817576_Peretti_Die_Finsternis_dieser_Welt_S003.pdf

7

Am Dienstagmorgen schien die Sonne durch die Fenster, und Mary war mit der Zubereitung von Brotteig beschäftigt. Hank fand den Namen und die Nummer im kirchlichen Adressverzeichnis: Reverend James Farrel. Er war Farrel nie begegnet, und er kannte nur das geschmacklose, bösartige Gerede über diesen Mann, der sein Vorgänger war und seitdem weit von Ashton weggezogen war.

Es war ein eigenartiger Einfall, ein winziger Lichtstrahl in der Finsternis, Hank wusste das. Aber er setzte sich auf die Couch, nahm das Telefon und wählte die Nummer.

„Hallo?“ Die Stimme eines müden älteren Mannes antwortete.

„Hallo“, sagte Hank und versuchte, angenehm zu klingen, trotz seiner angespannten Nerven. „James Farrel?“

„Ja. Wer ist da?“

„Hier ist Hank Busche, Pastor der“ – er hörte, wie Farrel einen lang gezogenen, hörbaren Seufzer von sich gab – „Ashton-Community-Gemeinde. Ich vermute, Sie wissen, wer ich bin.“

„Ja, Pastor Busche. Wie geht es Ihnen?“

Wie beantworte ich das, überlegte Hank. „Oh … in gewisser Hinsicht gut.“

„Und in anderer Hinsicht nicht so gut“, schlug Farrel vor und vollendete damit Hanks Gedanken.

„Mann, Sie sind tatsächlich auf dem Laufenden.“

„Nun, nicht aktiv. Von Zeit zu Zeit höre ich von einigen der Gemeindeglieder etwas.“ Dann fügte er schnell hinzu: „Schön, dass Sie anrufen. Was kann ich für Sie tun?“

„Oh, mit mir reden, vermute ich.“

Farrel antwortete: „Ich bin sicher, dass es viel gibt, was ich Ihnen sagen könnte. Ich hörte, dass diesen Freitag eine Gemeindeversammlung stattfindet. Ist das wahr?“

„Ja, das ist wahr.“

„Eine Vertrauensabstimmung, soweit ich das mitbekommen habe.“

„Das ist richtig.“

„Ja, da musste ich auch durch, wissen Sie. Brummel, Mayer, Turner und Stanley waren auch dafür verantwortlich.“

„Sie machen Scherze.“

„Oh, es ist eine Geschichte, die sich wiederholt, Hank. Glauben Sie mir.“

„Sie haben Sie hinausgedrängt?“

„Sie haben beschlossen, dass sie nicht mochten, was ich predigte – so brachten sie die Versammlung gegen mich auf, und dann verlangten sie eine Abstimmung. Ich habe nicht hoch verloren, aber ich habe verloren.“

„Dieselben vier Burschen!“

„Dieselben vier … aber jetzt, habe ich richtig gehört? Haben Sie Lou Stanley wirklich aus der Gemeinde ausgeschlossen?“

„Ja.“

„So etwas. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Lou das mit sich machen lässt.“

„Nun, die anderen drei machen dies zu einer Kardinalfrage; sie haben mich darüber nicht in Zweifel gelassen.“

„Und wie verhält sich die Gemeindeversammlung dazu?“

„Ich weiß nicht, es könnte ganz gut 50:50 ausgehen.“

„Und wie geht es Ihnen bei all dem?“

Hank wusste keine bessere Art, es auszudrücken. Er sagte: „Ich denke, ich stehe unter Beschuss – direkte, geistliche Angriffe.“

Schweigen am anderen Ende. „Hallo?“

„Oh, ich bin hier.“ Farrel sprach langsam, zögernd, so als ob er angestrengt nachdachte, während er versuchte zu sprechen. „Was für geistliche Angriffe?“

Hank stotterte. Er konnte sich vorstellen, wie die Erfahrung der letzten Nacht für einen Fremden klingen musste. „Nun … ich denke, hier ist tatsächlich Satan am Werk …“

Farrel wurde lauter: „Hank, welche Art von geistlichen Angriffen?“

Hank begann sie vorsichtig aufzuzählen, wobei er sich große Mühe gab, wie eine gesunde und verantwortungsvolle Person zu klingen, als er die hauptsächlichen Punkte erwähnte: die offenbare Manie, mit der Brummel ihn loswerden wollte, die Gemeindespaltung, das üble Gerede, der verärgerte Kirchenvorstand, der Spruch an seinem Haus und schließlich der geistliche Ringkampf, den er letzte Nacht austragen musste. Farrel unterbrach nur, um klärende Fragen zu stellen.

„Ich weiß, das alles klingt verrückt …“, schloss Hank.

Farrel konnte nur einen tiefen Seufzer herauslassen und murmelte: „Oh, vergiss alles!“

„Nun, wie Sie sagen, es ist nur eine Geschichte, die sich wiederholt. Zweifellos haben Sie ähnliche Dinge erfahren, nicht wahr? Oder bin ich der Einzige, der hier ein wirkliches Problem hat?“

Farrel kämpfte mit den Worten. „Ich bin froh, dass Sie angerufen haben. Ich habe immer mit mir gekämpft, ob ich nicht Sie anrufen sollte. Ich weiß nicht, ob Sie das jetzt hören wollen, aber …“ Farrel machte eine Pause, dann sagte er: „Hank, sind Sie sicher, dass Sie dorthin gehören?“

Oh, oh. Hank fühlte sich in die Verteidigungsstellung gedrängt.

„Ich glaube fest in meinem Herzen, dass Gott mich hierhin berufen hat, ja.“

„Wissen Sie, dass Sie durch ein Versehen als Pastor gewählt wurden?“

„Nun, einige sagen dies, aber …“

„Es ist wahr, Hank. Sie sollten das wirklich bedenken. Sehen Sie, die Gemeinde hat mich hinausgeworfen; sie hatten sich einen anderen Pastor ausgesucht und waren bereit, ihn zu holen, irgendein Bursche, dessen religiöse Philosophie liberal und weit genug war, um sie zufriedenzustellen. Hank, ich weiß wirklich nicht, wie Sie zu diesem Posten gekommen sind, aber es war mit Sicherheit irgendein Organisationsfehler. Eines wollten sie bestimmt nicht haben: einen weiteren fundamentalistischen Pastor – nicht, nachdem sie so große Anstrengungen unternommen hatten, denjenigen, den sie hatten, loszuwerden.“

„Aber sie wählten mich.“

„Es war ein Versehen. Brummel und die anderen hatten dies mit Sicherheit nicht geplant.“

„Nun, das ist offensichtlich.“

„In Ordnung, gut, Sie können das sehen. Lassen Sie mich Ihnen einen direkten Rat geben. Nach Freitag wird dies auf jeden Fall klar sein, aber wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich packen und mich nach einem anderen Posten umsehen, egal, wie die Abstimmung ausfällt.“

Hank wurde ein wenig ernüchtert. Diese Unterhaltung wurde langsam unangenehm; er konnte es nur noch nicht fassen. Alles, was er tun konnte, war, in das Telefon zu seufzen.

Farrel drängte: „Hank, ich war da, ich bin da selbst durchgegangen, ich weiß, was Sie durchmachen, und ich weiß, was Sie noch durchmachen werden. Glauben Sie mir, das ist es nicht wert. Lassen Sie sie diese Gemeinde haben, lassen Sie sie die ganze Stadt haben; nur opfern Sie sich nicht selbst.“

„Aber, ich kann nicht einfach gehen …“

„Ja, richtig, Sie haben einen Ruf von Gott. Hank, das hatte ich auch. Ich war bereit, in die Schlacht zu gehen und in dieser Stadt eine Festung für Gott aufzubauen. Sie wissen, es hat mich mein Haus, meinen Ruf, meine Gesundheit und es hätte mich beinahe meine Ehe gekostet. Ich habe mir wirklich überlegt, meinen Namen zu ändern, als ich Ashton verließ. Sie haben ja keine Ahnung, mit wem Sie es da tatsächlich zu tun haben. Da sind Kräfte am Werk in dieser Stadt …“

„Was für Kräfte?“

„Nun, politische, soziale … auch geistliche natürlich.“

„O ja, Sie haben meine Frage nicht beantwortet: Was ist mit dem, was mir letzte Nacht passiert ist? Was denken Sie darüber?“

Farrel zögerte, dann sagte er: „Hank … ich weiß nicht warum, aber es ist sehr schwierig für mich, über solche Dinge zu reden. Alles, was ich sagen kann, ist dies: Gehen Sie da raus, solange Sie noch können. Vergessen Sie es einfach. Die Gemeinde will Sie nicht, die Stadt will Sie nicht.“

„Ich kann nicht gehen, das habe ich Ihnen gesagt.“

Farrel machte eine lange Pause. Hank befürchtete bereits, er habe eingehängt. Aber dann sagte er: „In Ordnung, Hank. Ich werde es Ihnen erzählen und Sie hören zu. Was Sie letzte Nacht durchgemacht haben, nun, ich denke, dass ich ähnliche Erfahrungen gemacht habe, aber ich kann Ihnen versichern, was immer es war, es war nur der Anfang.“

„Pastor Farrel …“

„Ich bin kein Pastor. Nennen Sie mich Jim.“

„Darum geht’s doch beim Evangelium, Satan bekämpfen und das Licht der Guten Nachricht in der Finsternis leuchten lassen …“

„Hank, all die hübschen Predigten, die Sie ausgraben können, werden da nicht helfen. Nun weiß ich nicht, wie gut Sie ausgerüstet sind und wie groß Ihre Bereitschaft ist, aber um ganz ehrlich zu sein, wenn Sie durch das Ganze auch nur lebend durchkommen, wäre ich überrascht. Ich meine es ernst!“

Hank konnte darauf keine Antwort geben. „Jim … ich werde Sie wissen lassen, wie es ausgeht. Vielleicht gewinne ich, vielleicht komme ich nicht lebend heraus. Aber Gott hat mir nicht gesagt, dass ich lebend herauskommen würde; er hat mir nur gesagt, dass ich bleiben und kämpfen soll. Sie haben mir eines klargemacht: Satan will diese Stadt. Ich kann sie ihm nicht überlassen.“

Hank legte den Hörer auf und fühlte sich zum Heulen. „Herr Gott“, betete er, „Herr Gott, was soll ich tun?“

Der Herr gab keine sofortige Antwort, und Hank saß einige Minuten auf der Couch und versuchte, seine Stärke und Zuversicht zurückzugewinnen. Mary war noch in der Küche beschäftigt. Das war gut. Er konnte jetzt nicht mit ihr sprechen; es gab zu viele Gedanken und Gefühle, die erst einmal aussortiert werden mussten.

Dann kam ihm ein Vers in den Sinn: „Darum mach dich auf und durchzieh das Land in die Länge und Breite, denn dir will ich’s geben.“ Gut, das war sicher besser, als zu Hause herumzusitzen, sich unnötig aufzuregen, sich zu ärgern und doch nichts wirklich zu tun.

Deshalb zog er seine Turnschuhe an und ging zur Tür hinaus.

Krioni und Triskal waren draußen und warteten auf ihren Einsatz. Unsichtbar gesellten sie sich zu Hank – einer rechts, einer links von ihm – und gingen mit ihm den Morgan Hill hinunter zur Stadtmitte. Hank war nicht sehr groß, aber zwischen diesen beiden Riesen sah er noch kleiner aus. Er wirkte jedoch sehr, sehr sicher.

Triskal spähte wachsam umher und fragte: „Was hat er vor?“

Krioni kannte Hank mittlerweile sehr gut. „Ich denke, dass er selbst es auch nicht weiß. Der Geist treibt ihn. Er handelt gemäß einer Last in seinem Herzen.“

„Oh, wir werden etwas zu tun haben – und wir sind bereit!“

„Stelle nur keine Bedrohung dar. So kannst du am besten in dieser Stadt überleben.“

„Sag das diesem kleinen Pastor.“

Während sich Hank dem Hauptgeschäftsbezirk näherte, hielt er an einer Ecke an, um die Straße rauf und runter zu schauen. Er sah alte Autos, neue Autos, Lieferwagen, Einkaufende, Spaziergänger, Jogger und Radfahrer in vier und mehr Richtungen, welche die Lichter der Ampel als einen bloßen Vorschlag betrachteten.

Wo war nun das Böse? Wie konnte es gestern Nacht so lebendig sein und heute eine entfernte, zweifelhafte Erinnerung? Keine Dämonen oder Teufel lauerten in den Bürofenstern oder kamen aus den Gullis gekrochen; die Leute waren dieselben, einfaches, gewöhnliches Volk, das er immer schon gesehen hatte und das ihn nicht beachtete und vorbeiging.

Ja, das war die Stadt, für die er Tag und Nacht mit tiefen Seufzern des Herzens betete, und nun war seine Geduld auf eine harte Probe gestellt, und er war verwirrt.

„Nun, bist du in Schwierigkeiten oder nicht, oder ist es dir egal?“, sagte er laut.

Niemand hörte zu. Keine bösartigen Stimmen antworteten mit einer Drohung.

Aber der Geist des Herrn in ihm würde ihn nicht im Stich lassen. Bete, Hank. Bete für diese Leute. Lass sie nicht aus deinem Herzen. Der Schmerz ist da, die Angst ist da, die Gefahr ist da.

Und wann werden wir gewinnen?, antwortete Hank dem Herrn. Weißt du, wie lange ich schon schwitze und bete über diesem Ort? Nur einmal würde ich gerne hören, wenn mein kleiner Kieselstein ins Wasser platscht; ich würde gerne sehen, wie dieser tote Hund zuckt, wenn ich ihn anstoße.

Es war erstaunlich, wie gut sich die Dämonen verstecken konnten – sogar hinter den Zweifeln, die er manchmal im Blick auf ihre Existenz verspürte.

„Ich weiß, dass ihr hier draußen seid“, sagte er ruhig und starrte vorsichtig über die blanke Fassade der Gebäude, den Beton, die Ziegel, das Glas, das Blech. Die Geister hänselten ihn. Sie konnten in einem Augenblick auf ihn herabsteigen, ihn terrorisieren und schocken und dann verschwinden und wieder in ihr Versteck zurückschlüpfen, kichernd, Versteck spielend, und ihn beobachten, wie er als blinder Narr herumtappte.

Er setzte sich auf eine Bank und fühlte sich verstimmt.

„Ich bin hier, Satan“, sagte er. „Ich kann dich nicht sehen, und vielleicht kannst du dich schneller als ich bewegen, aber ich bin noch hier, und durch die Gnade Gottes und die Kraft des Heiligen Geistes werde ich so lange ein Dorn in deiner Seite sein, bis einer von uns genug hat!“

Hank schaute über die Straße zu dem eindrucksvollen Gebäude der Ashton United Christian Church. Er hatte in anderen Städten einige vorbildliche Christen kennengelernt, die zu dieser Kirche gehörten, aber dieser Haufen hier in Ashton war anders, liberal und sogar absonderlich. Er hatte Pastor Oliver Young ein paarmal getroffen, und er konnte nie besonders warm mit ihm werden; Young wirkte sehr kühl und distanziert, und Hank konnte nie herausfinden, warum.

Während Hank dasaß und beobachtete, wie ein brauner Wagen auf den Gemeindeparkplatz fuhr, standen Triskal und Krioni neben der Bank und beobachteten ebenfalls, wie das Auto anhielt. Nur die beiden konnten die besonderen Fahrgäste sehen: Auf dem Autodach saßen im Schneidersitz zwei große Krieger, der Araber und der Afrikaner, Nathan und Armoth. Keine Schwerter waren sichtbar, sie nahmen – gemäß Tals Anweisung – eine passive, unkriegerische Haltung ein, genauso wie all die anderen.

Marshall hatte sich Bernices Film angeschaut. Er hatte die winzigen Kratzer irgendeiner unsachgemäßen Behandlung gesehen; er hatte die unförmigen Fingerabdrücke in regelmäßigen Abständen gesehen, diese konnten sehr gut durch eine Hand, die den Film aus der Kamera gezogen und ihn im Licht aufgerollt hatte, entstanden sein.

Marshall hatte seinen Termin mit Young um 13 Uhr bekommen. Er fuhr um 12.45 Uhr auf den leeren Asphaltparkplatz, aß noch schnell einen Doppel-Cheeseburger und trank einen großen Kaffee dazu.

Ashton United Christian Church war eines der riesigen, stattlich aussehenden Gebäude innerhalb der Stadt. Die Kirche war im traditionellen Stil gebaut, mit schweren Steinen, bunten Glasfenstern, hochragend und mit einem majestätischen Kirchturm. Der Haupteingang passte zum Hauptmotiv: riesig, solide, sogar ein wenig einschüchternd, besonders, wenn man versuchte, die Tür ganz allein aufzustemmen. Die Kirche lag in der Stadtmitte, das Glockenspiel im Turm ertönte jede Stunde, und am Mittag spielte es ein kurzes Konzert. Sie war eine angesehene Einrichtung, Young war ein angesehener Kirchenmann, die Leute, die zur Gemeinde gehörten, waren angesehene Mitglieder der Gesellschaft. Marshall hatte oft gedacht, dass Ansehen und Stellung Vorbedingungen für eine Mitgliedschaft waren.

Er stemmte sich gegen die große Eingangstür und gelangte schließlich hinein. Nein, diese Gemeinde hatte keine Kosten gescheut, das war sicher. Die Böden im Vorraum, die Stufen und der Altarraum waren mit dicken roten Teppichen ausgelegt, die Holzarbeiten waren ganz aus Eiche und Walnuss. Überall sah man Messing: Türgriffe aus Messing, Kleiderhaken, Stiegengeländer, Fensterriegel. Natürlich waren die Fenster aus buntem Glas; und all die Decken waren hochragend und mit großen herabhängenden Kronleuchtern und erlesenen Verzierungen versehen.

Marshall betrat den Kirchraum durch eine weitere wuchtige Tür und ging den langen Mittelgang hinunter. Dieser Raum war eine Mischung aus Opernhaus und einer Höhle: das Podium war groß, die Kanzel war groß, die Empore für den Chor war groß. Natürlich war der Chor auch groß.

Das große Büro von Pastor Young, direkt an der Seite des Kirchenraums, bot einen Zugang zum Altarraum und zur Kanzel, und Pastor Youngs Eingang durch die große Eichentür jeden Sonntagmorgen war ein traditioneller Bestandteil der Liturgie.

Marshall stieß diese große Tür auf und trat in das Empfangsbüro ein. Die hübsche Sekretärin grüßte ihn, aber sie wusste nicht, wer er war. Er sagte es ihr, sie überprüfte ihren Notizblock und bestätigte es. Auch Marshall überprüfte ihren Notizblock, indem er verkehrt herum las. Für 14 Uhr war Alf Brummel vorgemerkt.

„Nun, Marshall“, sagte Young mit einem freundlichen, geschäftsmäßigen Lächeln und Händeschütteln, „kommen Sie herein, kommen Sie herein.“

Marshall folgte Young in sein Plüschbüro. Young, ein massiger Mann in den Sechzigern mit einem rundlichen Gesicht, einer Brille aus Drahtgestell und dünnen, gut geölten Haaren, schien seine Stellung in der Kirche und in der Gemeinde zu genießen. Die dunkel getäfelten Wände protzten mit vielen Gedenktafeln der Gemeinde und wohltätiger Organisationen. Daneben gab es noch zahlreiche Fotos, auf denen er mit dem Gouverneur, ein paar bekannten Evangelisten, einigen Schriftstellern und einem Senator zu sehen war.

Hinter seinem wuchtigen Schreibtisch bot Young das perfekte Bild des erfolgreichen Unternehmers. Der hohe Ledersessel wurde zu einem Thron, und sein eigenes Spiegelbild in der Schreibtischplatte machte ihn noch beeindruckender – wie ein Berg, der sich in einem Gebirgssee widerspiegelt.

Er führte Marshall zu einem Stuhl, und Marshall setzte sich, wobei er wahrnahm, dass er unter Youngs Augenhöhe sank. Er begann, jenen bekannten Anflug von Verunsicherung zu spüren; dieses ganze Büro schien zu diesem Zweck entworfen worden zu sein.

„Hübsches Büro“, meinte er.

„Vielen Dank“, sagte Young mit einem Lächeln, das seine Wangen gegen seine Ohren hin zusammenschob. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, seine Finger waren ineinandergefaltet und wippten am Schreibtischrand herum. „Ich genieße es, ich bin dankbar dafür und ich freue mich über die Wärme und die Atmosphäre dieses Ortes. Es entspannt einen.“

Entspannt dich, dachte Marshall. „Ja … ja.“

„Wie geht’s mit dem Clarion zurzeit?“

„Oh, es läuft gut. Haben Sie den heutigen bekommen?“

„Ja, er war sehr gut. Sehr ordentlich, stilistisch. Wie ich sehen kann, haben Sie etwas von echtem Großstadtniveau mitgebracht.“

„Mm, hmmm.“ Marshall fühlte sich plötzlich nicht mehr so gesprächig.

„Ich bin froh, dass Sie bei uns sind, Marshall. Wir freuen uns auf eine sehr gute Zusammenarbeit.“

„Gut, ja, danke.“

„Nun, was beschäftigt Sie?“

Marshall rutschte unruhig hin und her und sprang dann auf; dieser Stuhl gab ihm zu sehr das Gefühl einer Mikrobe unter einem Mikroskop. Das nächste Mal bringe ich meinen eigenen großen Schreibtisch mit, dachte er. Er ging unruhig im Büro herum und versuchte, ungezwungen auszusehen.

„Wir müssen eine Menge in einer Stunde unterbringen“, begann er.

„Wir können jederzeit weitere Treffen haben.“

„Ja, sicher. Nun, zuallererst, Sandy – das ist meine Tochter – ist letzte Nacht davongelaufen. Wir haben seitdem nichts gehört, wir wissen nicht, wo sie ist …“ Er schilderte Young kurz das Problem und dessen Vorgeschichte, und Young hörte aufmerksam zu, ohne ihn zu unterbrechen.

„So“, fragte Young schließlich, „Sie meinen, dass sie Ihren traditionellen Werten den Rücken gekehrt hat, und das beunruhigt Sie?“

„Hey, ich bin nicht sehr religiös, wissen Sie. Aber einige Dinge sind einfach nicht in Ordnung, und ich sorge mich um Sandy, da sie von einem Tag auf den anderen über den Zaun springt.“

Young erhob sich würdevoll von seinem Schreibtisch und ging auf Marshall zu mit der Haltung eines verstehenden Vaters zu. Er legte seine Hand auf Marshalls Schulter und sagte: „Glauben Sie, dass sie glücklich ist, Marshall?“

„Ich habe sie niemals glücklich gesehen, aber das liegt wahrscheinlich daran, dass jedes Mal, wenn ich sie sehe, ich da bin.“

„Und das könnte deswegen sein, weil Sie so schwer die Richtung verstehen können, die sie jetzt für ihr Leben wählt. Offensichtlich zeigen Sie ein bestimmtes Missfallen gegenüber ihren Weltanschauungen …“

„Ja, und gegenüber dieser Professorin, die ihr all diese Weltanschauungen aufdrückt. Haben Sie je diese, wie ist ihr Name, Professor Langstrat, außerhalb des Colleges getroffen?“

Young dachte nach, dann schüttelte er den Kopf.

„Sandy besucht zurzeit bei ihr ein paar Kurse, und nach jedem Kurs finde ich meine Tochter mit weniger Bezug zur Realität vor.“

Young lachte ein wenig in sich hinein. „Marshall, das klingt, als ob sie eben forscht, um etwas über diese Welt, über das Universum, in dem sie lebt, herauszufinden. Können Sie sich nicht mehr an Ihre eigene Jugend erinnern? So viele Dinge waren eben so lange nicht wahr, bis man sie selbst geprüft hat.“

„Gut, ich hoffe, dass sie anruft, wann immer sie es herausgefunden hat.“

„Marshall, ich bin sicher, sie würde viel eher anrufen, wenn sie zu Hause verstehende Herzen vorfinden würde. Wir können nicht entscheiden, was eine andere Person mit sich selbst anfängt oder was sie über ihre Stellung im Kosmos denkt. Jede Person muss ihren eigenen Weg, ihre eigene Wahrheit finden. Wenn wir jemals in Frieden auf dieser Erde zusammenleben wollen, müssen wir die Rechte der anderen auf ihre eigenen Ansichten respektieren.“ Marshall hatte blitzartig den Eindruck, als hätte er das alles schon einmal erlebt, als wäre eine Platte aus Sandys Gehirn in Youngs Kopf verpflanzt worden. Er konnte sich nicht verkneifen zu fragen: „Sie sind sicher, dass Sie niemals mit Professor Langstrat zusammengetroffen sind?“

„Ganz sicher“, antwortete Young mit einem Lächeln.

„Wie ist es mit Alf Brummel?“

„Wer?“

„Alf Brummel, der Polizeichef.“

Marshall beobachtete sein Gesicht. Kämpfte er um eine Antwort? Young sagte schließlich: „Wahrscheinlich habe ich ihn zufällig einmal getroffen … mir ging nur gerade das passende Gesicht zum Namen ab.“

„Nun, er denkt genau wie Sie. Spricht viel vom Überleben und Friedlichsein. Wie er ein Polizist geworden ist, werde ich nie begreifen.“

„Aber haben wir nicht über Sandy gesprochen?“

„Ja, okay. Sprechen Sie weiter.“

Young sprach weiter. „Die ganzen Fragen, mit denen Sie kämpfen, die Sache von falsch und richtig oder was die Wahrheit ist oder unsere verschiedenen Ansichten über diese Themen … so viele dieser Dinge sind unbegreiflich, versteckt im Herzen. Wir alle fühlen die Wahrheit in uns – wie den normalen Herzschlag in jedem von uns. Jeder Mensch hat die natürliche Fähigkeit zum Guten, zur Liebe und dazu, für sich und seinen Nächsten das Beste zu erwarten und zu tun.“

„Ich vermute, Sie waren nicht hier auf dem Volksfest.“

Young lachte. „Ich gebe zu, dass wir Menschen bisweilen im Gegensatz zu unseren guten Anlagen leben können.“

„Nebenbei – sagen Sie, haben Sie das Festival nicht mit initiiert?“

„Ja, jedenfalls zum Teil. Das meiste davon hat mich allerdings nicht interessiert.“

„Waren Sie selbst mal auf dem Volksfest?“

„Natürlich nicht. Es ist eine Geldverschwendung. Aber im Blick auf Sandy …“

„Ja, wir haben über das, was wahr ist, geredet und über die unterschiedlichen Standpunkte, die es gibt … zum Beispiel im Blick auf die ganze Sache mit Gott. Sie kann ihn scheinbar nicht finden, ich versuche nur, ihn festzunageln, wir können über unsere Religion nicht eins werden – und so weit haben Sie mir nicht viel geholfen.“

Young lächelte vielsagend. Marshall konnte fühlen, dass eine sehr erhabene Predigt im Anmarsch war.

„Ihr Gott“, sagte Young, „ist da, wo Sie ihn finden, und um ihn zu finden, müssen wir nur unsere Augen öffnen und erkennen, dass er in Wahrheit in uns allen ist. Wir waren nie ohne ihn, Marshall; es ist nur, dass wir durch unsere Unkenntnis blind waren, und das hat uns von der Liebe, der Geborgenheit und dem Sinn abgehalten, nach dem wir uns alle sehnen. Jesus offenbarte unser Problem am Kreuz, erinnern Sie sich? Er sagte: ‚Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht …‘ So hat er uns ein Beispiel gegeben, nach Erkenntnis zu suchen, wo immer wir sie finden mögen. Das tun Sie, und ich bin überzeugt, das ist es, was auch Sandy tut. Die Ursache Ihres Problems ist ein zu enger Blickwinkel, Marshall. Sie müssen offener werden. Sie müssen suchen, und Sandy muss suchen.“

„Demnach“, sagte Marshall gedankenversunken, „sagen Sie, dass alles davon abhängt, wie wir die Dinge betrachten?“

„Das ist sicher ein wichtiger Schritt, richtig.“

„Und wenn ich etwas in einer bestimmten Art wahrnehme, bedeutet das nicht, dass jeder es so sieht, richtig?“

„Ja, das ist richtig!“ Young schien mit seinem Schüler sehr zufrieden zu sein.

„Demnach … lassen Sie mich sehen, ob ich es richtig verstanden habe. Wenn meine Reporterin Bernice Krueger wahrgenommen hat, dass Sie, Brummel und drei andere Leute irgendein kleines Treffen hinter einer Wurfpfeilbude auf dem Volksfestplatz hatten … nun, dann war das nur ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit?“

Young lächelte mit einem eigenartigen Was-versuchst-du-da-herbeizuführen-Grinsen. Dann räusperte er sich und antwortete: „Ich vermute, so ist es, Marshall. Ich schätze, dies ist so ein Fall. Ich war niemals in der Nähe des Volksfestes, und ich habe Ihnen das erzählt. Ich verabscheue solche Ereignisse.“

„Sie waren da nicht mit Alf Brummel?“

„Nein. Nun sehen Sie, dass Frau Krueger eine falsche Wahrnehmung von jemand anderem hatte.“

„Vermutlich von Ihnen beiden.“

Young lächelte und zuckte mit den Achseln.

Marshall machte ein wenig Druck. „Womit können Sie sich so etwas erklären?“

Young lächelte weiter, aber sein Gesicht wurde etwas rot. „Marshall, was wollen Sie von mir? Soll ich mit Ihnen streiten? Sicherlich sind Sie nicht deswegen hierhergekommen.“

Marshall ging aufs Ganze und sagte: „Sie hat sogar Fotos von Ihnen gemacht.“

Young seufzte und schaute einen Augenblick auf den Boden. Dann sagte er kühl: „Warum bringen Sie diese Fotos nicht das nächste Mal mit, dann können wir uns darüber unterhalten?“

Das kleine Lächeln auf Youngs Gesicht traf Marshall wie Spucke.

„Okay“, murmelte Marshall, wobei er ihn weiter beobachtete.

„Marge wird Ihnen einen neuen Termin geben.“

„Vielen Dank.“

Marshall schaute auf seine Uhr, ging zur Tür und öffnete sie. „Komm herein, Alf.“

Alf Brummel saß im Vorraum. Beim Anblick von Marshall sprang er verlegen auf. Er wirkte wie jemand, der in der nächsten Sekunde vom Zug überfahren wird.

Marshall ergriff Alf bei der Hand und schüttelte sie aufgeregt. „Hey, Kumpel! Da ihr beide euch nicht sehr gut zu kennen scheint, lass mich euch miteinander bekannt machen. Alf Brummel, dies ist Reverend Oliver Young. Reverend Young: Alf Brummel, Chef der Polizei!“

Brummel schien Marshalls Herzlichkeit überhaupt nicht zu genießen, aber Young tat es. Er ging nach vorne, ergriff Brummels Hand, schüttelte sie und zog dann Brummel schnell in sein Büro, wobei er über seine Schulter hinweg sagte: „Marge, machen Sie einen neuen Termin für Mr Hogan aus.“

Aber Mr Hogan war schon weg.