Über das Buch

»So eine wie ich ist hier eigentlich nicht vorgesehen.« — Karen Köhlers erster Roman über eine junge Frau, die sich auflehnt. Gegen die Strukturen ihrer Gesellschaft und für die Freiheit

Ein Dorf, eine Insel, eine ganze Welt: Karen Köhlers erster Roman erzählt von einer jungen Frau, die als Findelkind in einer abgeschirmten Gesellschaft aufwächst. Hier haben Männer das Sagen, dürfen Frauen nicht lesen, lasten Tradition und heilige Gesetze auf allem. Was passiert, wenn man sich in einem solchen Dorf als Außenseiterin gegen alle Regeln stellt, heimlich lesen lernt, sich verliebt? Voller Hingabe, Neugier und Wut auf die Verhältnisse erzählt »Miroloi« von einer jungen Frau, die sich auflehnt: Gegen die Strukturen ihrer Welt und für die Freiheit. Eine Geschichte, die an jedem Ort und zu jeder Zeit spielen könnte; ein Roman, in dem jedes Detail leuchtet und brennt.

Karen Köhler

Miroloi

Roman

Carl Hanser Verlag

Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen.

Hannah Arendt

Für Mizar

ERSTE STROPHE

(Der Weg)

Eselshure. Schlitzi. Nachgeburt der Hölle. Ich war schon von Anfang an so hässlich, dass meine eigene Mutter mich lieber hier abgelegt hat, statt mich zu behalten. So eine wie ich, sagen sie, so eine kann nicht von hier sein, so hässlich ist hier niemand, solche Mütter gibt’s hier nicht. Sie sagen, in einen Karton voller Zeitungspapier hat sie mich gelegt, die eigene Mutter, wie Müll, den man zum Müll legt. Den Karton, sagen sie, hat sie auf eine Stufe der Treppe zum Bethaus gestellt. Mitten in der Nacht, mitten im Regen, mitten im Winter. Was für eine Mutter, sagen sie, was für eine Sünde, und schauen nach oben dabei, das ganze Dorf hat sie damit befleckt. Und dass ich von drüben bin, das ist ja offensichtlich, und dass von dort seit jeher nur Schlechtes gekommen ist. Und sie machen diese Bewegung mit der Hand, die sie immer machen, wenn sie klagen. So eine wie mich, sagen sie, so eine hätten sie weggemacht.

Und ich mach mich weg, jeden Tag mach ich mich weg. Jetzt gerade, mit dem Einkaufsnetz in der Hand, mach ich mich weg, weil: Eselshure. Schlitzi. Nachgeburt der Hölle. Das rufen mir die Kinder hinterher, das war noch nie anders, die Worte waren schon immer da, nur die Kinder sind immer andere Kinder, sie wachsen stets wieder nach und folgen mir als schimpfende Traube durchs Dorf auf dem Weg vom Laden hoch zum Bethaus. Und wegen der Sache mit meinem Bein kann ich nicht schnell, und das wissen sie nur zu gut.

Ich mach mich also weg, drehe die Welt einmal um und setze mir die Schimpftirade als Krone auf, bis die Kinder von mir ablassen, weil in der Kurve beim Brunnen die alten Frauen auf ihren Stühlen sitzen und die jetzt dran sind. Alle in Schwarz, alle ganz starr, alle ganz Auge, stumm, verschlossen, zu. Und wie sie gucken und zischeln und mit den Mundwinkeln zucken, als ich auf ihrer Höhe bin. Und Handbewegungen, und Himmelwärtsblicke.

Ich weiß nicht warum, weiß nicht, was heute anders ist, vielleicht bin ich voll wie ein Gefäß, in das nichts mehr hineinpasst, kein Blick, kein Zischeln, kein Schnalzen mehr. Vielleicht ist es, weil ich blute und mich alles leichter reizt, aber heute bleibe ich vor den Frauen stehen, hebe meinen Blick und schaue zurück. Eine nach der anderen schaue ich mir an, ganz langsam schaue ich direkt in ihre Gesichter. Sie sind die Ältestenfrauen, sie ziehen sich das Leid der Anderen an wie ein Gewand, das ihnen ganz genau passt. Sie sind die Klageweiber, die über unsere Leichen gebeugt weinen, sich die Zöpfe lösen und die Haare raufen. Sie sind die Lebensgeschichtenbewahrerinnen, die nach deinem Tod dein ganzes Leben besingen. Sie sind die Mütter, Groß- und Urgroßmütter des Dorfes, von Regeln gebeugt, vom Leid verzerrt, vom Alter verrunzelt, von Arbeit, Krankheit und Dreck zermürbt, von Hass und Missgunst zerfressen. Ich sehe sie mir an. Sehe sie mir ganz genau an.

Bald schon werdet ihr tot sein, denke ich, bald schon trägt man euch mit den Füßen voran vom Bethaus runter ins Dorf zur Feuerstelle. Bald schon fressen die Flammen eure toten Leiber, bald schon höre ich eure Schädel im Feuer knacken. Ich aber, ich werde leben, denn ich bin jung.

Noch nie habe ich so etwas gedacht. Ich warte darauf, dass mich ein Blitz trifft, aber nichts passiert. Haben mich die Götter etwa vergessen? Komme ich einfach so ungestraft davon? Hallo, hier bin ich, und ich habe gesündigt. Aber nichts. Nichts passiert.

In mir drinnen ist alles möglich, das begreife ich jetzt. Mein Miroloi muss ich mir selber singen, damit kann ich nicht warten, bis ich gestorben bin, sonst wird es mich nicht gegeben haben.

Und ich nicke ihnen zu, lächle, gehe weiter, summe mein Lied, und das Netz mit den Eiern baumelt gefährlich.

ZWEITE STROPHE

(Das Dorf)

Unser Dorf ist kalkweiß und liegt hoch oben am Berg. Wie eine Schafherde in der Landschaft, alle Häuser dicht beieinander, eng, schattig, drübensicher, so liegt das Dorf am Berg. Einzig das Bethaus liegt noch höher, deswegen ist der Weg vom Laden nach Hause für mich auch der längste. Unsere Gassen, Wege, Treppen haben wir Stufe um Stufe, Stein um Stein mit Kalk umrandet, damit uns nachts der Mond zeigen kann, wo es lang geht. Ich darf nicht auf die Linien treten, das habe ich so mit mir ausgemacht.

Im Dorf trage ich stets mein dummes Gesicht zur Schimpfwortkrone. Ich schwenke mein Einkaufsnetz am Platz vorbei. Da sitzen die Männer im Schatten der Bäume vorm Lokal, trinken Kaffee und Schnaps, rauchen Tabak, zählen Betperlen, spielen Spiele, diskutieren Männersachen, lesen, machen Pläne, warten darauf, dass sie endlich nach Hause gehen können, warten darauf, dass ihre Frauen, Töchter, Enkeltöchter endlich das Feld, den Hof, das Haus, das Essen bereitet haben.

Mit den Kindern im Nacken zickzacke ich durch die Gassen, weiche grüßend aus, gehe stetig bergauf und halte meinen Blick gesenkt. Für mein rechtes Bein kann auch der ebenste Boden jederzeit zum Hindernis werden. Vorbei am Lokal, an der Schule, vorbei an der stinkenden Rinne, an den Frauen in den Fenstern und Türen, vorbei an den Blicken, dem Schweigen, dem Argwohn der Männer, dem Spott. Unter meinen Füßen wird der Boden von Stein zu Zement zu Staub.

Hinter dem Dorf bin ich sicher, hier lassen die Kinder von mir ab, hier fängt die Treppe an, auf der ich vor vielen Jahren lag, in einem Bananenkarton unter der Zeitung vom Sommer davor. Auf der ersten Seite stand etwas von einem Krieg und einem großen Fußballturnier. Von beidem weiß ich nicht genau, was das ist, habe nur eine Phantasie davon, und das Wort Bombe denke ich. Kann sein, dass es da irgendwo diese Welt aus der Zeitung von damals noch gibt, so wie es mich noch gibt. Hier. Jetzt. Schritt um Schritt.

Die Treppe ist weichgetreten von unzähligen Füßen in unzähligen Jahren. Speckig glänzen die Steine in der Sonne und erzählen still davon. Wenn du nicht aufpasst, bringen sie dich zu Fall. Und weil jetzt Frühling ist, sprießen aus allen Ritzen dazwischen wilde Blumen. Margeritenköpfe schauen sich eine Spur aus Mohnkleksen an, Storchenschnäbel erobern großflächig die Ränder, an den Mauern wechseln sich Inseln aus Absinth, Salbei und Oregano ab. Ein Gelbling tanzt vor meiner Nase, fliegt mir voraus und lässt sich auf einer Blüte nieder. Auf dem Weg nach oben siehst du sie alle: Auch Spitzschwänze, Königsfalter und Vieraugen flattern mit ihren dünnen Flügeln in seltsamem Taumelflug. Jetzt ist wirklich die beste Zeit. Alles blüht und duftet, es ist nicht mehr kühl, aber tagsüber noch nicht zu warm, so dass du gut arbeiten kannst. Doch wart nur ab, in ein paar Wochen ist alles wieder braun und gelb und du sehnst dich nach dem Grün und nach der wilden Blüte.

Endlich bin ich am Bethaus und die Zeit steht gut für mich, der Schatten der Sonnenuhr ist langsam heute, so dass ich innehalten und Atem schöpfen kann. Von hier oben überblickst du alles; das Dorf, das Tal, die Insel, das Meer. Schwalben gleiten mühelos am Berg aufwärts, über mich hinweg und hoch zum Fels, wo sie ihre Nester haben, wo ihre Jungen piepsend ihre Schnäbel aufspannen. Fliegt nur! Fliegt!

Hinter dem Bethaus, den Eselspfad und Berg hinauf, an unserem Garten und unseren Feldern vorbei, am Müller und an den Windmühlen vorbei, über den Berg rüber und auf der anderen, der steilen Seite wieder runter, da liegt die Siedelei mit ihrem Glänzedach, einsam und versteckt in einer Mulde. Da wohnen die Betmänner mit ihren Schülern in Stille und All-Einheit. Da stört sie nichts, nicht einmal das Gerausch des Meeres, das tief unten an die steile Küste donnert, das hält die Mulde ihnen vom Leib. Ich war erst einmal dort, um ihnen Öl zu bringen, mit meinem Bein ist das nicht einfach, wenn du es ohne Esel schaffen musst. Als ich verschwitzt und durstig ankam, haben sie rasch die Schüler vor mir versteckt. Aufgerissene Augen wegen meiner Mädchenhaut, meinem Mädchenhaar und meinen Mädchenaugen. So hinkend, so hässlich, so anders, so fremd. Drum schnell weg mit den Blicken, weg mit den Schülern, weg vom Feld und weg vom Tisch. Schnell rein mit ihnen in den Betraum, die Tür zu mit dem großen Schlüssel vom Bund, klack und klack und klack. Sollten sich ihre Augen an mir nicht verderben.

Unter dem Dorf beginnt das Tal. Und weiter unten, sehr weit weg und sehr weit unten, da liegt die Bucht und liegt das Meer. Dort drängeln sich ein paar Hütten an einen winzigen Hafen. Sie sagen, das da unten ist kein Dorf, kein richtiges, ein paar Fischer nur, mehr nicht. Ich war noch nie dort. Wir bleiben hier oben, hier sind wir sicher.

Unser Dorf hat einen Namen, es heißt Schönes Dorf, und es gibt eine Straße aus Steinen mit einer Kurve darin. Die Straße heißt Straße, fängt mitten im Dorf an und hört hinter der Kurve auf. Die Kurve heißt Kurve. In der Kurve liegt der Platz mit dem Brunnen, den alten Bäumen, mit der Feuerstelle und dem Pfahl. In der Kurve sitzen die alten Frauen in Schwarz. Von hier oben kannst du das alles nicht richtig sehen, brauchst du auch nicht, wenn du ich bist, dann steckt dir das Dorf sowieso in den Knochen, den Adern, den Träumen.

Um den Platz herum stehen wie zur Zierde die wichtigsten Häuser: Das Ältestenhaus, das Bücherhaus, der Laden und das Lokal. In der zweiten Reihe schauen ihnen die Schule, das Badehaus, die Materialverwaltung und die Bäckerei über die Schultern. Und drum herum ein Gewimmel aus Wohnhäusern, Gassen und Treppen, Torbögen und Stiegen, spitzen und stumpfen Winkeln. Darin verstecken sich der Tischler, der Heiler, der Töpfer, die Hebamme, der Kaminbauer, undundund. Alles drängelt sich zur Mitte hin, ein richtiges Verwirrspiel. Das ist so gebaut, damit kein Fremder hier jemals allein wieder herausfindet, sagen sie.

Am Dorfrand liegen die Pressen, da wird das Öl gemacht und der Wein. Und noch weiter unten, zum Tal hinunter, da ist der Flicker, ist der Gerber, da endet die Rinne, da sind die Latrinen. Aber jetzt siehst du nur Dächer.

Unser Dorf hat tausend Augen, die sehen alles, alles, alles. Unser Dorf hat Nasen, die riechen sich bis in deine Seele, schnuppern das letzte Geheimnis aus dir heraus. Und was die Augen nicht sehen und was die Nasen nicht riechen, das hören die Ohren. So leise kannst du gar nicht sein, so gut kannst du dich gar nicht waschen, so versteckt kannst du gar nicht leben, dass das Dorf etwas von dir nicht wüsste. Unser Dorf hat hundertfache Münder, die plappern, zischeln, schnalzen und flüstern immerfort. Sie verbreiten alles, was Augen, Nase und Ohren wissen, verändern es nur ein kleines bisschen, fügen etwas Neues hinzu oder nehmen etwas Unnötiges weg und tragen, was übrig bleibt, bis in den letzten Winkel. Bis zu den Hirten. Bis zum Müller. Bis zum Latrinenmann und bis zu mir. Wahrheit ist ein Band, geflochten aus Hunderten von Zungen. So ist unser Dorf.

Und du guckst weiter runter zum Meer, heute ist es so blau wie unsere Fenster und Türen. So blau wie der Himmel an manchen Tagen. Das Meer mit tanzendem Sonnenglitzer drauf, ein Schatz, der nur zum Ansehen da ist. Das Meer mit Schaummäulern drauf, die rauschen und donnern und schlecken, ein Tier, das Fischer frisst und zum Fürchten da ist. Das Meer mit Regen und Blitzen obendrauf, ein Kochtopf mit grauer Höllensuppe, die die Götter saufen. Das müde Meer mit nichts obendrauf als einer Silberspiegelfläche, die ist zum Erkennen da, ist ein Fenster, ist eine Tür, ist eine Sehnsucht aus Blei.

Und über mir, über dem Dorf, über der Insel und über dem Meer, da ist der Himmel. Der Himmel mit seinem Wechselkleid. Der Himmel mit dem atmenden Mond und seinen Sternen. Der Himmel mit der Sonnenglut, die nimmermüde ihre Bahnen zieht. Der Bethaus-Vater sagt, dass wir es sind, die die Bahnen ziehen, dass alles, das Dorf, die Insel, das Meer, auf einem riesigen Klumpen Erde klebt, der in dunkler Ödnis schwebt und sich um die Sonne wandernd stetig um sich selber dreht. Die Sonne und der Klumpen, die Sterne und das alles sind aber nur ein kleiner Teil, ein Körnchen Staub in der endlos weiten Ödnis. Die Götter haben all das erschaffen, sagen sie, so steht es in der Khorabel geschrieben.

Und ich finde, dass es doch schwer ist, das zu glauben, wenn du von all dem gar nichts merkst, und das, was du siehst, dir doch Anderes erzählen möchte: Ist nicht der Horizont da vorne eine gerade Linie? Wie kann die Erde da ein Klumpen sein? Und ist der Himmel nicht am Tage blau? Wie können wir da in dunkler Ödnis schweben? Geht die Sonne nicht auf und unter, ist sie es nicht, die sich bewegt? Und von einem Kreisen um mich selbst kann ich rein gar nichts spüren. Ich fühle mich viel mehr wie eine Mitte, um die alles, was ist, sich stets verändernd seine Bahnen zieht. Der Bethaus-Vater sagt, dass wir zu nah dran sind, um es zu erkennen. Aber von wo aus soll ich denn schauen, wenn nicht von hier, vom Berg, aus meinen Augen. Hab ich etwa Flügel, bin ich ein Vogel, ein Blinker, ein Stern? Siehst du, ich kann es nicht wissen, ich muss den Kosmos genauso wie die Götter glauben.

Unter dem Dorf ist das Tal. Da wohnt der Wind. Da wohnen die Vögel. Da wachsen die Oliven, die Mandeln, die Aprikosen, die Feigen, die Granatäpfel, und an den Hängen, da wächst der Wein. Da machen die Bienen den Honig. Da wuchern die Kräuter. Da krabbeln die Käfer, da spinnen die Spinnen und zirpen die Zikaden. Da führen die Wege und Pfade abwärts, aber nur der eine führt runter bis zum Meer. Da wacht der Wächter und lässt nur den Händler durch, und der braucht zu uns einen halben Tag mit seinen Eseln.

Der Wächter mit seinen Riesenpranken, der dich packt, wenn du wegwillst von der Insel. Seine Arme reichen bis in dein Bett, und er raubt dir nachts den Schlaf und den Verstand. Er trinkt dein Blut zum Frühstück und putzt sich mit deinen Knochen die Reste aus den Zahnlücken in seinem stinkenden Wächtermaul. Der Wächter, der dich zermalmen kann in seiner Faust, der Wächter, der achtgibt, uns beschützt, nimmermüde, immerwach, ewigstark. Tausendfach besungen, beklagt, gepriesen.

Links und rechts sind die Berge, kantig strecken sie sich dem Himmel entgegen, und die Berge sind nichts als die Berge. In manche haben wir Terrassen gebaut, mit Mauern aus Steinen, damit die Erde uns nicht abhaut in jedem Winter. Da stehen die Oliven. Da steht der Wein. Da weiden die Schafe und Ziegen. Da haben die Hirten ihre Ställe. Da wohnt der Käse in seinen Höhlen, bis er reif geworden ist.

Sie sagen, unser Dorf ist das schönste von allen Dörfern. Aber ich kenne kein anderes, niemand hier kennt das, wie soll man da vergleichen.

Alles hat hier einen Namen, nur ich habe keinen.

DRITTE STROPHE

(Der Einsiedler)

Ich rieche ihn, noch bevor er Wasser sagt. Mit Esel und vollgepisster Hose steht er hinter mir, ich war wohl so versunken, dass ich ihn nicht habe kommen hören.

 Grüßt Euch. Gehts gut?

Er nickt und lächelt, entblößt seine zwei braunen Zahnstumpen und hält mir seine Wasserschläuche hin.

 Wasser.

 Na, dann kommt.

Ich gehe vor zur Wasserquelle in unserem Hof, er folgt mir mit kleinem Trippelschritt, seine Füße stecken in Lumpen. Er stinkt fürchterlich, ich atme nur durch den Mund. Während er den ersten Schlauch füllt, bringe ich die Lebensmittel in die Küche und versorge sie in der Kammer. Ich nehme zwei Eier aus dem Netz und schneide ein Stück vom Brot. Ich höre den Bethaus-Vater in seinem Zimmer sprechen. Er hat Besuch. Von gestern ist noch Ofengemüse übrig, das nehme ich dem Einsiedler auch noch mit, atme tief ein und gehe raus. Er ist bereits beim dritten Schlauch.

 Hier hab ich noch etwas zu essen für Euch.

 Danke, danke, danke.

 Schon gut. Bringt Ihr mir nächstes Mal die Schale wieder mit?

 Danke, danke, Mädchen.

 Ja, ja, aber die Schale bringt Ihr? Ihr habt noch zwei.

 Danke, danke, Mädchen.

Ich gebe auf, schnappe mir einen Wasserschlauch und gehe voraus zu seinem Esel, leider folgt er mir dicht. Wir verstauen das Wasser, verstauen das Essen, dann trippelt er wieder los, mit Esel im Schlepptau bergauf. Sein Gestank steht noch in der Luft, als Mariah aus dem Hof kommt.

 Ui. War der Einsiedler da?

 Ja.

 Riecht man. Komm an mein Herz, Mädchen.

Sie drückt mich kurz und deutet auf das Bethaus.

 Er hat sich eben hingelegt, und ich mach mich jetzt auf den Weg.

Mariah winkt zum Abschied und steigt die Treppe runter ins Dorf. Ich sehe ihr hinterher.

VIERTE STROPHE

(Die Insel)

Das Dorf liegt am Berg, der Berg liegt auf der Insel, die Insel liegt im Meer. Auch unsere Insel trägt einen Namen: Schöne Insel, auf ihr stehen fünf Berge. Die Insel ist klein, sagen sie. Aber woher weiß ich, ob es fünf Berge sind oder die Insel klein ist, eine andere kenne ich nicht, ich kenne noch nicht einmal diese ganz. Kenne nicht das versteckte Unten, nicht das Ufer, nicht den Hafen, nicht die Hütten der Fischer, und kenne nicht die Berge hinter unserem Berg. Kenne keine andere Insel, nicht das Feste Land, kenne nicht das Land von der Musikscheibe unseres Grammophons, nicht die Sonne, nicht den Mond und nicht die Welt. Und ich kenne niemanden, der all das kennt.

Manchmal kommen Schiffe von drüben und gehen in der Bucht vor Anker. Da rudert der Händler hin mit seinem Boot, beladen mit unserem Öl, mit unseren Oliven und unserem Schnaps, es zieht ihn zum Schiff wie ein Lamm zur Zitze seiner Mutter. Dann löscht er seinen Drübendurst, löscht seine Ladung und rudert vollbeladen und betrunken zum kleinen Hafen zurück. Schwankend leert er sein Boot und packt am nächsten Tag seine Esel voll, schnürt ihnen die Drübensachen auf den Leib und treibt sie hoch zu uns ins Dorf.

Was der Händler bringt: Alles aus Metall, alles aus Plastik, Medizin, Zahnbürsten, Kohlen, Gas, Glas, Sonnenschirme, blaue Farbe, Bücher, Zeitungen, Papier, Tinte, Stifte, Kaffeebohnen, Reis, Linsen, Mehl, Zucker, fremde Gewürze wie Pfeffer und Bananen in Kartons, wie der, in dem ich lag. Oder das Grammophon mit der Musikscheibe, die wir bei unseren Festen abspielen.

Im Sommer bringt er frischen Fisch, den wir in guten Zeiten sofort essen und in schlechten Zeiten trocknen. Manchmal bringt er auch eine Neuheit von drüben, die er dem Ältestenrat vorstellt und wieder mitnimmt, wenn sie für uns nicht in Frage kommt. Das entscheidet der Ältestenrat, aber die dreizehn Männer sind für Veränderung nur schwer zu gewinnen, deswegen muss der Händler fast alles Neue wieder mitnehmen. Hat er aber keinen Platz mehr auf seinen Eseln, um die abgelehnte Neuheit wieder mitzunehmen, weil seine Esel schon mit unseren Tauschwaren voll beladen sind, irgendwer will unser Öl, will unseren Schnaps, will unsere Oliven, sie nennen das Handel, dann kommt es vor, dass etwas gegen den Willen des Ältestenrates für eine Weile bei uns hängen bleibt. Wie zum Beispiel ein Fernseher, ein Ventilator, ein Toaster oder ein Telefon. Solche Drübensachen funktionieren hier aber nicht, wir haben keinen Strom aus Kabel-Adern, wir haben hier nur Wind und Esel, nur Hände, Arme und Füße.

Angeguckt werden die Sachen trotzdem von allen, und wir überlegen gemeinsam, was wir damit anfangen könnten. Es ist selten etwas Nützliches dabei. Den Fernseher haben wir trotzdem behalten müssen. Der Händler hat uns erklärt, wie er funktioniert: Eine Reinguckkiste. Du drückst einen Knopf und dann ist da zum Beispiel ein Mensch drin, der Nachrichten aufsagt. Das geht aber nur mit Strom und einer Stangenantenne. Strom, Antenne, was soll das schon wieder sein, haben wir beides nicht, haben wir gerufen, das weißt du doch, du Depp, und einer hat den Fernseher aufgemacht, um zu sehen, ob da wirklich ein Mensch drin ist. War aber keiner drin, nur Metallsachen wie Eingeweide, die haben sie ihm ausgerissen. Dieses Teufelszeug, haben die Ältesten gebrüllt, unsere Nachrichten sagen wir uns selber auf. Da hat der Händler gesagt: Jetzt ist der Fernseher hinüber, so kann ich das Gerät nicht wieder mitnehmen, der ist ja jetzt kaputt, aber doch noch immer ein schöner Schmuck für euer Lokal. Hat er gesagt. Also haben wir den Fernseher behalten, erst stand er im Lokal, jetzt schmückt er einen Stall, die Ziegen von Jakup Jakupsohn benutzen ihn als Fresstrog, und der Händler hat von uns Olivenöl dafür bekommen.

Im Winter kommen die Schiffe seltener, kommt der Händler seltener und bringt uns nur noch Essbares, Gas und Kohlen.

Menschen von drüben sind zum Beispiel die Betschüler und der Arzt. Er kommt unregelmäßig und nur in der warmen Jahreszeit. Er kann Menschen, Tiere und Zähne. Wenn du im Winter krank wirst, musst du allein vom Dorfheiler, von seinen Kräutern, Tees und Umschlägen wieder gesund werden. Einen schmerzenden Zahn zieht er dir zur Not mit seiner Zange. Der Heiler hat alles von der Hebamme gelernt, aber das gibt er nicht zu. Die Frauen im Dorf wissen es trotzdem.

Alle paar Jahre kommt ein Schüler von drüben, der Betmann werden will, meistens nachts und meistens bei Vollmond. Der Vorsteher holt ihn beim Wächter ab, und gemeinsam steigen sie hoch zur Siedelei. Da hängen die Männer im Dorf die Fenster zu, damit die Dorffrauen vor fremden Blicken sicher sind, damit sich die Betschüleraugen nicht aus Versehen an den Mädchenkörpern verhaken. Aber ich saß schon drei Mal unterm Baum bei der Treppe und habe sie von meinem Mondschattenversteck aus beobachtet. Habe gesehen, wie sie am Bethaus vorbei zur Siedelei steigen. Sah ihren unsicheren Tritt, ihre scheuen Blicke zurück zum Hafen, sah die Hoffnung in ihren Herzen glimmen, hier eines Tages wieder wegzukommen. Sie wissen es noch nicht, wissen nicht, dass die Insel niemanden zurück lässt nach nirgendwo.

Andere Fremde kenne ich nicht. Andere sind für mich nur Fischerleute mit Boot, unten im falschen Dorf am Hafen. Niemals kommt ein Fischer hier hoch, niemals kommen wir runter. Von uns kann keiner schwimmen.

Die Insel gehört zu einem Land. Sie sagen, das Land hat eine Fahne und noch mehr Inseln. Wir haben uns unsere eigene Fahne gemacht, sie hängt am Ältestenhaus. Drauf sind drei Kreise, die sich schneiden, für jeden Gott einen. Die Ältestenfrauen haben sie bestickt. Sie sagen, unsere Insel ist die schönste, nirgends ist es so schön wie hier.

Und wie ich hier stehe, übers Dorf, übers Tal, bis zum Hafen blicke, jedes Ding bei seinem Namen nenne und immer wieder daran hängenbleibe, dass ich keinen Namen trage, da kommt mir der Gedanke, dass da etwas nicht stimmen kann, dass irgendwo ein Fehler sein muss. Wieso gibt es für jeden und alles einen richtigen Namen oder ein Wort, nur nicht für mich? Es gibt mich doch genau wie den Berg oder das Meer, wie den Einsiedler oder wie Mariah. Entweder da stimmt was mit dem Ganzen nicht, oder nicht mit den Gesetzen, oder nicht mit mir. Ich will so lange jedes Ding beim Namen nennen, bis mir aufgegangen ist, wo der Fehler verborgen liegt.

Jetzt hat der Schattenzeiger meine Zeit überholt, und ich muss schnell sein, wenn ich ihn wieder einholen will.

FÜNFTE STROPHE

(Das Signal)

Ich greife die beiden Schnüre, die aus dem Turmfenster des Bethauses hängen. Vier Mal beide, zwölf Mal nur die rechte ziehen und es singt durchs ganze Tal: Der Mittag ist da. Jetzt wissen es alle, auch die Hirtenmänner in den Bergen. Jetzt ruhen wir uns über die Mittagshitze hinweg aus. Die Männer jedenfalls. Im Haus gibt es ja immer viel zu tun.

Es gibt zwei Uhren in unserem Dorf, eine hier am Turm vom Bethaus und eine am Ältestenhaus. Unsere hier oben geht nur mit der Sonne, die unten am Ältestenhaus ist mechanisch und funktioniert auch bei Wolken, aber man muss sie aufziehen, und das wird oft vergessen, deshalb zeigt sie nie die richtige Zeit. Sie läuft nur, weil wir sie haben. Zwei Mal jagt ihr großer Zeiger den kleinen herum, dann ist ein Tag vorbei, egal wo die Sonne gerade ist. So gibt es zwei Zeiten bei uns, die echte von der Sonne geworfene hier oben, und die falsche menschengemachte unten.

Das Signal kommt nur von uns, wir geben es mehrmals am Tag. Der Bethaus-Vater und ich, wir hüten die Zeit, die richtige.

Gerade habe ich die Schnüre wieder festgemacht und will zum Haus, da sehe ich Sofia die Treppe hochsteigen. Mitten am Tag, mitten in der Hitze.

 Hallo Sofia!

Sie antwortet nicht. Das bedeutet vielleicht, dass sie nicht gesehen werden will, wegen ihrer großen Traurigkeit. Vielleicht will sie im Bethaus allein sein. Oder zum Friedhof. Oder zum Wunschbaum. Ich drehe mich gerade wieder weg, als sie außer Atem ruft:

 He! Gut, dass ich dich seh. Kannst du sauber nähen?

 Ja! Kann ich!

 Feine Stiche?

 Ja.

 Prima.

 Willst du Kaffee?

 Nein.

 Wasser?

 Danke, aber nein, lass nur.

Schon dreht sich Sofia wieder um, winkt kurz und steigt ohne weitere Worte die Stufen zurück ins Dorf. Dann sucht sie wohl nicht die Stille, dann will sie wohl nicht allein sein, dann will sie mich wohl bald ausleihen. Weil das nämlich so ist, dass man mich ausleihen kann. Da muss man den Bethaus-Vater fragen, der schickt mich dann und ich mache alles, was ich kann.

Ich mag Sofia und habe ihr schon oft mit der Wolle geholfen. Sie scheut sich nicht vor mir, ihr ist egal, was das Dorf sagt. Ihre Launen wechseln trotzdem manchmal schneller, als ich es verstehen kann. Den einen Tag umarmt sie dich und ist freundlich, und am nächsten Tag erkennt sie dich nicht in der Gasse. Ich dachte lange, es ist wegen mir, aber sie ist mit allen so. Jeden Herbst und jeden Frühling liegt Sofia unter der großen Traurigkeit im Bett. Die Traurigkeit ist so schwer, dass sie nicht aufstehen kann. Heute ist sie aufgestanden, das ist ein gutes Zeichen.

Vorbei am Bethaus, unter dem Torbogen durch, an den Blumen und Beeten, am Gemüsegarten und an den Kräutern vorbei, unter dem Weindach und durch die Küchentür ins Haus, ins Kühle, ins Warme, ins Herz.

Der Bethaus-Vater hat sich zurückgezogen und schläft sich schon durch den Mittag, ich bin ganz leise.

Unsere Tage sind bis an den Rand mit Arbeit gefüllt, es passt kaum noch etwas hinein. Wir stehen mit dem Tageslicht auf und gehen mit der Nacht zu Bett. Am frühen Morgen bin ich auf dem Feld und im Garten und gieße und rupfe und ernte, bevor die Sonne über den Berg ist. Früher hatten wir mehrere Hühner, jetzt nur noch zwei und die legen nicht mehr. Der Bethaus-Vater sagt, ich soll sie schlachten, aber ich bringe es nicht fertig. Ich hasse es, wenn sie noch zucken und flattern, obwohl der Kopf schon ab ist. Das Signal morgens, das vor und nach der Mittagsruhe, das gebe ich. In der achten Morgenstunde mache ich endlich den Kaffee und einen großen Krug Salbeitee, ich röste Brot, schneide Käse und Domates auf und bringe dem Bethaus-Vater sein Frühstück. Danach kümmere ich mich ums Haus, ums Wasser und um die Vorräte. Wir haben hier oben eine kleine Quelle, die kommt direkt aus dem Berg und fließt auch im Sommer, das erspart mir den Brunnen unten im Dorf. Den Winterregen sammeln wir in Zisternen, von unserem Wasser wirst du groß und stark. Das Wasser in unserem Dorf ist das beste Wasser, sagen sie, es formt uns zu dem, was wir sind. Im Haus koche, putze, räume, schrubbe und wasche ich, während der Bethaus-Vater betet, nachdenkt und mit den Göttern spricht. Wenn noch Zeit bleibt, gehe ich runter ins Dorf, zum Laden, oder ich helfe Mariah mit irgendwas oder bin irgendwo ausgeliehen. Zum Mittagssignal bin ich wieder zurück am Bethaus. Nachmittags geht es dann wieder in den Garten und auf die Felder. Oder du hängst über dem Bottich, weil, so wie jetzt im Blutmond, die Schafe geschoren und die Lämmer geschlachtet werden, weil die Wolle gewaschen werden muss, bevor sie verharzt, das Blut getreten werden muss, bevor es gerinnt. Oder es ist Herbst und die Oliven müssen geerntet, das Öl muss gepresst werden. Oder es ist Winter und du machst Handarbeit. Oder du arbeitest am Kostüm für den Großen Tanz. Oder du sammelst Feuerholz oder Kräuter in den Bergen. Wir haben hier ein Blattkraut, das musst du nur kurz in heißes Wasser geben und es ergibt den besten Salat. Ist gut für die Leber, genau wie Artischocken. Das Blattkraut wächst vom Winter bis in den Frühling. Genau dann, wenn du es nicht mehr sehen, riechen und essen magst, erlöst dich der Sommer. Oder du erntest Bohnen, Getreide, Gemüse, Färberkrapp, oder du bist oben bei den Windmühlen zum Mehlholen.

Du siehst, nie ist nichts, aber das stört mich nicht, weil ich beim Waschen wasche und beim Flicken flicke, beim Lachen lache und beim Schlafen schlafe. Am liebsten aber koche ich beim Kochen. Mariah hat mir alles gezeigt. Was ich an den Töpfen kann, weiß ich nur von ihr. Mariah hat ein Herz, da kann die ganze Welt drin wohnen. Ich darf sie Jahjah nennen.

Mariahs Mann hatte das Lokal im Dorf, er ist schon tot. Bei der Hochzeit seines Sohnes ist er am Herd einfach umgekippt und nie wieder aufgestanden, ein Skandal war das, sagen sie. Aber dass er gekocht hatte, war für das Dorf viel schlimmer, als dass er tot war, weil den Männern bei uns ja das Kochen verboten ist. Mariahs Mann wurde am Herd vom Tod gefällt, noch vor den Vorspeisen, während die Musik spielte und der Tanz tanzte, während die Mägen knurrten und der Wein floss. Skandal, sagen sie, als sei er absichtlich so gestorben. Jetzt streitet sein Sohn Kristof mit seiner Frau in der Küche an den Töpfen. Das schmeckt man auch, sagen sie, aber nie direkt zu ihm. Weil ein anderes Lokal gibt es hier nicht, und weil alle trotzdem anständige Portionen wollen, vor allem beim Wein und beim Schnaps.

Mariah ist zwar schon alt und ihre Augen sehen schlechter, aber keine schält so schnell und sauber die Patatas, keine putzt so flink den Knoblauch. Und immer noch holt sie täglich morgens vom Feld das Gemüse oder steigt fürs Mehl zum Müller auf den Berg wie eine junge Frau. Sie kennt die besten Rezepte, aber zum Kochen brauchst du Gefühl, sagt sie. Rezepte kannst du lernen, das Kochen aber wird Kristofs Frau nie können, weil ihr immer diese eine Zutat fehlt.

Damit ich am Nachmittag ohne Unterbrechung arbeiten kann, gibt der Bethaus-Vater alle Signale, bis ich wieder zu Hause bin. Wenn das erste Signal am Abend ertönt, sollen wir die Arbeit ruhen lassen. Das klappt natürlich nicht, außer du bist ein Mann oder alt und krank. Und das letzte Signal des Tages sagt uns, dass jetzt Zeit ist, ins Bett zu gehen. Aber das sagt uns auch die Nacht.

Es gibt keinen Augenblick am Tag, der nicht ausgefüllt ist, keinen Augenblick, der nicht der Arbeit und der Angst vor dem Hunger gewidmet ist. Schmerz und Dreck schreiben sich mit jedem Lebensjahr tiefer in unsere Körper, so dass man uns leicht lesen kann. Wir belohnen uns mit unserem Glauben, unseren Festen und dem Wissen um die Erlösung nach dem Tod.

SECHSTE STROPHE

(Die Ältesten)

Wie wir leben, entscheidet der Ältestenrat, das sind die dreizehn Ältestenmänner im Dorf, die noch richtig denken können. Sie haben Erfahrung, sie haben Weisheit, sie haben Ruhe und Gleichmut, und deswegen können sie gut Entscheidungen treffen, sagen sie. Die Ältestenmänner machen die Gesetze, beschließen und verwalten sie. Sie sagen, was gut und recht ist und was nicht. Sie sind die Bewahrer. Es soll sich so wenig verändern wie möglich. Was stabil ist, sagen sie, das hält. Und wenn etwas hält, sagen sie, dann hält es auch etwas aus. So wie mich. Das Dorf und die Gesetze halten mich aus. Denn so eine wie ich ist hier eigentlich nicht vorgesehen.

Ich finde, Mariah wäre auch ein guter Ältestenmann, aber das sage ich nicht, das singe ich nur. Und mein Lied hat viele Strophen.

SIEBTE STROPHE

(Der Tanz)

Die Küche ist mein liebster Raum im Bethaus. Hier bin ich nur ich, und hier bin ich glücklich. Sie ist das Herzstück, von hier kommen die Liebe, die Wärme und der Duft ins ganze Haus. Hier wird zusammengefügt und gesäubert, hier entsteht Neues, Nährendes, Gutes. Das ist wie Zaubern.

In der Küche ist der Ofen, ist der große Tisch, hängen die getrockneten Kräuter. Alles hat einen Namen. Alles ist an seinem Platz. Die Küchenseite vom Haus liegt mittags schon im Bergschatten, das haben sie gut gebaut, so wie es ist.

Am Vormittag habe ich Blattkräuter geschnitten. Ich seihe sie ab und tupfe sie trocken. In einer Tonschale vermenge ich Mehl, Eier und Öl mit Salz und Pfeffer und knete einen geschmeidigen Teig daraus. Für mich ist das ein Wunder: Dass aus den einzelnen Zutaten am Ende so etwas Gutes wie eine Kräuterpastete werden kann. Ich lege Äste auf die Glutreste im Ofen und lasse ihn Luft ziehen, bis das Feuer Holz frisst, dann schnüre ich ihm fast die Luft ab und wuchte die große, schwere Pfanne auf den Ofen, gieße vom Olivenöl hinein, lasse es heiß werden, aber nicht zu heiß, jetzt die Zwiebeln, dann der Knoblauch und zum Schluss die Blattkräuter. Es zischt und brutzelt und duftet und dampft. Etwas Salz dazu, wir bekommen es aus der Siedelei. Jeden Vollmond bringt ein Betschüler nachts einen Sack und stellt ihn beim Bethaus ab. Der Bethaus-Vater verteilt das Salz nach jeder Pujachatt an die Dorfbewohner.

Ich zerstoße Pfefferkörner im Mörser, wo wächst der eigentlich? Hier auf der Insel jedenfalls nicht. Würzen, umrühren, bis alles Grüne weich geworden ist, die Pfanne vom Feuer und alle Flüssigkeit abschöpfen, jetzt den Käse hineinbröseln. Es ist der erste Käse des Jahres, er ist ganz weich und körnig. Wieder umrühren. Während die Füllung abkühlt, mehle ich die Steinplatte ein, schneide den Teig in fünf gleiche Stücke, die ich zu Kugeln forme. Mit dem Nudelholz rolle ich aus der ersten eine hauchdünne Teigschicht, nehme das runde Blech, öle es ein und hebe mit beiden Händen den dünnen Teig hinein. Jetzt kommt eine Schicht Füllung darauf, dann die nächste dünne Teigschicht darüber. Das wiederhole ich, bis Teig und Kräutermischung aufgebraucht sind.

Ich koche beim Kochen. Wenn alles seine Reihenfolge hat, bleibt kein Augenblick frei, ist jede Bewegung da, wo sie sein soll. Dann fließt du wie bei einem Tanz durch die Zeit, und am Ende kommt eine Kräuterpastete heraus. Ab in den Ofen damit.

Minki sitzt neben mir auf dem Küchenboden und nervt.

ACHTE STROPHE

(Das Knäuel)

Im Dorf leben fast genauso viele Katzen wie Menschen. Die Katzen sind frei und können gehen, wohin sie wollen. Sie bleiben aber, so wie wir. Damit sie uns nicht über die Köpfe wachsen, macht der Arzt die neuen Kätzchen einmal im Jahr unfruchtbar. Damit man erkennt, welche er schon hatte, macht er ihnen einen Schlitz ins Ohr. Die Katzen haben alle möglichen Farben, sie sind wild gemischt, gestreift, getigert, gefleckt … Aber keine ist so wie Minki.

Sie hat langes Fell, das so wunderbar durcheinander ist, dass du manchmal die Augen nicht findest, wenn sie schläft. Sie sagen, bei der ist alles Mögliche mit drin, ein Nichtsnutz noch dazu, was soll die denn bitteschön fangen, lahm wie sie ist, mit ihren dreieinhalb Beinen, sagen sie. Aber gerade deswegen liebe ich sie so sehr. Minki ist mein Trostmoment.

Als ich sie fand, war sie ein Baby, ich hörte ihr Maunzen und Schreien aus dem Hof des Kaminbauers. Es war Abend, ich kam von Mariah und wollte zurück ins Bethaus. Ich blieb stehen, mir zersprang fast das Herz vom Geschrei, da musste ich einfach nachsehen. Das Katzenbaby lag im Hof am Boden, blutend, das rechte Bein steckte in einer Drahtschlinge und war in der Mitte fast vollständig abgetrennt. Aus dem Haus rief jemand: Ich erschlag das Viech! Ich ersauf es! Da habe ich das Kätzchen in meine Schürzentasche gehoben, mitsamt dem Draht, dem Blut und dem halben Bein, und bin, so schnell ich konnte, mit schreiender Schürze nach Hause.

Habe das Kätzchen auf den Küchentisch gelegt, es war schon ganz schwach, habe die Drahtschlinge entfernt, der Lauf hing nur noch an einem Stück Fell, habe das Beil genommen, habe mit der einen Hand das Tier, mit der anderen das Beil gehalten und den Lauf endgültig abgetrennt. Es ging ganz leicht. Habe die abgetrennte Beinhälfte weggeschmissen, das halbe Bein verbunden und dem Kätzchen in meinem Bett ein Nest gebaut. Minki. Auf einmal war der Name da. Ob auch mein Name irgendwann einfach da sein wird? Warum dauert es so lange, bis einer ihn findet. Nach drei Wochen war der Stumpf fast verheilt.

NEUNTE STROPHE

(Die Mutter)

Sie war ein Esel, war eine Hure. Sie war von drüben und sehr hässlich. Sagen sie.

Oder sie war die schönste Frau, die jemals gelebt hat. Leider hatte sie kein Zuhause, kein Feld und keinen Garten, um mich zu ernähren. Deswegen. Oder sie war ein Paradiesvogel und ich bin aus ihrem Ei geschlüpft. Oder sie musste zu dem Fußballturnier. Ganz dringend. Oder zu dem Krieg. Oder sie war ganz krank und ist gestorben. Oder sie ist die Frau aus dem Mond. Oder sie ist eine von den Tausendaugen.

ZEHNTE STROPHE

(Die Strafe)

Als ich noch ein Kind und klein und wild war, meine Augen noch nicht bodenblicks, ein Kind neben anderen Kindern, das von der Schule mittags nach Hause ging, habe ich die Schimpfwortattacken eines Sommertages nicht mehr ertragen. Da habe ich eine Faust gemacht, mich umgedreht und dem Enkel von Jakup Jakupsohn ein blaues Auge verpasst. Ich hatte nicht bedacht, dass Jakup Jakupsohn gerade erst in den Ältestenrat berufen worden war und der Schlag aufs Auge seines Enkels mir den Pfahl einbringen konnte. Das ist mir erst hinterher eingefallen. Ich schlug zu, sah sein Gesicht, das von verdutzt zu hasserfüllt zu überlegen wechselte. Dann erst hielt er sich das Auge und begann laut nach seiner Mutter zu rufen.

Aus Angst vor der Strafe bin ich anstatt nach Hause aus dem Dorf gelaufen. Bergab, bergab, weiter bergab, mein Ziel war das Unten, die Fischerhütten, der Hafen, mein Ziel war ein Schiff, war das Drüben, die Welt, alles, alles, nur nicht bleiben. Alles, alles nur nicht der Pfahl. Aber mit dem Weglaufen machte ich es nur noch schlimmer. Weil fürs Weglaufen, das weiß jedes Kind, kriegst du nicht nur den Pfahl. Wenn sie dich erwischen, und sie erwischen dich immer, dann holt dich der Angstmann. Aber je weiter ich lief, desto weniger konnte ich umkehren.

Ein Hirte hat mich noch vor dem Wächter erwischt, als ich, vom Rennen durstig, aus einer Eselstränke Wasser schöpfen wollte.

Einen Tag und eine Nacht musste ich am Schandpfahl auf dem Platz stehen. Wenn Mariah und mein Finder mir nicht zu trinken gegeben hätten, wäre ich zusammengebrochen. Zum Glück war noch nicht Sommer. Zwei Mal mussten die Zeiger rum, bevor sie mich losbanden. Und so blieb ich stehen, aufrecht und stolz und brach nicht zusammen.

Aber das war noch nicht alles, am Tag darauf kam noch das mit dem Bein.

ELFTE STROPHE

(Die Schule)

Die Pastete ist längst aus dem Ofen und erfüllt die Küche mit ihrem Duft. Ich gebe das Signal, vier Mal beide Schnüre, fünfzehn Mal die rechte. Die fünfzehnte Tagesstunde habe ich als Kind immer gefürchtet. Jetzt ist unten die Schule aus. Jetzt können die Kinder nach Hause oder zum Brunnen oder in den Olivenhain. Jetzt können sie sich zum Einsiedler schleichen oder Steinschleudern bauen und Eidechsen töten. Jetzt können sie vom wilden Honig naschen oder verirrte Schafe mit Steinen bewerfen. Jetzt können sie den Tabak ihrer Väter und die Lampen vom Hausaltar stehlen, sich wackelige Zigaretten drehen und hinter alten Steinmauern versuchen, Ringe zu paffen. Sie können irgendwo kokeln, sich prügeln, spielen, oder sie können zusammen mit den Kleinkindern schimpfend hinter mir her.

Die kleineren Kinder werden nur ein paar Stunden zum Spielen und Singen in der Schule behalten, aber ab acht Jahren musst du länger bleiben. Und ab dem zwölften Lebensjahr fordern die Eltern ihre Kinder zurück, damit sie bei der täglichen Arbeit helfen. Nur die klügsten Jungs dürfen weiterlernen. Nur die zartesten Jungs dürfen bleiben, nur von den schwächsten wird erhofft, dass sie, wenn schon schwach, doch bitte wenigstens klug sind.

Die Schule liegt im unteren Teil des Dorfes. Es gibt zwei Räume für den Unterricht. Einen für die Mädchen und einen für die Jungen. Es gibt einen Lehrer und eine Frau. Der Lehrer ist immer noch der, den ich auch schon hatte, die Frau hat gewechselt.

Die jüngeren Mädchen lernen durch Spiele das Dorf, die Gesetze und die Regeln. Sie lernen die Namen für die Menschen und für die Dinge von hier und von drüben. Sie lernen die wichtigsten Gebete und Gesänge auswendig. Sie lernen die Melodien für die Zeremonien.

Den Jungs bringt der Lehrer die Gesetze bei, die geschriebenen und die ungeschriebenen. Er bringt ihnen das Dorf, die Insel, das Meer, das Drüben und die Welt bei. Den Auserwählten unter den Jungs bringt der Lehrer sogar Lesen und Schreiben bei und schlägt vor, wer von ihnen weiter gefördert werden soll. Der Ältestenrat entscheidet. Der Lehrer ermutigt auch die Jungen, die Betmänner werden wollen. Der Ältestenrat entscheidet.

Wenn der Lehrer dich aussortiert, brauchst du nicht mehr in die Schule kommen.

Die Frau bringt den älteren Mädchen die Sachen bei, die man können muss, um eine gute Frau zu werden. Kochen, Backen, Nähen, Putzen, Waschen, Sticken, Stricken, Weben, Flechten, Gemüse, Kräuter … Welche Kräuter für welchen Tee, was wächst wo, wann wird was ausgesät, was wächst womit zusammen. Du lernst, wie du Flecken herausbekommst aus Stoffen. Du lernst, wie du Essen haltbar machst für den Winter. Du lernst, die Körper von Frau und Kind zu pflegen. Du lernst das alles auswendig und probierst nur wenig, weil fürs Zeigen sind die Mütter da. Und weil ich ja, wie sie sagen, vom Esel abstamme, hat Mariah mir so viel beigebracht, wie sie konnte.

Der Lehrer bringt den älteren Jungs bei, was man können muss, um ein guter Mann zu werden. Wie man mit der Frau umgeht. Wie man Käse macht. Wie man Lämmer und Ziegen schlachtet. Was man mit dem toten Tier machen muss. Fleisch, Knochen, Haut, Fell. Wie man sein Haus baut. Wie man seinen Acker pflügt. Wie man Tiere züchtet. Altes repariert. Welches Feld wann mit was bepflanzt wird. Wie man Wein macht, und Schnaps. Wie man ein Ältester wird. Wie das mit dem Geld geht. Das alles lernst du nicht nur auswendig. Das musst du am Lamm probieren. Und an der Milch. Und mit den Bienen.