tatort abzusperren und einen Namen aufzuschreiben …«

»Merci, Paganelli. Hatten Sie denn Erfolg?«

»Chef, Sie wissen ja, wie viel hier sonst immer los ist, wie viele Obdachlose unter den Brücken sind. Und heute Morgen, Sie ahnen es: keiner.«

»Bis wohin sind Sie gelaufen?«

»Einmal um die Spitze der Insel. Aber ich versuche es gleich weiter.«

»Sie haben sicherlich alle das Weite gesucht, als sie das Blut gesehen haben.«

»Aber warum hat uns keiner angerufen?«

Lacroix ahnte es. Die Clochards fürchteten die Kälte und die Gewalt, der sie hier draußen ausgesetzt waren. Aber noch mehr fürchteten sie den Staat und seine Organe. Er nahm seine Pfeife aus der Manteltasche, gerade als die Männer von der Spurensicherung den Leichnam in den kalten Metallsarg legten. Gleich würden die Touristen oben auf der Brücke ihr ersehntes Motiv bekommen.

In der Rue de Rivoli auf der anderen Seite der Seine hielten sie auf einem Lieferantenparkplatz. Lacroix traute sich kaum die Tür zu öffnen, so eng rauschten die grün-weißen Busse der RATP einer nach dem anderen vorbei. Der Herbst schien in Paris immer die geschäftigste Jahreszeit zu sein. Die Menschen waren gerade erst aus dem Sommerurlaub zurück und hatten das Gefühl, allerhand aufholen, sich die Stadt zurückerobern zu müssen, und so eilten sie, schon in dicke Mäntel gehüllt, an ihnen vorbei zum Louvre oder in Richtung Châtelet.

Lacroix betrachtete im Fenster von Comptoir des Cotonniers einen Mantel aus dunkelgrüner Wolle. Er würde Dominique gefallen. Vielleicht würde er später wiederkommen. Die kleine Seitenstraße, in die sie einbogen, ließ ihn die Konsumtempel jedoch sofort vergessen. Die Obdachlosenunterkunft von Emmaüs lag gerade mal ein paar Schritte von den Schaufenstern der teuren Modelabel entfernt, dem eleganten Kaufhaus BHV und dem noch viel eleganteren Samaritaine. Lacroix bedauerte bis heute, dass es wegen eines Brandes vor Jahren schließen musste. Er hatte sehr gern auf der Dachterrasse einen café getrunken und über den Fluss geschaut, bis hinüber zum Panthéon und zum Musée d’Orsay. Es würde nach aufwendigen Bauarbeiten bald wieder öffnen, aber

Hier aber war das andere Paris. Das Licht, das den breiten Boulevard zu einem faszinierenden Ort gemacht hatte, fehlte der engen Nebenstraße vollends. Eine alte Frau schlurfte mit drei Supermarkttüten bepackt in den Hauseingang des Haussmann’schen Gebäudes.

»Non, Madame, non«, rief der Sûrete-Mann mit der rosa Warnweste und stellte sich ihr in den Weg. »Die Tüten müssen draußen bleiben, das wissen Sie doch.«

Die kleine Frau schaute ihn an, als wäre er ein Außerirdischer. Dann machte sie kehrt, schimpfte vor sich hin. Sie würde einen Platz für ihre Habseligkeiten finden müssen. Oder unterwegs vergessen, dass sie eigentlich hierher hatte gehen wollen. Sie hörten ihr dumpfes Zetern noch, als sie längst außer Sicht war.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Sicherheitsmann.

»Commissaire Lacroix aus dem Kommissariat im Fünften. Meine Kollegin Capitaine Rio«, er wies hinter sich. »Wir würden gern zu Madame Renaud.«

»Zweiter Stock.«

Sie stiegen die Treppen hinauf, Madame Renaud wartete schon. Rio hatte sie von unterwegs angerufen.

»Wer ist es?«, fragte sie, als sie an ihrem Schreibtisch saßen. Sie war zu elegant für dieses Büro. Die blonden Haare waren ordentlich frisiert, auf dem Schreibtisch lag eine teure Sonnenbrille. Neben ihr Aktenberge, Rechnungen, Spendenquittungen. Eine Frau, die keine Zeit hatte, um aufzuräumen, weil das, was in der Unterkunft passierte, immer wichtiger war.

Ihre Reaktion ließ keinen Zweifel daran, dass sie ihn kannte, aber erst als sie das Foto betrachtete, sah Lacroix die Traurigkeit in ihren wachen Augen.

»George. Das ist sehr schade. Er war …«, sie hielt einen Moment inne, »… ein wunderbarer Mann. Er hätte nicht da draußen leben müssen. Er war nicht mal wirklich arm. Wie ist er gestorben?«

»Es war ein ziemlich scheußlicher Mord.«

»Wirklich? Das ist furchtbar.« Sie war blass geworden, und doch war sie eine Frau, die in ihrem Leben schon viel gesehen hatte. »Haben Sie seine Klarinette gefunden?«

Lacroix schüttelte den Kopf. »Eine Klarinette?«

»Er spielte sehr gut.«

»Wir haben überhaupt keine Wertsachen gefunden.«

»Das ist merkwürdig. Er hatte sie immer bei sich. Sie war das Wertvollste, was er besaß.«

»Sie haben gesagt, er war nicht wirklich arm. Was meinten Sie damit, Madame Renaud?«, fragte Rio.

Sie lächelte, als sie ihre Erinnerungen sortierte. »George spielte in der Metro. Meistens in Odéon. Manchmal, wenn der Alkohol es zuließ, hatte er sogar eine Anmeldung bei der Stadt. Sie wissen ja: Die Musiker müssen einer Jury vorspielen, wenn sie legal in der Metro spielen wollen, und George hat immer gewonnen.« Sie lächelte in sich hinein, als hörte sie ihn spielen. »Er hat nur in den guten Bahnhöfen gespielt und wirklich ordentlich verdient. Er hätte ohne Probleme ein eigenes Zimmer beziehen können. Aber er wollte nicht, er wollte draußen sein.«

»Er hat nicht so häufig bei uns geschlafen. Aber ich weiß, dass er das Geld und die Klarinette immer bei sich hatte. Den schweren Rucksack hat er entweder hier stehen gelassen oder unter seiner Stammbrücke. Pont Neuf, glaube ich. Da waren seine Sachen, wenn er gespielt hat. Er war nicht in Sorge um seine Kleidung oder den Rucksack. Nur die Klarinette war ihm wichtig.«

»Hatte er Verwandte?«

»George hatte, soweit ich weiß, niemanden mehr. Er war irgendwann verheiratet, drüben im Osten. In Grenoble. Aber die Ehe ist vor Jahrzehnten in die Brüche gegangen.«

»Sie kennen Ihre Gäste gut.«

Madame Renaud hing wieder ihren Erinnerungen nach, ihr Blick verschwamm.

»Es ist traurig, wenn es den erwischt, den man am liebsten hatte. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich wünsche niemandem einen – wie haben Sie gesagt? – scheußlichen Tod, aber George war ein ganz feiner Mann. Es gibt selten so kluge und begabte Menschen unter meinen Gästen. Wir hatten einen guten Draht zueinander.«

»Hatte er Feinde?«

»Wenn Sie hundert Euro im Rucksack haben und unter dem Pont Neuf schlafen, haben Sie viele Feinde. Ich habe ihm oft gesagt, er soll das Geld hierlassen, ich würde es für ihn wegschließen. Aber natürlich war das sinnlos.«

»Weil er Angst hatte, dass es verloren geht?«

»Nein, das war es nicht. Er liebte die Freiheit. Er wollte kommen und gehen können, wann es ihm passte. Und

Sie sah bedrückt aus, aber auch eine Spur träumerisch.

»Haben Sie vielen Dank, Madame.«

»Melden Sie sich bitte, wenn Sie irgendetwas von mir brauchen. Und wenn Sie wissen, wer den alten George umgebracht hat.«

»Das werden wir, Madame«, sagte Lacroix, die Hand schon an der Pfeifentasche. Doch zunächst mussten sie sich wohl oder übel noch ein wenig umhören.

Lacroix’ Schreibtisch war leer. Wie immer. Nicht, weil er moderne Geräte verabscheute – nun gut, auch deshalb. Aber nicht mal er würde ein Festnetztelefon als modernes Gerät bezeichnen. Doch auf seinem Schreibtisch wollte er trotzdem keins haben. Ebenso wenig wie ein Faxgerät oder gar einen Computer. Lacroix mochte während eines Falles keinerlei Ablenkung, und er fürchtete, jegliche Elektronik würde seine Aufmerksamkeit fesseln und ihn um die Früchte seiner Gedanken bringen. So standen in dem kleinen quadratischen Büro nur der große Schreibtisch aus altem Eichenholz und ein abschließbarer Schrank, darin Akten von unabgeschlossenen Fällen, die ihm keine Ruhe ließen. Sonst nichts.

Der wichtigste Ort aber war die Glasscheibe, die sein Büro vom Großraum trennte. Heute Morgen konnte er noch durch sie hindurchsehen, bald aber – wie bei jedem neuen Fall – würde sie sich nach und nach füllen mit den Fotos, Namen und Verbindungen aller an der Tat Beteiligten: Opfer, Zeugen, mögliche Verdächtige. Sogar Menschen, die nur zufällig am Tatort vorbeigegangen waren und mit denen der Commissaire gesprochen hatte, wurden dort verewigt – wenn Rio oder Paganelli so geistesgegenwärtig gewesen waren, ein Foto zu machen. Sie wussten, dass der Commissaire darauf angewiesen war, und mittlerweile klappte es auch fast jedes Mal.

Diesmal war es ein wenig anders. An der Wand hingen exakt zwei Fotos: das von George Maille und das von Madame Renaud aus der Obdachlosenunterkunft. Rio hatte es aus dem Internet heruntergeladen und aufgehängt. Paganelli hatte auf den Quais doch noch zwei, drei Obdachlose angetroffen, auf Fotos von ihnen wollte Lacroix jedoch verzichten. Sie hatten nichts gesehen oder gehört, und es bestand kein Zusammenhang zwischen ihnen und diesem Fall. Er wollte die Männer, die ohnehin in ständiger Angst lebten, nicht unnötigerweise irgendwo hineinziehen.

Das war’s. Es gab keine Zeugen, keine Verdächtigen. Die Holländerin, die die Leiche gefunden hatte, war verschwunden, und Lacroix machte sich keine Hoffnung, sie zu finden. Ein Zeugenaufruf würde nichts bringen. Paris wimmelte vor Touristen, aber kaum einer sprach Französisch, und im Urlaub machte auch niemand den Fernseher an oder las die Lokalzeitungen.

So saßen die drei Polizisten in dem kleinen Büro zusammen, wie sie es immer taten, denn Lacroix machte sich nur ungern die Mühe, den Besprechungsraum in der ersten Etage aufzusuchen. Rio hatte café gekocht, den nur sie trank. Paganelli trank überhaupt keinen, Lacroix nur den aus dem Chai de l’Abbaye, seinem Stamm- bistro.

»Das wird eine knifflige Kiste«, sagte Paganelli und

»Was denken Sie?«, fragte er den Korsen.

»Es gibt offenbar niemanden, der etwas gesehen hat. Keine Zeugen und keine Familienangehörigen. Das einzige Motiv ist die fehlende Kohle. Doch wen sollen wir da festnehmen? Auf Geld sind in Paris doch alle aus.«

Lacroix nickte. »Das fehlende Geld. Und das fehlende Instrument. Rio, würden Sie die Kollegen beim Raub informieren? Sie sollen bei den bekannten Hehlern nachfragen, ob ihnen eine Klarinette angeboten wurde.«

»Mache ich, Commissaire. Und meinen Sie, die Videoüberwachung könnte uns weiterbringen? Soweit ich weiß, sind die Metrostationen ringsum überwacht, genau wie der Justizpalast und der Quai des Orfèvres. Und dann den Fluss hinauf Notre-Dame, auf dem Vorplatz der Kathedrale gibt es auch Kameras. Nur eben am Pont Neuf selbst nicht.«

»Wir sollten es auf jeden Fall versuchen. Auch wenn George Maille vermutlich vor Betriebsbeginn der Metro ermordet wurde. Und warum sollte der Täter ausgerechnet über den Vorplatz laufen? Andererseits: Prüfen sollten wir es. Ein Klarinettenkoffer ist doch recht auffällig.«

»Soll ich noch mal runtergehen und nach Obdachlosen suchen, die etwas gesehen haben könnten?«

»Nein, das mach ich gleich in der Mittagspause. Besorgen Sie sich bitte die Videoaufzeichnungen und sichten sie, Paganelli. Und Sie, Rio, fragen bitte bei der Gerichtsmedizin nach, ob wir am Nachmittag schon Genaueres

Sie gingen hinaus. Lacroix hatte nicht vor, selbst an die Seine zu gehen. Sein Magen knurrte. Aber er wusste schon, wer die Recherche für ihn übernehmen würde.

Nur noch der letzte Tropfen aus dem Zapfhahn auf die Schaumkrone, dann stellte Yvonne das kalte Bier vor Lacroix auf den alten Zinktresen. Das Glas war beschlagen, der Schriftzug Meteor von perlendem Tauwasser umrahmt. Lacroix’ Lieblingsbrauerei aus dem Elsass. Für gutes Bier musste man mindestens in die Nähe von Deutschland.

»Commissaire. Willkommen zurück, es kommt mir vor, als wärst du jahrelang bei den Wilden gewesen. Ça va, mon cher?«

Lacroix hatte sich sehr auf die Rückkehr an seinen Tresen gefreut, auf Yvonne, seine Wirtin, doch die Ereignisse des Vormittags hatten die Freude getrübt.

»Heute Morgen ging es besser«, sagte er verdrießlich, »aber vielleicht kannst du meinen Tag retten. Was gibt es heute?«

»Chou farci. Ihr wart doch in der Auvergne, du bleibst also kulinarisch im Urlaub.«

»Später sehr gern. Aber vorher möchte ich noch eine Weile nur hier sitzen.«

Er trank einen Schluck Bier. Der malzige Geschmack legte sich auf seine Zunge und belebte seine Sinne innerhalb von Sekunden. Lacroix wischte sich den Schaum aus dem Bart. Er würde sich bald rasieren müssen. In den Ferien hatte er sich gehen lassen.

Idefix, Yvonnes brauner Yorkshireterrier, bestätigte die Bestellung mit einem Bellen.

»Alors, was ist los? Alain war eben hier und hat gesagt, an der Brücke sei alles abgesperrt. Ist das dein Fall?«

Lacroix nickte und nahm noch einen Schluck. »Es ist am frühen Morgen passiert. Ein erbärmlicher Mord. Ein Clochard. Direkt unter dem Pont Neuf.«

»Der arme Teufel.«

»Für einen Clochard hatte er offenbar jede Menge Geld bei sich.«

»Alain hat von oben Blut gesehen, hat er gesagt.«

Der alte Obsthändler hatte mit seinen über achtzig Jahren nichts Besseres zu tun, als früh aufzustehen, viel zu arbeiten und endlose Fußmärsche durch die Stadt zu unternehmen. Immer dort hin, wo etwas los war.

»Es war viel Blut. Sehr viel.«

»Was denkst du? Ein Raubmord?«