Über das Buch

Wenn dein Kindermädchen nachts durch das Haus schleicht — die Geschichte einer obsessiven Liebe

Ella hat das große Los gezogen. Die mittellose junge Frau wird Kindermädchen bei Lonnie und James — und taucht ein in die Welt der Reichen und Schönen. Doch während Lonnie in dem zuverlässigen, liebevollen Babysitter eine Freundin sieht, beginnt Ella, ihr hinterherzuspionieren. Nachts erforscht sie jeden Winkel des Hauses und spürt Lonnies Geheimnisse auf: die außerehelichen Abenteuer, ihr Tagebuch, das Kästchen mit ihren Milchzähnen. Immer tiefer geraten die beiden in einen fatalen Sog aus Besessenheit, Neid und Leidenschaft.

Madeline Stevens

Morgen früh,wenn sie will

Roman

Aus dem Englischen von Cornelia Röser

hanserblau

Prolog

Die Schritte vor meiner Wohnungstür waren nicht das übliche Klackern von Absätzen, sondern eher ein Huschen wie von einem Nagetier. Leise, von der Ferse zu den Zehen abrollend und nur mit einem dünnen T-Shirt und schäbiger Unterwäsche bekleidet, trat ich aus dem Badezimmer in den Flur. Der Türspion war ein altes Modell: Man musste eine Metallscheibe von der Größe eines Silberdollars zur Seite schieben, um durch eine kleine, halbtransparente Glasscheibe spähen zu können. Die Lichtveränderung hinter der Linse war von außen zu sehen, weshalb ich den Spion nie benutzte. Stattdessen legte ich das Ohr an die Tür.

Die dünne Stimme meiner Mitbewohnerin drang aus ihrem Zimmer: »Was ist los?« Doch ich antwortete nicht. Es war kurz nach Mitternacht, und jemand lief vor unserer Wohnungstür hin und her. Die Tür bewegte sich leicht an meinem Gesicht: Jemand lehnte sich dagegen.

Das Klopfen ließ mich zusammenzucken. Sams kleines, rosiges Gesicht guckte aus ihrem Zimmer am Ende des Flurs. Das Klopfen wurde schneller.

Ich öffnete die Tür und sah James’ blutunterlaufene Augen. Seine Wangen waren eingefallen, der Haarschnitt am Hinterkopf ungleichmäßig herausgewachsen. Ich stand in meiner Unterwäsche da, hielt den Türknauf aus Messing umklammert und drehte ihn in der Hand. »Was machst du hier?«, fragte ich. Erst verstand ich nicht, wie er mich überhaupt hatte finden können, doch dann fiel mir ein, wie oft ich ihm meine Adresse genannt hatte, damit er mir abends für den Heimweg ein Taxi bestellen konnte.

»Kann ich reinkommen?«, fragte er. Er roch nach Alkohol.

Ich sah mich nach Sam um, die sich in ihr Zimmer zurückzog. In unserem Apartment gab es keinen Gemeinschaftsraum, nur eine schmale Küche, ein kleines Bad und den Flur. Ich war unschlüssig, noch gab ich den Weg nicht frei.

Er öffnete seine Brieftasche. »Wir schulden dir noch Geld«, sagte er. »Die letzte Woche haben wir dir nicht bezahlt. Ich hab doch gesagt, du sollst uns das nicht durchgehen lassen.«

Ich sagte nichts, machte aber Platz, damit er eintreten konnte.

Sein Blick fiel in mein Schlafzimmer, mein erstes unmöbliertes Zimmer seit meinem Umzug nach New York: die Futonmatratze in einer Ecke auf dem Boden, der verdreckte Ventilator, der vom Fenster her die heiße Luft verwirbelte, die zerrissenen Laken, die Bücherstapel an der Wand. Ich fragte mich, ob er merkte, wie viele davon aus seinem Haus stammten, wie viele ich aus den Bücherschränken im Arbeitszimmer seiner Frau mitgenommen hatte. Er wischte sich den Schweiß vom Kinn. Platz, um sich hinzusetzen, gab es hier nicht.

»Könnte ich vielleicht ein Glas Wasser bekommen?«, fragte er. Die Höflichkeit dieser Frage beunruhigte mich.

Ich ging in die Küche, und er lief an mir vorbei und betrat, ohne zu fragen, Sams Zimmer. »Oh«, hörte ich ihn murmeln. »Entschuldigung.«

»Meine Mitbewohnerin«, sagte ich, als ich ihm das Wasser gab.

Er trank einen kleinen Schluck und stellte das Glas auf die Küchenarbeitsplatte. »Nur ihr beide?« Er sah sich um. »Sind beides Schlafzimmer? Oder gibt es ein Wohnzimmer?«

Ich sah ihn im harten Licht der Küchenlampe an und schwieg.

»Du weißt nicht, was passiert ist?«, fragte er.

»Ich weiß überhaupt nichts.«

»Lonnie ist weg. Verschwunden.« Er trat einen Schritt auf mich zu. »Den Geldhahn hat sie mir nicht zugedreht, aber sie hat mich und William verlassen.«

Unter Schweiß und Alkohol roch ich den Zedernduft seines Aftershaves. Ich musste daran denken, dass ich mir seit Tagen nicht mehr die Beine rasiert hatte. »Dir geht’s doch gut, oder?«, fragte er.

Ich antwortete nicht. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, warum sie ihn verlassen haben könnte. Ich versuchte mich zu erinnern, wie lange genau unsere letzte Begegnung zurücklag — wie lange es her war, dass in den Hamptons alles so gründlich schiefgelaufen war. Sechs Monate. Vielleicht hatte sie so lange gebraucht, um den Mut aufzubringen.

»Was meinst du mit verschwunden?«

Er antwortete nicht darauf. »Du hast bestimmt eine neue Stelle gefunden?«, fragte er stattdessen. Er sprach schleppend und starrte dabei auf meine Lippen. »Muss leicht für dich sein, etwas Neues zu finden.«

Ich wusste nicht, ob es an der Nachricht über Lonnie oder an seiner ungeschickten Anmache lag, aber in diesem Augenblick veränderte sich etwas. Ich wollte, dass er ging.

»Du bist betrunken«, sagte ich. »Es ist spät. Du gehst jetzt besser.«

Er sah sich noch einmal mit großen, glasigen Augen um wie ein beleidigtes Kind — überrascht über die Kränkung. Ich ging zur Tür, öffnete sie und wartete darauf, dass er mir folgen würde. Auf der Schwelle drückte er mir ein Bündel Scheine in die Hand. »Ich wollte nicht, dass du uns verklagst«, sagte er. »Weil du dein letztes Gehalt nicht bekommen hast.«

Ich nahm das Geld, ohne etwas zu sagen, obwohl wir beide wussten, dass ich ihn niemals würde belangen können. Es gab keine Unterlagen über mich. Offiziell hatte ich nie etwas mit seiner Familie zu tun gehabt. Ich nahm es an, weil ich gewohnt war, es zu brauchen, vielleicht auch, weil ich glaubte, es wäre ihm wichtig, es mir zu geben. Sobald er draußen war, schloss ich die Tür ab, dann sah ich auf das Bündel in meiner Hand, das nur aus ein paar zerknitterten Ein-Dollar-Noten, zwei Fünfern und ein paar Kassenzetteln bestand.

1

Ich habe keinen Vertrag unterschrieben. Die Ehefrau übergab mir die Hausschlüssel mit einer Achtlosigkeit, die mich trotz meiner Verzweiflung ärgerte. Auf dem Rückweg nach Brooklyn behielt ich sie in der Hand, um mich zu versichern, dass ich die Stelle wirklich bekommen hatte, dass wir eine Vereinbarung hatten. Ich betastete die Rillen der Schlüssel so lange, bis meine schweißfeuchte Handfläche nach Metall roch. Am Bund hing ein Lederband mit dem Monogramm L, und ich fragte mich, ob sie mir versehentlich ihren eigenen Schlüsselsatz gegeben hatte.

Als ich mich an jenem Abend in eine Bar setzte und etwas zu trinken bestellte, hielt ich den Schlüsselbund immer noch in der Hand, das Lederband um den Zeigefinger gewickelt. Ich gab dem Barkeeper meine Kreditkarte, sagte: »Lassen Sie die Rechnung offen«, und dachte mir, ich würde einfach gehen, wenn ich ausgetrunken hätte. Die Karte war ausgereizt. Er konnte sie behalten.

Ich hatte schon eine ellenlange Liste von Jobs hinter mir, derselbe Weg, auf dem alle Mädchen aus meinem Bekanntenkreis ins Leben starteten. Wir nahmen Teilzeitjobs als Hostessen oder Verkäuferinnen an. Im Grunde war es immer dieselbe Arbeit: Wir standen herum, lächelten, sahen hübsch aus, sahen dünn aus, sahen stylish aus. Man sagte mir: »Sie Sind das Gesicht dieses Geschäfts«, weil ich das Erste war, was die Kunden sahen, in Wirklichkeit aber hieß es, dass ich nur ein Gesicht war und mehr nicht.

Diese Art Arbeit ließ einem das Hirn verschrumpeln. Lesen war selbst an den ruhigsten Tagen verboten. Sitzen war nicht erlaubt. Ich beneidete Kellnerinnen, die wenigstens herumlaufen konnten. Beim Stillstehen spürte man die schmerzenden Füße. Die Uhr tickte. Immer wieder liefen dieselben Songs. Menschen kamen, beschwerten sich oder auch nicht und gingen wieder. Und als ich schließlich kündigte, stand ich mit leeren Händen da — ohne Ersparnisse, ohne Arbeitslosengeld, ohne Abfindung.

Mein Bild im Spiegel hinter dem Spirituosenregal war hohlwangig mit dunklen Schatten unter den Augen. Auf meinen Wegen durch Crown Heights hatte ich ein beängstigendes Bewusstsein für meinen Körper entwickelt: Er war gebrechlich, milchig und schwach. Ich konnte spüren, wie sich meine Hüftknochen unter der Haut abzeichneten. Es war nicht so, dass ich mich wie ein Kind gefühlt hätte, nein, schlimmer: Ich fühlte mich wie eine Patientin. Meine Sommerkleider wurden zu Krankenhaushemden. Im Vergleich zu mir wirkte jeder in meiner Nähe stark.

Seit Wochen hatte ich mich nur von Bodega-Kaffee und abgepacktem Fertigkuchen ernährt — diese kleinen Dinger mit Zuckerguss, mehr Chemie als Nahrungsmittel, mehr Luft als Teig. Am Nachmittag vor dem Vorstellungsgespräch schnitt ich mir mit meinem Taschenmesser eine reife Avocado auf, irgendwo hatte ich gelesen, dass man sich ausschließlich von Avocados ernähren kann, wenn auch nicht ausgewogen. Das Messer hatte ich von meinem Vater zum zwölften Geburtstag bekommen, und es war in den Wäldern um unser Haus an Zweigen stumpfgewetzt und wieder und wieder neu geschärft worden. Eines Sommerabends baute ich aus Ästen und Schnur eine kleine Falle und legte vorsichtig etwas zu fressen hinein. Nach dem Abendessen hockte ein Kaninchen darin und blinzelte mich mit glänzenden Augen an. Ich packte das Tier im Nacken, brach ihm das Genick und schnitt ihm anschließend die Kehle durch.

Es war ein Test für mich. Meine Mutter hatte beschlossen, Vegetarierin zu werden, und es mir folgendermaßen erklärt: »Ich könnte niemals ein Tier töten, warum sollte es dann okay sein, jemanden dafür zu bezahlen, dass er das an meiner Stelle tut?«

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass das Blut so spritzen würde. Völlig verschmiert kam ich nach Hause und musste meinem Vater erklären, was ich getan hatte. Als ich dem winzigen Kaninchengrab den Rücken gekehrt hatte, war noch alles in Ordnung gewesen, doch als ich mein Handeln rechtfertigen musste, hatte ich plötzlich einen Kloß im Hals. Ich wischte mir die Tränen ab, ohne recht zu wissen, ob ich mich für mein Tun schämte oder für meine Gefühle. Dad lachte mich aus und warf mir ein Küchenhandtuch zu.

Als ich jetzt an dieses Kaninchen dachte, überkam mich die sinnlose Reue, das Muskelfleisch nicht abgeschnitten und gegessen zu haben. Aber Bier auf leeren Magen hatte eine wunderbare Wirkung — die Kombination aus dringend benötigten Kalorien und Alkohol betäubte einfach alles. Ich bemühte mich, es nicht hinunterzukippen.

Die Bar war neu. Über den hohen Rückenlehnen der schwarz gepolsterten Sitzbänke schwangen sich schmale Holzpaneele bis an die Decke, wie im Inneren eines Segelschiffs. Der Mann neben mir war Polizist, die dunkelblaue Uniform spannte sich um seinen kräftigen Körper.

»Was für ein Laden.« Er machte eine umfassende Geste in den Raum.

»Ja, nicht?«, sagte ich, froh, dass jemand mit mir sprach. Es war lange her, dass ich mit jemandem ausgegangen war. Es war lange her, dass ich überhaupt ausgegangen war.

»Wohnen Sie hier in der Gegend?«

»Ja, ganz in der Nähe.«

Er nickte und fuhr sich mit der Hand über den rasierten Schädel. »Ich war in den Neunzigern hier auf Streife«, sagte er. »Hier schicken sie die neuen Cops hin. In meiner ersten Woche waren wir auf der Franklin. An der Kreuzung Franklin, St. Marks. Wir bogen um die Ecke, und da hatten ein paar Typen diese Mädchen an einen Laternenpfahl gebunden und warfen Bowlingkugeln nach ihnen. Verdammtes Crack. Die haben auf einen Haufen kreischender Mädchen gekegelt. Auf der Straße ging nichts mehr, aber niemand hat uns gerufen. Wir sind rein zufällig darauf gestoßen.«

»Das ist noch gar nicht lange her«, sagte ich.

»Und jetzt wohnen Sie hier«, erwiderte er. Ich hatte das Gefühl, er hätte beinahe noch »kleines weißes Mädchen« gesagt. So hatte mich an diesem Morgen ein Mann in meiner Straße genannt und dabei feucht mit der Zunge geschnalzt. Ich fühlte mich über eine solche Behandlung erhaben — ich war arm, was wusste er schon? —, aber ich gab mir Mühe, zu verstehen, dass allein mein Gesicht ein bedrohlicher Vorbote für steigende Mieten war. Er wollte mich hier nicht haben, aber ich konnte es mir nicht leisten, irgendwo anders zu wohnen.

Über die Geschichte mit den gefesselten Mädchen auf der Franklin Avenue dachte ich nicht weiter nach. Worüber ich nachdachte, war, wie ich diesen Mann dazu bringen würde, mich zum Essen einzuladen. Ich begutachtete seine Figur — die muskulösen Schultern unter dem Uniformhemd, das scharf geschnittene, glattrasierte Kinn. Ich schätzte ihn auf etwas über vierzig, aber das war schwer zu sagen. Seine dunkle Haut war faltenlos. Ich landete nicht oft bei Männern wie ihm. Meistens ging ich mit mageren weißen Jungs nach Hause, die kaum älter waren als ich und oft genug keine Ahnung hatten, was sie taten.

»Ich heiße Ella«, sagte ich. »Erzählen Sie mir mehr über Crown Heights.« Ich stützte das Kinn in die Hand und sah ihn sehnsüchtig an. »Ich komme von sehr weit her.«

Er bedachte mich mit einem Seitenblick, dem anzumerken war, dass er ebenfalls meinen Körper vermaß. Nach einem Schluck Bier sagte er: »Über die Unruhen wissen Sie bestimmt Bescheid. Jeder weiß das.«

Ich wusste nicht, wovon er sprach, nickte aber.

»Also, dann erzähle ich Ihnen etwas anderes.« Er sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Haben Sie von der Sache mit den LeRois gehört?«

Ein Tropfen Kondenswasser fiel von meinem Glas auf mein Bein und rann bis zu meinem Knöchel hinunter. Ich schüttelte den Kopf.

»Sie haben in einem der Backsteinhäuser hier in der Nähe eine Kirche betrieben, aber es war keine richtige Kirche, eher ein Harem. Der Pastor war dieser Typ, Reverend LeRoi. Er hatte sie gern jung. Die Mädchen zogen sich wie Nonnen an und bettelten in der U-Bahn um Geld. Sie hatten unzählige Kinder von ihm. Keiner konnte begreifen, wie so viele Kinder in das Haus gepasst haben. Es gab Gerüchte, die Frauen müssten sie in den oberen Etagen in Käfigen halten. Wenn eines der Mädchen aussteigen wollte, verschwand es. Jahrelang ging das so. Irgendwann haben sie ihn drangekriegt, und es kam raus, wo er die Leichen entsorgt hatte.«

»Wo?«

»In einem See auf einem Grundstück, das er oben im Norden besaß. Er hat mindestens neunzehn Mädchen umgebracht. Und das Ding ist: Sein Sohn betreibt diese Kirche heute noch. Wahrscheinlich ist da jetzt alles blitzsauber, aber ich würde mich sehr dringend davon fernhalten.«

Ich sah an mir herunter und stellte fest, dass mein Barhocker von einer Seite zur anderen schwankte und mein Bierglas leer war, dabei schien gar nicht genug Zeit vergangen zu sein, als dass ich es hätte austrinken können. Es war eine verrückte Geschichte für ein Kennenlernen, aber das war mir egal. Ich wollte immer noch mit ihm essen. Der Cop wandte sich an den Barkeeper. »Noch eine Runde?«, fragte er. Beim Gedanken an ein weiteres Bier wurde mir ganz anders. Ich bestellte einen Gin Tonic — Tonic sollte doch gut gegen Übelkeit sein, oder nicht? Lachend wiederholte ich das Wort »Tonic«. Tonikum. Das würde mich wieder auf die Beine bringen.

Wieder musterte mich der Cop aus den Augenwinkeln. Ich legte die Hände mit gespreizten Fingern auf den Tresen, unter meiner Handfläche spürte ich hart und scharfkantig den neuen Schlüsselbund.

»Wohnen Sie hier in der Gegend?«, fragte ich.

»Nee. Brooklyn Heights.«

Ich hatte Mühe, meinen Strohhalm zu finden. »Arbeiten Sie noch hier?«

»Manhattan.«

»Was machen Sie dann hier draußen?«

Wir spielten Zwanzig Fragen. Allmählich verlor er das Interesse.

»Nostalgie, schätze ich. Oder eher Neugier.«

»Sie sind extra hier rausgefahren, um allein zu trinken?«

Das Wort »allein« zog ich in die Länge, damit es traurig klang. Bei diesem Wort ist das nicht schwer.

»Das Gleiche könnte ich Sie fragen.«

Wir starrten uns an. Irgendwie waren meine kleinen Beine zwischen seine großen geraten. Wie das eben passiert, wenn man an einer Bar sitzt und sich zueinander dreht. Der Barhocker schwankte immer noch unter mir, aber immerhin war es zu etwas gut.

Ich sagte: »Wollen wir woanders hingehen und etwas essen?«

Statt einer Antwort nahm er seine Brieftasche, zahlte für uns beide und trank sein restliches Bier in einem großen Schluck aus.

Draußen dämmerte es bereits, doch die Luft war mild, Wärme schwamm um mich herum. Meine Beine waren wie aus Wasser. Ich fühlte mich so schwach, dass ich verdunstete und nicht wusste, ob ich es bis zum Restaurant schaffen würde. Ich hakte mich bei ihm unter, eine als Annäherung getarnte Bemühung, mich auf den Beinen zu halten.

Er lachte. »Geht’s dir gut?«

Ich lächelte ihn träge, mit schlaffen Zügen an. »Mir geht’s fantastisch. Ich habe Hunger.«

»Dann besorgen wir dir mal was zu essen.«

Während wir gingen, merkte ich, wie er mir — schnell und ohne ein Wort zu sagen — den Rock über den Po zog. Es war mir nicht peinlich; ich hielt immer noch die Schlüssel zu meiner neuen Arbeitsstelle in der Hand. Das war das einzig Wichtige.

Auf der Nostrand Avenue bestellten wir an einem Tresen Roti. Neben der Kasse stapelten sich Kuchen in Plastikschachteln. Ich bestellte mir einen und holte mein Portemonnaie heraus, obwohl nichts darin war. Er legte die Hand auf meine und bezahlte für mich. Obwohl mir mein trauriges, schwaches Gesicht wehtat, lächelte ich und konnte nicht mehr aufhören. Ich würde auf Kosten eines anderen essen, ich beglückwünschte mich. Er war ein richtig guter Fang; Cops hatten das Bedürfnis, für andere da zu sein. Ich bedankte mich und tätschelte ihm den Arm — ein bisschen übereifrig, aber was spielte das schon für eine Rolle?

Während wir dasaßen und auf unser Essen warteten, wurde mir bewusst, dass ich keinen Grund mehr hatte, mich mit ihm zu unterhalten. Er hatte schon alles bezahlt. Selbstbedienung war eine gute Sache, besser, als wenn man das ganze Essen lang abwarten musste, ob er am Ende getrennt zahlen wollte. Das würde ich mir merken, nahm ich mir vor, während ich die Plastikpackung öffnete; mir war egal, was er davon hielt, dass ich den Kuchen zuerst aß. Der Zuckerguss war derart süß, dass es sich anfühlte, als wollten mir die Zähne aus dem Schädel fallen. Ich aß ihn trotzdem, schlang ihn restlos hinunter. Zum Glück dauerte es so lange, bis das Roti kam, sonst hätte ich das ebenso gierig in mich hineingestopft und anschließend alles auf die Straße gekotzt.

Weil ich noch nie Roti gegessen hatte, musste ich mir bei dem Cop abgucken, wie es ging. Ich folgte seinem Beispiel, als er es aus der Alufolie wickelte und ein Stück von dem dünnen, ungesäuerten Brot abriss, um damit die Füllung aus Hühnchen und Kartoffeln aufzunehmen. Beim Hineinbeißen stellte ich glücklich fest, dass das Brot krümelig und weich war und das Hühnchen nach Butter und Curry schmeckte. Dann biss ich auf etwas Hartes.

»Da sind Knochen drin«, sagte der Cop, der mich beobachtete.

Ohne ihn anzusehen, spuckte ich den Knochen in meine Handfläche, legte ihn auf den Tisch und aß weiter. Es war köstlich, die Hühnerknochen mit den Fingern herauszufischen. Mir war scheißegal, was ich auf diesen Mann für einen Eindruck machte. Schließlich hatte er dieses ganze wunderbare Essen schon bezahlt.

»Du bist ja richtig ausgehungert«, sagte er, als ich mir einen Bissen nach dem anderen in den Mund schaufelte.

»Bin den ganzen Tag nicht zum Essen gekommen«, sagte ich mit vollem Mund.

Dann wurde mir bewusst, dass er keine einzige Frage über mich gestellt hatte. Wollte er nicht wissen, warum ich den ganzen Tag nichts aß? Wollte er nicht wissen, was ich beruflich tat? Solche Fragen stellte doch jeder, oder nicht?

Als alles aufgegessen war, war ich pappsatt. Ich war ihm dankbar für dieses herrlich volle Gefühl. Auch wenn ich mich nicht verpflichtet fühlte, wollte ich mich dennoch revanchieren. Er hatte ein angenehmes Gesicht — freundliche, weit auseinanderstehende Augen und perfekte weiße Zähne. Draußen war es dunkel. Wir standen auf dem Gehweg, ich schlug eine Mücke von meinem Bein. Die Siebzehnjahr-Zikaden hätten in diesem Sommer schlüpfen sollen und die Einwohnerzahl der Stadt um das Sechshundertfache übersteigen, aber sie kamen nicht. Die Eier waren tot. Die Zeitungen schrieben, wir hätten zu viele Freiflächen mit Wohnkomplexen zugebaut. An ihrer Stelle schwärmten bereits jetzt die Moskitos. »Zur U-Bahn geht’s da lang«, sagte er.

Ich zupfte an seinem starken Arm und sagte: »Ja, aber ich wohne gleich da drüben.«

Mehr sagten wir nicht. Als wir am Eingang meines Wohnhauses ankamen, küssten wir uns. Er schmeckte nach Curry und Bier. Ich hielt sein Gesicht mit beiden Händen, drückte ihm dabei den Schlüssel in die Wange und dachte, wie schön es war, abends von einem Mann nach Hause begleitet zu werden. Ich fühlte mich ihm so verbunden. Er fragte nicht, warum es in meinem Schlafzimmer so gut wie keine Möbel gab, und auch dafür war ich dankbar. Er drückte mich einfach nur im Dunkeln in meine Futonmatratze. Es war gut — freundlich und nett, wie sein Gesicht. Ich wusste, ich würde ihn nie wiedersehen.

Das »Haus des Bösen«, wie die New York Post das LeRoi-Haus nannte, befand sich gleich um die Ecke von meiner Wohnung. Nach diesem Abend ging ich eine Zeit lang regelmäßig an diesem Haus vorbei, auch wenn ich den ganzen Block umrunden musste, um von dort zur Bahn zu kommen. Besonders gern sah ich das Haus, wenn die Morgensonne den cremefarbenen Sandstein mit goldenen Streifen zum Leuchten brachte. Vor dem Eingang standen blaue Liegestühle, und Sträucher in Blumenkübeln flankierten die Haustür. In einem der Erkerfenster im Erdgeschoss hing eine amerikanische Flagge wie ein Vorhang. Solche alltäglichen Einzelheiten fielen mir ins Auge.

Einmal pfiff mir ein Mann aus einem der Zimmer im Obergeschoss hinterher. »Komm her«, sagte er. Mir fiel auf, dass er nicht schrie, nicht einmal rief, sondern nur gerade so laut sprach, dass ich ihn hören konnte. Ich blieb nicht stehen.

Es gehört nicht viel dazu, sich von einer solchen Geschichte faszinieren zu lassen. Nur Neugier auf das Böse, wie wenn man sich einen Horrorfilm ansieht. Doch warum ging ich immer wieder zu diesem Haus? In jenem Monat hielt ich meine täglichen Wege durch die Stadt in einem dicken Notizbuch fest — ein Projekt, das ich verfolgte, um meine wachsende Vertrautheit mit New York zu dokumentieren. Dieser handgezeichneten Aufstellung zufolge muss ich in jenem Sommer fast fünfzig Mal am LeRoi-Grundstück vorbeigelaufen sein. Jedes Mal, wenn ich zu meiner Arbeit bei Lonnie ging.

2

Sie war jung. So jung, dass sie in der Stadt, in der die Reichen langsam altern, von allen als zu jung bezeichnet wurde. Ich mochte es, sie zu beobachten, wenn sie nicht hinsah. Die sanft geschwungenen Konturen ihrer Beine über den schmalen, zierlichen Knöcheln, flacher Bauch, runde Brüste. Dunkles Haar und zu viel davon. »Man kann einfach nichts damit machen«, klagte sie, weil sich die Wirkung von Glätteisen und Lockenwicklern in der hohen Luftfeuchtigkeit der Stadt schnell verflüchtigte und Wellen wie zerknitterte Seide zurückblieben. Dichte, gezupfte Augenbrauen, meist gerade so weit zusammengezogen, dass die Haut dazwischen eine Furche bildete, die Anfänge ihrer ersten — einzigen — kleinen Falte. Die Nase leicht aufwärtsgerichtet, keine alberne Himmelfahrtsnase, nur eine Stupsnase. Züchteten die Reichen solche Stupsnasen? Die schläfrigen Augen waren grün, aber kein leuchtendes. Augen, die man wegen der braunen Haare ebenfalls für braun hielt, bis man merkte, da sind jadegrüne Sprenkel.

Der Mund. Wie beschreibt man einen Mund? Ein Mund ist Körper — Bewegung —, definiert durch weiße Zahnkanten, seine Mimik und das Rosa, das sich beim Daraufbeißen oder dem gedankenverlorenen Spiel der Finger verdunkelt. Die Veränderung der Gesichtsform beim Lächeln, bei einem finsteren Blick, während einer Geschichte oder mit einem Stück Ananas zwischen den Backenzähnen.

Im Grunde ist es unmöglich, ein Gesicht zu beschreiben. Zu beschreiben, wie es sich bewegt. Frauen wie Lonnie halten wir auf Film fest — und Nationen verlieben sich. Nicht in die Frauen selbst, nicht in ihren Charakter, nicht einmal in die schönen Gesichtszüge an sich, sondern in die Art, wie sich die Muskeln bewegen, wie sich die geschmeidige Haut über den Knochen spannt, wie sie sich verändert. Wie es Gefühle in uns auslöst — sei es Freude oder Traurigkeit. Gefühl ist Rührung, ist Bewegung. Wir verlieben uns in einen bewegten Körper. Und er bewegt uns.

Sie trug einen Herrenmorgenmantel, goldfarben mit schwarzem Saum, und daran, wie er über der Brust aufklaffte, sah man, dass sie darunter nackt war. Bevor sie aus dem Haus ging, war Anziehen stets das Letzte, was sie tat. Manchmal bat sie mich, den Reißverschluss ihres Kleides zu schließen, dann glitten meine Fingerspitzen vom untersten Lendenwirbel bis zu ihrem Nacken hinauf, ohne sie tatsächlich zu berühren. Währenddessen seufzte sie leise, als fände sie den simplen Vorgang, sich etwas anzuziehen, deprimierend.

Am Strand mixte sie Pimm’s und 7Up in einer Thermoskanne und reichte sie lächelnd herum. In der Sonne löste sich ihre gute Haltung, sie schmolz auf ihrem Handtuch und strich mit den Fingerspitzen durch den Sand, als würde sie langsam, Zentimeter für Zentimeter, den ganzen Strand durchkämmen. Sie schien niemandem zuzuhören. Sie sprach nicht, sie las nicht. Sie lächelte nur und strich durch den Sand, und manchmal legte sie die Wange an ihre gebräunte Schulter, wie um ihre eigene Wärme zu spüren.

Wenn sie im Wasser war, machte ich mir Sorgen. Sie rannte hinein wie ein Kind, das noch nie von einer unerwarteten Welle getroffen wurde. Immer schwamm sie weiter hinaus als ich. Sie drehte sich auf den Rücken und ließ sich treiben, bis ich sie aus den Augen verlor.

Ich machte mir Sorgen um sie, ganz egal, wo sie war. Sie kam immer zu spät. Sie gehörte zu der Sorte Mensch, die eine Stunde später als verabredet im Restaurant auftaucht, hereingerannt kommt, ihre Sachen auf drei Stühle wirft, sich auf einen vierten fallen lässt und dann seufzt und lächelt, als hätte sie ihr ganzes Leben an genau diesem Fleck verbracht. Sie entschuldigte sich nie. Aus ihrer Handtasche rieselten ständig MetroCards, Eyeliner oder wichtige Quittungen. Wo sie ging und stand, zog sie eine Spur von Haarklammern hinter sich her. Sie verlor ständig irgendetwas, geriet darüber aber nie in Panik. Was machte das schon, wenn man einfach jede x-beliebige Person um eine Mitfahrt in der Metro, Lippenbalsam oder einen Tampon bitten konnte? War sie womöglich ihr Leben lang von allen so behandelt worden? Wir alle wollten ihr alles geben, was wir hatten.

Ich kannte wenige Einzelheiten aus ihrer Vergangenheit — ihre Mutter war früh gestorben, der Vater im Finanzwesen tätig. Sie war Einzelkind. Ihre Großeltern väterlicherseits waren Franzosen, mütterlicherseits Italiener. Sie war auf die Marymount-Schule gegangen, deren religiöse Ausrichtung sie, wie sie sagte, total geil auf den Katholizismus gemacht hatte, was sie nicht gotteslästerlich zu meinen schien. Sie betrachtete sich immer noch als Angehörige der Kirche.

Zwischen den dicken Kunstbänden in ihrem Flur steckten zwei Fotoalben im Regal, die jeweils nicht mehr als fünfzehn Fotos enthielten, hauptsächlich von Personen, die ich noch nie gesehen hatte, außerdem einige Aufnahmen von Blumen oder Räumen. Lonnie war nur auf drei dieser Bilder zu sehen. Auf dem ersten, mit etwa zwölf Jahren im Sommercamp, trug sie weiße Baumwollshorts und ein altmodisches Halstuch im Kragen eines weißen Poloshirts. Sie lehnte vor einer Blockhütte an einem Holzgeländer, in einem Winkel, in dem sich ihr kleiner Hintern deutlich abzeichnete. Ihr Gesicht war leicht von der Kamera abgewandt, als wüsste sie nicht, dass sie fotografiert wurde. Sie war dünner, flachbrüstig, fast knochig, aber mit braungebrannter, makelloser Haut, und dieselben dichten Haare fielen ihr in Wellen über die Schultern.

Das andere Album stammte offenbar aus ihrer Highschoolzeit. Lonnie war auf zwei Fotos zu sehen. Auf einem stand sie vor einem Schulbus, einen langen Mantel mit Knebelknöpfen über dem eisblau karierten Rock ihrer Schuluniform. Sie stand neben zwei Mädchen, die sich unterhielten, war selbst jedoch nicht an dem Gespräch beteiligt. Mit einer Hand fasste sie sich an den Haaransatz über der Schläfe. Das Bild zeigte sie frontal, doch sie lächelte nicht und blickte auch hier nicht in die Kamera, sondern hatte den Blick gesenkt. Es war nicht zu erkennen, ob sie den Fotografen nicht bemerkt hatte oder sich wie ein Model an einer natürlichen Pose versuchte.

Während ich schreibe, betrachte ich das letzte Foto, das ich eines Tages aus seiner Plastikhülle in meine Tasche gleiten ließ. Sie sitzt auf dem Holzboden vor einem ungemachten Bett. Neben ihr fällt ein weißes Laken über den Rahmen. Ihre Wangen sind etwas voller, die Haare ein Stück kürzer, aber ansonsten sieht sie genauso aus wie die erwachsene Lonnie, die ich kenne. Statt ihrer Schuluniform trägt sie weiße Jeansshorts und ein marineblaues Neckholder-Top. Sie ist barfuß, die Zehennägel dunkelrot lackiert. Sie hat die Knie angezogen, sodass man ihre nackten Oberschenkel sieht und den schmalen Streifen Jeansstoff zwischen ihren Beinen. Sie lehnt sich zurück und stützt die Hände hinter sich flach auf den Boden. Ihre Lippen sind leicht gespitzt, und sie blickt mit verengten Augen in die Kamera. Sie könnte den Fotografen jeden Moment verschlingen.

Es war leicht, das Foto zu stehlen. Ich glaubte nicht, dass sie mich verdächtigen würde. Ich glaubte nicht, dass sie sein Fehlen überhaupt bemerken würde, aber das war nicht der Grund, warum ich es nahm. Ich wollte dieser Fotograf sein. Oder ich wollte Lonnie sein, oder vielleicht beides. Auch wenn ich wusste, dass mich der Besitz dieses Fotos dem nicht näherbringen würde. Hatte ich eine Vorahnung, dass ich sie irgendwie würde festhalten müssen? Dass ich viel Zeit brauchen würde, um herauszufinden, was sie für mich bedeutete? Hatte ich den Verdacht, sie könnte nicht real sein? Sammelte ich Beweise?

Ich sehe uns zusammen am Strand, bin mir aber nicht sicher, ob diese Erinnerung echt ist. Wir sind die Einzigen im Wasser. Der Platz des Rettungsschwimmers ist nicht besetzt. Hinter mir sehe ich die Männer, Lonnies Männer, die mit dem Kind im Sand liegen und schlafen. Ich stehe bis zum Bauch im Wasser und habe Gänsehaut, obwohl ich die Kälte nicht mehr spüre. Immer wieder drehe ich mich um, damit mir die Wellen nicht ins Gesicht schlagen, dann sehe ich wieder aufs Wasser hinaus und halte Ausschau nach ihr. Sie ist jenseits von dort, wo sich die Wellen brechen, lässt sich treiben und schaukelt auf dem Wasser. Kurz sehe ich ihre lang ausgestreckten Arme, die nass in der Sonne glänzen. Dann verliere ich sie wieder aus den Augen. Ich kann nicht zurück an den Strand, weil ich die Einzige bin, die auf sie aufpasst.

3

Sie besaßen ein vierstöckiges Townhouse in Carnegie Hill zwischen Park und Lexington Avenue. Das Haus sah ich erst an meinem ersten Arbeitstag; mein Vorstellungsgespräch hatte auf einem Spielplatz stattgefunden. Die Frau hatte mir von Williams Tagesablauf erzählt, während wir ihm schlendernd um den Sandkasten folgten. Er war sechzehn Monate alt, lief auf Zehenspitzen wie ein kleiner Balletttänzer und sprach nur ein paar Wörter. »Hin und wieder müsstest du länger bleiben, aber im Regelfall hast du um vier Uhr Feierabend.«

»Lonnie arbeitet nicht«, sagte der Mann und deutete dabei auf seine Frau, »aber sie braucht die Zeit tagsüber zum Schreiben.«

Lonnie hockte neben William und fuhr mit einem kleinen Spielzeuglaster über den Sandkastenrand, wobei sie die Knie fest zusammenhielt. Sie trug einen Bleistiftrock und hohe Schuhe, als wäre es ihr Vorstellungsgespräch, nicht meins. Ich machte mir Sorgen wegen meines Aussehens, obwohl ich mich am Morgen sorgfältig angezogen und mir die Haare hochgesteckt hatte, damit die Luftfeuchtigkeit ihnen nichts anhaben konnte. Ich trug flache Schuhe und einen Rucksack statt einer Handtasche. Ich fühlte mich zu leger gekleidet. Neben ihr sah ich aus wie ein Teenager.

Sie hatte ihre karamellfarbene Handtasche auf einer Bank liegen gelassen, ein ganze Stück von der Stelle entfernt, an der wir schließlich stehenblieben, und ich wäre gern hingegangen, um sie ihr zu holen, spürte aber gleichzeitig, dass das nicht meine Aufgabe war. Sie behielt die Tasche nicht einmal im Blick, ihre Aufmerksamkeit galt ganz ihrem Sohn. Das Ehepaar stellte mir nicht viele Fragen. Ich erzählte ein bisschen von den erfundenen Familien, die ich in meinem Lebenslauf angegeben hatte; den letzten Monat in Arbeitslosigkeit erwähnte ich nicht und auch nicht, dass sich mein Magen schon den ganzen Tag vor Hunger zusammenkrampfte. Ich versicherte ihnen, dass ich nicht vorhätte, wieder in meine Heimat zurückzuziehen. »Hier gibt es immer so viel zu erleben«, sagte ich über New York und versuchte so zu klingen, als würde mich dieses Klischee begeistern.

Ich wusste nie, was ich auf die Frage antworten sollte, warum ich in die Stadt gekommen war. Vielleicht war ich aus demselben Grund hergezogen, aus dem meine Vorfahren die Planwagen gepackt und sich auf den Weg durch die Weiten der amerikanischen Prärie gemacht hatten — ich wollte den Elefanten sehen. Diese Redewendung liebte ich, seit ich sie zum ersten Mal gehört hatte. Die Pioniere hatten einen Weg gefunden, den naiven Optimismus desjenigen, der auszieht, um sein Glück zu suchen, mit dem abgestumpften Zynismus zusammenzubringen, mit dem er unweigerlich einherging. Der Widerspruch in dieser Wendung war zu Beginn jenes Sommers, als ich kaum etwas zu essen hatte, von besonderer Bedeutung für mich. Hungrig, pleite und trotzdem selbstgerecht im Hinblick auf meine Unterprivilegiertheit und die schlichte Tatsache, dass ich an diesem neuen, fremden Ort überhaupt noch am Leben war, stellte ich mir immer wieder die Frage: Hast du den Elefanten schon gesehen?

Oregon — oder meine Erinnerung daran — existiert hauptsächlich bei Nacht oder in der abendlichen Dämmerung. Ich habe gelernt, an diesem seltsamen dunklen Ort zu leben. Die Häuser, in denen ich mich aufhielt, waren mir in ihren Oberflächen und Geräuschen vertraut — die popcornartige Struktur der gespachtelten Wände im Haus meines Vaters, das glatte Holz des Radios meiner Mutter. Das Ticken der Küchenuhr, das leise Knarzen der Dielen. Das Leben fand nach Mitternacht statt, wenn man heimlich aus dem Fenster kletterte und durch die riesigen Gärten stromerte, Gärten, die so groß waren, dass die Besitzer mich und den jeweiligen Jungen — wer genau, war nicht weiter wichtig, es war dunkel — nie erwischen würden. Das Leben fand auf den dunklen Rücksitzen von Autos statt. Alle waren bleich.

Ich sah meinen Vater vor mir, wie er abends im Bademantel mit einem Bier im Garten saß, während der Regen schwächer wurde. Sein Gartenstuhl, ein regenbogenfarbenes Relikt aus den Siebzigern, quietschte, wenn er den Blick auf die dunklen Felder jenseits unseres Gartens und die noch dunkleren Bäume dahinter richtete und sagte: »Warum sollte jemand von hier fortgehen wollen?« Ich wusste, dass er keine Antwort von mir erwartete, und ich wusste auch, dass die Frage nicht mir galt.

Ich war nicht sicher, was ich von ihr halten sollte — von beiden eigentlich. Ich empfand ein gewisses Maß an Abneigung — gegen ihren Reichtum, ihre Schönheit, ihre Selbstsicherheit. Es war nicht direkt Neid. Ich wollte nicht ihr Leben führen, und doch verabscheute ich sie schon allein dafür, dass sie es in dieser Form führen konnten.

Ich hatte noch nie für eine Chefin gearbeitet, die in meinem Alter war. Auch der Mann, James, war noch jung, etwa Mitte dreißig. Er war durchtrainiert und braungebrannt, das dichte, honigblonde Haar von ersten grauen Strähnen durchzogen. Aufgrund ihres offensichtlichen Reichtums ging ich davon aus, dass sie mich trotz der Altersähnlichkeit wie eine Bedienstete behandeln würden und nicht wie jemanden, der gemeinsam mit ihnen ihr Kind großzog.

Am Ende des Vorstellungsgesprächs forderte Lonnie (die Tasche wieder in der Hand) William auf, sich von mir zu verabschieden. Er kam auf Zehenspitzen zu mir und schlang seine kleinen Ärmchen um meine Beine.

»Damit wäre die Sache wohl entschieden. Wann kannst du anfangen?«

Jetzt fällt mir natürlich auf, wie vertrauensvoll sie war. Was sah sie in mir? Einem Mädchen in einem dünnen Zehn-Dollar-Kleidchen aus einem runtergekommenen Kaff im ländlichen Oregon ohne College-Abschluss? Vielleicht spielte es überhaupt keine Rolle, wer ich war.

An meinem ersten Tag brauchte ich lange für die Entscheidung, welche Tür ich nehmen sollte. Schlüssel hatte ich für beide, aber das Haus über die Vordertreppe und durch den Haupteingang mit den gewölbten Flügeltüren zu betreten, kam mir anmaßend vor, und durch den ebenerdigen Eingang zu gehen, unterwürfig. Vor einer solchen Entscheidung hatte ich bisher noch nie gestanden. In den drei Jahren, die ich jetzt in dieser Stadt lebte, hatte ich noch nie ein Einfamilienhaus betreten.

Schließlich öffnete ich das eiserne Tor und nahm den ebenerdigen Eingang unter der Treppe. Die Tür führte zu einem kleinen Windfang. Vom angrenzenden Raum fiel blasses Morgenlicht auf einen antiken Garderobenständer mit Spiegel, wo schief ein cremefarbener Trenchcoat an einem Ärmel hing. Ich setzte meinen Leinenrucksack ab, zog die Jeansjacke aus und hängte sie an einen der filigranen Haken daneben. Der Mantel beruhigte mich. Der untere Eingang wurde also nicht nur von den Dienstboten benutzt, sondern auch von der Familie.

Über den angrenzenden Raum, eine Frühstücksnische, gelangte man in die Küche. Auf der Arbeitsfläche stand ein Video-Babyfon, auf dessen körnigem kleinem Bild William schlafend in seinem Bettchen zu sehen war, die Ärmchen über dem Kopf. Alles war still. Lonnie hatte gesagt: »Komm einfach rein, dann zeige ich dir alles. Wenn Billy aufwacht, kannst du ihm etwas zum Frühstück machen und mit ihm in den Park gehen. Danach kannst du früh Feierabend machen. Er soll sich erst an dich gewöhnen.«

Ich hatte angenommen, dass sie mich an der Tür begrüßen würde. Das Haus auf eigene Faust zu besichtigen, fühlte sich übergriffig an. Ich dachte, ich hätte vielleicht doch die falsche Tür genommen, und stieg die Treppe rechts neben der Küche hinauf; sie führte in einen großen Eingangsbereich, der an der Frontseite von einem Speisezimmer und an der Rückseite von einem Wohnzimmer flankiert wurde. Die Wände waren in luftigem Weiß gehalten, doch die Möbel sahen aus, als stammten sie allesamt vom Trödelmarkt oder aus einem Bordell — schwere Eiche, Leder, roter Samt —, in einer Zeit, in der es als Zeichen von Wohlstand und Geschmack galt, alles neu zu kaufen. An den Wänden hingen Spiegel in barocken Rahmen. Bis auf mein Spiegelbild waren beide Räume leer.

»Hallo?«, sagte ich und war überrascht, wie kleinlaut ich klang.

Keine Antwort. Kurz überlegte ich, ob ich womöglich im falschen Haus gelandet war. Aber nein, das auf dem Babymonitor war William gewesen. Wahrscheinlich war Lonnie nur gerade in einem der Bäder. Ich blieb im Eingangsbereich stehen. Das Haus roch nach Lavendel und etwas Erdigem, wie Lehm oder Ton.

Weiter nach oben zu gehen, wäre mir zu intim gewesen. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit mir anfangen sollte. Jetzt hielt ich es für einen Fehler, meinen Rucksack am Eingang stehen gelassen zu haben, und ich ging noch einmal hinunter, um ihn zu holen. Als ich durch die Küche kam, drang ein Glucksen und Jammern aus dem Babyfon: William wachte auf. Ich starrte auf seine rastlosen Bewegungen auf dem kleinen Bildschirm und wartete darauf, dass etwas geschah. Dass Lonnie aus den Tiefen des Hauses auftauchte oder vielleicht irgendwo ein Knarren von einer Bewegung kündete. Ich war so still und angespannt, dass ich glaubte, zwei Stockwerke über mir den Schnapper einer Tür hören zu können. Ich hörte Schritte auf dem Bürgersteig vor dem Haus, in der Ferne einen bellenden Hund, das Verkehrsrauschen auf der Lexington Avenue und Williams schläfriges Wimmern. Ich hörte meinen eigenen Herzschlag. Doch Lonnie hörte ich nicht.

War das eine Art Test? Ihre Version einer Probezeit? Lässt du mein Kind schreien, oder unternimmst du etwas? Wie einfühlsam bist du als Nanny? Die Uhr am Herd zeigte 7:45 Uhr, eine Viertelstunde nach meiner vereinbarten Ankunftszeit — zu lang, um so zu tun, als wäre ich noch nicht hier.

Erst auf der Treppe, die vom Haupteingang zu den darüberliegenden Zimmern führte, fiel mir ein, dass ich nicht wusste, wo Williams Kinderzimmer war. Das Weinen kam aus dem Zimmer direkt am Treppenabsatz, die Tür stand ein Stück offen. Ich stieß sacht dagegen, sie schwang auf, und da lag Lonnie: nackt in einem Himmelbett zwischen nadelgestreiften Laken. Sie schlief auf der Seite, mit dem Rücken zu mir, ihre dunklen Locken fielen übers Kopfkissen und darunter zeichnete sich ihr schmaler Hals ab. Ein Lichtquadrat fiel auf die Senkung ihrer Taille, die kleinen weißen Härchen auf ihrer Haut und den tanzenden Staub in der Luft über ihr. Langsam zog sie ein Bein an, das Laken verrutschte und glitt an der Innenseite ihres Oberschenkels hinauf. Auf ihrem Nachttisch entdeckte ich den Ursprung des Weinens: ein weiteres Babyfon, das sie offenbar nicht im Geringsten beim Schlafen störte.

Ich wich mit angehaltenem Atem zurück, ließ die Tür offen und rannte die nächste Treppe hinauf, wo ich nun aus dem Zimmer an der Frontseite hören konnte, wie sich Williams leises Weinen zu richtigem Schreien steigerte. Als ich ihn aus seinem Bettchen hob, beruhigte er sich und sah mich einen Moment lang mit großen Augen an, um dann, nachdem er mich für freundlich befunden hatte, den Kopf an meine Halsbeuge zu betten. Ich summte ihm etwas vor und sah mich dabei in seinem Zimmer um.

Es war nicht vollgestopft mit Spielzeug oder Kleinkindausstattung, aber auf einem langflorigen Wollteppich war eine große Holzeisenbahn aufgebaut. Über dem Bettchen hing ein flauschiges Schafs-Mobile und daneben ein Bild von einem liebenswert grimmig blickenden Löwen. Über dem Wickeltisch entdeckte ich eine Zeichnung von Edward Gorey: ein kleiner, leise lächelnder Junge mit Fliege an einem weiß gedeckten Tisch, auf dem ein kleiner Obstteller und ein Glöckchen stehen. Hinter ihm die Rückenlehne eines mächtigen gotischen Stuhls, dann Schatten in Kreuzschraffur.

Da von Lonnie immer noch nichts zu sehen oder zu hören war, trug ich William zum Wickeltisch und knöpfte ihm den Pyjama auf. Er steckte sich zwei Finger in den Mund und sah mir gebannt bei der Arbeit zu. Er war lang und dünn und wog kaum etwas, als bestünde er aus hohlen Vogelknochen. Seine Miene, ob ernst oder lächelnd, hatte etwas Abwesendes, Verträumtes an sich. Nachdem ich ihn wieder zugeknöpft hatte, fing er an zu strampeln, um heruntergelassen zu werden, und tapste dann auf Zehenspitzen zu seinem Bettchen zurück, wo er eine verfilzte, grauweiße Decke mit einem Rand aus Satin zwischen den Gitterstäben hindurchzerrte. Er hielt sich einen Zipfel davon unter die Nase, dann kam er damit zu mir und hielt mir denselben Zipfel zum Beschnuppern hin. Ich bückte mich und nahm einen kräftigen Zug. Der Stoff roch nach Babypuder und, etwas schwächer, nach Urin. Er lachte, ohne dabei die Finger aus dem Mund zu nehmen.

In diesem Moment stieß Lonnie die Tür auf und starrte uns an. Sie trug ihren Morgenmantel, die Haare hingen ihr in einem wirren Knäuel seitlich am Kopf, und sie hatte Kissenabdrücke an der Wange.