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Kapitel 8

„Eine kleine Palme wuchs am Rande einer Oase. Eines Tages kam ein Reisender vorbei. Er sah die kleine Palme. Aber statt sich an ihrem prächtigen Wuchs zu freuen oder sich in ihrem Schatten von der Reise zu erholen, ärgerte er sich über die kleine Palme und ihre Pracht.

Der Mann nahm einen schweren Stein und hob ihn in die Krone der Palme, dann suchte er schadenfroh lachend das Weite. Die kleine Palme versuchte, den Stein abzuschütteln. Aber es gelang ihr nicht. Sie war verzweifelt.

Da sie den Stein nicht aus ihrer Krone bekam, blieb ihr nichts anderes übrig, als mit ihren Wurzeln immer tiefer in die Erde vorzudringen, um besseren Halt zu finden und nicht unter der Last zusammenzubrechen. Schließlich kam sie mit ihren Wurzeln bis zum Grundwasser. Sie sog das lebensspendende Nass auf und wuchs trotz der Last in ihrer Krone zur kräftigsten Palme der Oase heran.

Nach mehreren Jahren kam der Reisende wieder. Voller Schadenfreude suchte er nach der verkrüppelten Palme, falls es sie überhaupt noch gab. Aber solange er auch suchte, er fand keinen verkrüppelten Baum.

Plötzlich jedoch bog sich die größte und kräftigste Palme der Oase zu ihm herunter und sagte: „Danke für den Stein, den du mir damals in die Krone gelegt hast. Deine Last hat mich groß und stark gemacht!“

„Deine Last hat mich groß und stark gemacht …“, wiederholte Natalie versonnen, als Conor das Märchen beendet hatte. Traf etwas Ähnliches auch auf die Blumen zu, denen Natalie hier ans Tageslicht half? Möglicherweise war die Decke aus Blättern und Unkraut nicht nur Last für sie gewesen, sondern gleichermaßen auch der schützende Schirm für ihre frühe Blüte?

Für einen Augenblick war nichts weiter zu hören als das Zwitschern der Vögel in der Baumkrone über ihren Köpfen, dann beendete das Röhren eines PS-starken Motors die Stille. Über knirschenden Kies hinweg näherte sich das Röhren, und schließlich hielt ein roter Sportwagen vor Holly Cottage.

Während Conor alarmiert aufsprang, stieg der Fahrer aus, zupfte eine Fluse von seiner karierten Golfhose und kam auf die beiden zu. Mit seinem gestylten blonden Haar, dem trendigen Vollbart, der extravaganten Brille, der Golfhose und dem Poloshirt wirkte der junge Mann auf Natalie wie einem Lifestyle-Magazin entstiegen. Hätte er im nächsten Augenblick eine Golfausrüstung aus dem Wagen geladen, wäre sie nicht im Geringsten erstaunt gewesen. Stattdessen aber grinste er breit.

„Na, wie sieht’s aus, Conor, willst du deinen kleinen Bruder denn gar nicht begrüßen? Hat mein glänzendes Aussehen dir etwa die Sprache verschlagen?“

Fragend wanderte Natalies Blick von dem Neuankömmling zu ihrem schweigenden Nachbarn.

Endlich fand Conor seine Sprache wieder. „Hallo, Fionn, wie geht’s?“, brummte er in Richtung des Sportwagenfahrers, ehe er sich rasch wieder Natalie zuwandte.

„Darf ich vorstellen, Nat: Das ist mein jüngerer Bruder Fionn, der mich eben mit seinem Besuch überrascht. Fionn, das ist Miss Breuer, Mattys Gast aus Deutschland.“

„Mattys Gast?“ Für den Bruchteil einer Sekunde verfinsterte sich Fionns Blick, doch er hatte sich rasch wieder gefangen. Sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen, und seine blauen Augen blitzten auf, während er Natalie die Hand reichte. „Sehr erfreut, Miss Breuer. Wie schön, dass eine junge Dame aus dem fernen Deutschland ausgerechnet unsere entzückende Bucht besucht!“

„Ja, sie ist tatsächlich entzückend, Mr McGarvey“, entgegnete Natalie. Conor dagegen murmelte verhalten: „Unsere entzückende Bucht – seit wann denn dieser Meinungsumschwung?“

„Nein, bitte, nennen Sie mich Fionn!“ Nonchalant ignorierte der Jüngere Conors Einwand. „Der Name Fionn ist viel zu bekannt und bedeutungsvoll, um ihn durch ein Mr McWhatever zu ersetzen. Sie kennen doch sicherlich die Geschichte meines weltberühmten Ahnherrn Fionn MacCool, Natalie?!“

„Eigentlich nicht, nein.“

„Oh, das sollten Sie aber! Fionn MacCool war der heldenhafte Riese, der in grauer Vorzeit einen Felsendamm von der Nordküste Irlands über das Meer bis hinüber nach Schottland baute.“

„Ach ja, davon habe ich gelesen. Sie sprechen vom Giant’s Causeway, nicht wahr?“ Natalie erinnerte sich vage an die Legende um die Entstehung dieses Naturwunders, von dem sie im Reiseführer gelesen hatte.

„Haargenau, liebe Natalie!“ Fionns intensiver Blick ließ sie nicht eine Sekunde los. „Und in der gleichen Art und Weise, wie die Menschheit heute von Fionn MacCool spricht, wird sich die Nachwelt in ein paar Tausend Jahren an mich, den ebenso heldenhaften Fionn den Jüngeren erinnern!“

Der junge Mann begab sich in Heldenpose: Er warf sich in die Brust, stellte sein rechtes Bein auf einen leeren Blumentopf am Terrassenrand, als wäre dieser ein besiegter Widersacher, und schwang mit dem Arm ein imaginäres Schwert.

Natalie lächelte. So wenig sie Aufschneider für gewöhnlich mochte, dieser Fionn mit seinem jungenhaften Grinsen, das so gar nicht zu seinem Hipster-Aussehen passte, war ihr einfach sympathisch.

„Und mit welcher Art von Heldentat wollen Sie diesen Ruhm erringen, wenn ich fragen darf?“, ging sie auf ihn ein.

„Ach, mir schwebt da so einiges vor! Sie werden es zu gegebener Zeit schon sehen – und du auch, großer Bruder. Brauchst mich gar nicht so skeptisch anzusehen!“ Spielerisch stieß Fionn Conor vor die Brust.

Conor machte keine Anstalten, auf den Scherz einzugehen. Seine Miene war nicht nur skeptisch, dachte Natalie, sondern auch ausgesprochen düster. Seine faszinierenden Connemara-Marmor-Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt, und auch sein Mund wirkte seltsam verkniffen. Aus irgendeinem Grund mochte Conor seinen Bruder nicht sonderlich gern.

„Nein, im Ernst, Fionn“, sagte Conor steif. „Was willst du hier?“

„Das ist doch ganz offensichtlich: Ich besuche dich!“, erklärte Fionn ungerührt. „Ist schließlich eine Weile her, dass wir uns das letzte Mal getroffen haben.“

„Gerade deshalb bin ich auch so erstaunt, dich hier zu sehen.“

„Erstaunt und zumindest ein klein wenig erfreut, hoffe ich doch. Und, wie wäre es jetzt mit einem Gespräch unter Brüdern und vielleicht auch einem erfrischenden kleinen Drink dazu?“

„Falls du darauf bestehst und dich auch mit einer Tasse Tee zufriedengibst“, stimmte Conor achselzuckend zu. „Ein paar Minuten kann ich wohl erübrigen, ehe ich wieder in die Redaktion fahre.“

„Wenn das mal keine Bruderliebe ist!“, seufzte Fionn in Natalies Richtung. „Er ringt sich mit Müh und Not ein paar Minuten seiner kostbaren Arbeitszeit für mich ab. Ich hoffe nur, es macht Ihnen nichts aus, dass ich Sie seiner Gesellschaft beraube?“

„Nein, selbstverständlich nicht.“

„Schön. Dann komm, Conor, steig ein und wir fahren hinunter zu deinem Haus. Goodbye, Natalie! Ich bin sicher, wir sehen uns schon bald wieder.“ Er schenkte ihr ein weiteres strahlendes Lächeln, dann warf er sich auf den schwarzen Ledersitz und öffnete Conor die Beifahrertür. Sein Fuß fand das Gaspedal, Kies spritzte auf, und wenige Augenblicke später verschwand der Wagen mit den beiden Brüdern aus Natalies Blickfeld.

Gedankenverloren wandte sie sich wieder ihren Pflanzen zu. Im Gegensatz zu Fionn hatte Conor sich mit keinem Wort von ihr verabschiedet. Hatte nur mit finsterem Blick im Jaguar seines Bruders Platz genommen und ihre Anwesenheit offenbar vollkommen vergessen, nachdem sie sich zuvor so gut unterhalten hatten. Was ihn wohl so sehr an Fionns Gegenwart irritierte? Mussten Familienbeziehungen tatsächlich immer so kompliziert sein, wie es das Verhältnis zwischen diesen Brüdern offensichtlich war? Pflanzen, in all ihrer Unterschiedlichkeit, konnten doch auch weitgehend ungestört nebeneinander gedeihen und blühen …

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Conor musterte seinen Bruder verstohlen. Fionn hatte sich tatsächlich kaum verändert seit ihrer letzten Begegnung. Falls überhaupt, war er noch ein wenig mehr auf „Manager des Jahres“ getrimmt als bisher. Allein die Tatsache, dass er nun einen Jaguar Coupé fuhr, sprach Bände.

Aber so war sein kleiner Bruder schon immer gewesen. Seit jeher legte er größten Wert auf sein Erscheinungsbild. Er musste seine Mitmenschen beeindrucken, sei es nun durch sein Aussehen, seine Taten oder auch seinen Besitz. Kurzum: Er definierte sich ausschließlich über Äußerlichkeiten.

Als Conor zum Studium nach Dublin gegangen war, hatte Fionn gerade mit Müh und Not die Schule abgeschlossen und eine Ausbildung im Autohaus ihres Vaters begonnen. Wobei ihr Vater, ein sehr bodenständiger Mann, sich stets mehr mit der Werkstatt beschäftigte und Fionn sich mit seinem strahlenden Lächeln und seiner Beredsamkeit auf den Neuwagenverkauf spezialisierte. Er erwies sich als ausgesprochenes Verkaufstalent, aber das genügte ihm schon bald nicht mehr.

Trotz seiner eher ungenügenden schulischen Leistungen ergatterte er nach der Berufsausbildung einen Studienplatz, machte einen Abschluss in Management und betätigte sich anschließend in verschiedenen Firmen. Im Lauf der Jahre besuchte Fionn sein Elternhaus immer seltener, und der Kontakt zu Conor schlief nahezu vollständig ein. Die beiden so unterschiedlichen Brüder – der belesene, introvertierte, „fromme“ Conor und der oberflächliche Sonnyboy Fionn – entfremdeten sich zusehends.

Seit Neuestem betätigte Fionn sich als Eventmanager – und offenbar sehr erfolgreich, wie Conor von ihrer Mutter erfahren hatte. „Er arbeitet quasi rund um die Uhr“, hatte sie geklagt. Umso erstaunlicher fand Conor, dass er sich plötzlich und ganz ohne speziellen Anlass die Zeit nahm, seinen Bruder zu besuchen. Der Ältere konnte sein Misstrauen einfach nicht unterdrücken.

Auf ihrem Weg zu Conors Heim hatten sie mittlerweile das Boathouse erreicht, und Fionn brachte den Jaguar zum Stehen. „Die arme alte Bude hat auch schon mal bessere Tage gesehen!“, erklärte er, ehe Conor ihn nach dem Grund für den unerwarteten Halt fragen konnte. „Unternehmen die Besitzer denn gar nichts, um das Gebäude zu erhalten? Ich meine, mit seiner sensationellen Lage hier in der Bucht ist es doch eine Schande, es so verfallen zu lassen!“

„Wohl wahr! Aber nicht alle Menschen schwimmen im Geld, so wie du es scheinbar tust“, konterte Conor mit bezeichnendem Blick auf den Wagen.

„Die Eigentümer besaßen doch früher einmal die ganze Bucht einschließlich des Herrenhauses! Du willst mir doch nicht erzählen, dass sie heute vollkommen pleite sind?!“

„Das entzieht sich meiner Kenntnis. Ich weiß nur, dass Jonathan Callaghan seit einem Schlaganfall pflegebedürftig ist und seine Frau sich derweil Mühe gibt, alles so gut als möglich zu erhalten. Übrigens, dort vorne ist Mrs Callaghan.“ Er deutete mit dem Kinn auf Matty, die sich auf der Boathouse-Terrasse an einem der Kajaks zu schaffen machte. Sie hatte einen Eimer Wasser vor sich stehen, eine Sprühflasche mit Kunststoffreiniger in der Hand und schien den parkenden Jaguar auf der Straße nicht einmal zu bemerken.

„Ach, tatsächlich!“ Fionn legte die Hand vor die Augen, blickte angestrengt gegen die Sonne und rief: „Huhu, Mrs Callaghan, wie geht’s Ihnen? Schöner Tag heute, nicht?“

„Was soll denn das, Fionn?!“, rügte Conor. „Du kennst Mrs Callaghan doch gar nicht!“

„Nun, das kann sich ja ändern“, gab Fionn unbekümmert zurück. Und tatsächlich blickte Matty von ihrer Arbeit auf und kam, nachdem sie Conor erkannt hatte, auf den Wagen zu.

„Ein wunderschöner Tag!“, bestätigte sie und strich sich mit ihrem nassen Gummihandschuh eine graue Locke aus dem Gesicht. „Guten Morgen, Conor. Und Sie sind?“ Fragend musterte sie Fionn.

„Ich bin Fionn, Conors charmanter und gut aussehender kleiner Bruder, und sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Mrs Callaghan!“ Ungeachtet des verschmutzten Gummihandschuhs streckte Fionn Matty die Hand entgegen.

„Ach, wie schön – der Bruder! Dann hast du ja sogar schon heute Besuch, Conor“, stellte Matty fest, ehe sie sich an den Neuankömmling wandte. „Meine Hand gebe ich Ihnen trotzdem nicht, kleiner Bruder Fionn, sonst verschmutzen Sie am Ende noch Ihre Nobelkarosse, und das wollen wir doch vermeiden!“

„Wie Sie meinen.“ Fionn zog seine Hand zurück. „Ihren Gast habe ich übrigens auch schon kennengelernt. Oben beim Cottage, als ich auf der Suche nach Conor war.“

„Nat? Wie schön. Es sieht ja fast so aus, als zöge hier endlich wieder Leben ein!“ Erfreut blickte Matty von Fionn zu Conor und hinauf zum Cottage, dann erklärte sie: „Ich habe eine grandiose Idee: Wollt ihr beiden heute Abend nicht zu Nat und mir zum Essen kommen? Ich koche uns etwas Feines, und ihr jungen Leute könnt euch zu dritt unterhalten. Na, wie klingt das?“

„Ich bezweifle, dass Fionn so lange bleiben kann“, dämpfte Conor Mattys Begeisterung.

Doch Fionn überlegte nicht lange. „Das klingt tatsächlich grandios!“, wiederholte er Mattys Worte. „Wir nehmen Ihre Einladung gerne an!“ Seinem Bruder erklärte er: „So viel Zeit muss sein. Auf diese Weise lohnt sich mein Besuch bei dir wenigstens.“

„Dann wäre das abgemacht.“ Matty klatschte mit der Handfläche gegen die Wagentür, wobei sie nun doch einen deutlich sichtbaren Abdruck auf dem roten Lack hinterließ. „Ich sehe euch heute Abend um acht Uhr, in Ordnung? Und jetzt sollte ich mich wieder meiner Instandsetzungsarbeit widmen, damit ich heute wenigstens eines der Kajaks flottbekomme.“ Damit wandte sie dem Jaguar und seinen Insassen den Rücken zu und stapfte zurück zum Boathouse.

Fassungslos wandte Conor sich wieder seinem Bruder zu. „Was soll das denn nun bedeuten? Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, hattest du nichts als hochnäsige Herablassung übrig für meine Nachbarn und dieses – ich zitiere – gottverlassene Nest, und nun lädst du dich offenbar nicht nur für einen ganzen Tag bei mir ein, sondern setzt dich auch freiwillig mit Mrs Callaghan an einen Tisch?“

Lässig hob Fionn die Achseln. „Weshalb sollte man seine Meinung nicht auch mal ändern? Vielleicht bin ich ja im letzten Jahr erwachsener und vernünftiger geworden.“

„Das kannst du einem anderen weismachen, aber nicht mir, Fionn! Irgendetwas führst du doch im Schild mit dieser Charmeoffensive gegen die beiden Frauen.“

„Und wenn schon!“ Mit einer lässigen Handbewegung wischte Fionn die Anschuldigungen des älteren Bruders beiseite. Zwar hatte Conor damit voll ins Schwarze getroffen – aber noch war der Zeitpunkt nicht gekommen, ihn einzuweihen. Wie es aussah, hatte das Schicksal Fionn nämlich eine weit bessere Art und Weise in die Hände gespielt, wie er sein Ziel erreichen konnte, als mit Conors Hilfe. Wie schon so oft war das Glück ihm auch heute hold …

Fröhlich pfeifend drehte er den Schlüssel im Zündschloss und legte die letzten Meter zu Conors Haus zurück.

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An diesem Nachmittag fuhr Natalie allein zu Jonathan ins Pflegeheim.

Mittags waren Matty und sie nach einem raschen Lunch einkaufen gegangen, und nun stand Matty in der Küche, um das abendliche Festmahl vorzubereiten. Sie hatte fünf verschiedene Rezepte für ein Drei-Gänge-Menü sowie die dazugehörigen Zutaten herausgesucht und die Küche bereits in einen heillos chaotischen Zustand versetzt, ehe sie sich für eines der Menüs entschied, sodass sie kaum registriert hatte, als Natalie sich verabschiedete.

Im Pflegeheim verzog sich Jons Gesicht zu einer erfreuten Grimasse, als Natalie ihm von Mattys spontaner Einladung der beiden Brüder und ihrem gastgeberischen Ehrgeiz berichtete. Das hört sich ganz so an, als würde meine Frau wieder zu ihrer alten Form auflaufen!, tippte er auf seinem Tablet. Immer nur bei mir im Pflegeheim herumzusitzen, tat ihr gar nicht gut. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass sie ihre ganze Impulsivität verloren hat!

Natalie lächelte ebenfalls. „Und ich fürchtete bereits, du wärst enttäuscht, wenn ich allein komme.“

Vehement schüttelte Jon den Kopf, und ein halbwegs verständliches „Aber nein!“ kam über seine Lippen.

Wie kommst du denn auf die Idee?, fuhr er schriftlich fort. Jetzt haben wir beide doch eine hervorragende Gelegenheit, uns über die alten Freundinnen zu unterhalten. Das heißt, natürlich nur, wenn du gerne über deine Mutter sprechen möchtest.

„O ja!“, nickte Natalie. Sie hatte das Gefühl, mit jedem Tag, den sie hier verbrachte, und mit jedem Gespräch weitere Seiten an ihrer Mutter zu entdecken, die ihr zu deren Lebzeiten vollkommen unbekannt gewesen waren. „Matty hat mir zwar schon viel von eurer gemeinsamen Zeit hier in Irland erzählt, aber ich würde gerne noch mehr darüber erfahren. Zum Beispiel würde mich interessieren, was dir persönlich von meiner Mutter – von Gitte – am besten in Erinnerung geblieben ist!“

Das ist nicht ganz einfach. Jonathans Finger verharrten zögerlich über der Tastatur, und Natalie erkundigte sich besorgt: „Wird dir das Schreiben zu anstrengend? Moment, ich helfe dir!“ Sie rückte ihren Stuhl seitlich an seinen Rollstuhl heran und streckte ihren Arm aus, sodass Jons Unterarm auf ihrem zu liegen kam. „So besser?“, vergewisserte sie sich.

Jon nickte dankbar. Der Grund für mein Zögern war zwar eher der, dass ich erst nachdenken musste, aber so ist es tatsächlich besser.

Dann fange ich vielleicht einfach mal mit dem Erlebnis an, das zu meinen liebsten Erinnerungen an jenen Sommer gehört. Es war eine Bootstour zu den Skellig Rock Islands vor Kerrys Küste. Seit man auf einer der beiden Inseln vor einigen Jahren den neuesten Star-Wars-Film gedreht hat, gelten diese heute als große Touristenattraktion, aber damals waren sie noch recht unbekannt. Außer Matty und Gitte wollte niemand aus der Sprachschülergruppe mit mir dorthin, sodass wir drei uns ganz allein auf den Weg machten. Es war ein windiger Tag, und auf der rauen See sauste unser kleines Fischerboot von einem Wellental ins nächste. Matty hatte die größte Freude daran, sie feuerte die Wellen jubelnd an, noch höher zu schlagen. Gitte dagegen wurde immer stiller und blasser; sie klammerte sich krampfhaft mal an die Reling, mal an meinen Arm. Als Matty das in ihrer Euphorie endlich bemerkte, wurde auch sie plötzlich ganz ruhig und anschmiegsam.

Jonathan hielt einen Moment inne, und erneut spielte so etwas wie ein Grinsen um seine Lippen.

„Sie war von Anfang an in dich verliebt, nicht?“, vergewisserte sich Natalie.

Das war sie. Und auf dieser Bootstour fiel das sogar mir auf! Aber ehrlich gesagt mochte ich Gitte genauso gern. Sie war so zart und zurückhaltend und eine wundervolle Zuhörerin. Ja, ich denke, das habe ich noch am lebhaftesten in Erinnerung von ihr. Wenn sie mir zuhörte, sah sie mich auf eine Art und Weise an, die mir das Gefühl gab, in diesem Augenblick der wichtigste, bedeutendste Mensch auf Erden zu sein! Auf jeden Fall war ich, als dieser Sommer endete, in beide Freundinnen gleichermaßen verliebt. Erst durch Mattys Briefe und ihre spätere Rückkehr nach Killeen erkannte ich, für wen mein Herz wirklich schlug …

„Dann hat meine Mutter … hat sie deine anfänglichen Gefühle erwidert?“

Natalies Erstaunen über diese Erkenntnis musste an ihrem Gesicht abzulesen sein, denn Jon erwiderte: Wusstest du das denn nicht?

Nachdenklich schüttelte Natalie den Kopf und starrte aus dem Fenster. Während ihrer vormittäglichen Gartenarbeit waren dicke Wolken auf die Bucht herabgesunken, und mittlerweile regnete es in Strömen. Der mächtige zweistämmige Baum im Park war hinter einem Regenschleier verborgen.

Doch Natalie registrierte es kaum. Eine seltsame Vorstellung, dass Mama schon vor ihrem Vater in einen Mann verliebt gewesen war – und andererseits doch ganz natürlich! Jedenfalls bestätigte es Natalie einmal mehr, dass sie niemals aufgehört hatte, ihre Mutter durch die Brille eines Kindes zu betrachten. Nur gut, dass sie den Dingen, für die sie dadurch blind gewesen war, nun auf den Grund gehen konnte!

Dann tut es mir leid, dass ich dir mit meiner Geschichte Kummer bereitet habe, schrieb Jon besorgt.

„Nein, das ist schon in Ordnung. Es tut mir gut, meine Mutter im Nachhinein mit anderen Augen zu sehen“, besänftigte Natalie. „Vor allem, da ich ja weiß, wie glücklich sie später mit meinem Vater war.“

Das freut mich zu hören. Dennoch hätten wir damals den Kontakt nicht komplett abreißen lassen dürfen. Aber nun erzähl mir etwas von dir, Natalie. Wie gefällt dir dein Beruf? Ich meine, dass du eine gute Krankenschwester bist, sehe ich allein an deiner Fürsorge, er senkte den Blick auf seinen Unterarm, der noch immer auf ihrem ruhte, aber bist du es auch gerne? Ist dein Beruf so etwas wie eine Berufung für dich?

„Eine Berufung?“, fragte Natalie überrascht. Was sollte sie auf eine seltsame Frage wie diese nur antworten? Zögerlich ergriff sie das Wort, während Jon aufmerksam lauschte.

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Jons Anteilnahme an ihren Berichten aus dem Klinikalltag wollte Natalie auch auf dem Heimweg nicht aus dem Kopf gehen, allem voran seine ursprüngliche Frage nach ihrem Beruf als Berufung.

War es nicht ein wenig hoch gegriffen zu erwarten, dass der Beruf gleichzeitig auch die Berufung war? Für wen traf so etwas schon zu? Jeder gab eben sein Bestes an dem Platz, den er irgendwann einmal als den seinen erwählt hatte. So wie sie sich auf Anraten ihrer Eltern vor Jahren für die Klinik und den Pflegeberuf entschieden hatte.

Ob sie aber tatsächlich Freude an ihrer Arbeit empfand, stand auf einem ganz anderen Blatt. Die Pflege ihrer Mutter war eine Sache gewesen – sie wollte einfach, dass ihre Mutter von jemandem versorgt wurde, der mit seinem Herzen dabei war –, aber was war mit der Stationsarbeit? Mit dem Hetzen von einem Patienten zum anderen, ohne dass sie sich zumindest gelegentlich Zeit für eine persönliche Frage nehmen konnte, oder anders gesagt: mit der Pflegearbeit ohne jegliche Zeit und Möglichkeit, auf andere Probleme als die rein medizinischen einzugehen, weil man sich eigentlich schon wieder am Bett des nächsten Patienten befinden sollte?

An manchen Tagen hatte Natalie in der Tat das Gefühl gehabt, vollkommen aufgerieben zu werden von ihrer Fürsorgepflicht gegenüber ihren Patienten einerseits und der Verpflichtung gegenüber ihren Klinikkollegen andererseits …

Der Gedanke daran, in weniger als zehn Tagen wieder in den Klinikalltag zurückzukehren, bereitete Natalie schon jetzt Magenschmerzen. Aufseufzend schaltete sie in einen höheren Gang, nur um daran erinnert zu werden, dass der uralte Leihwagen unmöglich in den vierten Gang zu bringen wahr. Laut röhrend wehrte er sich dagegen, sodass Natalie ihren Schaltversuch abbrach und sich stattdessen darauf konzentrierte, trotz des strömenden Regens und der mittlerweile angebrochenen Dunkelheit zumindest auf der Fahrbahn zu bleiben. Denn auch die Scheibenwischer des Renaults hatten bereits bessere Tage gesehen: Natalie schien, als schränkte jede Wischbewegung die Sicht noch mehr ein, statt sie zu verbessern.

Nachdem sie die Brücke über den Kenmare River und die letzten Häuser des Städtchens hinter sich gelassen hatte, wurde die Sicht sogar noch schlechter. Regenschlieren bedeckten die Frontscheibe, und die schmale Landstraße besaß weder einen Mittelstreifen, der Natalie als Orientierung hätte dienen können, noch Leitpfosten am Fahrbahnrand.

Als plötzlich der schwarze Umriss eines Fußgängers vor der obligatorischen Begrenzungshecke sichtbar wurde, riss Natalie das Steuer reflexartig in die Gegenrichtung. Für einen Moment geriet der Renault ins Schlingern, fing sich aber rasch wieder. Mit zitternden Knien brachte Natalie ihn auf der Gegenfahrbahn zum Stehen. Nur gut, dass diese Strecke so wenig befahren war!

Unterdessen kam der Fußgänger immer näher. Er trug weder einen Schirm noch eine Regenjacke, wie Natalie erkannte, sondern lediglich eine große Umhängetasche. Die schmalen Schultern darunter gehörten eindeutig zu einer Frau. Wohin mochte sie bei diesem Wetter und derart unpassend ausgerüstet wohl unterwegs sein?

Kurz entschlossen setzte Natalie den Renault zurück, machte neben der Fußgängerin Halt und kurbelte die Scheibe auf der Beifahrerseite herunter. „Guten Abend. Kann ich Sie vielleicht irgendwohin mitnehmen?“

„Kommt drauf an“, gab die schmale Person schnoddrig zurück. „Wohin fahr’n Se denn?“

„Nach Killeen, Holly Cottage.“ Natalie versuchte vergeblich, durch den Regenschleier vor dem Fenster einen Blick auf das Gesicht ihres Gegenübers zu erhaschen.

„Trifft sich gut“, gab selbiges mit kindlicher Stimme zurück. „Muss auch nach Killeen, zu Conor McGarvey.“

„Dann steigen Sie doch ein! Bei diesem Wetter sollte wirklich niemand zu Fuß unterwegs sein.“ Noch während Natalie sprach, öffnete sie die Beifahrertür und klopfte einladend auf den zerschlissenen Sitz.

„Alter, kein Drama! Regen ist auch nur Wasser“, kam es gelassen zurück. Der Sitz wurde nach hinten geklappt, und eine vollkommen durchnässte Reisetasche landete auf der Rückbank. Eine Sekunde später ließ sich die Besitzerin der Tasche auf den Beifahrersitz fallen.

Wie ihre Sprache bereits vermuten ließ, war Natalies Mitfahrerin eine junge Frau. Eine sehr junge Frau. Aus ihrem blauschwarzen Haar tropfte das Regenwasser, und von den schwarz umrandeten Augen aus hatte sich die Schminke über das komplette schmale Gesicht verteilt. Die Piercings in Nase und Lippe schimmerten hell vor dem dunklen Hintergrund.

„Sie sind Conors Freundin aus Dublin!“, entfuhr es Natalie.

„Freundin?“ Die junge Irin wandte Natalie ihr Gesicht zu und hob fragend die verschmierten Augenbrauen, fuhr jedoch gleich darauf fort: „Gut, wenn Sie so wollen. Sie können mich aber auch einfach Joyce nennen.“

„Joyce?“ In ihrer erneuten Überraschung trat Natalie das Gaspedal härter durch als beabsichtigt, und der Renault schoss ungestüm vorwärts. Rasch brachte sie ihn wieder unter Kontrolle, während eine ungeheure Erleichterung sie durchströmte: Conors vermeintliche Freundin war niemand anderes als ein Kind, um das er sich aus irgendeiner Verpflichtung heraus liebevoll kümmerte! Das Kind, das er zu sich eingeladen hatte und eigentlich morgen in Dublin abholen wollte.

„Du bist also Joyce! Aber solltest du nicht erst morgen gemeinsam mit Conor hier eintreffen?“, ließ Natalie ihre Gedanken teilweise laut werden.

„Tja – kleine Planänderung!“, lachte Joyce viel zu rau für ihre kindliche Stimme. Falls es sie irritierte, dass Natalie – eine für sie vollkommen Fremde – in Conors Vorhaben eingeweiht war, ließ sie sich nichts davon anmerken. „Meine Eltern konnten’s nicht erwarten, mich loszuwerden, und haben mich heute schon in den Bus nach Kenmare gesetzt. Von dort ging’s leider nicht weiter, und Conor war auch nicht zu erreichen. Aber wie auch immer!“ Betont gleichmütig starrte Joyce auf die Wasserpfütze, die sich zu ihren Füßen zu bilden begann, und fuhr schließlich fort: „Nun bringen Se aber besser mal diesen Wagen unter Kontrolle, der röhrt ja wie’n sterbender Hirsch!“

„Sterbender Hirsch ist gut“, lächelte Natalie. „Aber dafür kann ich nichts, der Wagen ist nicht mehr so ganz funktionstüchtig. Eigentlich ist er auch längst ausrangiert und dient nur als Ersatz für Mattys Volvo.“

Als Natalie der Dreizehnjährigen die Zusammenhänge zwischen dem Leihwagen, Matty, Conor und sich selbst endlich erklärt hatte, wurden oben am Hang bereits die Lichter von Holly Cottage sichtbar. Erleichtert nahm sie die letzten Kurven und hielt vor der Haustür. In wenigen Minuten mussten auch Conor und sein Bruder Fionn hier eintreffen.

Kapitel 9

Und nun will ich Zion trösten. Noch liegt die Stadt in Trümmern, doch ich werde mich über sie erbarmen und das ganze Land wieder aufblühen lassen. Ich werde diese Wildnis in ein Paradies verwandeln, schön und prächtig wie der Garten Eden. Freudenschreie und lauten Jubel wird man dort hören und Lieder, mit denen die Menschen mir danken.

Jesaja 51,3

Wie es aussieht, werden wir bereits erwartet!“ Fionn deutete auf das Licht in den Fenstern von Holly Cottage und parkte seinen Jaguar mit gewohntem Schwung so nahe wie möglich am Hauseingang.

Conor nickte nur. Er hatte einen anstrengenden Tag in der Redaktion hinter sich. Wobei die Anstrengung hauptsächlich daher rührte, dass Fionn ihm den ganzen Tag im Nacken gesessen hatte.

Als hätte sein Bruder nichts Besseres zu tun, hatte dieser es sich in Conors Büro gemütlich gemacht, einen Kaffee nach dem anderen getrunken und Conor mit unzähligen Fragen von seiner jeweiligen Tätigkeit abgelenkt. Dieses Verhalten war so ganz und gar untypisch für ihre lose Beziehung im Allgemeinen und Fionns übliches Benehmen im Besonderen, dass Conors Gedanken sich beständig um die Frage nach dem Grund dafür gedreht hatten statt um seine Arbeit. Den ganzen Tag über hatte er nicht mehr als einen Artikel bearbeitet, und dementsprechend frustriert war er nun.

Conor hatte sogar erwogen, Fionn mit einer Ausrede allein zu Matty zu schicken, und nur der Gedanke daran, dass sein Bruder sofort wieder mit Nat zu flirten beginnen würde, hatte ihn davon abgehalten. Die Szene von heute Morgen stand ihm noch zu deutlich vor Augen!

Conor schloss eben seine Wagentür, als sich von der Garage her zwei Gestalten näherten: Nat mit einem bedruckten Regenschirm über dem Kopf und an ihrer Seite, aber demonstrativ nicht mit unter dem Schirm, eine vollkommen durchnässte Joyce.

„Joyce?!“ Conor traute seinen Augen nicht. „Was machst du denn hier?“

„Genau das frage ich mich auch, Alter!“, gab Joyce bissig zurück. „Aber da du es warst, der mich eingeladen hat, solltest wenigstens du das wissen, Himmel noch mal!“

Durch die tropfenden Strähnen, die ihr in die Augen hingen, schenkte sie Conor einen Blick, der beinahe schon feindselig anmutete. Seine Brust verengte sich schmerzhaft. Noch vor einem Jahr hatte Joyce sich ihm zur Begrüßung an den Hals geworfen, und allein die Aussicht, eine ganze Woche bei ihm zu verbringen, hätte sie damals vor Freude tanzen lassen …

„Selbstverständlich“, erwiderte er bedrückt. „Aber du weißt, was ich meine: Eigentlich wollte ich dich erst morgen in Dublin abholen.“

„Tja. Dumm gelaufen, dass ich nun schon früher da bin, was?“ Trotzig schob Joyce das Kinn vor und stapfte an Conor vorbei auf die Haustür zu. „Außerdem würd’ ich es vorziehen, drinnen im Trockenen weiterzureden, falls du mir noch was zu sagen hast – beispielsweise, weshalb du mich tatsächlich in diese Einöde hier hast schicken lassen!“

Ohne Matty zu begrüßen, die mittlerweile die Türe geöffnet hatte, um ihre Gäste willkommen zu heißen, betrat Joyce das Haus, als ob es ihr eigenes wäre. Hilflos hob Conor die Schultern und blickte ihr nach.

Natalie trat an seine Seite und erklärte mitfühlend: „Ihre Eltern haben sie schon heute mit dem Bus losgeschickt. Da der jedoch nur bis Kenmare fährt und du per Handy nicht zu erreichen warst, ist sie einfach losgelaufen – so hat sie es mir jedenfalls erklärt, als ich sie auf der Straße Richtung Killeen aufgelesen habe.“

„So ist das also.“ Conor stieß einen tiefen Seufzer aus. „Dann danke ich dir, dass du sie mitgenommen hast, Nat! Ich hoffe nur, sie war zu dir ein wenig höflicher als gerade eben. Falls nicht, entschuldige ich mich hiermit an ihrer Stelle bei dir – und auch bei dir, Matty, für den Auftritt eben!“

„Das geht schon in Ordnung“, lächelte Natalie beruhigend, und Matty, die die ganze Szene stumm verfolgt hatte, fügte aufmunternd hinzu: „Mach dir nichts draus, Conor, sie fängt sich schon wieder. Früher oder später hat das noch jeder Teenager getan. Und nun tretet doch bitte ein, das Essen wartet!“

„Das höre ich gerne!“ Fionn schob sich an Conor vorbei. „Einen guten Abend wünsche ich, Mrs Callaghan – oder darf ich Sie auch Matty nennen? Hier, ein kleines Dankeschön für Ihre freundliche Einladung!“ Damit drückte er ihr eine Schachtel Pralinen in die Hand. „Ich hoffe doch, Sie mögen Süßes?!“

„Und wie, mein lieber Fionn!“ Mit der Zungenspitze über die Lippen streichend nahm Matty das Logo des „Auld Sweet Shop“ in Augenschein, das die Pralinenpackung zierte, dann schritt sie voran ins Hausinnere. „Und ich hoffe, ihr alle mögt die Meeresfrüchte, die ich zu Natalies Ehren zubereitet habe. In ihrer süddeutschen Heimat bekommt man dergleichen nämlich nicht fangfrisch, so wie hier.“

Wenige Minuten später hatte Matty ein zusätzliches Gedeck für den unerwarteten Gast aufgelegt und servierte nach dem Tischgebet als Vorspeise Seafood Chowder, eine cremige Suppe aus den verschiedensten Meeresfrüchten. Zu diesem Zweck hatte sie sogar die von ihrer Schwiegermutter vererbte Wedgwood-Suppenterrine aus der Tiefe ihres Küchenschranks gekramt.

„Das duftet himmlisch, liebe Matty!“, kommentierte Fionn, als sie den schweren, hübsch verzierten Deckel anhob, und Natalie bemerkte bewundernd: „Was für eine herrschaftliche Suppenschüssel, Matty!“

Die Angesprochene lächelte erfreut.

Joyce jedoch, mittlerweile in trockener Kleidung und mit noch dunkler umrandeten Augen, schnaubte verächtlich. „Pah! Feudale Relikte sind das und nichts anderes! Übrigens esse ich nichts, was mal gelebt hat und eigentlich im Meer seine Freiheit genießen sollte!“

Herausfordernd starrte sie von Conor zu Matty und wieder zurück. Conor holte einmal tief Luft, um ihr zu antworten, doch Matty kam ihm zuvor. „Tja, in dem Fall musst du dich heute wohl mit dem Wildreis begnügen, den ich euch nachher zum Seehecht auftischen werde.“

Ungerührt schob sich Matty einen weiteren Löffel Seafood Chowder in den Mund. Sie erinnerte sich nur zu gut an ihre eigene Tochter in diesem Alter. Auflehnung gegen alles und jeden schien das oberste Gebot in dieser Entwicklungsphase zu sein, und je spektakulärer man diese in Szene setzen konnte, desto besser. Eine wirkungsvollere Möglichkeit, die Aufmerksamkeit aller Beteiligten auf sich zu ziehen, gab es schließlich nicht. Sie, Matty, hatte damals auf teilweise schmerzhafte Weise gelernt, sich auf keinerlei Diskussionen einzulassen; den Aufstand im Keim zu ersticken, indem sie schlicht und einfach bei der „Tagesordnung“ blieb.

Glücklicherweise folgte Nat ihrem Beispiel. Sie wandte sich an den neben ihr platzierten Conor und fragte: „Und, was gibt es Neues auf Beara? Was erwartet die Leser in der nächsten Ausgabe des Chronicle?

Überrumpelt ging Conor auf ihre Frage ein. Fionn unterstützte seinen Bruder nach Kräften mit dem, was er heute an Conors Seite in der Redaktion mitbekommen hatte. Auf diese Weise entwickelte sich schon bald ein angenehmes Tischgespräch, und die Spannung, die Joyce verursacht hatte, wich.

Lediglich aus dem Augenwinkel heraus registrierte Matty, wie das Mädchen seinen Teller von sich schob, mit vor der Brust verschränkten Armen der Unterhaltung folgte und dabei gelegentlich betont gelangweilt aufseufzte. Erst als der Reis aufgetischt wurde, kam wieder Leben in den Teenager: Nach einem verstohlenen Blick in die Runde vertilgte Joyce hungrig einen ganzen Berg davon.

Sobald Joyce – als Letzte – ihren Teller geleert hatte, erhob sich Matty und begann, die Gedecke einzusammeln. „Ich hoffe, ihr habt noch ein wenig Platz für den Nachtisch gelassen: Es gibt Vanilleeis mit Karamellsoße und Fudge.“

„Woher wusstest du, dass genau das mein Lieblingsdessert ist, Matty?“ In gespielter Verwunderung zog Fionn die Brauen hoch und schenkte seiner Gastgeberin ein strahlendes Lächeln.

Joyce verdrehte genervt die Augen, doch Matty grinste zurück. So zurückhaltend und schweigsam Conor sein konnte, so extrovertiert und charmant war sein Bruder. Bereits bei der Vorspeise waren sie allesamt beim freundschaftlichen „Du“ angelangt, und nun erwiderte sie: „Das erkenne ich an deiner Nasenspitze, mein Lieber. Aber bilde dir nur nichts darauf ein, denn ich habe dieses Dessert in erster Linie wegen Nat und Conor gewählt.“

Sie zwinkerte den beiden zu. „Auch wenn ich euch gestern Abend nicht mehr zu Fudge überreden konnte – heute gibt es kein Entkommen!“

„Dann werden wir uns wohl in unser Schicksal ergeben, nicht, Nat?“ In Erinnerung an den vergangenen Abend schenkte Conor seiner Tischnachbarin ein Lächeln, das – anders als bei seinem strahlenden, aber oberflächlichen Bruder – direkt aus dem Herzen zu kommen schien.

„Wohl oder übel“, betonte Natalie mit Grabesstimme, und Matty balancierte gut gelaunt den Geschirrstapel in die Küche. Wie natürlich und gelöst Nat sich im Umgang mit Conor bereits geben konnte! Matty fand, dass diese beiden einander ergänzten wie Fudge und Vanilleeis mit Karamellsoße! Blieb nur zu hoffen, dass sie es bald auch selbst bemerkten …

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Als Fionn die nächstgelegene Autobahnauffahrt erreichte, ging die Uhr bereits auf Mitternacht zu. Damit hatte er weit mehr als die geplanten zwei, drei Stunden gemeinsam mit Conor verbracht – und deutlich mehr Zeit als in den Jahren seit dessen Auszug aus ihrem Elternhaus.

Aber – Fionn grinste still vor sich hin – jede einzelne Minute, die er heute investiert hatte, war die Mühe wert gewesen. In seinen kühnsten Träumen hatte er nicht damit gerechnet, innerhalb eines einzigen Tages solche Fortschritte in seinem derzeitigen Projekt zu machen! Er hatte gehofft, eventuell einen eingehenderen Blick auf das Boathouse und das Grundstück an der Bucht zu werfen und Conor ein wenig darüber auszuhorchen, aber das war auch schon alles gewesen. Und bei seiner Ankunft, als sein Bruder ihm Matty Callaghans Gast vorgestellt hatte, hatte Fionn seine Felle bereits davonschwimmen sehen. Wenn die Grundeigentümerin doch noch Gäste hatte, war ihre finanzielle Situation vielleicht gar nicht so angespannt, wie er den Gerüchten zufolge angenommen hatte. Umso größer war seine Erleichterung gewesen, als sich herausgestellt hatte, dass die junge Deutsche gar kein zahlender Gast, sondern schlicht eine Freundin war.

Dass jedoch gerade ihre Anwesenheit ihm den Weg in Matty Callaghans Haus geebnet hatte, ging weit über Fionns Erwartungen hinaus. Als Fremder, der durch ein Gespräch mit seinem Bruder lediglich Informationen einholen wollte, war er nach Killeen gekommen. Gegangen war er als Freund genau jener Person, die der Verwirklichung seines Projektes im Wege stand. Wie lautete noch jener Slogan, mit dem Irlands „Bed and Breakfast“-Gastgeber warben? You arrive as guests, but leave as friends.

Ha! Erheitert schlug Fionn mit der flachen Hand aufs Lenkrad und trat das Gaspedal weiter durch. Die gute Mrs Callaghan hatte ja keine Ahnung, wen sie da heute Abend so bereitwillig an ihren Tisch geladen und zu ihrem Freund erklärt hatte!

Was jetzt noch nötig war, waren ein paar weitere Besuche, bei denen er die Mittfünfzigerin umschmeichelte und ihr einige Worte über ihre finanzielle Situation entlockte, auf die er dann mit wohlmeinenden Ratschlägen eingehen würde. Und falls im Rahmen dieser Besuche ein kleiner Flirt mit Natalie herauskam, hatte er ganz gewiss nichts dagegen. Spätestens dann, wenn Natalie sich in ihn verliebte (wovon er ganz selbstverständlich ausging!), war ihre Freundin Matty Wachs in seinen Händen. Ob diese Fionns Pläne für die Zukunft ihres Besitzes später guthieß oder nicht, war zweitrangig. Wichtig war einzig und allein ihre Unterschrift auf dem Vertrag.

Während Fionn unter Dauerblinken auf der rechten Fahrbahn Richtung Dublin brauste, sah er vor seinem inneren Auge bereits das blumengeschmückte Portal der kleinen Kapelle und ein Brautpaar, das eben die Stufen hinunterschritt, ehe es mitsamt der ganzen Hochzeitsgesellschaft auf der prachtvoll dekorierten Terrasse des neuen Boathouse dinierte und dabei den Blick über die Bucht und Fionns Insel genoss …

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Dass Joyce’ Aufenthalt bei ihm anstrengend werden würde, hatte Conor erwartet – aber nicht in diesem Maße. Als er sie am folgenden Tag endlich dazu gebracht hatte, aufzustehen und sich fertig zu machen, war vom Vormittag nicht mehr viel übrig. Mit einer Tasse schwarzem Kaffee, die sie bei Conor „geordert“ hatte, saß sie am Frühstückstisch und brütete finster vor sich hin.

„Was hältst du davon, wenn wir gleich eine Tour zu den Cliffs of Moher machen?“, schlug Conor vor. „Zwar werden sich die Touristen heute, am Feiertag, dort gegenseitig auf die Füße treten, aber von den Klippen werden wir sicherlich trotzdem etwas zu sehen bekommen. Oder steht dir der Sinn eher nach dem Nationalpark drüben bei Killarney? An den Seen ist es sehr schön, und der Ausblick vom Pass ist einfach fabelhaft! Außerdem ist die Anfahrt dorthin sehr kurz.“

„Weder noch“, beschied Joyce kurz angebunden. „Seh keinen Sinn darin, mit dir durchs Land zu gondeln und mich unter irgendwelche euphorischen Touristen zu mischen, Alter!“

Bei letzterem Ausdruck, der neuerdings in jedem zweiten Satz von Joyce zu hören war, verzog Conor schmerzhaft das Gesicht, dennoch bemühte er sich weiter. „Nun, der Sinn wäre einfach der, etwas Neues zu sehen und Spaß dabei zu haben. Deine Schwester hat das immer sehr gemocht.“

„Lass bloß Johanna aus dem Spiel!“ Aufgebracht stieß Joyce gegen ihre Tasse, sodass sich der Kaffee auf die Tischplatte ergoss. „Diese treulose Tomate! Denkt an nichts anderes als an ihr eigenes Vergnügen.“

„Schon gut“, beruhigte Conor. „Trotz allem könnte es dir nicht schaden, einmal etwas mehr von deiner Heimat zu sehen als immer nur Dublin. Und da –“

„Und da deine Eltern es sich nun mal nicht leisten können, spiele ich eben den Wohltäter, wolltest du wohl sagen“, ätzte Joyce.

„Das wollte ich ganz und gar nicht!“ Während Conor mit dem Spültuch den Kaffee von der Tischplatte wischte, wünschte er sehnlichst, Joyce’ destruktive Bemerkungen ebenso leicht beseitigen zu können. „Und dabei wären wir auch nicht allein – das war es, was ich sagen wollte. Matty und Natalie würden sich uns nämlich bei den Ausflügen anschließen. Nur heute am Feiertag haben sie schon andere Pläne, fürchte ich.“

„Genau wie ich!“ Joyce zog das Handy aus der Tasche ihrer zerfetzten Jeans, stöpselte die Kopfhörer ein und starrte demonstrativ auf das Display. „Brauchst mir nur dein Passwort zu geben, und schon kann ich meine Pläne verwirklichen. Wenn ich Murph jetzt nicht endlich ’ne Nachricht schicke, denkt er noch, in meiner Verbannung gibt’s nicht mal WLAN!“

„Murph ist dein Freund, nicht wahr?“, hakte Conor nach, doch von Joyce kam lediglich ein genervtes Grunzen.

Seufzend streckte er die Waffen und gab ihr das Gewünschte, eher er den Tisch abräumte und sich an seinen Computer setzte, um zu arbeiten.

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„Und genau so haben wir den gestrigen Tag verbracht: jeder mit einem Bildschirm vor Augen und in finsterstem Schweigen! Abgesehen von dem Gedröhne natürlich, das ich trotz ihrer Kopfhörer mithören konnte“, schloss Conor betrübt.

Während Joyce noch schlief, hatte Conor sich am folgenden Morgen allein auf den Weg nach Holly Cottage gemacht, um die letzten Details der von Matty geplanten gemeinsamen Kajaktour zu besprechen, und Natalie bereits im Garten angetroffen.

„Ich bin gar nicht mehr davon überzeugt, dass ich ihr einen Gefallen damit getan habe, sie für eine Weile aus Dublin und ihrem dortigen Freundeskreis herauszuholen!“

„Sag das nicht.“ Natalie hörte auf, Erde in den Blumenkübel zu ihren Füßen zu füllen, und blickte mitfühlend zu ihm auf. „Allein die Tatsache, dass du sie eingeladen hast, zeigt ihr doch, wie viel dir an ihr liegt. Ich bin sicher, sie weiß das zu schätzen, auch wenn sie es im Moment nicht wirklich zeigen kann. Außerdem habe ich den Verdacht, dass Matty sie schon bald aus der Reserve locken wird. Ist dir an Joyce’ erstem Abend hier nicht aufgefallen, wie gut Matty sie zu nehmen weiß? Mit dem Dessert am Ende hat sie dem Mädchen sogar fast ein Lächeln entlockt!“

„Wirklich? Das ist mir entgangen. Vermutlich war ich zu beschäftigt damit, mir Mattys hochgelobten Fudge auf der Zunge zergehen zu lassen.“ Dass er mindestens ebenso sehr damit beschäftigt gewesen war, Nat bei exakt dieser Tätigkeit zu beobachten, verschwieg Conor allerdings. In der Tat hatte sich ein träumerisches Lächeln auf Nats Lippen gelegt, während sie ihr Dessert genoss, und das flackernde Kaminfeuer hatte ihr Haar mit einem seidig-sanften Schimmer versehen.

„Oh, das verstehe ich!“, stimmte sie zu. „Dieses Konfekt ist wirklich köstlich. Man könnte süchtig danach werden! Auf jeden Fall“, kam sie wieder auf Conors Kummer mit Joyce zu sprechen, „solltest du erst einmal Mattys Kajaktour abwarten, ehe du dir Gedanken darum machst, Joyce nach Hause zu schicken. Matty ist bereits dabei, ein herzhaftes Picknick vorzubereiten, damit uns unterwegs nicht die Kräfte ausgehen. Ich glaube, sie hat die halbe Nacht kein Auge zugetan in ihrer Vorfreude! Möglicherweise war es aber auch noch die Aufregung von gestern, die sie nicht schlafen ließ.“

„Aufregung?“ Fragend hob Conor die Augenbrauen.

„Weil Jon hier war, meine ich. Er hat sich einen Tag Auszeit vom Pflegeheim genommen, und Matty hat ihn nach Hause geholt. Gemeinsam haben wir oben in der Kapelle eine kleine Karfreitagsandacht gefeiert und den restlichen Nachmittag auf der Terrasse des Boathouse in der Sonne verbracht.“