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Kosmos

Umschlaggestaltung von Weiß-Freiburg GmbH unter Verwendung des originalen

Filmplakats von Constantin Film Verleih GmbH

Die Liedtexte in den Kapiteln 3, 6 und 9 stammen von Lorenz Ritter, Riad Abdel-Nabi, Stavros Ioannou, Jens Eckhoff

Zitat Kapitel 2 frei nach Peter Pan von James Matthew Barrie

Fotos © Constantin Film Verleih GmbH/Rat Pack Filmproduktion GmbH/Bernd

Spauke Filmartwork © Constantin Film Verleih GmbH /Mike Kraus

http://www.constantin-film.de

Basierend auf dem Kinofilm »Die drei !!!« von Viviane Andereggen
und dem Drehbuch von Sina Flammang & Doris Laske

© 2019 Rat Pack Filmproduktion http://www.ratpack-film.de

#DieDreiAusrufezeichen

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© 2019, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-16540-9

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Einsatz im Café Lomo

Kim Jülich rannte, so schnell sie konnte. Die Sommerhitze trieb ihr den Schweiß auf die Stirn und sie fragte sich bestimmt zum hundertsten Mal: Warum ich? Warum kann ich nicht einfach mal Ferien haben? Warum ziehe ich die Verbrechen an wie ein Marmeladenbrot einen Wespenschwarm? Gerade noch hatte sie mit ihren besten Freundinnen Marie und Franzi im Café Lomo auf die verdienten Sommerferien angestoßen und jetzt war sie schon wieder voll im Einsatz. Genauer gesagt, auf Verbrecherjagd!

Dabei hatte dieser Tag ganz normal angefangen. Kim, Marie und Franzi hatten sich verabredet, um gemeinsam mit anderen Jugendlichen Spenden für das alte Stadttheater zu sammeln. Das Theater war vor 15 Jahren nach einem Brand geschlossen worden und sollte nun wieder für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Das erste Stück würde das Jugendzentrum aufführen und die Einnahmen würden direkt in die Renovierung des Gebäudes fließen. Marie war von Anfang an Feuer und Flamme für das Projekt gewesen. Und das nicht nur, weil ihr Vater, der bekannte Schauspieler Helmut Grevenbroich, einer der Hauptsponsoren war. Marie liebte die Bühne und wollte als angehende Schauspielerin alles dafür tun, das alte Stadttheater zu erhalten. »Für die Kultur muss man auch mal früher aufstehen«, hatte sie am Abend vor der Sammelaktion noch behauptet.

Heute Morgen waren es natürlich trotzdem wieder nur Kim und Franzi gewesen, die sich stundenlang mit den anderen Nachwuchsschauspielern in der Fußgängerzone die Füße in den Bauch gestanden hatten. Marie war erst pünktlich zur Mittagspause im Café Lomo eingetrudelt, um sich den ersten LICK des Sommers zu gönnen. Frisch geduscht und wie aus dem Ei gepellt ließ sie sich in einen Korbstuhl fallen und grinste ihre Freundinnen an. »Gerade noch rechtzeitig«, flötete sie und wollte nach ihrer Eisschokolade greifen, als Franzi das Glas wegzog.

»Wie bitte?« Franzi verdrehte die Augen. »Erst verpennst du ewig. Dann schreibst du eine SMS, dass du in zwei Minuten da bist, und brauchst in Wirklichkeit 20! Das ist ein neuer Rekord!«

Marie grinste frech zurück. »20 Minuten?«, sagte sie unschuldig. »War ich so schnell?«

Franzi setzte gerade empört zu einer Antwort an, als ein gellender Schrei sie zusammenzucken ließ. Kim ließ beinahe ihr Glas fallen. Sie wirbelte herum und sah gerade noch, wie ein Skater sich mit Paulas Spendendose davonmachte. Paula lag jetzt am Boden und rieb sich wimmernd das Knie. Der Kerl hatte sie einfach umgeschubst!

»Typisch Mädchen, immer gleich am Flennen!«, rief der Skater über die Schulter und floh auf seinem Board. Die Spendendose schüttelte er triumphierend.

Die drei !!! sahen sich an: Das würden sie auf keinen Fall auf sich sitzen lassen!

»Die drei Ausrufezeichen!«, rief Kim und streckte ihre Hand aus. »Eins!«

Marie legte die ihre darauf: »Zwei!«

Franzi ließ ihre Hand auf Maries fallen: »Drei!«

Dann warfen alle drei die Hände hoch und riefen laut »Power!!!«

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Franzi schnappte sich ihr Skateboard und nahm mit wehenden roten Zöpfen die Verfolgung auf, während Kim sich an Marie wandte: »Er fährt nach Nordosten«, stellte sie nach einem kurzen Blick auf den Sonnenstand fest. »Wir müssen uns aufteilen.«

»Alles klar«, flötete Marie. Ehe Kim sich’s versah, hatte sie auch schon ein Taxi herangewunken und sich auf den Rücksitz fallen lassen. »Folgen Sie dem Skateboard!«, hörte Kim sie noch rufen, dann zischte das Taxi davon.

Kim sah Marie mit offenem Mund nach, dann fiel ihr Blick auf eine Treppe, die ihr nun als einziger Weg blieb. Die Treppe war sehr lang und sehr steil. »Warum ausgerechnet ich?«, seufzte Kim. »Ich hasse Sport!«

»Kim, wo bleibst du denn?«, klang Franzis Stimme aus Kims neuer Walkie-Talkie-Uhr.

»Gebt mir eine Minute!«, keuchte Kim, die gerade den oberen Treppenabsatz erreicht hatte und sich schnaufend an der Ziegelsteinwand abstützte. Ein Opa in Radlerhosen joggte quietschfidel an ihr vorbei.

»Du hast 20 Sekunden, wir verlieren den Typen«, drang Franzis Stimme verzerrt durch Kims Walkie-Talkie-Uhr. »Er fährt Richtung Schillerpark! Wie schnell kannst du an der oberen Ringstraße sein?«

Kim verdrehte die Augen. Da würde sie bei ihrem Tempo nie ankommen. »Es sei denn …« Kims Blick fiel plötzlich auf eine Gruppe Touristen mit roten Sturzhelmen, die wie Orgelpfeifen auf Segways an ihr vorbeischnurrten.

In der Zwischenzeit waren Marie und der Taxifahrer dem Skater dicht auf den Fersen. Der Taxifahrer bog rasant um die Kurven und trat so fest aufs Gaspedal, dass sein gelber Turban wippte. Marie musste sich an ihrem Sitz festhalten. »Eine echte Verfolgungsjagd, wie im Kino? Davon habe ich mein ganzes Leben geträumt«, rief der Fahrer Marie zu.

Sie grinste ihn über den Rand ihrer Sonnenbrille hinweg charmant an.

»Ich bin wieder mobil, Mädels. Obere Ringstraße«, meldete sich Kim.

»Verstanden«, gab Marie zurück und wandte sich an den Taxifahrer. »Fahren Sie bitte rechts ran!« Das Taxi hielt mit quietschenden Reifen. Marie reichte einen Geldschein nach vorn. »Das ist für Sie«, sagte sie, »und das hier«, sie legte noch einen Geldschein darauf, »ist für die Tür!«

Der Taxifahrer starrte Marie verständnislos an. Marie stieß die Tür auf, der Skater knallte in voller Fahrt dagegen und landete mit einem wütenden Aufschrei auf der Straße. Franzi, die ihm dicht auf den Fersen gewesen war, konnte gerade noch rechtzeitig von ihrem Skateboard springen. Die Spendendose rollte scheppernd davon, bis sie von einem Schuh gestoppt wurde. Kim hatte gerade mit einem Segway direkt neben dem Taxi gebremst und hielt jetzt triumphierend die Beute hoch.

Grinsend beugten sich die drei Mädchen über den leise jammernden Skater. »Typisch Jungs!«, sagte Marie zuckersüß.

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»Immer gleich am Flennen«, fügte Franzi kopfschüttelnd hinzu.

»Kleiner Tipp für die Zukunft: Leg dich nicht mit Mädchen an«, vollendete Kim.

Der Skater war immer noch ziemlich verdattert, als Kommissar Peters ihn einige Minuten später ins Polizeiauto schob. »Jetzt hat es sich ausgerollt!«, knurrte Kommissar Peters, schlug die Autotür ins Schloss und hielt dann strengen Schrittes auf die drei Mädchen zu.

»Passt auf«, murmelte Marie. »Jetzt gibt’s wieder ’ne Standpauke.«

Kommissar Peters hatte schon oft das Vergnügen mit den drei !!! gehabt. Sie konnten also beinahe mitsprechen, als er sich vor ihnen aufbaute und polterte: »Die drei !!! – habt ihr eigentlich NIE Ferien? Wie oft soll ich es euch noch sagen: Verbrecherjagd ist Sache der Polizei!«

»Keine Angst, Kommissar Peters. Diese Ferien haben wir sowieso was anderes vor«, unterbrach Marie ihn und deutete auf eines der Peter-Pan-Plakate, die schon seit einer Woche in der ganzen Stadt hingen. Darauf war ein Mond abgebildet, vor dem die Silhouette eines fliegenden Jungen zu sehen war. Kommissar Peters starrte das Plakat an, dann wieder die drei Mädchen. »Ihr habt Glück, Mädchen, dass auch ich ein großer Theaterfan bin. Ganz abgesehen davon, dass Peter Pan ein sehr schönes Stück ist. Gute Wahl! Deshalb werde ich euch diese Sache hier noch einmal durchgehen lassen. Aber glaubt mir: Ich behalte euch im Auge.« Kommissar Peters deutete noch ein letztes Mal warnend auf die drei !!!. Dann düste er, den mürrischen Skater auf der Rückbank, in seinem Polizeiauto davon.

Kim, Marie und Franzi sahen dem Wagen grinsend hinterher. »Ich weiß ja, dass Kommissar Peters nie lange böse auf uns ist. Aber wenn wir diese Sommerferien doch wieder einen Fall haben, flippt er bestimmt komplett aus«, sagte Kim ahnungsvoll.

Marie stieß sie in die Seite: »Stimmt. Aber was soll in so einem alten Theater schon passieren?«

Altes Theater, alte Bekannte

Detektivtagebuch von Kim Jülich

Montag, 09 Uhr

Meine Mutter ist verrückt. Einfach komplett verrückt. Sie hat mich für die ganzen Sommerferien bei einem »Sommercamp für Mathematik« angemeldet und glaubt auch noch, dass ich mich darüber freue! Den ganzen Tag Brüche rechnen, addieren und subtrahieren, während Franzi und Marie zusammen Spaß haben und Theater spielen? Auf gar keinen Fall!

Ich habe Michi nicht umsonst tagelang bekniet, mit mir zum Casting zu gehen. Vielleicht dürfen wir ja sogar zwei Hauptrollen spielen: Peter und Wendy. Es gibt sogar eine Kussszene. Total romantisch! Soll ich etwa stattdessen ins Mathecamp und zulassen, dass irgendein anderes Mädchen Michis Wendy wird? Und er sie womöglich … küsst? Und wenn meine Mutter sich auf den Kopf stellt: Kim Jülich spielt diese Ferien Theater, koste es, was es wolle. Rechnen üben kann ich auch später noch. Ich hoffe nur, dass Mama mir nicht auf die Schliche kommt …

Es war 9:15 Uhr. Kim, ihren Rucksack auf dem Rücken und die Zungenspitze zwischen den Zähnen, öffnete die Haustür. Der Garten lag still vor ihr. Es war morgendlich kühl, eine Amsel sang im Kirschbaum: Die Luft war rein. Zumindest schien es so …

Kim huschte leise wie eine Katze über den Rasen zu ihrem Fahrrad, als eine Stimme in ihrem Rücken sie mitten in der Bewegung einfrieren ließ. »Kim Konstanze Jülich!«

Kim schloss gepeinigt die Augen. Nur eine Person nannte sie bei ihrem verhassten zweiten Vornamen: ihre Mutter. Kim drehte sich langsam um. Brigitte Jülich kam mit erhobener Gartenschere und hochgezogenen Augenbrauen auf sie zu. In ihrem Rücken sah Kim drei Buchsbäume, die ihre Mutter wohl gerade zu geometrischen Formen trimmte. Brigitte Jülich liebte Geometrie. Manchmal schnitt sie sogar Kims Pausenbrote zu perfekten Dreiecken.

»So früh auf?«, fragte sie nun misstrauisch. »Das Mathecamp beginnt meines Wissens erst um 10 Uhr.«

Kim schluckte schwer und rückte die grüne »Mathecamp«-Kappe zurecht, die sie zur Tarnung aufgesetzt hatte. »Ich … ich …«, suchte sie nach einer schlauen Ausrede, »iiich … ich will ’nen guten Platz kriegen?«

Ihre Mutter kniff die Augen zusammen und musterte Kim genau. Kim brach der Schweiß aus: Wenn ihre Mutter jetzt Lunte roch, konnte sie sich das Theaterstück abschminken – und zwar für immer. Ihre Mutter würde sie bei Wasser und Brot an ihr Mathebuch ketten und … na gut, vielleicht nicht ganz so schlimm. Aber Michi würde sich auf jeden Fall eine neue Wendy suchen müssen.

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»Einen guten Platz? Wirklich?«, wiederholte Frau Jülich gedehnt und schob ihren Strohhut in den Nacken. Dann breitete sich ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht aus: »Mein kleiner Mathe-Champion! Ich bin ja fast neidisch. Das waren meine schönsten Sommer früher! Jedes Jahr sind meine beiden Freundinnen und ich ins ›Camp Algebra‹ gefahren, um zu addieren, zu subtrahieren und Marshmallows zu grillen.«

Kim rollte verstohlen mit den Augen: Gegrillte Marshmallows waren lecker, aber der Rest? Da konnte sie sich wirklich Schöneres vorstellen! Im nächsten Moment zuckte sie zusammen. Ihre Mutter hatte, militärisch salutierend wie ein Soldat, die flache Hand an die Stirn gelegt und rief nun laut den peinlichen Wahlspruch des Camps: »Was ist die dritte Wurzel aus Spaß? Camp Algebra, Camp Algebra!«

Erwartungsvoll sah sie Kim an. Kim hob ebenfalls ruckartig die Hand und salutierte verwirrt: »Camp Algebra, Camp Algebra!« Dann lief sie schnell zu ihrem Fahrrad. Sie winkte ihrer Mutter zum Abschied noch einmal zu, und als Frau Jülich sich endlich wieder leise summend ihren geometrischen Buchsbäumen zugewandt hatte, ließ Kim die Mathecamp-Kappe unauffällig in der Brombeerhecke verschwinden.

Natürlich hätte Kim sich nicht beeilen müssen. Zusammen mit Franzi saß sie wenig später im Schatten hoher Bäume. Hinter ihnen lag der Wald, in dem sich das alte Theater befand. Grillen zirpten im hohen Gras, das von der Sommerhitze ein wenig ausgetrocknet war. Von Marie war mal wieder keine Spur zu sehen.

»Warum kann sie nie pünktlich sein?«, murmelte Franzi und schüttelte missmutig ihre roten Zöpfe.

»Sie kommt sicher gleich«, gab Kim zurück.

Franzi sah sie nur zweifelnd an. »Das glaubst du ja wohl selber nicht!«

Franzi atmete entschlossen aus: »Okay, wenn Marie in den nächsten fünf Minuten nicht da ist, fahren wir allein los. Pech gehabt.« Doch da hörten die beiden ein Knirschen im Kies. Eine Fahrradklingel schrillte, und Marie schoss mit wehendem Pferdschwanz an ihnen vorbei, den Duft von Erdbeershampoo hinter sich herziehend.

»Was sitzt ihr denn da rum? Wir kommen zu spät!«, rief sie und fuhr einfach weiter.

Franzis Kinnlade klappte herunter. Sie hob empört die Arme und starrte Kim an, die nur matt den Kopf schüttelte.

Kim musste beinahe lachen, so typisch war diese Situation: Erst ließ Marie stundenlang auf sich warten und dann verbreitete sie Hektik. Franzi klemmte sich ihr Skateboard unter den Arm und nahm auf Kims Gepäckträger Platz. Eine Notlösung, da Franzi auf dem unebenen Waldboden unmöglich skaten konnte. Sie hielt sich an Kim fest, die schwankend hinter Marie und deren rosafarbenem Fahrrad herzockelte.

»Und? Hast du deinen Text gelernt?«, rief Marie Franzi zu.

Franzi verdrehte die Augen. Sie war – im Gegensatz zu Marie – kein großer Theaterfan und hatte sich von ihren Freundinnen überreden lassen, bei dem Projekt mitzumachen. Sich in ein paar Minuten beim großen Casting auf die Bühne zu stellen, behagte ihr gar nicht!

»Geht so«, murmelte sie. »Ich kann mir den blöden Text einfach nicht merken.«

»Vielleicht solltest du ab und zu mal ein Buch lesen, statt immer nur joggen zu gehen«, sagt Kim grinsend.

Franzi stupste sie an.

Marie warf ihr Haar zurück. »Du weißt aber schon, worum es in Peter Pan geht, Franzi? Kim, Zusammenfassung?«

»Muss das sein?« Kim hatte sowieso schon genug damit zu tun, Franzi über den holprigen Waldboden zu transportieren. Sport am Morgen: Großartig. »Na gut. Peter Pan ist ein Junge, der nicht erwachsen werden will. Also läuft er weg, ins geheimnisvolle Nimmerland, wo es Feen und Piraten und Indianer gibt und er viele spannende Abenteuer erlebt. Eines Tages lernt er Wendy kennen, ein Mädchen aus unserer Welt, und er bringt ihr bei, wie man fliegt.«

»Hey«, rief Marie plötzlich und deutete aufgeregt durch die Bäume nach vorn. »Ich glaube, wir sind da.« Marie trat fester in die Pedale.

Kim hatte Mühe, ihr zu folgen. »Warte! Ich kann nicht so schnell. Mann, bist du schwer, Franzi.«

»Vielleicht solltest du ab und zu mit mir joggen gehen, statt immer nur Bücher zu lesen«, konterte Franzi grinsend Kims Kommentar von vorhin.

Als Kim und Franzi endlich bei Marie ankamen, lehnte diese ihr Fahrrad gerade an einen Baum. »Entschuldigt meine Frisur.« Kim und Franzi sahen sich verwirrt an: Maries Frisur saß wie immer perfekt. »Aber wenn die Bühne nach mir ruft, kann ich nicht widerstehen. Dann muss eine Stunde Badezimmer leider reichen. Okay, wo geht’s rein?« Marie ging mit entschlossen wippendem Pferdeschwanz auf ein efeuumranktes Tor zu.

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»Sollen wir unsere Räder vielleicht noch abschließen?«, rief Kim ihr belustigt nach.

Marie machte sofort auf dem Absatz kehrt und hob einen Zeigefinger, als wollte sie sagen: »Ah! Stimmt ja!« Franzi und Kim grinsten: Marie war immer wahnsinnig aufgeregt, wenn es um Schauspielerei ging. Die Mädchen schlossen ihre Fahrräder aneinander, dann traten sie gemeinsam durch das Tor. Vor ihnen lag ein märchenhafter Park. Tautropfen glitzerten im hohen Gras und ein Kiesweg führte zwischen verwilderten Büschen und Bäumen hindurch auf einen Vorplatz mit einem Springbrunnen, hinter dem sich das alte Theater in seiner ganzen Pracht erhob. In den Fenstern im oberen Stockwerk spiegelte sich der zartblaue Morgenhimmel, und ein Schwarm Krähen stob krächzend darüber hinweg.

»Wow«, flüsterte Marie und sprach damit auch ihren Freundinnen aus der Seele. »Wirkt irgendwie verwunschen, oder?«

Kim schlang die Arme um den Körper. »Keine Geistergeschichten, bitte«, sagte sie tonlos.

Marie versetzte ihr einen Rippenstoß. »Hast du etwa schon wieder Angst?«

»Nein?!«

»Okay, okay!« Marie hob beschwichtigend die Hände. Dann packte sie Kim aufgeregt am Arm. »Da! Habt ihr das gesehen?«

»Marie!« Kim schloss genervt die Augen. »Wenn du mich veräppeln willst, dann …«

»Nee, wirklich! Da oben, am Fenster, da war ein Schatten!«

»Marie Grevenbroich!« Kim wedelte mit der flachen Hand vor Maries Gesicht herum, als wollte sie sie aufwecken. »Ich hab’s kapiert. Ich habe mich gegruselt. Du kannst jetzt aufhören, Witze zu machen.«

Marie breitete die Arme aus: »Aber da war …!«

Marie ließ die Arme sinken und presste die Lippen zusammen. Es hatte keinen Sinn. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah nachdenklich zum Dachfenster hinauf. Auch wenn Kim es für einen ihrer Witze hielt: Sie war sich dennoch sicher, einen Schatten gesehen zu haben. Irgendetwas war da oben. Vielleicht, wenn sie die Augen nur fest genug zusammenkniff …?

»Marie!«

»Komme schon, komme schon!« Marie riss sich aus ihrer Starre, holte auf und hängte sich zwischen ihre beiden Freundinnen, je einen Arm umklammernd. »Was meint ihr, hab’ ich eine Chance auf die Rolle der Fee Tinkerbell?«

Plötzlich hielt Marie so abrupt inne, dass sie Franzi und Kim mit sich zurückriss.

»Aua! Was ist denn? Hast du schon wieder einen Geist gesehen?«, fragte Kim.

Marie schüttelte nur langsam den Kopf. »Schlimmer«, sagte sie düster. »Viel schlimmer!«

Franzi und Kim folgten ihrem Blick. Auf der Treppe, die zum Portal des Theaters hinaufführte, saß keine Geringere als: »Verena?«, stöhnte Franzi und ließ ihren Kopf in den Nacken kippen. »Oh nein! Was macht die Schreckschraube denn hier?«

Tatsächlich: Auf der obersten Treppenstufe thronte, wie eine Königin mit ihrem Gefolge, Verena zwischen ihren beiden Freundinnen. Oder besser gesagt: ihren Sklavinnen. Die drei !!! waren Verena bei ihren Fällen bereits mehrfach begegnet und hatten ihr sogar schon aus der Patsche geholfen. Nicht, dass Verena sich daran erinnerte. Mit einem herablassenden Blick warf sie ihr langes, blondes Haar über die Schulter und verzog den Mund, als hätte sie auf etwas Saures gebissen.

»Sie hat schon wieder schlechte Laune«, wisperte Kim in Maries Ohr.

»Nee«, gab Marie spöttisch zurück. »Das ist einfach ihr Gesicht.«

Die drei !!! kicherten leise, was Verena gar nicht passte.

»Die drei Leerzeichen!«, trompetete sie von der Treppe zu ihnen hinunter und ließ sich zeitgleich von ihrer Freundin Luise einen Taschenspiegel in die Hand drücken. »War ja klar.«

»Wir freuen uns auch, dich zu sehen, Verena«, gab Marie ironisch zurück. »Und du dich selbst, wie es aussieht.«

Tatsächlich war Verena nun vollkommen in ihren eigenen Anblick im Taschenspiegel versunken. Sie runzelte die Stirn, streckte wieder die Hand aus und winkte mit den Fingern. Jasmin, ihre andere Freundin, beeilte sich, ihr ein Döschen mit pinkfarbenem Lipgloss zu reichen. Verena betupfte sich die Lippen. »Wenn du auf die Rolle der Fee aus bist, Marie«, nuschelte sie ein wenig undeutlich durch ihre gespitzten Lippen, »dann gib es lieber gleich auf. Du hast keine Chance. Du singst wie ’ne Kreissäge.«

»Bitte? Ich verstehe kein Wort«, sagte Marie zuckersüß.

Luise räusperte sich und hob einen Finger: »Na ja, ich glaube schon, dass Marie ganz gute Chancen hat …«

»Ah, ah, ah«, machte Verena und schnipste vor Luises Gesicht, die sofort verstummte und den Kopf senkte. Es gehörte sich wohl nicht, ihrer »Königin« in den Rücken zu fallen. Kim betrachtete sie beinahe mitleidig: Verena, Luise und Jasmin hatten wirklich eine seltsame Vorstellung von Freundschaft.

»Es ist ein Ensemblestück, Verena. Es gibt viele gute Rollen«, sagte sie deshalb knapp und schritt entschlossen die Treppe hinauf.

Franzi nickte: »Außerdem sind wir hier, um Spaß zu haben.«

Verena lachte schrill und presste wie eine Operndiva ihre Hand aufs Herz. »Spaß?!«, hauchte sie dramatisch. »Franzi: Zur Premiere kommt die ganze Stadt. Die suchen Schauspieler mit Charisma …«

»… und Charakter«, unterbrach Marie sie kühl. »Da hast du ja schon mal verloren.«

Verena zog wütend die Augenbrauen zusammen und setzte gerade zu einer Antwort an, als eine wohlbekannte Stimme an Kims Ohr drang: »Nicht streiten, Ladys, nicht streiten! Robin ist für euch alle da.«

Kim fuhr herum. Robin, sein Haar so schleimig wie sein Grinsen, kam auf die Mädchen zu. Er ging auf Kims Schule und war seit Urzeiten in sie verknallt. Leider!

»Uiii, toll«, sagte Franzi sarkastisch, während Kim genervt aufstöhnte: »Oh nein! Schleimi-Robin!«

»Kim Jülich!« Robin warf Kim eine Kusshand zu. »Du hier? Das muss Schicksal sein!«

»Schicksal! Klar!«, schnaubte Kim. »Ich glaube eher, dass du meinen Namen auf dem Anmeldeformular im Jugendzentrum gesehen hast.«

Robin wankte, presste seine Hand aufs Herz und tat, als sei er ob Kims Scharfsinnigkeit einer Ohnmacht nahe. »Wow! Und eine großartige Detektivin ist sie auch noch.« Robin schenkte Kim sein süßestes Lächeln. »Miss Marple? Es ist mir eine große Ehre, mit Ihnen an diesem Projekt teilnehmen zu dürfen.« Robin machte einen tiefen Diener. So tief, dass seine Nase beinahe den Boden berührte.

Kim wandte sich ruckartig ab und verbarg stöhnend das Gesicht in den Händen. »Haben sich hier eigentlich auch normale Leute angemeldet?«, fragte sie dumpf.

Franzi ließ ihren Blick durch den Park schweifen. Inzwischen waren auch noch andere Jugendliche angekommen, darunter die schüchterne Paula, mit der sie Spenden gesammelt hatten, und …

»Kim. Schau mal!« Franzi zupfte Kim grinsend am Ärmel. Kim linste durch ihre Finger und ließ dann überrascht die Hände sinken.

»Oh nein«, sagte sie dumpf.

»Sieht aus wie eine Tüte Pommes«, stellte Marie fest. Sie hatte recht: Eine große Tüte Pommes auf zwei Turnschuhen taumelte durch den Park.

Verena zog verächtlich eine Augenbraue hoch: »Was ist das denn für ein Idiot?«

Kim lief hastig die Treppe hinunter. Sie hatte längst erkannt, wer sich unter dem sperrigen Kostüm verbarg. »Michi?!«

»Kim?« Die Pommestüte drehte sich tastend nach allen Richtungen. »Kim? Wo bist du?«

»Hier drüben!« Kim griff nach Michis Händen, die wie Tentakel aus der Pommestüte herausfuchtelten. Er sah aus wie ein verwirrter Oktopus. Kim sah Michi mit leiser Verzweiflung an. »Warum hast du denn dein Pommeskostüm noch an?«

Michi äugte durch einen Schlitz im Kostüm zu Kim hinaus. »Ich komm’ direkt von der Arbeit in der Hafenkneipe und konnte mich nicht mehr umziehen. Ich wäre sonst zu spät gekommen.«

»Kannst du die Tüte wenigstens jetzt ausziehen?«

Michi starrte Kim einen Moment lang an. Dann hauchte er: »Ich hab’ nix drunter.«

In diesem Moment fegte ein heftiger Windstoß durch die Bäume. Er wirbelte die Blätter auf, fuhr Marie durch das Haar und mit einem Knarren sprang das große Portal hinter ihnen auf. Verena entfuhr ein leiser Schrei. Erst jetzt bemerkte Kim das Schild, das am goldenen Türknauf baumelte und im Wind klapperte: »Tretet ein!« Sie wechselte einen Blick mit Marie. »Dann machen wir das mal«, sagte Marie zögernd.

Im matten Licht, das durch das Glasdach fiel, tanzte der Staub. Zerschlissene Vorhänge und Kronleuchter deuteten darauf hin, dass dies einmal ein prunkvoller Ort gewesen war. Beinahe meinte Marie, das Stimmengewirr von damals zwischen den Wänden hallen zu hören. Sie stellte sich vor, wie sich Damen in Abendkleidern und Herren in Anzügen unter dem Glasdach über die Aufführung unterhielten und miteinander lachten. Sie schloss die Augen und sog die Theaterluft tief ein. Sie konnte es kaum erwarten, hier auf der Bühne zu stehen.

»Schaut mal«, sagte Kim in diesem Moment. Marie öffnete die Augen und folgte ihrem Blick. Durch die Tür zum Zuschauersaal fiel ein Streifen Licht ins Foyer.

»Da ist wer«, wisperte Verena und umklammerte Maries Arm.

»Verena?«, sagte Marie vielsagend.

»Was?«

»Mein Arm. Würdest du ihn bitte loslassen?«

»Ich … oh.« Verena ließ Maries Arm los und reckte die Nase hoch. »Das war ein Versehen. Nur zu deiner Information«, sagte sie.

Hintereinander betraten sie den Zuschauersaal. Hier waren ganz deutlich die Spuren des Feuers zu sehen, das vor 15 Jahren im Theater gewütet hatte: Ein Haufen zerbrochener Stühle türmte sich in einer Ecke, ein Kronleuchter war zu Boden gegangen und lag im Staub vor einer schwarz verkohlten Wand. Trotzdem war der Zuschauersaal in seiner Größe beeindruckend. Hinter zahlreichen Reihen roter Samtsessel lag die Bühne. Der rote Vorhang war vorgezogen. Es war unheimlich still. Fast ein bisschen …

»Gruselig!«, wisperte Verenas Freundin Jasmin beklommen.

Robin schnaubte. »Gruselig? Ach was!« Er trat mit einer großartigen Geste vor und drehte sich im Kreis. »Hallo-ho? Ist hier jemand? Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!«

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In diesem Moment schepperte etwas hinter der Bühne. Robin fuhr mit einem leisen Schrei zusammen. Dann strich er sich verlegen lachend durch seine Haartolle: »War nur gespielt. ’ne kleine Kostprobe meiner Schauspielkunst. So sieht es aus, wenn ich mich erschrecke … wah!« Wieder fuhr Robin erschrocken zusammen und mit ihm alle anderen. Hinter dem Vorhang hatte sich etwas bewegt.

»Was war das denn?« Verena starrte Marie mit großen Augen an.

Wenn sie Angst hatte, vergaß sie meistens, dass sie die drei !!! nicht leiden konnte. Auch die schüchterne Paula schien sich alles andere als wohl in ihrer Haut zu fühlen und nestelte nervös an ihrer Brille herum. Plötzlich öffnete sich der Theatervorhang, glitt nach beiden Seiten auf und gab den Blick auf einen Mann in Frack und Zylinder frei. Musik setzte ein und der Mann legte einen flotten Stepptanz aufs Parkett. Überrascht sahen die Jugendlichen zu, wie er zum Rand der Bühne steppte, wo er seinen Zylinder zu Boden warf. Langsam schritt er auf und ab und zitierte dabei, wie Kim sofort erkannte, aus Peter Pan.

»Am Tag meiner Geburt lief ich von zu Hause fort. Ich hatte meine Eltern flüstern gehört: Was sollte ich einmal werden, wenn ich groß bin? Ich wollte aber immer ein kleiner Junge bleiben und meinen Spaß haben. Deshalb lief ich davon und lebte fortan bei den Elfen und Feen.« Der Mann hob seine Arme – und verstummte.

Sein Publikum starrte ihn abwartend an. So lange, bis der Mann aus dem Mundwinkel wisperte: »Ihr dürft jetzt klatschen.«

Kim, Franzi und Marie wechselten verdutzte Blicke.

Marie war die Erste, die zu klatschen anfing, die anderen stimmten zögernd mit ein. Der Fremde verbeugte sich tief nach allen Seiten. »Danke! Mein Name ist: Robert Geronimo Wilhelms. Regisseur, Theaterpädagoge und Genie. Letzteres bleibt natürlich unter uns.« Robert Wilhelms lachte laut auf und warf sein Haar zurück. Mit ausgebreiteten Armen schritt er über die Bühne. »Willkommen, willkommen! Sommerferien! Sechs Wochen keine Schule, keine Hausaufgaben. Dafür: Theater pur.« Er drehte sich lächelnd zu den Jugendlichen um. »Das Stück Peter Pan ist nicht nur ein Klassiker, für den dieses Haus hier einst berühmt war. Es ist auch ein Feuerwerk der Emotionen. Voller Liebe, Leidenschaft …«