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Die Stuttgarterin Anita Konstandin war immer schon fasziniert vom Lesen und Schreiben. Die Werbefachwirtin (VWA) arbeitete viele Jahre als freie Werbetexterin, bis sie ihr Interesse an der Kriminologie entdeckte. Sie fing an Krimis zu schreiben – zunächst Kurzgeschichten, von denen ein Dutzend in Krimi-Anthologien veröffentlicht wurden. 2016 erschien ihr Psycho-Thriller »Morgen früh, wenn Gott will« im Silberburg-Verlag.

www.anita-konstandin.de

ANITA KONSTANDIN

Verhängnisvolle Freundin

Stuttgart-Krimi

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1. Auflage 2019

© 2019 by Silberburg-Verlag GmbH,
Schweickhardtstraße 5a, D-72072 Tübingen.

ISBN 978-3-8425-2148-3

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Handlung und Figuren sind frei erfunden. Eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Menschen oder Tieren sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Dank

1

Sie drückte auf »Start« und die Löwin erschien. In einer kniehohen Mulde mit vertrocknetem Gras löst sie sich aus dem fressenden Rudel. Im Maul trägt sie eine kastenförmige Umhängetasche, deren Riemen vor ihren pelzigen Vorderpranken über den sandigen Boden der Savanne schleift. Das riesige Tier wirkt stolz, aber auch verspielt mit seiner Beute, die es hurtig davonträgt. Es ist eine leuchtend blaue Fototasche mit überlappendem Deckel, und vor einer Minute gehörte sie noch dem Amerikaner. Wie so ein Kindergartentäschchen hatte sie ihm vorne um den Hals gehangen.

Huttla saß in ihrem möblierten Zimmer im Dachgeschoss der Gaststätte Blaues Rössle, mitten in Stuttgart. Sie starrte auf den Laptop und sah sich schon zum dritten Mal diesen Videoclip aus einem Nationalpark in Südafrika im Internet an.

In Wirklichkeit hieß sie Jasmin. Jasmin Hutter. Nur für sich allein nannte sie sich Huttla, schon seit ihrem zweiten Lebensjahr. Seit dem Tag, als ihre Mutter sie an die Garderobe gestellt und mit ihrem Lippenstift einen roten Punkt auf den Spiegel getupft hatte, genau in die Mitte der bleichen Kinderstirn. Die Tochter war nicht so dumm, ihren winzigen Zeigefinger in das Spiegelglas hineinzustoßen. O nein. Sie fuhr sich den Nasenrücken hoch und tippte auf ihre Stirn. Und während die Mutter sich stolz zum Vater umwandte und rief: »Sie ist ja doch gescheit!«, entdeckte sie mit einem Glucksen: »Das ist Huttla.« Niemand sonst kannte diesen Namen.

Sie stand vom Sofa auf und zog das schräge Dachfenster zu. Ihr Zimmer würde sich sonst bald in einen Backofen verwandeln, denn draußen schien die Sonne wie verrückt. Nun war es ganz still. Das Hupen der Autos und das Surren der Stadtbahnen waren ausgesperrt. Auf dem Fensterbrett, direkt vor ihren Augen, hatte sie einen Flecken dunkelgrünen Plastikrasens liegen, auf dem sich einige selbst gebastelte Perlentierchen versammelten: eine winzige Eule, ein Panda, zwei Krokodile, ein Pinguin.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte hinaus in das Blättermeer der Rosskastanie. Sie ragte bis weit über die Regenrinne, was etwas hieß, denn das Haus war fünf Stockwerke hoch. Auch in diesem Sommer würde sie den turmhohen Baum vor dem Verdursten retten müssen. Sie zog das schwarze Sonnenrollo herab und der Raum wurde dunkel, nur der Monitor strahlte sein blaues Licht ab.

Der Videoclip war zweieinhalb Minuten lang, und das reichte auch. Länger konnte man so einen Löwe-frisst-Menschen-Film gar nicht ertragen. Vor über zwanzig Jahren hatte ihn der Safaritourist, der dicht hinter dem Hobbyfotografen hergefahren war, aufgenommen. Jetzt konnte ihn sich jeder auf YouTube ansehen – ohne Ton und stark verwackelt, denn die Person, die die Kamera hielt, stand natürlich unter Schock.

Huttla kannte jemanden, der sieben Tage die Woche mit Löwen zu tun hatte: ihre beste Freundin, Michelle Högel. Von März bis Ende Oktober arbeitete sie als Busfahrerin in einem Safaripark in Hessen, wo sie Touristen durch die Tiergehege gondelte. Diese riesigen Freigehege waren durch hohe Zäune und Tore und in den Boden eingelassene Viehroste voneinander abgetrennt – für Nashörner und Gazellen, für Giraffen und Springböcke und eben auch für die dreizehn Löwen. Das war Michelles Job, und sie liebte ihn. Vor allem an den Wochenenden, denn dann war ihr Bus voll besetzt. Sechzig Personen saßen dann auf ihren Plätzen – keiner durfte stehen! –, und Michelle trug die Verantwortung für alle.

Vom Alter her hätte sie ihre Mutter sein können, denn sie war schon dreiundvierzig, und Huttla hatte erst gestern, am 15. Juli, ihren zweiundzwanzigsten Geburtstag gefeiert, wobei »gefeiert« übertrieben war. Sie hatte sich unten aus der Wirtschaft einen Piccolo geholt, was dem Personal an seinem Ehrentag auch zugestanden wurde, und den hatte sie auf ihrem Zimmer getrunken, und das war auch schon alles gewesen. Ihr Telefon hatte währenddessen oft geklingelt, aber sie war nicht drangegangen. Michelles Foto war nicht auf dem Display erschienen; sie hatte wohl ihren Geburtstag vergessen. Immer nur Andre. Andre Zeeb hatte angerufen. Sonst niemand.

Sie streckte den Finger aus und klickte erneut auf »Start«, um vor Mitleid zu sterben, und das jetzt bereits zum dritten Mal. Im Moment konnte sie einfach nicht damit aufhören.

Mit seiner Fototasche um den Hals und einem albernen Urlauberhütchen auf dem Kopf verlässt der Amerikaner den Landrover, geht einmal vorne herum, lächelt in den Wagen hinein. Im Fond sitzt seine gutmütig aussehende Frau und vorn, auf dem Beifahrersitz, seine etwa dreizehnjährige Tochter. Die kleine Familie hat offenbar die Warnschilder übersehen, die in jedem Safaripark aufgestellt sind: »Das Verlassen der Fahrzeuge ist nicht gestattet. Lebensgefahr!« Aber dieser lange Lulatsch von einem Ami ist ausgestiegen, jetzt lehnt er lässig mit der Hüfte an der Fahrertür und hält sich mit beiden Händen sein Fernglas vor die Augen. Er blickt in die Ferne, wo denn die Löwen bleiben, und dabei sind sie alle schon da.

Es ist eine Gruppe von fünf starken Tieren. Sie liegen in ihrer Graskuhle hinter den staubigen Büschen zu seiner Linken, keine fünf Meter von ihm entfernt. Er müsste sie riechen können. Aber er steht einfach nur in der Sonne und schaut geradeaus durch das Fernglas, nichts ahnend, und da kommt von hinten blitzschnell die verspielte Löwin heran und legt ihm ihre dicken Pranken auf die Schultern. Wie sie da hinter ihm steht, ist sie exakt genauso groß wie er. Der Mann zuckt zusammen, reißt überrascht den Mund weit auf und sackt in die Knie.

Huttla schaute schnell weg und bückte sich nach einer der goldfarbenen Perlen, die ihr trotz Noppenmatte unter den Tisch gekullert waren. Sie bastelte gerade ein breites Ornamentband für die schwarze Urne, die neben dem Computer auf dem Tisch stand. Wenn sie fertig war mit dieser Arbeit, würde das Aschegefäß aussehen wie ein Schmuckkästchen. Sie könnte Bastelsachen hineintun oder es verschenken. Huttla machte furchtbar gern Geschenke.

Wegen des Videoclips hatte sie feuchte Hände, sodass sie mehrere Anläufe brauchte, um die schimmernden kleinen Perlen einzufädeln; sie war nicht ganz so nervenstark wie Michelle, die täglich mit Löwen umging. Einmal hatte Michelle zu ihr gesagt, sie wünschte, sie hätte ein Kind. »So ein Mädchen wie dich!«

Um Gottes Willen.

Fast zwei Stunden hatten sie neulich erst miteinander telefoniert – ohne dass sie nach Alexa und Gordon fragte, wie sonst immer. Normalerweise wollte sie wissen, was das »Traumpaar« so trieb. Aber bei diesem Telefonat schien sie gar kein Interesse an den beiden zu haben. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt allein Huttla. Jedenfalls sagte sie: »Komm mich doch mal besuchen, ich schmuggel dich in den Park. Du fährst kostenlos mit mir im Bus durch die Freigehege. Ich zeig dir alles, Jasminchen.«

»Auch die Löwen?«

»Vor allem die.« Sie blies Zigarettenrauch in den Hörer. »Und am Abend machen wir es uns richtig gemütlich.«

O ja.

Über die Saison wohnte Michelle in einem Wohnwagen auf einem Campingplatz in der Nähe des Safariparks. Sie behauptete, dass sie beide in dem großen Bett locker Platz hätten. Dieses grundgemütliche Bett ging Huttla die ganze Zeit im Kopf herum. Und plötzlich fing sie selbst vom »Traumpaar« an, ganz unbewusst, und schnatterte alles Mögliche daher. Da mussten sie kichern, aber nach einer Weile wurde die Freundin am Hörer sehr ernst, regelrecht verstockt, und als Huttla minutenlang nicht einmal mehr ihren Atem hörte, hatte sie in Gottes Namen aufgelegt.

Ob es diesen Sommer mit einem Besuch im Safaripark klappen würde? Es lag daran, dass sie das Geld für die Reise nie recht zusammenbekam. Den Wirt um einen Vorschuss zu bitten, getraute sie sich nicht. Sie würde es ja doch nicht schaffen, alles zurückzuzahlen. Obwohl sie jeden Cent zweimal umdrehte! Obwohl sie nur billige Lebensmittel kaufte, im Grunde nur Milch und Kartoffelpüree. Obwohl sie nie Kleidung kaufte, weil ihr genügte, was sie im Schrank hängen hatte: Oberteile in düsteren Farben und zwei Paar Jeans, die sie eigenhändig mit der Nagelschere destroyed hatte.

Sie besaß nichts Überflüssiges. Keinen Schmuck, keine Tücher, keine Schals. Für besondere Anlässe zog sie das weiße Shirt mit dem Fernsehturm vorne drauf an. Es reichte ihr bis fast zu den Knien. Sie sparte Geld, indem sie nie zum Friseur ging. Sie färbte sich das Haar mit Henna selbst schwarz, und sie schnitt es auch selbst, was das Einfachste von der Welt war. Man musste nur eine Haarkur dick auftragen, die glitschigen Haare nach vorne werfen und sie gleichmäßig über den Kopf kämmen. Jetzt einmal mit der scharfen Schere ringsherum und fertig war die Huttlafrisur.

Sehr nett sah sie immer aus, wie ein Mangamädchen, nur ohne die übertrieben großen Augen. Huttla hatte kleine Augen. Ihr Gesicht war rund und sehr flach, was einen Lehrer in der Grundschule einmal dazu bewogen hatte, es als Pfannenkuchengesicht zu bezeichnen, aber nur zum Spaß.

Ihr ganzes Mitgefühl galt nun der amerikanischen Familie in dem Videoclip. Die Tochter steigt tatsächlich aus dem Landrover aus, als könnte sie ihrem Daddy helfen. Ihr Rücken gebeugt, eine Hand wie kurz vorm Erbrechen auf den Mund gepresst. Zwei Schritte bewegt sie sich auf den wankenden felligen Haufen zu, dann stürzt sie in den Wagen zurück. Die Ehefrau ist hinter der Scheibe zu sehen, beide Hände vorm Gesicht. Hilflos. Nur einmal angenommen, sie würde nach vorne krabbeln, sich ans Steuer setzen und mit dem Fahrzeug auf die Löwen zurasen: Es würde nichts nützen, sie bekäme ihren Mann nicht frei. Sie sind zu fünft! Vier Löwinnen und ein Pascha mit dunkler Mähne. Wie eine Lumpenpuppe schlenkern sie jetzt den großen Mann umher, wälzen ihn zwischen sich auf und ab, begraben ihn unter ihren falbfarbenen Leibern.

Jetzt kommt die Stelle mit der Hand. Huttla möchte immer weinen, wenn seine schöne ovale Hand aus dem wabernden Fellhaufen auftaucht. Eine sinnlose Abwehrgeste macht seine Hand, die junge Löwin liegt doch schon auf seiner Brust. Sein Aufbäumen quittiert sie mit einem ärgerlichen Fauchen, das Maul schräg gestellt. Der Amerikaner – Huttla nennt ihn an dieser Stelle immer Joe – legt seine Hand an ihren breiten, samtigen Hals. Sie nimmt davon keine Notiz; sie kaut gerade den breiten Schultergurt seiner knallblauen Fototasche durch. Denn die gehört jetzt ihr.

Als sie herumschnellt und mit der Beute im Maul aus dem Bild läuft, sieht man Joe, wie er auf dem Rücken liegt in dem wogenden Haufen. Er hebt den Kopf und schaut hinunter zu seinem Unterleib, zu dem sich die mächtigen Köpfe der Löwen hinabsenken.

Huttla wandte rasch den Blick ab. Mit der Perlennadel stupste sie die goldglänzenden Perlchen auf und schob sie auf den dünnen Messingdraht. Der Wirt log ganz gewaltig, kürzlich hatte er behauptet, sie habe zwei linke Hände. Die Wahrheit war: Burkhard Nolte brauchte sie nicht mehr, weil ihm seine neue Freundin in der Kneipe half. Svetlana Wolkow aus Russland.

»Hör mal, wenn nichts los ist«, hatte er zu Huttla im Treppenhaus unten gesagt, »dann hast du frei«. Es war nie etwas los, und sie hatte immer frei. Sie blieb aber auf Stand-by, schaltete ihr Handy nicht eine Sekunde aus, falls er sie doch wieder rief. Man durfte die Hoffnung nie aufgeben.

Huttla schaute wieder auf den Bildschirm. Jetzt kam das Schlimmste.

Die Löwen ziehen die Nasen kraus über seinem Körper. Wenn sie sich zu nahe kommen, zeigen sie sich gegenseitig ihre langen Fangzähne. Auch die junge Löwin ist wiedergekommen. Im Wechsel senken die fünf ihre Schnauzen herab, sie fressen Joe bei lebendigem Leib.

Huttla hatte gelesen, dass Löwen mit ihrer rauen Zunge die Beute so lange abschlecken, bis an der Leckstelle kein Fell mehr bleibt und das Blut sachte durch die Haut tritt. Zuvor geben sie ihrem Opfer – wenn es ein Kaffernbüffel ist oder ein Warzenschwein – den Kehlbiss, um es zu töten. Bei Joe sind sie nicht so gnädig. Sie merken ja, dass er ihnen nicht entkommen kann; der Mensch in ihren Klauen ist schwach. Also verzichten sie auf den Todesbiss.

Einmal kommt Joes rechtes Bein verdreht zum Vorschein, den Schuh hat er verloren, aber die helle Socke sitzt noch akkurat auf dem Fuß.

Huttla hoffte, dass er an dieser Stelle längst tot war, sicher war sie nicht.

Die Kamera zoomt Joes Tochter heran. Der Schock verzerrt ihr junges Gesicht. Die Ehefrau hinten im Wagen schlägt ihren Kopf immerzu gegen die Fensterscheibe.

Die neue Freundin des Wirts kam aus Sankt Petersburg – »aus Piter«, wie sie sagte. Offensichtlich interessierte auch sie sich für Tote, denn sie schenkte Huttla eine Postkarte mit dem aufgebahrten Lenin darauf. Sie behauptete, seit hundert Jahren liege der einstige Revolutionsführer völlig unverändert in seinem gläsernen Sarg in der Hauptstadt, es sei ein Wunder.

Huttla fädelte die nächste Perlenreihe auf und zog den Messingdraht straff, so sehr, dass das Pflaster an ihrem kleinen Finger abging und ein wenig Blut hervorsickerte. Das Schmuckband für die Urne würde wunderhübsch werden, so wie alles, was sie bastelte. Sie richtete die Augen wieder auf den Bildschirm.

Die Kamera schwenkt in das Löwenlager, wo alles im Blut schwimmt. Jetzt, wo es zu spät ist, fährt ein Safariauto mit zwei bewaffneten Rangern heran. Sie tragen Cowboyhüte. Aus dem Jeep heraus erschießen sie die ihnen am nächsten kauernde Löwin. Man hört den Knall nicht, sieht aber, wie sie getroffen zusammensackt. Die anderen Löwen rennen panisch aus dem Bild. Nur die junge Löwin bleibt bei Joe. Sie liegt an seine linke Seite geschmiegt und kaut. Was sie jetzt zwischen den Zähnen hat, kann man Gott sei Dank nicht sehen. Aber es scheint nicht der Rest von dem Riemen der Fototasche zu sein. Sie frisst mit weit aufgerissenem Maul, bis auch sie erschossen wird.

Die Männer steigen aus und schauen auf Joe hinunter. Sie legen eine derbe Decke über ihn und tragen ihn aufgerichtet, als wäre er ein Mensch, der bald wieder alleine gehen kann, ohne Anstrengung zu ihrem Fahrzeug. Sein Kopf ist sichtbar, er hängt nach vorn, und unten baumeln seine Füße. Alles, was in Joes Körpermitte war, ist weg. Die ganzen Organe. Einer der Ranger kümmert sich um die Frau und das Mädchen.

Als es unten auf der Straße zweimal kurz hupte, sah Huttla auf die Uhr, schaltete den Computer aus und lief aus dem Zimmer. Am Fuß der Treppe tauchte Svetlana Wolkow auf und reichte ihr einen pfundschweren Plastikbeutel, den sie mehrfach verknotet hatte. Er war kalt und roch nach nichts. Sie flüsterte: »Auch ich libbe Hundchen.«

Sie hatte das Fleisch aus der Küche geklaut.

»Danke.« Huttla nahm den kleinen Sack mit zwei Fingern. »Übrigens, in dem Sarg ist von Lenin nichts mehr übrig. Er ist nur Wachs und Chemie.«

Die Petersburgerin schaute grimmig, aber Huttla war das in der Eile egal. »Wenn du was über Totenkonservierung wissen möchtest, dann frag mich«, bot sie an. »Ich weiß so gut wie alles darüber.«

Dann lief sie den langen, nach Bier und Salzstangen riechenden Gang entlang zum Ausgang. Die schwere Haustür schleifte am Boden und fiel dann krachend ins Schloss.

2

Draußen umfing sie die sommerliche Wärme und der Gestank von Autoabgasen. In der Mittagszeit war die Schlossstraße verstopft. Vier Autospuren und in der Mitte glänzende Gleise, auf denen die Stadtbahnen die Hügel hinauf- und hinabsurrten. Am Berliner Platz kreischten sie in den Kurven.

Andre Zeeb hielt in zweiter Reihe, es war ganz unmöglich, für einen Leichenwagen in dieser Gegend eine Parklücke zu finden. Huttla hüpfte auf dem staubigen Gehweg im tosenden Verkehrslärm auf den glänzenden schwarzen Mercedes Kombi zu. Wie immer fühlte sie sich ein bisschen euphorisch, wenn sie zu Andre in den Wagen mit den spiegelnden schwarzen Scheiben stieg.

»Hallo!«

Er hielt den Kopf schräg und schaute sie zärtlich mit dem rechten Auge an. Mit dem linken kontrollierte er den Verkehr im Außenspiegel. Andre schielte ganz gewaltig, was irgendwie mit dem Stielkamm seiner Mutter zusammenhing, als er noch ganz klein war. Es machte ihm aber nichts aus, im Gegenteil. Er sagte, es sei sogar praktisch, wenn er mit dem einen Auge am Sarg arbeitet, während das andere in den Nebenraum schaut, was die Hinterbliebenen treiben, ohne dass er den Kopf drehen muss.

»Wow, du siehst spitzenmäßig aus«, sagte er zur Begrüßung und übertrieb natürlich maßlos.

Sie drückte ihren Rücken fest in das bequeme Polster. »Schau!« Sie zeigte auf den Plastikbeutel. »Svetlana hat mir wieder was für Bones mitgegeben.« Sie stopfte das Fleischpaket in ihre Umhängetasche und stellte sie zwischen die Füße. »Sie ist so süß.«

Andre erwiderte ihr Lächeln, setzte den Blinker und fädelte sich in den Stop-and-go-Verkehr ein. »Und wie läuft’s im Rössle?«, fragte er wie jedes Mal.

Huttla schnallte sich mit großer Geste an. »Super, wirklich!«

Die Ampel vor ihnen wurde rot, und Andre hielt an. Sein rechtes Auge blinzelte. »Mann, Jasmin, du musst aus dieser Kneipe raus.«

»Aber es läuft!«, entgegnete Huttla mit einem kurzen Auflachen. Und während er wieder anfuhr, sog sie den Tannenduft ein, den das Duftbäumchen unterm Rückspiegel verströmte. Zum Glück hatte ihr Freund heute keine Lilien hinten im Wagen liegen, die nahmen ihr immer den Atem.

»Gestern hab dich hundertmal angerufen.« Es klang leicht beleidigt. »Und du gehst einfach nicht ans Telefon an deinem Geburtstag.« Der Wagen stand schon wieder. Andre streckte den Arm aus und legte seine kühle Hand auf ihre. »Ich wünsch dir Glück und ein langes Leben!« Er war blasser als sonst.

»Ich war mit Erdna in der Stadt.«

»Mit Erdna?«

»Ja, ehrlich.« Sie kippte den Kopf auf die Schulter und sah aus dem Fenster in den Streifen seidenblauen Himmels zwischen den hohen Häusern. »Es war toll.«

»Du schwindelst.«

»Nein!« Huttla lachte.

Andre musste bremsen, weil die nächste Ampel vor ihnen auf Rot sprang. »Klar schwindelst du!«

Wie jeden Samstag waren sie auf dem Weg zu Bones, der in der Tierherberge in Donzdorf lebte. Die Fahrt dauerte eine Stunde, und während sie in dem angenehm temperierten Leichenwagen stadtauswärts über die Straßen glitten, hörten sie gregorianische Chorgesänge, die sie nur selten durch ein Gespräch unterbrachen. Deshalb erschrak Huttla, als Andre in den heiligen Gesang hinein sagte: »Mach doch mal das Handschuhfach auf.«

»Oh!« Mit beiden Händen nahm sie das schwere »Große Perlenbastelbuch« heraus. Sie hatte dasselbe Buch bereits seit Wochen im Schrank stehen. Herr Burger vom Bastelladen hatte es ihr ausgeliehen, fast schon aufgezwungen. »Das müssen Sie haben«, hatte er gesagt. »Das fehlt Ihnen noch.«

Sie zog die weiße steife Trauerschleife auf und lächelte das Cover an. »Dankeschön«, rief sie. »Das hat mir noch gefehlt!«

Sie kannte Andre Zeeb seit zwölf Jahren. Sie war damals zehn, er achtzehn Jahre alt gewesen. Huttla ein stilles, pummeliges Kind und Andre ein dürrer, schieläugiger Bestatter-Azubi, der sich windend vor Eifer und Feingefühl um einen jungen Mann kümmerte, der von einem Turm herabgefallen war. Dieser zu Tode Gestürzte war Andres allererster Fall als Undertaker, wie er sich gern selbst nannte, gewesen. Der junge Mann, den er bergen, herrichten und einsargen durfte, hieß Timo, von Freunden kurz Ti genannt, und er war Huttlas großer Bruder gewesen.

Sie hatten endlich die Bundesstraße 10 Richtung Esslingen erreicht, und Andre beschleunigte den Wagen. An den Seitenfenstern links mit Schrott beladene Frachtschiffe auf dem Neckar, und rechts zeigten sich Rückansichten von Fabriken und Lagerhäusern.

»Willst du wissen, was ich vorhin Scheußliches auf YouTube gesehen hab?« Auf ihrem Arm erschien eine Gänsehaut, was heute nicht am Airconditioner lag, der bei Andre wegen der Leichengerüche immer auf Hochtouren lief. Das Gebläse wehte ihm seine wilden schwarzen Haare aus der Stirn, sie waren das Schönste an ihm. Der Rest war zu blass, zu dünn und zu lang.

Er sah kurz zu ihr rüber. »Du hast dir wieder den armen Warzenmann aus Indonesien angeguckt«, riet er. »Oder diese dreiköpfigen Zwill…«

»O nein!« Huttla musste lachen.

Andre zog den Wagen auf die linke Spur und überholte einen weißen VW Tiguan mit einer schönen, rothaarigen Frau am Steuer.

Huttla blickte hinauf in den Autohimmel, an dem hundert LED-Lichtchen funkelten, hell wie ein Sternenmeer. »In dem Video ist ein Safaritourist von Löwen gefressen worden, sie hatten ihn regelrecht ausgeweidet, bis die Ranger endlich kamen. Sie packten ihn in eine Decke, und als sie ihn wegbrachten, schleiften seine Füße über den Boden, und an einem Fuß war sogar der Schuh noch dran.«

»Ach Mann, Jasmin.«

Sie sah ihn an. Er brauchte gar nicht so scheinheilig zu tun. Sie sah ihm an der Nasenspitze an, dass er sich Joes ausgehöhlten Körper bildlich vorstellte. Eine solchermaßen zerbissene Leiche war für einen angehenden Thanatopraktiker natürlich eine Herausforderung. In weniger als zwei Wochen fand seine letzte Prüfung statt – er redete von nichts anderem. Entstellte Körper optisch wiederherzustellen (er nannte es »restaurieren«) und je nach Bedarf auch einzubalsamieren, dafür lebte Andre.

Draußen flogen jadegrüne Felder vorbei.

»Bei einem so extrem versehrten Toten«, Andre sprach mit Bestatterstimme, »sind eine Reihe rekonstruktiver Maßnahmen notwendig, damit man ein ästhetisches Ergebnis hinbekommt.«

»Aber zu machen wäre das schon?«

»Klar.« Andre drehte die Chorgesänge leiser. »Ein guter Thanatopraktiker schafft es, auch einen auf diese Art Verstorbenen im offenen Sarg zu präsentieren, und zwar würdevoll.«

»Er ist nicht verstorben, er wurde gefressen, Andre!«

Der Leichenwagen trug sie durch die sommerliche Landschaft – Felder, Wiesen und Wälder, und der braungraue, mächtige Riegel namens Schwäbische Alb rückte näher. Die Tasche mit dem Fleischbeutel fühlte sich schön kalt an zwischen Huttlas Waden.

»Und zwar war das in Südafrika.«

Andre machte »mhm« und gab zu, dass die Hitze ein Problem war. »Ohne Kühlung tritt schon nach Minuten die Zersetzung ein«, sagte er und rauschte an knallgelben Rapsfeldern vorbei. »Wenn wir Verstorbene ins Ausland überführen, dann konservieren wir sie übergangsweise …«

»… was in der Fachsprache ›Modern Embalming‹ heißt«, vervollständigte Huttla seinen Satz und lachte, während sie kennerisch fortfuhr: »Wir tauschen das gesamte Blut gegen Formalin aus, sodass der Dahingeschiedene länger frisch und schön bleibt und von seinen Angehörigen sogar umarmt werden kann.«

Andre blinzelte mit dem Auge, das die meiste Zeit zu ihr herübersah. »Pass auf, dass ich dich nicht zur Prüfung mitnehme.«

»An der Praxis würde ich scheitern!«

Er lachte laut heraus. Sie blickte an seiner langen Nase vorbei aus dem Seitenfenster. Hoch oben, steil im Rehgebirge, thronte die Burg Staufeneck, die sie bis zur Tierherberge begleiten würde. Auf gleicher Höhe erschien bald auch die Burg Ramsberg. Dort oben gab es ein Gestüt, aber Huttla war nie da gewesen.

»In dem Landrover saßen seine Frau und seine Tochter. Was sie mit ansehen mussten, werden sie niemals wieder los. Nicht einmal ich werde diese Bilder je vergessen können.«

Der Mönchschor kam jetzt zum Höhepunkt, normalerweise drehten sie hier laut auf und Andre gab Gummi, falls die Straße frei war.

»Ich sehe die Löwin vor mir«, sprach Huttla weiter, »wie sie mit der Pranke Joes Hand wegschlägt, als er sich an ihr hochziehen will. Dann hebt er den Kopf und sieht zu seinem Unterleib hinunter, wo schon vier Löwen an ihm fressen.«

»Mann, Jasmin!« Andre sog hörbar den Atem ein. »Schau dir das Zeug nicht an, es ist Mist.«

»Ich frage mich nur, wie er die Schmerzen ertragen konnte?«

Sie fuhren auf Donzdorf zu, vor ihnen erhob sich ein hoher, bewaldeter Berg. Sie kamen an der Tankstelle vorbei, wo sie sich manchmal auf dem Heimweg ein Eis kauften.

»Er hat kaum was davon mitbekommen«, sagte Andre, der alles wusste, was mit Tod und Sterben zu tun hatte. »Im Fernsehen kam mal eine Doku über einen Zirkusdompteur, der Tigerbisse überlebt hat. Sie hatten ihn richtig tief in die Hüfte und sonstwohin gebissen. Der Typ sagte, ihm sei erst heiß und dann kalt geworden, und dann hätte er auch schon das Bewusstsein verloren.«

Das war ein Trost. Erst heiß, dann kalt, dann bewusstlos. Das wollte Huttla sich merken.

Andre fuhr an der Donzdorfer Stadthalle vorbei, bog nach links ab, und zwei Minuten später glitt der Bestatterwagen gravitätisch durch eine kurze Wohnstraße, in der rosafarbene Rosen über Gartenzäune hingen.

»Endlich«, sagte Andre, als der Zufahrtsweg zur Tierherberge im hellen Sonnenlicht vor ihnen lag.

Sie parkten den Wagen und stiegen sofort aus.

Wenn Andre das Gelände betrat, hellte sich seine Miene jedes Mal auf. Insgesamt wirkte er ja düster. Er trug immer diese schwarzen Anzüge und darunter schwarze Hemden – auch privat. Er besaß gar keine Jeans. Andre war Bestatter durch und durch. Er sprach mit Leichen und fand gar nichts Besonderes daran. Es gab ja auch Leute, die mit Pflanzen redeten.

Der Tod ihres Bruders vor zwölf Jahren hatte sie beide zusammengeschweißt. Andre hatte sich sogar seinen Namen in Großbuchstaben auf dem linken Unterarm unter die Haut spritzen lassen, schon deshalb hing Huttla an ihm. Das O von TIMO endete zwei Zentimeter vor dem Verschluss seiner Armbanduhr.

Bones kam auf sie zugeschlingert. Sein semmelbraunes Fell glänzte in der Sonne. Er war einer der privilegierten Hunde, die frei im Hof und im Büro der Tierherberge herumschlawinern durften.

Warum die Tierschützer ihn Bones getauft hatten? Vielleicht weil er bei seiner Ankunft so mager gewesen war, nur Haut und Knochen. Huttla kniete sich zu ihm runter, und er presste seinen dicken warmen Kopf gegen ihr Knie. Vielleicht hieß er auch deshalb »Knochen«, weil ihm ebendiese in seiner Heimat zertrümmert worden waren. Mit einer Eisenstange oder mit Fußtritten. Sie griff lächelnd in sein weiches Fell und zupfte an seinen Ohren herum, während Andre im Büro die Leine holen ging. Drüben in den großen Ausläufen bellten die Hunde, enge Zwinger gab es hier nicht.

Bones braune Kulleraugen strahlten sie an, dann bohrte er seine lakritzschwarze Nase in die Tasche mit dem Fleisch. Huttla lachte. Im strahlenden Licht der Sonne gingen sie langsam, um den Hund zu schonen, über Serpentinen einen Wiesenhang hinauf. Immer wieder blieben sie stehen und betrachteten die schöne Landschaft.

Andre machte ein nachdenkliches Gesicht. »Wenn wir zusammenziehen würden, könnten wir ihn zu uns nehmen. Kein Mensch und kein Tier sollte traurig sterben.«

Nun wieder diese Tour. »Aber sterben ist traurig«, sagte sie, nur um ihn zu ärgern.

Bones schnappte verspielt nach der Leine. Andre beugte sich hinab, um ihn mit seinen großen weißen Händen zu streicheln. »Er hat vielleicht nicht mehr lang zu leben«, meinte er mit belegter Stimme.

Huttla blickte auf den wackligen Hund, der keinen Zentimeter von ihrer Umhängetasche wich. Außerdem wedelte er mit dem Schwanz.

»Bones denkt ganz bestimmt nicht ans Sterben; ihm schwebt das Fleisch vor«, sagte sie grinsend. »So schnell gibt der den Löffel nicht ab.«

Andre nahm den schnörkelig verbogenen Hund auf den Arm, um ihn eine Weile zu tragen, obwohl er ganz schön schwer war.

Seite an Seite schlenderten sie über den Wiesenweg, der in sanfter Steigung aufwärts führte. Sie sahen Paraglider vom Messelberg herabschweben wie vorzeitliche, bunte Vögel. Am Wegrand blühten Butterblumen und Margeriten, die anderen Blumen kannte Huttla nicht.

»Wenn wir zusammenziehen würden,« hob Andre nach einer Weile wieder an, »könnten wir ihn retten.« Sie blickten beide hinüber zu dem Berg Hohenstaufen auf der anderen Seite des Tals.

Ausgerechnet Huttla sollte jemanden retten.

»Aber er ist doch schon gerettet«, rief sie. Der Rüde auf Andres Arm warf ihr einen Blick zu. »Er lebt in der Tierherberge, so gut hat er es noch nie gehabt.«

Hatte denn sie das Recht, nein, das Privileg, einen Hund zu adoptieren? Das Tier besaß kein Stimmrecht; es musste jeder dahergelaufenen Person folgen, was auch immer sie im Schilde führte. Huttla schätzte, dass dreiviertel aller Hunde in der falschen Familie lebten. Sie hätten sich anders entschieden, wenn sie es gekonnt hätten.

Zu Andre sagte sie: »Bones ist bestens versorgt.« Der Rüde zog ein wenig die Lefzen zurück, um ihr seine unteren Eckzähne zu zeigen. Sie standen wie Wildschweinhauer hervor. »Hier tut ihm keiner mehr weh«, sagte sie.

»Er braucht ein richtiges Zuhause«, sagte Andre keuchend. Er setzte den schweren Bones wieder ab. »Es liegt nur an dir, Jasmin.«

Das Thema Zusammenziehen hatten sie nun wirklich bis zur Erschöpfung durchgenudelt. Er war dafür, sie dagegen. Es gab da nämlich ein Problem, über das Huttla aber keinesfalls sprechen wollte.

Im Tal spiegelte sich das Sonnenlicht auf den Dächern von Donzdorf. Sie kamen zu dem großen Wacholderbusch, unter dem eine halb verwitterte Holzbank stand. Sie setzten sich und fütterten Bones, der mit erstaunlicher Schnelligkeit Svetlanas Fleisch verschlang. Dann legte er sich unter die Bank in den Schatten und schleckte sich das Maul.

Der Duft von warmem Gras und Blumen umhüllte sie alle drei.

Am späten Nachmittag gingen sie den Weg zurück durch die Wiesen. Am Ende ihres Spaziergangs hielten sie sich immer an der Hand, und zwischen ihnen torkelte ein vergnügter Bones bergab.

Zum Abschied legte Andre ihm die Hände über die Ohren und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Der Pfleger im Blaumann lächelte. Ein zotteliger weißer Hund sprang in reiner Wiedersehensfreude um Bones herum. Wie auf Kommando drehten die beiden die Köpfe und liefen in Richtung Büro, wo ihnen schon jemand die Tür aufhielt.

Jetzt musste Andre sich wieder eine Woche lang nach dem Hund verzehren.

Auf der Rückfahrt war er schweigsamer als sonst.

»Denkst du an deine Prüfung?«, fragte Huttla, während sie aus der kleinen Stadt hinausfuhren. An ihrem Fenster flitzten Häuser, Vorgärten, Autos und Menschen vorbei.

»Eigentlich nicht«, gab er zur Antwort.

Natürlich dachte er an seine Prüfung, da war sich Huttla sicher. Er fieberte dem Termin seit einem Jahr entgegen. Hinter ihm lagen mehr als achtzig Einbalsamierungen, wovon er die Hälfte in zwei Praktika bei einem Einbalsamierer in London absolviert hatte. Andre war so beschäftigt gewesen, dass er sich noch nicht einmal Big Ben näher angesehen hatte, nur die Glocken hatte er gehört.

Bei der Theorie war Huttla ihm eine große Hilfe gewesen. Sie hatte ihn zweimal wöchentlich in ihrem Zimmer abgehört, in den Fächern Anatomie, Physiologie, Pathologie (Schwerpunkt Mikrobiologie), Recht und Geschichte sowie in Andres Lieblingsfach, der Einbalsamierungstheorie.

Nur ein einziges Mal hatte sie mit ihm in seiner Wohnung in der Immenhofer Straße gelernt, in einem Zimmer voller blasslila Blumen. Sie hatte ihn gerade über verwesungshemmende Substanzen abgefragt, als die Wohnungstür ging und sie hörten, wie sein Vater, der bei ihm wohnte, über den Teppich im Flur schlurfte. »Formalin«, hatte Andre kühl geantwortet. Aber sie hatte nur dagesessen, die Hand vor den Mund gepresst.

»Er tut dir doch nichts, Jasmin.« Andre hatte sie zu beruhigen versucht, wo er doch sonst immer darauf bestand, dass man besser keiner Menschenseele vertraut.

»Hab keine Angst, er ist völlig harmlos.«

3

Als sie in Stuttgart aus dem kühlen Bestattungswagen stieg, war es, als liefe sie gegen eine heiße, staubige Wand. Auf der Stelle kümmerte sie sich um die Kastanie im Hof. Sie rannte die Treppe rauf und holte aus Erdnas Zimmer die alte Gießkanne, sprang die Treppe wieder runter und stellte das Monstrum in der Kneipenküche in den Spülstein. Als sie das Wasser aufdrehte, trat der Wirt aus einer dunklen Ecke hervor, und sie erschrak dermaßen, dass es sie richtig durchschüttelte.

»O Gott«, sagte sie mit klopfendem Herzen und drehte rasch den Hahn zu.

»Der Baum hat Wurzeln bis in den Nesenbach runter!« Burkhard Nolte hing eine Kippe im Mundwinkel, deshalb nuschelte er. Seine graugelben Haare waren verstrubbelt, als käme er gerade aus dem Bett. »Der braucht kein Wasser«, nuschelte er, »schon gar keins aus dem Rössle.«

Huttla nickte und hievte die viertelvolle Kanne aus dem Spülstein. Als sie sich wieder aufrichtete, war der Wirt verschwunden. Sie hatte ihn unbedingt noch fragen wollen, ob er sie vielleicht heute Abend brauchte.

»Burkhard?«, rief sie Richtung Gaststube. Nichts. »Herr Nolte?« Noch einmal nichts.

Sie überlegte fünf Minuten lang, was sie mit der Gießkanne machen sollte. Dann trug sie sie mutig in den Hof hinaus, wo links die Müllcontainer schon nicht mehr zugingen und rechts zwei rostige Fahrräder ohne Luft in den Reifen an der Hauswand lehnten.

Mit hängendem Kopf gab sie der Kastanie das teure Rössle-Wasser zu trinken. Aus ihren Früchten hatte sie letzten Herbst Tiere gebastelt und sie zur Zierde auf die Wirtshaustische gestellt. Die Gäste hatten die Streichhölzer aber gleich rausgezogen und die Kastanien im Gastraum umhergeworfen.

Huttla lief in ihr Zimmer hoch. Dort stand ihr Computer auf dem Tisch, dort funkelten Perlenfigürchen in der Glasvitrine und überall, dort standen Bücher im Regal und dort gab es das Nebenzimmer – »Erdnas Reich«, aus dem öfter ein Knistern zu hören war.

Sie trat in ihr Zimmer und steuerte auf das schon etwas durchgesessene, lehmfarbene Sofa zu. Es war zwanzig Uhr. Sie schaltete den Fernseher ein.

Erdna saß bereits auf dem ungepolsterten Holzstuhl neben der Tür zu ihrem Zimmer. Nicht einmal ein flaches Kissen ließ sie sich unterschieben, sie war Afrikanerin und wollte es so hart haben, und Huttla sah nicht ein, dass sie wegen sowas das Streiten anfinge.

Im Fernsehen liefen die Nachrichten. Die Welt war so chaotisch. Ein brennendes Flüchtlingsheim. Selbstmordattentäter sprengen sich in die Luft oder fahren mit LKWs in Menschenmengen. Terrorgefahr herrschte inzwischen auf dem ganzen Erdball.

Die Nachrichtensprecherin mit den goldenen Haaren machte ein ernstes Gesicht. Erdna war allen Ernstes der Ansicht, die goldenen Haare der Ansagerin seien echt und auch unten herum sei sie ganz golden. Huttla ließ sie bei der Ansicht, bestärkte sie aber nicht darin.

Zu den Kriegen auf der Welt meinte Erdna: Alles halb so schlimm, das erledigt sich von selbst. Nur eines wird uns Kopf und Kragen kosten: der Atommüll. Sie wissen nicht, wohin damit. Es gibt keinen sicheren Ort. Nirgends.

Huttla schaute Erdna lange an. Wenn sie so drauf war, brauchte sie ihr gar nicht erst mit dem Löwenvideo zu kommen. Bei der Wettervorhersage hielt sie es dann aber nicht mehr aus.

»Hör mal«, sagte sie in Richtung Stuhl. »Die Löwen haben den Mann, er hieß übrigens Joe und war Amerikaner, na ja, sie haben ihn regelrecht zerfetzt. Sie rissen Stücke aus ihm raus, und seine Frau und seine Teenagertochter mussten dabei zusehen.« Sie krümmte sich innerlich, nie würde sie diese Bilder vergessen. »Joe hatte keine Chance, aus dem Löwennest lebendig rauszukommen; es war sein Grab.«

Erdna: Jeder normale Mensch weiß, dass man auf Safari besser im Auto sitzen bleibt.

So war sie: immer leicht patziger Ton.

Und weiter: Normal sind Löwen auf Gnus und Gazellen geprägt.

»Ach ja?«

An sich wollen sie von Menschen nichts wissen, fuhr sie fort, und als Afrikanerin musste sie es ja wissen.

»Aber sie haben ihn gefressen, Erdna!«

Ihre Mitbewohnerin war nicht der Typ, der sich leicht gruselte. Nicht einmal beim Warzenmann aus Indonesien war sie groß zusammengezuckt. Ihm waren nach einer Verletzung am Bein struppige, essstäbchenlange Warzen aus Händen und Füßen gewachsen. Er konnte nichts mehr anfassen und kaum mehr gehen. Ein Arzt nahm ihn mit nach England, wo er ihn operierte, aber das Zeug wuchs nach, und wie zum Trotz wucherte es dann erst so richtig los. Der Warzenmann war mit das Schrecklichste, das Huttla je gesehen hatte.

Sie saß im Schneidersitz auf dem Sofa und schaute abwechselnd auf das Ornamentband, das sie aus goldenen Perlen fädelte, und auf den Fernseher, wo der Vorspann zu einer Meeressendung lief.

Sie griff schon nach der Fernbedienung, weil gleich der hastig watschelnde Baby-Pinguin auf den Schnabel fallen würde, wie fast jede Woche. »Selbstverständlich tut ihm das weh«, sagte sie zu Erdna und schaltete um. »Ich koche uns jetzt eine Kleinigkeit«, sagte sie, erhob sich und schenkte dem Fernseher keinen Blick mehr.

Sie aßen immer Kartoffelpüree aus der Tüte, wozu man nur Milch und Wasser und sonst nichts brauchte. Mal aßen sie »Das Fluffige«, dann wieder »Das Feste«, allermeistens »Das Klebrige«. Sie verklebten sich den ganzen Mund damit. Sie aßen nie etwas anderes als Kartoffelbrei.

Sie lebten sehr einfach, obwohl Erdna aus einer steinreichen Familie stammte. Ihr Vater war Zahnarzt. Einmal war er kurz vor Weihnachten zu Besuch gekommen. Er war noch dunkler als seine Tochter, wenn das überhaupt möglich war, und er trug schlüsselblumengelbe Schuhe. In Stuttgart. Bei all dem Schneematsch. Er blieb aber nicht lange. Die Geschäfte, lachte er. Sein Gebiss strahlte nur so. Dann war er auch schon wieder weg.

Mein Vater ist sehr erfolgreich, meinte Erdna angeberisch. Wenn der eine Feder in die Erde steckt, kommt ein Huhn raus.

Sie aßen ihren Kartoffelbrei. Zwischendurch hob Huttla den Kopf und lauschte, ob der Wirt nicht nach ihr rief. Später kontrollierte sie ihr Handy, ob der Klingelton vielleicht zu leise eingestellt war – war er nicht –, niemand hatte angerufen oder eine Nachricht hinterlassen. Nicht einmal Michelle, obwohl sie in letzter Zeit öfter Kontakt zu ihr suchte. War sie immer noch so tief beleidigt? Huttla hatte etwas zu ihr gesagt, eine harmlose Schwindelei, und Michelle war daraufhin regelrecht eingefroren am Telefon.

Dass Andre heute nichts mehr von sich hören ließ, war sonnenklar. Er war im Geiste schon in seiner praktischen Prüfung. Hoffentlich würden sie ihm keine »Intensive« vorlegen. Das war die Abkürzung für Leichen aus Krankenhäusern, direkt von der Intensivstation. Sie steckten noch voll mit Kanülen, Klemmen und Schläuchen. Andre regte sich immer auf, dass die Schwestern und Pfleger das Zeug nicht vorher rauszogen aus den Körpern. Wenn die Prüfkommission ihm eine »Intensive« geben würde, spränge Andre Zeeb vor Wut erst einmal im Viereck herum, und ob das bei der Prüfung gut ankäme?

Eine »Intensive« war aber sehr wahrscheinlich.

Es klopfte an ihrer Tür. Huttla fiel fast die Perlennadel aus der Hand. Es klopfte noch einmal, dann ging die Tür auch schon einen Spalt auf und Svetlana steckte die Nase herein.

»Hockst immer so allein«, schimpfte sie und kam vollends ins Zimmer, was Huttla gar nicht recht war. »Was hat Hundchen gesagt zu Fleisch?« Sie setzte sich einfach auf Erdnas harten Stuhl und sah sich um. »Wo ist Freund, komischer Junge?«

Wenn sie noch mehr Fragen hatte, konnte sie gleich wieder gehen.

»Andre hat Bereitschaft«, gab sie zur Antwort. »Weißt du, was das bedeutet?«

Svetlana schob die Unterlippe vor. Sie blätterte in Huttlas neuem Perlenkatalog, ziemlich grob sogar.

»Wenn er Bereitschaft hat, dann klingelt um drei Uhr morgens bei ihm das Telefon.«

»Und?« Svetlana hielt den Katalog offen auf dem Schoß und strich kräftig über die schönen, glänzenden Seiten.

»Andre wird zu Leichen gerufen, die du nicht mal mit der Zange anfassen würdest. Sie sind ganz zermalmt und zerstückelt und aufs Äußerste entstellt. Andre fügt die getrennten Leichenteile erst einmal zusammen, damit wieder ein Körper entsteht, verstehst du? Und dann restauriert er den Körper und am Ende schminkt er ihn, sodass man ihn den Hinterbliebenen präsentieren kann, ohne dass sie einen Schock kriegen.«

»Zuggleise?« Svetlana runzelte die Stirn. »Dänkst du Suizid?«

»Was denn sonst?«

Eigentlich müsste sie die Petersburgerin hassen. Denn seit sie da war, hatte der Wirt keine Arbeit mehr für sie. Er sagte ja sogar, sie habe zwei linke Hände. Wenn er sich einmal, nur ein einziges Mal anschauen würde, was sie aus Perlen produzierte, dann wüsste er, dass seine Kellnerin gar keine linke Hand besaß, sondern sondern gleich zwei rechte.

»Was willst du, Svetlana?«

»Musst du pendeln, bitte. Brauchst du nur zwei Minuten.«

Nur weil sie einmal das goldene Pendel auf dem Tisch entdeckt hatte, glaubte sie, Huttla sei eine Wahrsagerin und könne in die Zukunft sehen. Es war aber nichts weiter als ein kleiner Zeitvertreib. Das Pendel und das reich verzierte Pendelbuch für Anfänger waren ein Geschenk gewesen, über das sie herzlich gelacht hatte. Spaßeshalber hatte sie das Pendel befragt, ob sie mit Andre zusammenziehen sollte. Und ja, es hatte sich rechts herum bewegt, das dumme Ding. Da wusste sie, dass die Pendelei Quatsch war, denn sie würde niemals bei ihm einziehen, wo doch sein Vater bei ihm lebte.

»Was willst du wissen?«

»Ob heiratte Burkhard Nolte.«

»Das hatten wir gestern schon.«

»Mach noch einmal.«

Das Pendel wollte sich anschicken, nach links herum zu gehen, was Huttla nicht zulassen konnte. Sie drillte es heimlich nach rechts, aber der verflixte Kegel zog weiter nach links. Das hieß nein, und das würde sie der blonden Svetlana im Moment nicht zumuten; sie hatte genug Sorgen.

»›Abwarten‹, sagt das Pendel. Es dauert noch ein bisschen.«

»Gestern hat gesagt: ›bald!‹«

»Heute sagt das Pendel aber ›abwarten!‹, ich kann nichts dafür.«

Svetlana reichte ihr einen Zettel, auf dem sie weitere existenzielle Fragen stehen hatte, die Huttla auspendeln sollte, und das tat sie dann auch.

Zum Schluss gab sie Svetlana noch etwas Lenin betreffend mit auf den Weg: »Seine Tage sind gezählt. Er wird zerfallen! Das sagt mein Freund Andre und er muss es ja wissen.« Sie senkte die Stimme. »Seit hundert Jahren wird der arme Lenin hinter Glas ausgestellt und zweimal pro Woche von Wissenschaftlern kontrolliert und mit den giftigsten Chemiecocktails ausgebessert. Woche für Woche. Was das kostet! Und überhaupt: Warum gönnt man ihm nicht endlich seine Totenruhe?«

Wütend dampfte Svetlana ab.

Huttla legte das Pendel weg und wandte sich wieder ihrem goldenen Ornamentband für die schwarze Urne zu. Sie warf kurz einen Blick zum Stuhl.

»Wo waren wir?«, sagte sie. »Ach ja, Andre und die Toten von der Intensivstation.« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn man ihm eine Intensive gibt, muss er zuerst einmal die Schläuche und alles entfernen, und das gibt post mortem kleine Löchlein in der Haut, was übrigens sehr gefährlich ist – denke an Ebola! Das sind Andres Worte. Keine Frage, er wird die kleinen Wunden perfekt schließen und abdecken, darauf kann man sich verlassen. Aber, liebe Erdna, stell dir bitte die großen Wunden vor, zum Beispiel die Operationswunden von amputierten Körperteilen!«

Sie legte das Goldband auf den Tisch, sie würde nun nicht mehr weiter fädeln, ihre Finger waren vom Anziehen des dünnen Drahtes wund und mussten mindestens vierundzwanzig Stunden geschont werden. »In London hat er zu Übungszwecken einen Verstorbenen erhalten, dem die Ärzte jedes Jahr ein Stück seiner Beine abgeschnitten hatten, bis sie ganz oben angekommen waren und der Mann tot war.«

Sie stand vom Sofa auf und spülte am Waschbecken ihre zwei Teller ab, an denen die Kartoffelbreireste schon angetrocknet waren.

»Der Embalming-Obermeister hatte Andre gefragt: ›How do you update this half person to make his family happy?‹« Sie nahm ein frisches Geschirrtuch aus dem Schrank und trocknete die Teller und das Besteck sorgfältig ab. »Da hat Andre nicht lang nachdenken müssen. Er hat dem Kurzen ein paar lange Hosen angezogen und sie mit Zeitungspapier feste ausgestopft, und schon war der Verstorbene so groß wie früher, sogar noch größer. ›Man muss kreativ sein‹, sagt Andre immer, und weiß Gott, das ist er.«

Huttla lachte. »Sein erstes Übungsobjekt war übrigens ich.« Sie ging zum Sofa und legte sich drauf, einen Arm angewinkelt unter dem Kopf. »Als Andre zum ersten Mal zu mir nach Hause kam, hab ich noch mit meiner Barbie gespielt…«

Ihre Eltern waren bei der Arbeit, und Andre war gekommen und hatte ihr schweigend beim Spielen zugesehen. Auf der Anrichte entdeckte er das längliche Weidenkörbchen für Baguettes. Er sagte: »Schau mal her.« Ein bisschen grob wand er ihr die Puppe aus der Hand und legte sie in das Körbchen. »Das ist jetzt ihr Sarg.« Gemeinsam kuschelten sie ein Tempotaschentuch als Zudecke bis zu Barbies Kinn hinauf, und zum Schluss streuten sie Blümchensticker auf die Decke, aber wie gestorben sah die Puppe trotzdem nicht aus.

Wenig später probierte er alles Mögliche an Huttla aus. Das war nicht immer angenehm. Sie hatte Hemmungen, sich auszuziehen, aber eine Verstorbene in Latzhosen mit einer Ente vorne drauf entsprach nicht seinen Vorstellungen. Also zog er ihr ein mitgebrachtes Papiertotenkleid an. Er schminkte sie mit dem Weiß-Makeup von Huttlas Mutter Gundi, die im Fasching gern als Geisha ging. Er benutzte auch ihren Lidschatten. Mit seinen großen Händen verstrich er kleine blaue Tupfer auf Huttlas Stirn und Wangen und marmorierte so ihre Gesichtshaut, damit sie wie tot aussah.

Nach dieser Prozedur erfolgte die Sarglegung der Verblichenen. Sie schmissen die Sofakissen im Wohnzimmer in zwei Reihen auf den Teppich, und Huttla legte sich in den Spalt hinein. Ganz automatisch faltete sie die Hände, was Andre aber nicht dulden mochte. Er zupfte ihre Finger wieder auseinander, massierte sie ein wenig, um die Leichenstarre zu vertreiben, und faltete sie neu und auf seine Art. Schließlich malte er rosa Lipgloss auf ihre Kinderlippen, kämmte ihr das Haar und versprühte Geruchsstopper, wozu er Gundis Deospray aus dem Badezimmer holte. »Damit du nicht herausriechst aus dem Sarg.«

Abschließend hatte er zufrieden festgestellt, dass nun das Visiting stattfinden könne, was so viel hieß wie: Deine Eltern können dich jetzt anschauen kommen. Aber die waren ja nie da gewesen.

Huttla schaute hinüber zu Erdnas Stuhl. »Ich musste immer einige Zeit so liegen bleiben, was sich gar nicht mal so schlecht anfühlte. Es gab mir eine Vorstellung davon, wie es Timo ergangen war, nachdem er vom Turm gefallen und dann von Andre bestattet worden war.«

An der Stelle müsste Erdna eigentlich fragen: Wieso ist dein Bruder vom Turm gefallen? Aber sie fragte nicht. Also sprach Huttla: »Weil er heruntergestoßen wurde, liebe Erdna, und ich weiß auch, von wem. Doch die Person hatte sich ein Alibi herbeigezaubert und die Polizei glaubte ihr. Ich war damals noch ein Kind. Zehn dumme Jahre alt. Ich äußerte meinen Verdacht. Ich schrie ihn heraus. Aber der Polizist strich mir nur über den Kopf und sagte zu meinem Vater: ›Ihre Tochter hat einen Schock.‹«

Sie setzte sich auf dem Sofa auf. »Stell dir das nur vor!«

Aber Erdna saß schon gar nicht mehr auf ihrem Stuhl.

4

Es war zwei Uhr morgens, eine trockene, nach Lindenblüten duftende Julinacht. Der Bungalow, in dem sich Kriminalhauptkommissarin Corinna Voss soeben einfand, lag an der Hasenbergsteige im Stuttgarter Westen, ziemlich weit oben an der langen und steilen Straße, auf der beliebten südlichen Hangseite.