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Über den Autor

Andreas Malessa
, Jahrgang 1955, seit 40 Jahren verheiratet, Theologe und Hörfunkjournalist, hat sich in jährlich rund 90 Vortragsveranstaltungen und insgesamt rund 20 Büchern den Ruf als scharfsinniger Beobachter und wortgewandter Kommentator des Menschlich-Allzumenschlichen erworben.

Inhalt

„Von guten Mädchen wunderbar geborgen“

Da weiß man, was man hatte

Es ist auf dem Highway zu hell

Die Bibel neu entdecken

Nicht echt jetzt. Mehr so ironisch

Anhängliche Angehörige

„Und ob ich schon wanderte im Digital …“

Trauern und träumen

In der Welt (der Ernährung) habt ihr Angst, aber …

Mehr Platz, mehr Zeit und mehr Geduld

Wer bin ich? Und wie!

Frühlingsgrau

Selbstfürsorge an Karfreitag

Anders, als es scheint

Rettet das Mittelmaß!

Text oder Textilien?

Den Eventcoach verstehen

Feiertags-Los

Korrekt kompliziert formuliert

Und worauf verzichtet ihr so?

Wer passt auf die Blumen auf?

Aufmerksamkeits-Panne

Vergessliche brauchen Vertrauen

Wer schenkt wem das Richtige?

Aber nicht aus Massenbaumhaltung!

„Von guten Mädchen wunderbar geborgen“

Von guten Mädchen wunderbar geborgen“: So erstrahlte es auf der Leinwand. Wörtlich. Breit und hoch zwischen Kanzel und Altartisch. Die erste Refrainzeile des berühmten Trostliedes von Dietrich Bonhoeffer „Von guten Mächten wunderbar geborgen“. Die meisten Gottesdienstgäste lachten. Anderen entfuhr ein erschrockenes „Hä?“ Aber weil die Orgel unverdrossen weiterspielte, musste auch die Gemeinde weitersingen: „… erwarten wir getrost, was kommen mag.“

Wolf-Rüdiger drehte sich um. Hinter der letzten Stuhlreihe errötete gerade ein junger Mann. Bedauernd kauernd hockte er da, irritiert in seinen Laptop hineinstaunend wie alle, die von ihren IT-Geräten Unerklärliches hinnehmen müssen.

„Konstantin, unser Jugendleiter“, flüsterte Roswitha zu ihrem Mann hinüber, „ein ganz Lieber. So was passiert halt mal.“ Sie sang jetzt besonders laut weiter. Als könne ihre Stimme die peinliche Schrifttafel vergessen machen. Wolf-Rüdiger seufzte. Letzten Sonntag hatte die Gemeinde in der zweiten Strophe des Chorals „Wie groß ist des Allmächt’gen Güte“ lesen und singen müssen: „Wer hat mit Langmut mich geleitet? Er, dessen Rad ich oft verwarf.“ Vor Wolf-Rüdigers geistigem Auge war ein Sperrmüllhaufen mit verworfenen Fahrrädern erschienen.

Bonhoeffers gute Mädchen waren zu Ende. Der Pastor bat die Gemeinde aufzustehen. „Da werden Texte schnell und schusselig in PowerPoint-Folien getippt von jungen Leuten, die kein Deutsch mehr können!“, zischelte Wolf-Rüdiger grimmig. Der Pastor begann zu beten. Roswitha flüsterte ein weiteres Entlastungsargument: „Die haben halt Lesen und Schreiben gelernt, als drei Rechtschreibreformen durch die Schulen tobten. Was richtig war, wurde falsch. Dann wieder richtig, dann flexibel schreibbar und dann gaben die Deutschlehrer auf. Was erwartest du?!“ Amen. Sie setzten sich wieder.

„Aber selbst kleinste Rechtschreibfehler können doch den Sinn verändern!“, fauchte Wolf-Rüdiger leise. Er dachte an den vorletzten Gottesdienst: Im Lied „So ist Versöhnung / Wie ein Fest nach langer Trauer“ heißt es, Versöhnung sei wie ein „Ich-mag-dich-trotzdem-Kuss“. Die lyrische Umschreibung einer charmanten Versöhnungsgeste zwischen zwei Liebenden. Das hatte der gute Konstantin offenbar nicht verstanden. Sonst hätte er das Wort „trotzdem“ zusammengeschrieben. So aber las die singende Gemeinde: „Ich mag dich trotz dem Kuss.“

Muss wohl ein erzwungener Kuss mit Mundgeruch gewesen sein. Mindestens aber herbe Unkenntnis des Genitivs …

Da weiß man, was man hatte

Erschreckend, wie wütend Wolf-Rüdiger werden konnte! Wenn frühmorgens sein „Tee-Aufguss-Ritual“ ins Stocken geriet, weil die Teedose nicht genau da im Schrank stand, wo sie immer stand. Weil das Sieb verschwunden blieb und das Glas Kandiszucker leer war. „Aaarrrrggghhh!“ – der Schrei, der bis zu Roswitha ins Badezimmer hinaufdrang, erinnerte sie an Donald Duck in den Comic-Geschichten ihrer Kindheit, wenn er richtig verzweifelt war.

Die beruhigende Wirkung gut geölter Abläufe im Haushalt kann ja innerhalb von Sekunden in flammenden Ärger umkippen, wenn der vertraute Rhythmus immer gleicher Handgriffe jäh unterbrochen wird. Die Forelle brutzelt im Bräter und der Pfannenheber liegt nicht in seiner angestammten Schublade?!

Da kann auch Roswitha sehr, sehr böse werden: „Welcher Idiot hat …?!“

Sie wohnen zu zweit hier, es kommt immer nur der Partner in Frage.

Was Rituale wert sind, weiß man erst zu schätzen, wenn sie weg sind.

Ihr halbes Leben lang waren die beiden vom wummernden Dröhnen der mächtigen Glocken einer benachbarten Kirche geweckt worden. Seit die geschlossen und umgewidmet worden war, hatte sich Roswitha für 7.00 Uhr den Weckersound „Glockengeläut“ aufs Handy geladen.

Apropos sieben: Täglich um 19.00 Uhr im ZDF die „heute“-Nachrichten zu gucken, war für Wolf-Rüdiger so selbstverständlich, dass er auch im Urlaub Punkt sieben den Fernseher einschaltete. Egal, ob in Thailand oder Island. Ob es Nachrichten gab oder nicht.

Dieser Wunsch nach sicheren Ritualen, nach dem vertrauten Immergleichen, machte sie skeptisch, wenn in ihrer experimentierfreudigen Gemeinde öfters ein „besonderer“, „mal ganz anderer“, „außergewöhnlicher“ Gottesdienst angekündigt wurde. „Wenn von 52 Gottesdiensten im Jahr die Hälfte außergewöhnlich ist, ist das Außergewöhnliche gewöhnlich, oder?“, hatte Wolf-Rüdiger gemeckert und komischerweise von jungen Hipstern Zustimmung erhalten. Die fanden ja auch nichts dabei, in ihren angeblich „kreativen“ Worship-Treffen immer dieselben fünf, sechs Lobpreislieder endlos zu wiederholen.

„Es ist zum Katholischwerden“, seufzte Roswitha. Wolf-Rüdiger schien irritiert. „Bei denen läuft seit 2000 Jahren jeden Sonntag dasselbe Programm“, ergänzte sie. „Das heißt Liturgie. Nicht Programm“, korrigierte Wolf-Rüdiger. „Außerdem sollte man Rituale nicht hirnlos abspulen, sondern sich was dabei denken!“

Er dachte an Roswithas Angewohnheit, nie aus dem Haus zu gehen, ohne den vollen Müllbeutel mitzunehmen und ihn draußen in der großen Gemeinschaftstonne zu versenken. Das machten eigentlich alle so in ihrer Straße. Ein umweltbewusstes, sinnvolles Ritual-beim-Rausgehen.

Ihr Nachbar Herbert, der Betriebsrat, hatte mal – in Eile auf dem Weg zu einer wichtigen Sitzung, schon völlig in Gedanken – seine Aktentasche in den Container geworfen, war mit der Mülltüte drei S-Bahn-Stationen weit zur Arbeit gefahren und hatte sie schwungvoll auf den Konferenztisch gestellt.

„Sind das Ihre Papiere?“, fragte der Vorstandsvorsitzende und eröffnete das Meeting. Wie immer. Mit dem Gebimmel einer kleinen Tischglocke.