Über das Buch

»Ich langweilte mich mit meinem Mann, aber Sie wissen ja, Langeweile gehört zur Liebe dazu.« Yasmina Reza, die Autorin von »Gott des Gemetzels«, über die unsichtbaren Abgründe des Lebens

»Auf der Bühne war ich manchmal Anne-Marie die Schönheit« — im wirklichen Leben aber ist Anne-Marie nicht nur in Sachen Aussehen zu kurz gekommen. Aus der tristen Provinz hat sie es gerade mal bis in ein Pariser Vorstadttheater geschafft. Und während ihre Kollegin Gigi die großen Rollen bekam und prominente Liebhaber empfing, verkehrte Anne-Marie mit einem Vertreter von Lederwaren und ihrem tumben Mann. Was bleibt am Ende für Anne-Marie? Das Alter, diese »Kaskade des Chaos«, der Sohn, »ein Mistfink« und die getrüffelten Cashew-Nüsse. Aber: »Es heißt, die glücklichsten Leben sind diejenigen, in denen nicht viel passiert …« Yasmina Reza in Reinform: Bitter und komisch, zärtlich und unsentimental.

Yasmina Reza

Anne-Marie die Schönheit

Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel

Carl Hanser Verlag

Für André Marcon

Also ich komme aus Saint-Sourd-en-Ger, Madame, bei uns in der Gegend sind alle Frühaufsteher

In meiner Kindheit, da gab es in Saint-Sourd Kohleminen und die Theatertruppe von Prosper Ginot

Man sah sie immer durch die Stadt flanieren, die Schauspieler der Comédie de Saint-Sourd. Allein oder zu zweit spazierten sie über den Platz

Vor allem sonntags, wegen dem Markt

Ich wusste alle ihre Namen auswendig

Ich murmelte sie vor mich hin

Armand Cheval, Prosper Ginot, Madeleine Puglierin, Desiré Guelde, Georgia Glazer, Odette Ordonneau

Ich erkannte sie alle …

Ich kann wieder herumspringen. So gut wie

Wirklich …

Ob sie mir nach der Kremierung die Titanprothese in die Urne legen? Das habe ich mich gefragt

Wer Bescheid weiß, Madame, der sagt, dass die Seele sofort den Körper verlässt und du dich sehen kannst

Du siehst, wie du unter die Erde kommst, wo du weggeschlossen wirst

Darum sage ich, Einäscherung

Ich hatte ein glückliches Leben, wissen Sie

Mein ganzes Knie ist aus Titan, sie haben mir nur die Kniescheibe gelassen

Der Arzt hat gesagt, Sie sind so gut wie neu, den Stock können Sie jetzt stehen lassen

Schnell weg mit dem Ding!

Der Krückstock, das ist für mich Kinderlähmung

Verkrüppelte Kinder mit Hinkebein, die sich in Saint-Sourd an den Wänden entlangdrücken. Meine ganze Kindheit über hatte ich panische Angst vor Kinderlähmung

Beim kleinsten Schmerz dachte ich, jetzt hab ich sie. Genauso Krebs oder Hirnhautentzündung. Aber vor allem Kinderlähmung

Ich hätte mich Ihnen niemals mit Krückstock gezeigt. Sie sind mir doch nicht böse, dass ich Sie in Hausschuhen empfange?

Furlanas sind das

Venezianische Furlanas, ich habe auch ein paar gelbe

Solange mein Mann lebte, verschrumpelten sie im Schrank

Er sagte, ich würde aussehen wie ein Würfel

Mit dem Stock hatte ich mir einen klugen kleinen Rundweg zurechtgelegt, mit Stellen, wo ich mich hinsetzen konnte, bei Picard und Monoprix

Und zum Friseur zum Färben

Ich habe mich immer beim Bäcker reingesetzt, der auch auf Café macht. Ich habe mich immer in der Apotheke hingesetzt, da können sie mich gut leiden. Bei Picard, da vergöttern sie mich. Ich hatte die Haltestelle vom 84er. Und den freien Stuhl an einer Kasse im Monoprix

Die sind da zu dritt für fünf Kassen. Man kennt mich

Im Monoprix hab ich auch einen kleinen Evangelisten aus Madagaskar, der mich mag. Er heißt Victor. Er räumt Konservendosen ein. Immer wenn ich etwas suche, findet er es für mich

Auch der Wachmann, der ist blöd, aber freundlich. Er holt mir Sachen aus dem Regal, an die ich nicht rankomme. Das Knie beugen klappt noch nicht so gut. Das Kupferputzmittel tun sie nach ganz unten, weil sonst kein Platz ist

Dieser Monoprix ist nicht groß genug

Ich bin dort gut bekannt

Der neue Arzt hat gesagt, Sie sind so gut wie fabrikneu, Sie können den Krückstock stehen lassen

Schon weggeräumt, mein Bester

Er findet meinen Blutdruck ein bisschen hoch

Ich sage, Herr Doktor, woher soll ich auf einmal Bluthochdruck haben, mit dem Blutdruck hatte ich doch nie Probleme? Er sagt, ist nun mal so. Man hat etwas nicht, und eines Tages hat man es eben

Und ich darauf, ah nein, diese Denkweise ist gar nicht meins! Mit Docteur Olbrecht hat es so eine Denkweise nie gegeben. Docteur Olbrecht fehlt mir. Wir haben uns dreißig Jahre lang gekannt

Er kam immer, um mir zu applaudieren

Meinen Mann und meinen Sohn hat er auch behandelt.

Ab einem gewissen Alter geben die Leute einander das Stichwort, um sich aus dem Staub zu machen. Leute, die einem eigentlich bis zum Schluss zur Seite stehen sollten. Der Arzt, der Künstleragent, der Ehemann, die Storms, meine Nachbarn.

Zum ersten Mal habe ich sie durch einen Türspalt gesehen, sie lag ausgestreckt auf einem Sofa mit ihren Haaren

Ich kam aus dem Norden in die Hauptstadt, zum Vorsprechen im Théâtre de Clichy

Ganz hinten im Raum sah ich diese Haare, sie wallten von ihrem vorgebeugten Kopf herab. Sie rauchte

Jemand sagte, das ist Giselle Fayolle

Ich dachte, sie wäre wichtig, dabei war sie damals ein Niemand. Ein absoluter Niemand

Egal, in meinen Augen war eine junge Frau, die in Paris eine eigene Garderobe hatte, auf jeden Fall wichtig

Kennen gelernt haben wir uns in Bérénice

Ich war ihre Vertraute

Auch im wirklichen Leben taten mir ihre Liebhaber leid

Sie wohnte in der Rue Emile Augier, ich hatte ein Zimmer in der Rue des Rondeaux, wo sie sich niemals blicken ließ

Auch als wir uns wiedersahen, vierzig Jahre später, musste ich zu ihr kommen

Gegen Ende hatte Giselle Verdauungsprobleme, ich ein kaputtes Knie

Manchmal gingen wir ins Restaurant. Oder ich besuchte sie in der Rue de Courcelles

Ich habe dort sogar mal eine Nacht geschlafen, weil sie sich einsam fühlte

Immer musste ich zu ihr kommen

Nach meiner Operation haben wir uns nicht mehr getroffen. Keine Ausflüge mehr

Natürlich hat es mich schockiert, Madame, als sie auf einmal in Schwarz-Weiß auftauchte

Schwarz-Weiß, das bedeutet in den Zeitschriften das Grab

In Farbe kannte man das Foto schon

Blaue Pailletten bis an die Schläfen

Seinerzeit gab es Gerüchte, sie wäre die Geliebte von Alain Delon

Und vielleicht von Ingmar Bergman

Na ja, Gerüchte halt

Sie sitzen bei der Pediküre, Sie blättern in einer Zeitschrift und wollen sich bloß ablenken, und auf einmal stoßen Sie auf Gigi Fayolle in Schwarz-Weiß

Die anderen Verstorbenen weiter unten auf der Seite haben kein Foto

Ich kam aus Saint-Sourd, ich war zum Vorsprechen nach Paris runtergefahren

Die Vertrauten in der Tragödie wollte niemand spielen.

Ich hatte eine Empfehlung dabei

Als mir Phénice anvertraut wurde, Mademoiselle, war ich so glücklich, nicht zu fassen, ein sagenhaftes Glück, weil ich spürte, das war die Chance

Giselle lag ausgestreckt auf einem geblümten Sofa mit ihren Haaren

Ihre Haare hypnotisierten mich