Taddeo, Lisa Three Women – Drei Frauen

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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Maria Humitzsch

 

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Three Women bei Avid Reader Press, einem Imprint von Simon & Schuster, New York.

 

Das Zitat zu Beginn stammt aus: Charles Baudelaire, Le Spleen de Paris – Der Spleen von Paris. Gedichte in Prosa und frühe Dichtungen, »Die Fenster«, herausgegeben und neu übersetzt von Simon Werle, Rowohlt Verlag: Hamburg 2019, Seite 405.

 

© Piper Verlag GmbH, München 2019
© Lisa Taddeo, 2019
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: Getty Images / Igor Ustynskyy

 

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Widmung

 

Für Fox

Zitat

 

Wer von außen in ein offenes Fenster hineinschaut, sieht niemals so viel wie jemand, der in ein geschlossenes Fenster schaut. Es gibt nichts Tieferes, Geheimnisvolleres, Reichhaltigeres, Dunkleres, Strahlenderes als ein von einer Kerze erhelltes Fenster. Was man im Sonnenlicht sehen kann, ist immer weniger interessant als das, was sich hinter einer Fensterscheibe abspielt. In dieser schwarzen oder hell erleuchteten Öffnung liegt das Leben, träumt das Leben, leidet das Leben.

CHARLES BAUDELAIRE

Prolog

Als meine Mutter jung war, folgte ihr jeden Morgen ein Mann zur Arbeit, der nur wenige Meter hinter ihr masturbierte. Meine Mutter hatte die Schule nur bis zur fünften Klasse besucht, ihre Mitgift bestand aus Leinentüchern mittlerer Qualität, aber sie war schön. Und das ist bis heute das Erste, was mir zu ihr einfällt. Ihre Haare hatten dieselbe Farbe wie Tiroler Alpenschokolade, und ihre Frisur war immer gleich: kleine, hoch aufgesteckte Locken. Ihre Haut war nicht olivfarben wie die vom Rest ihrer Familie, sondern hatte einen ganz eigenen Ton, der eher dem hellen Rosé von unreinem Gold glich. Ihre Augen waren braun, ihre Blicke mokant und kokett.

Sie arbeitete als Hauptkassiererin an einem Obst- und Gemüsestand im Zentrum von Bologna. Das war auf der Via San Felice, einer langen Hauptverkehrsstraße im Modeviertel. Dort gab es viele Schuhgeschäfte, Goldschmiede, Parfümerien, Kioske und Boutiquen für Frauen, die nicht arbeiteten. Meine Mutter kam auf dem Weg zu ihrem Stand an diesen Geschäften vorbei und bestaunte in den Schaufensterauslagen die feinen Lederstiefel und polierten Ketten.

Doch bevor sie das Einkaufsviertel erreichte, ging sie ein stilles Stück des Weges am Schlossschmied und Ziegenmetzger vorbei, durch dreckige Straßen und Gassen und einsame Säulengänge, in denen es streng nach Urin und muffig nach abgestandenem Wasser roch. Und den ganzen Weg über folgte ihr dieser Mann.

Wo hatte er sie das erste Mal gesehen? So wie ich es mir vorstelle, war es am Obststand. Diese schöne Frau inmitten all der herrlichen, frischen Waren – pralle Feigen, Berge von Esskastanien, sonnengereifte Pfirsiche, leuchtend weiße Fenchelknollen, grüne Blumenkohlköpfe, Rispentomaten, an denen noch etwas Erde klebte, Pyramiden dunkelvioletter Auberginen, kleine, aber prächtige Erdbeeren, glänzende Kirschen, Weintrauben und Dattelpflaumen, dazu eine abenteuerliche Auswahl an Getreidesorten und Broten, taralli, friselle, Baguettes, Blockschokolade und ein paar Kupferschüsseln, die ebenfalls zum Verkauf standen.

Er war Mitte sechzig, hatte eine große Nase, fast eine Glatze und an weißen Pfeffer erinnernde Stoppeln auf den eingefallenen Wangen. Er trug eine Ballonmütze wie all die anderen alten Männer, die auf ihrer täglichen camminata mit dem Spazierstock durch die Straßen zogen.

Irgendwann muss er ihr bis nach Hause gefolgt sein, denn an einem wolkenlosen Maimorgen trat meine Mutter durch die schwere Eingangstür ihres Wohnhauses, aus dem Dunkeln ins grelle Sonnenlicht – in Italien sind die Aufgänge der Wohnhäuser fast immer zappenduster, weil das Licht aus Kostengründen gedimmt und nur zu bestimmten Zeiten eingeschaltet wird und die dicken, kalten Steinwände keine Sonnenstrahlen durchlassen –, und da stand dieser alte Mann, den sie noch nie gesehen hatte, und wartete auf sie.

Er lächelte sie an, und sie lächelte zurück. Dann machte sie sich mit ihrem wadenlangen Rock und einer billigen Handtasche auf den Weg zur Arbeit. Meine Mutter hatte selbst im hohen Alter noch unfassbar feminine Beine. Ich kann mir vorstellen, wie es ist, dieser Mann zu sein und die Beine meiner Mutter zu sehen und ihnen zu folgen. Denn nach Jahrhunderten unter dem männlichen Blick ist es Teil unseres Erbes, dass heterosexuelle Frauen andere Frauen oft genauso betrachten, wie Männer es tun.

Meine Mutter spürte, wie der Mann mehrere Straßenzüge lang hinter ihr herging, vorbei an dem Olivenverkäufer und dem Händler von Portweinen und Sherrys. Aber er folgte ihr nicht nur. Als sie sich an einer bestimmten Ecke umdrehte, nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Die kopfsteingepflasterten Gassen waren um diese Zeit, in der Morgendämmerung, menschenleer, und sie sah, dass er seinen langen, erigierten Penis aus der Hose geholt hatte und ihn mit schnellen Bewegungen bearbeitete, hoch und runter, den Blick dabei so ruhig auf sie gerichtet, als würde das, was sich unterhalb seines Hosenbunds abspielte, von einem völlig anderen Hirn gesteuert.

Damals fuhr meine Mutter erschrocken zusammen, aber Jahre später hatte sich die Angst dieses ersten Morgens in Belustigung und Spott verwandelt. In den darauffolgenden Monaten tauchte der Mann mehrmals pro Woche vor ihrem Wohnhaus auf und begleitete sie schließlich auch vom Markt zurück nach Hause. Auf dem Höhepunkt ihrer Beziehung kam er zwei Mal am Tag direkt hinter ihr.

Meine Mutter ist inzwischen verstorben, und so kann ich sie nicht mehr fragen, warum sie das zuließ, jeden Tag aufs Neue. Stattdessen habe ich meinen älteren Bruder gefragt, warum sie nichts unternommen und niemandem davon erzählt hat.

Es war Italien, es waren die Sechziger. Die Polizeibeamten hätten wahrscheinlich gesagt: »Ma lascialo perdere, è un povero vecchio. È una meraviglia che ha il cazzo duro alla sua età.« – »Lassen Sie die Sache auf sich beruhen, er ist ein armer alter Mann. Ist doch ein Wunder, dass er überhaupt noch einen hochkriegt.«

Meine Mutter ließ den Mann mit Blick auf ihren Körper masturbieren. Sie war nicht die Art von Frau, die Gefallen daran gefunden hätte. Aber wirklich wissen kann ich es nicht. Meine Mutter sprach nie über ihre Fantasien. Über das, was sie an- oder abturnte. Manchmal wirkte es so, als hätte sie überhaupt keine eigenen Bedürfnisse. So, als wäre ihre Sexualität nur ein schmaler Pfad im Wald, einer dieser unmarkierten, die dadurch entstehen, dass irgendjemand mit Stiefeln das Gras niedertrampelt. Und dieser Jemand war mein Vater.

Mein Vater liebte die Frauen auf eine Weise, die man früher als charmant bezeichnet hat. Er war Arzt und nannte die Krankenschwestern, die ihm gefielen, »Süße«, und die Krankenschwestern, die ihm nicht gefielen, »Schätzchen«. Aber mehr als alle anderen liebte er meine Mutter. Die Anziehung, die sie auf ihn ausübte, war so offensichtlich, dass es mir noch heute die Schamesröte ins Gesicht treibt, wenn ich mich daran erinnere.

Während ich nie Anlass hatte, mir Gedanken über das Begehren meines Vaters zu machen, packte mich doch etwas an der Heftigkeit dieses Begehrens, an der Heftigkeit männlichen Begehrens überhaupt. Bei Männern geht es nicht allein ums Wollen. Es geht ums Brauchen. Der Mann, der meiner Mutter jeden Tag auf dem Hin- und Rückweg zu ihrer Arbeit folgte, brauchte das. Präsidenten verwirken ihre Ehre für Blowjobs. Alles, was sich ein Mann im Laufe eines Lebens aufgebaut hat, setzt er vielleicht für einen einzigen Moment aufs Spiel. Ich habe nie die Theorie vertreten, mächtige Männer hätten derart aufgeblasene Egos, dass sie einfach annähmen, ihnen könne nichts passieren; vielmehr glaube ich, dass ihr Begehren in bestimmten Momenten so stark ist, dass alles andere – ihre Familie, ihr Zuhause, ihre Karriere – dahinter verblasst. Sich in nichts auflöst.

Als ich anfing, an diesem Buch zu arbeiten, einem Buch über das menschliche Begehren, reizten mich zunächst die Geschichten von Männern. Ihre Sehnsüchte. Wie sie für eine vor ihnen kniende junge Frau den Sturz eines ganzen Imperiums in Kauf nehmen. Und so führte ich anfangs Gespräche mit Männern: einem Philosophen aus Los Angeles, einem Lehrer aus New Jersey, einem Politiker aus Washington, D. C. Ihre Geschichten waren auf dieselbe Weise verlockend, wie es verlockend ist, beim Chinesen immer wieder das gleiche Gericht zu bestellen.

Die Geschichte des Philosophen, die anfangs die eines gut aussehenden Mannes war, dessen weniger gut aussehende Frau nicht mit ihm schlafen wollte – einschließlich aller schmerzhaften Begleiterscheinungen, die schwindende Liebe und Leidenschaft mit sich bringen –, wurde zur Geschichte eines Mannes, der mit der rothaarigen Masseurin schlafen wollte, die er wegen seiner Rückenschmerzen aufsuchte. »Sie sagt, sie will mit mir nach Kalifornien durchbrennen, Big Sur und so«, simste er mir an einem sonnigen Morgen. Bei unserem nächsten Treffen saß ich ihm in einem Coffeeshop gegenüber, und er beschrieb mir die Hüften der Masseurin. Seine Leidenschaft schien, obwohl er in seiner Ehe so viel verloren hatte, nicht an Würde gewonnen zu haben, sie war nur oberflächlich geworden.

Die Geschichten dieser Männer verschmolzen mehr und mehr zu einer einzigen Geschichte. In manchen Fällen gab es eine ausgedehnte Werbephase, in anderen war das Werben eher eine Art Manipulation, aber fast jede dieser Geschichten gipfelte im zuckenden Pulsen eines Orgasmus. Und während die Lust der Männer mit dem finalen Schuss erlosch, flackerte die Lust der Frauen an diesem Punkt gerade erst auf. Es lag eine Komplexität, eine Schönheit, ja auch eine gewisse Heftigkeit darin, wie Frauen denselben Vorgang erlebten. Dadurch und durch vieles mehr war es in meinen Augen plötzlich der weibliche Part dieses sexuellen Spiels, der für all das stand, was unser Begehren heute ausmacht.

Natürlich kann die weibliche Lust genauso getrieben sein wie die männliche, aber immer dann, wenn das Begehren zielgerichtet war, auf einen Endpunkt aus, auf den es zuzusteuern galt, schwand mein Interesse. In den Geschichten jedoch, in denen sich das Begehren nicht steuern ließ, in denen das begehrte Objekt das Geschehen beherrschte, fand ich den größten Zauber und den größten Schmerz. Es war ganz so, als würde jemand auf einem Fahrrad rückwärts treten, derselbe aussichtslose Kampf – an dessen Ende sich eine völlig neue Welt offenbart.

 

Um diese Geschichten aufzuspüren, bin ich sechs Mal durch die USA gefahren. Die einzelnen Stationen plante ich nur vage. Meistens strandete ich irgendwo, zum Beispiel in Medora, North Dakota. Dann bestellte ich einen Toast und einen Kaffee und las die Lokalzeitung. Auf diese Weise fand ich Maggie. Eine junge Frau, die von noch jüngeren Frauen als »Hure« und »fette Fotze« beschimpft wurde. Angeblich hatte Maggie eine Affäre mit ihrem verheirateten Highschool-Lehrer gehabt. Das Faszinierende an ihrer Beschreibung der Liebesbeziehung war das völlige Fehlen von Geschlechtsverkehr. Ihren Angaben zufolge hatte ihr Lehrer sie oral befriedigt, aber nicht zugelassen, dass sie ihm die Hose öffnete. Dafür hatte er ihr Lieblingsbuch Twilight mit lauter gelben Klebezetteln versehen. Neben Textpassagen, in denen es um zwei Liebende geht, deren Verbindung unter keinem guten Stern steht, hatte er Anmerkungen an den Rand geschrieben und Parallelen zu ihrer eigenen Beziehung gezogen. Was diese junge Frau umhaute, waren die schiere Anzahl und die Ausführlichkeit dieser Notizen. Sie konnte nicht fassen, dass der von ihr so bewunderte Lehrer das ganze Buch gelesen und sich dann auch noch die Zeit dafür genommen hatte, es derart einfühlsam zu kommentieren. Als hätte er einen Extrakurs über die Liebe zwischen Vampiren vorbereitet. Ihrem Bericht nach hatte er die Seiten außerdem mit seinem Parfüm besprüht, weil er wusste, wie sehr sie seinen Geruch liebte. Botschaften dieser Art zu erhalten, eine Beziehung dieser Art zu erleben und dann mit ihrem plötzlichen Ende konfrontiert zu sein, das musste ein gewaltiges Loch hinterlassen haben.

Als ich auf Maggies Geschichte stieß, spitzte sich die Lage gerade zu. Ich lernte sie als eine Frau kennen, der man ihre Sexualität und ihre sexuellen Erfahrungen auf schreckliche Weise absprach. Ich werde die Geschichte aus ihrer Sicht erzählen; in der Zwischenzeit ist eine andere Version vor ein Gericht gebracht worden, dessen Geschworene sie mit völlig anderen Augen beurteilt haben. Maggies Fall wirft einmal mehr die Frage auf, wann und warum und von wem die Geschichten von Frauen geglaubt werden – und wann und warum und von wem nicht.

 

Männer haben die Herzen von Frauen schon immer auf eine ganz bestimmte Weise gebrochen. Sie lieben sie oder lieben sie so halb und fühlen sich irgendwann ausgelaugt und ziehen sich innerlich über Wochen und Monate zurück, verschanzen sich in ihrer Höhle, verdrücken eine letzte Träne und rufen dann nie wieder an. Die Frauen aber warten. Je verliebter sie sind und je weniger andere Optionen sie haben, desto länger warten sie. Sie hoffen, ihr Liebster kommt mit einem malträtierten Handy und einem malträtierten Gesicht zurück und sagt: »Bitte verzeih mir, man hat mich lebendig begraben, ich habe immerzu nur an dich gedacht und war voller Angst, dass du glauben könntest, ich hätte dich sitzen gelassen, obwohl ich in Wahrheit nur deine Nummer nicht mehr hatte, weil sie mir von den Männern, die mich lebendig begraben haben, entrissen wurde und ich drei Jahre lang in allen Telefonbüchern nach ihr suchen musste, um dich jetzt endlich wiederzufinden. Ich war nie weg, meine Gefühle für dich haben nie nachgelassen. Du hattest recht, alles andere wäre grausam, skrupellos und unmöglich. Willst du mich heiraten?«

Maggie zufolge hat das mutmaßliche Verbrechen ihres Lehrers ihr Leben zerstört. Doch sie hat etwas, das nur die wenigsten verlassenen Frauen haben: eine gewisse Macht, begründet durch ihr Alter und den Beruf ihres Exliebhabers. Maggie glaubte, diese Macht stehe ihr durch das geltende Recht zu. Was sich letztlich als falsch herausstellte.

Manch eine Frau wartet, weil sie glaubt, ihr Leben sei zu Ende, wenn sie es nicht tue. Sie glaubt, dass er der einzige Mann ist, den sie je begehren wird. Das Warten kann auch ein Schutzmechanismus sein. Denn es dauert lange, bis eine Revolution an einen Ort vordringt, an dem die Menschen eher Rezepte aus der Country Living als Artikel über das Ende der weiblichen Unterdrückung austauschen.

Lina, eine Hausfrau in Indiana, deren Mann sie seit Jahren nicht geküsst hatte, trennte sich nicht von ihm, weil sie nicht genug Geld gehabt hätte, um auf eigenen Füßen zu stehen. Das in Indiana geltende Unterhaltsgesetz kam in ihrer Lebenswelt überhaupt nicht vor. Also wartete sie, dass ein anderer Mann seine Frau verließ. Und dann wartete sie noch ein bisschen länger.

Die Stimmung in einer Gesellschaft kann manchmal der Auslöser dafür sein, dass wir infrage stellen, wer wir in unserem eigenen Leben eigentlich sind. Die Frauen, die warten, sorgen oft dafür, dass andere Frauen sie in ihrem Warten bestätigen, damit sie sich nicht schlecht fühlen müssen.

Sloane, eine selbstbewusste Restaurantbesitzerin, lässt ihren Mann dabei zusehen, wie sie es mit anderen Männern treibt. Hin und wieder haben sie auch einen Vierer, aber meistens schaut er ihr per Videoübertragung oder live dabei zu, wie sie Sex mit einem anderen Mann hat. Sloane ist eine schöne Frau. Während ihr Mann ihr zusieht, schäumt draußen vorm Schlafzimmerfenster das so heiß geliebte Meer. Nur ein Stück die Straße runter grasen Cotswold-Schafe. Einer meiner Freunde aus Cleveland, der einen Dreier in einer Swinger-Gruppe für armselig und verachtenswert hält, fand Sloanes Geschichte aufschlussreich und unverstellt und zugänglich. Und eben diese Zugänglichkeit ermöglicht es uns, Mitgefühl zu entwickeln.

 

Ich denke darüber nach, dass ich eine Mutter hatte, die zuließ, dass ein Mann täglich hinter ihr masturbierte, und ich denke an all die Dinge, die ich mir von anderen habe gefallen lassen, vielleicht nicht ganz so entsetzlich, aber letztlich auch nicht so viel anders. Dann denke ich daran, wie viel ich von Männern gewollt habe. Wie viel von diesem Wollen das war, was ich von mir selbst oder auch von anderen Frauen gebraucht hätte; wie viel von dem, was ich glaubte, von einem Liebhaber zu wollen, eigentlich das war, was ich von meiner eigenen Mutter gebraucht hätte. Denn in vielen der Geschichten, die ich gehört habe, haben Frauen einen größeren Einfluss auf andere Frauen als Männer. Wir sind in der Lage, anderen Frauen das Gefühl zu geben, dass sie schäbig, nuttig, schmutzig, ungeliebt und hässlich wären. Letztlich geht es dabei immer um Angst. Mal sind es Männer, die uns Angst machen, mal sind es Frauen, und manchmal machen wir uns so viele Gedanken über alles, was uns Angst macht, dass wir mit unserem Orgasmus warten, bis wir allein sind. Wir geben vor, Dinge zu wollen, die wir nicht wollen, damit niemand sieht, dass wir nicht bekommen, was wir brauchen.

Vor Männern hatte meine Mutter keine Angst. Vor Armut schon. Sie erzählte mir noch eine andere Geschichte. Und auch wenn ich mich nicht mehr an die genauen Umstände erinnere, weiß ich, dass sie nicht sagte: »Komm, setz dich mal zu mir.« Sie erzählte mir diese Geschichte nicht bei einem Glas Rosé und ein paar Crackern. Wahrscheinlicher ist, dass es bei ein paar Marlboros am Küchentisch war, bei geschlossenem Fenster, wir den Hund zu unseren Füßen durch den Rauch nur schemenhaft erkannten und meine Mutter nebenbei die Glasplatte polierte.

Die Geschichte handelte von einem grausamen Mann, mit dem sie zusammen gewesen war, bevor sie meinen Vater kennengelernt hatte. Zum Vokabular meiner Mutter gehörten ein paar Wörter, die mich anzogen und mir gleichzeitig Angst einjagten. Grausam war eines von ihnen.

Meine Mutter war in großer Armut aufgewachsen, hatte in Töpfe gepinkelt und sich Urin auf ihre Sommersprossen getupft, weil es angeblich die Pigmente aufhellt. Ihre Eltern, ihre zwei Schwestern und sie mussten sich ein winziges Zimmer teilen. Die Decke war undicht, und wenn sie schlief, tropfte ihr Regenwasser aufs Gesicht. Fast zwei Jahre verbrachte sie wegen Tuberkulose in einem Sanatorium. Sie bekam nie Besuch, weil ihre Familie kein Geld für die Reise hatte. Ihr Vater trank und arbeitete in den Weinbergen. Ein kleiner Bruder starb noch vor seinem ersten Geburtstag.

Sie schaffte es schließlich raus in die Stadt, doch kurz vor ihrer Abreise erkrankte ihre Mutter. An Magenkrebs. Meine Großmutter wurde in das örtliche Krankenhaus eingewiesen, aus dem sie nie zurückgekehrt ist. In einer der Nächte tobte ein Schneesturm, Eisregen ging auf das Kopfsteinpflaster nieder, und meine Mutter war gerade mit diesem grausamen Mann zusammen, als sie die Nachricht erhielt, dass ihre Mutter im Sterben liege und die Nacht nicht überleben werde. Auf der Fahrt zum Krankenhaus entbrannte ein heftiger Streit. Meine Mutter erzählte mir keine Details, sie sagte nur, dass sie sich am Ende in der einbrechenden Dunkelheit auf dem verschneiten Seitenstreifen wiederfand. Sie schaute den immer schwächer werdenden Rücklichtern hinterher, andere Autos waren auf der vereisten Straße nicht unterwegs. Sie war nicht da, als es mit ihrer Mutter zu Ende ging.

Bis heute weiß ich nicht, was grausam in diesem Zusammenhang bedeutet. Ich weiß nicht, ob dieser Mann meine Mutter geschlagen oder bedrängt hat. Ich bin immer davon ausgegangen, dass Grausamkeit in ihrer Welt mit irgendeiner Form von sexueller Gewalt einherging. In meinen bizarrsten Fantasien stelle ich mir vor, wie er sie an diesem Abend, als ihre Mutter im Sterben lag, rumkriegen wollte. Ich male mir aus, wie er versucht, sie wie ein Vampir auszusaugen. Aber es war die Angst vor Armut, die meine Mutter ein Leben lang beschäftigt hat, nicht dieser grausame Mann. Dass sie kein Taxi hatte rufen können, um ins Krankenhaus zu kommen. Dass sie sich nicht selbst aus ihrer Lage hatte befreien können. Dass ihr die Mittel dazu fehlten.

Ungefähr ein Jahr nachdem mein Vater gestorben war, als wir die Tage gerade so, ohne zu weinen, überstanden, bat sie mich, ihr zu zeigen, wie das Internet funktioniert. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie einen Computer benutzt und brauchte quälend lange, um auch nur einen Satz zu tippen.

»Sag mir einfach, was du willst.« Nach einem gemeinsamen Tag vor dem Bildschirm waren wir beide frustriert.

»Das kann ich nicht«, antwortete sie. »Ich muss es allein machen.«

»Ja aber was denn?«, fragte ich. Ich hatte alles von ihr gesehen: sämtliche Rechnungen und Aufzeichnungen, sogar die handgeschriebenen Notizen, die sie mir für den Fall ihres plötzlichen Todes hinterlassen wollte.

»Ich muss etwas über einen bestimmten Mann herausfinden«, sagte sie leise. »Einen Mann, den ich vor deinem Vater kennengelernt habe.«

Ich war bestürzt und sogar gekränkt. Ich wollte, dass meine Mutter für immer und ewig die Frau meines verstorbenen Vaters blieb. Ich wollte, dass das Bild von meinen Eltern intakt blieb, auch über seinen Tod hinaus, auch wenn meine Mutter mit ihrem eigenen Glück dafür bezahlte. Ich wollte nichts vom Begehren meiner Mutter wissen.

Dieser dritte Mann, der Besitzer eines großen Schmuckimperiums, hatte meine Mutter so sehr geliebt, dass er sogar versucht hatte, die Hochzeit meiner Eltern zu verhindern, während die kirchliche Trauung schon in vollem Gange war. Vor langer Zeit hatte sie mir eine Halskette mit Rubinen und Diamanten geschenkt und anscheinend darüber hinwegtäuschen wollen, wie kostbar diese Kette für sie war. Ich sagte ihr, sie solle selbst herausfinden, wie der Computer funktioniere, aber ehe es dazu kam, wurde sie krank.

Ich denke über die Sinnlichkeit meiner Mutter nach und wie sie sie in bestimmten Situationen eingesetzt hat. Kleine Gesten wie ein Lächeln, das sie aufsetzte, wenn sie aus dem Haus ging oder die Tür öffnete. Mir kam es mal wie eine Stärke, mal wie eine Schwäche vor, aber nie wie etwas Echtes. Wie falsch ich doch lag.

Trotzdem frage ich mich noch heute, wie eine Frau es hat zulassen können, dass ein Mann ihr an so vielen Tagen folgte und hinter ihr masturbierte. Ich frage mich, ob sie nachts geweint hat. Vielleicht hat sie sogar um diesen einsamen alten Mann geweint. Es sind die feinen Nuancen unseres Begehrens, die offenbaren, wer wir wirklich sind. Ich bin aufgebrochen, um vom Feuer und vom Schmerz der weiblichen Lust zu erzählen, damit Männer und andere Frauen erst einmal verstehen können, bevor sie urteilen. Denn gerade die alltäglichen Momente unseres Lebens zeigen uns, wer wir waren, wer unsere Nachbarinnen und unsere Mütter waren, während wir glaubten, kein bisschen wie sie zu sein. Das sind die Geschichten von drei Frauen.

Maggie

An diesem Morgen machst du dich zurecht, als würdest du in den Krieg ziehen. Deine Kriegsbemalung heißt Schminke. Neutrales Make-up, Smokey Eyes. Stark getuschte Wimpern. Dunkelrosa Rouge, ein farbloser Lipgloss. Dein Haar ist leicht gewellt und voll.

Du saßt früher oft vorm Spiegel und brachtest dir selbst bei, wie man sich die Haare macht und sich schminkt. Im Hintergrund liefen Linkin Park und Led Zeppelin. Du bist eins von diesen Mädchen, die einfach ein Händchen dafür haben, die immer die richtigen Accessoires auswählen und die Haarklemmen perfekt platzieren.

Du trägst Keilstiefel, Leggins und eine schlichte Kimono-Bluse. Er soll wissen, dass er kein Kind mehr vor sich hat. Schließlich bist du dreiundzwanzig.

Natürlich willst du auch, dass er dich immer noch will, dass er bereut, was er verloren hat. Du willst, dass er später am Esstisch sitzt und an nichts anderes als deine hervorblitzenden Hüftknochen denken kann.

Vor sechs Jahren warst du schmaler, und er war vernarrt in deine kleinen Finger. Damals schob er seine Finger in dich hinein. Seitdem ist viel passiert. Dein Vater ist tot. Im August hat er sich auf einem nahe gelegenen Friedhof die Pulsadern aufgeschnitten. Früher hast du ihm von deinem Vater erzählt, von den Problemen mit deinen Eltern. Er wusste, wie sie einander aus der Kneipe holten – je nachdem, wer gerade weniger betrunken war. Und du glaubst auch heute noch, er würde verstehen, dass du dir Gedanken darüber machst, wie der Regen auf die Erde über deinem Vater prasselt. Wird er da unten nass und fragt sich, warum du ihn in dieser kalten, pitschnassen Dunkelheit alleingelassen hast? Überflügelt der Tod denn nicht den ganzen Kram, der sich in einem Gerichtssaal abspielt? Überflügelt der Tod denn nicht all den anderen Scheiß, selbst die Bullen und die Anwälte? Seid ihr nicht, irgendwie und irgendwo, immer noch nur zu zweit?

Du fährst mit deinem Bruder David zum Bezirksgericht des Cass County, unterwegs teilt ihr euch ein paar Zigaretten. Du riechst nach einer Mischung aus frisch geduscht und verraucht. Er konnte es nicht leiden, wenn du geraucht hast, darum hast du gelogen. Du hast gesagt, es sei der Rauch deiner Eltern, der sich in deinen Haaren und deinen dunkelblauen Kapuzenpullis festgesetzt hatte. Bei einem Ausflug der katholischen Gemeinde hast du dir geschworen, für ihn aufzuhören. Er hatte alles von dir verdient, auch das, was du ihm nicht geben wolltest.

Du hättest dafür sorgen können, dass er heute nicht dabei ist. Obwohl er, so die Anwälte, ein Recht darauf hat. Ein kleiner Teil von dir wollte ihn sowieso hierhaben. Man könnte sogar sagen, dass du nicht zuletzt deshalb zur Polizei gegangen bist, weil du wolltest, dass er dir wieder gegenübertreten muss. Denn die meisten Menschen würden wohl zustimmen: Wenn ein geliebter Mensch völlig dichtmacht, wenn er sich weigert, einen zu treffen, seine Zahnpasta nicht zurückwill, seine Trailschuhe nicht mehr braucht, keine Mails beantwortet, sich lieber ein neues Paar Trailschuhe kauft, statt sich deinem Schmerz zu stellen, dann fühlt es sich so an, als würde einem jemand die Organe einfrieren. Die Kälte ist so stark, dass man nicht mehr atmen kann.

Sechs Jahre hat er dich gemieden. Aber heute wird er kommen. Er wird auch zu den Verhandlungen kommen, und vielleicht machst du das alles wirklich, weil du ihn dadurch noch weitere sechs Male siehst. Was nur dann komisch wirkt, wenn man nicht weiß, wie sehr ein anderer Mensch einen zerstören kann, indem er einfach verschwindet.

Du hast Angst, dass du ihn willst. Du fragst dich, ob seine Frau sich Sorgen macht. In deiner Vorstellung ist sie zu Hause, hat sich von den Kindern abgeseilt und schaut auf die Uhr.

Du parkst das Auto, steigst aus und ziehst noch ein paarmal an deiner Zigarette, bevor du reingehst. Draußen sind minus sechzehn Grad, aber es tut gut, kurz in der Kälte zu rauchen. Fargo fühlt sich manchmal wie ein Neuanfang an. Die silbernen Trucks brettern den Highway entlang. Trucks haben immer ein festes Ziel, Koordinaten, die eingehalten werden müssen. Nur Züge findest du noch schöner, noch lässiger. Du atmest ein, eiskalte Luft füllt deine Lunge.

Du bist vor ihm im Raum. Zum Glück. Du und David und der Staatsanwalt, Jon, und der zweite Staatsanwalt, Paul. Wenn du an all diese Männer denkst, hast du ihre Vornamen im Kopf, und so sprichst du sie auch an. Sie finden, du wahrst die Grenzen nicht. Genau genommen vertreten sie nicht dich; sie vertreten den Bundesstaat North Dakota – und das ist etwas ganz anderes, als für dich einzutreten.

Ein Gerichtsstenograph kommt in den Raum.

Dann kommt er herein. Mit seinem Anwalt – einem aalglatten Arschgesicht namens Hoy.

Er sitzt dir gegenüber. Er trägt, was er früher in der Schule getragen hat: Slacks und ein Hemd mit Krawatte. Komisches Gefühl. So, als hättest du ihn in einem Anzug erwartet. Schicker und ernsthafter. In diesem Outfit kommt er dir vertraut vor. Du fragst dich, ob du dich in den letzten Jahren getäuscht hast. Du hast sein Schweigen als Gleichgültigkeit interpretiert, aber vielleicht hat er wie du erbärmlich gelitten. Er ist ein drittes Mal Vater geworden, hast du gehört, und plötzlich seine rotbäckige Frau neben einer Gartenschaukel vor dir gesehen, wie sie ein neues Leben in sich trug, während du zitternd im Eisbad deiner Selbstvorwürfe saßt. Du hast zugenommen, und die Make-up-Schicht in deinem Gesicht wird auch immer dicker. Wer weiß, vielleicht ist er die ganze Zeit über innerlich gestorben. Vor Sehnsucht nach dir. Hat sich wie ein unglücklicher Dichter damit abgefunden, für immer ein gebrochener Mann zu sein. Die Gartenschaukel rostet schon. Der Mittelschichtszaun ist seine Gefängnismauer. Und seine Ehefrau die Wärterin. Die Kinder, nun ja. Sie sind der Grund; ihretwegen findet er sich damit ab, unglücklich zu bleiben und ohne dich zu sein.

Einen winzigen Augenblick lang möchtest du dich über den Tisch beugen und deine kleinen Hände nach ihm ausstrecken, in die er so vernarrt war. Ob er es noch immer ist? Was geschieht mit der Vernarrtheit, wenn sie einmal erlischt? Du möchtest sein Gesicht halten und sagen: »Scheiße, es tut mir leid, dass ich dich ausgeliefert habe. Ich war schrecklich verletzt und wütend, du hast mir so viele Jahre meines Lebens geklaut. Was du getan hast, war nicht richtig, und jetzt sieh mich an. Jetzt bin ich hier. Ich habe diese Kriegsbemalung im Gesicht, aber unter all der Schminke bin ich verwundet und ängstlich und geil und erschöpft – und ich liebe dich. Ich habe dreizehn Kilo zugelegt. Ich bin ein paarmal von der Schule geflogen. Mein Vater hat sich gerade umgebracht. Ich nehme all diese Medikamente, schau in meinen Rucksack, da ist der ganze Mist drin. Ich bin ein Mädchen, das Pillen frisst wie eine alte Frau. Ich sollte Jungen treffen, die nach Pot riechen, aber stattdessen trage ich das Opferkostüm wie eine zweite Haut. Ich hänge im Party City auf einem Holzkleiderbügel. Du hast mir nie zurückgeschrieben.«

Fast streckst du die Hand nach ihm aus, fast sagst du ihm, wie leid es dir tut, und flehst ihn an, sich um dich zu kümmern. Keiner ist so für dich da, wie er es gewesen ist. Keiner hört dir zu, wie er es getan hat. All diese Stunden. Wie ein Vater, Ehemann, Lehrer und bester Freund.

Er hebt den Blick vom Tisch und sieht dich an. Seine Augen sind kalt und schwarz und tot. Kleine Achate, matt schimmernd und starr, sie wirken älter, als du sie in Erinnerung hast. Genau genommen kannst du dich an diese Augen überhaupt nicht erinnern. Früher lagen Liebe und Verlangen in seinem Blick. Früher hat er deine Zunge eingesaugt, als wollte er noch eine zweite haben.

Mittlerweile hasst er dich. Das sieht man. Du hast ihn aus seinem gemütlichen Zuhause mit seinen drei Kindern und seiner Ehefrau gezerrt, die ihm bis ins Grab folgen wird. Du hast ihn in diesen verfluchten Januarschneematsch genötigt, rein in diesen düsteren Raum, und ihn dazu gezwungen, sein gesamtes Einkommen und die gesamten Ersparnisse seiner Eltern für diesen aalglatten und freudlosen Anwalt auszugeben, und jetzt willst du sein Leben endgültig ruinieren. Alles, was er sich aufgebaut hat. Jeden Spieltisch von Fisher-Price, den er morgens um sieben im noch stickigen Kinderzimmer angeschaltet hat. Deinetwegen hat er sein Haus verscherbeln und sich ein anderes kaufen müssen.

In North Dakota ist Aaron Knodel gerade Lehrer des Jahres geworden; im ganzen Bundesstaat gilt er als der absolut Beste seines Fachs. Und hier bist du, du herumstreunende Irre, du Missgeburt zweier Alkoholiker, du Kind eines Selbstmörders, du Mädchen, das schon früher was mit älteren Männern hatte und sie in Schwierigkeiten gebracht hat, Soldaten, aufrechte Amerikaner, und hier bist du wieder, du zerstörerisches Flittchen, und willst den Lehrer des Jahres fertigmachen. Sein beißender Atem dringt dir in die Nase, er riecht nach Eiern.

Und noch eine Sache ist absolut klar: Es darf dir nichts mehr bedeuten. Ab sofort. Wenn du das nicht schaffst, kommst du vielleicht nie aus diesem Raum hier raus. Du versuchst, dein Herz zum Schweigen zu bringen, und es gelingt dir. Die Dankbarkeit, die du Gott und dir selbst gegenüber empfindest, ist schwindelerregend. An wie vielen Tagen hattest du das Gefühl, das Richtige zu tun? Heute ist so ein Tag. Vielleicht der einzige.

Du dachtest, du würdest ihn immer noch vögeln wollen. Du hast ihm im Internet nachgestellt. Mittlerweile ist es nicht mal mehr ein Nachstellen. Sobald du deinen Laptop aufklappst, fallen die Geister der Vergangenheit über dich her. Du kannst dich den schmierigen Artikeln in den Lokalzeitungen nicht entziehen. Oder bekommst bei Facebook Werbung für das Geschäft angezeigt, in dem dein Exlover seine Handschuhe gekauft hat. Die neuesten Bilder von ihm haben noch immer ein Kribbeln in dir ausgelöst, und der Gedanke an die längst vergangene Lust hat dir einen Stich versetzt. Aber jetzt, wo du hier sitzt, ist da nichts. Sein Mund ist klein und verkniffen. Seine Haut ist uneben. Seine Lippen sind nicht sinnlich, sie sind trocken und irritieren dich. Er sieht kränklich aus, so, als hätte er zu lange in einem zugigen Hobbykeller gesessen, nichts als Muffins gegessen, AA-Kaffee und Coca-Cola getrunken und die Wände angestarrt.

»Guten Morgen«, sagt sein Anwalt Hoy, der einfach nur gruslig aussieht mit seinem gezwirbelten Hexenmeisteroberlippenbart. Man sieht, welche Haltung hinter diesen Schnurrhaaren steht: Er ist einer von den Typen, die dir das Gefühl geben, dass du ein ungebildetes Stück Scheiße mit einer Schrottkarre bist, die an Wintermorgen wie diesen nicht anspringt.

»Würden Sie für das Protokoll bitte Ihren vollständigen Namen nennen?«

Der Gerichtsstenograph fängt an zu tippen, dein Bruder David atmet mit dir zusammen ein, und du sagst laut deinen Namen. »Maggie May Wilken«, sagst du und fährst dir durch deine langen, aufwendig zurechtgemachten Haare.

Die erste Fragerunde soll dich zum Reden bringen, ohne dass du es groß merkst. Hoy befragt dich zu der Zeit, die du bei deiner Schwester Melia in Washington State verbracht hast, bei Melia und ihrem Ehemann Dane, der in der Armee dient – das sind die Verwandten, die du auch auf Hawaii besucht hast, aber fürs Erste fragt er nach der Zeit, als sie in Washington gewohnt haben. Das war nach Aaron. Weil sich dein Leben in zwei Abschnitte einteilen lässt: in die Zeit vor Aaron und die Zeit nach Aaron. Es lässt sich auch in die Zeit vor dem Selbstmord deines Vaters und in die Zeit danach einteilen, aber wenn du ehrlich bist, hat alles mit Aaron angefangen.

Hoy befragt dich zu der Dating-Website PlentyOfFish. In Washington hast du dich mit ein paar Typen von der Seite verabredet. Und jetzt tut dieser Anwalt so, als hättest du deinen Körper für eine Flasche Coors Light verkauft. Du weißt, dass Männer wie er über die Macht verfügen, die Gesetze zu machen, nach denen du lebst. Männer, die reden, als wäre eine Dating-Website dasselbe wie Sexwerbung auf Backpage. Als wärst du ein Mädchen, das sich mit dem Gesicht zwischen den eigenen Schenkeln fotografiert.

In Wirklichkeit waren die Typen von dieser Seite Loser. Jedes Mal, wenn du dich mit einem von ihnen getroffen hast, war das eine traurige Veranstaltung. Du hast mit überhaupt keinem geschlafen, und es sind noch nicht mal ein paar kostenlose Drinks für dich rausgesprungen. Du fühlst dich bloßgestellt. Das war vor den ganzen Instagram-Fotos, die die Leute posten, um andere neidisch zu machen. Das waren die frühen und langsamen Jahre des neuen Zeitalters.

Hoy befragt dich auch zu einer Website, deren Namen er gar nicht richtig aussprechen kann. Du sagst, »was soll das sein?«, und er sagt, »das weiß ich nicht, aber haben Sie die Website besucht?«, und du sagst, »nein, ich habe keine Ahnung, was das für eine Seite ist«. Und denkst dir, du definitiv auch nicht, du Arsch. Weil er aber so förmlich auftritt, hast du Angst, ihm zu widersprechen. Du bist dir sicher, dass seine Frau und seine Kinder ihn regelmäßig anlügen, um diesem krittelnden Sticheln zu entgehen, das einen völlig fertigmacht.

Er befragt dich zu den Streits mit deinem Vater. Deinem über alles geliebten Vater, der jetzt von Erde und Regen bedeckt wird. Ihr beide habt euch damals oft gestritten, und das gibst du auch zu. »Worüber?«, will Hoy wissen, und du sagst, »über alles«. Du hältst nichts zurück, was auch immer das bedeutet, was auch immer sie dadurch über dich denken.

Er befragt dich zu deinen Geschwistern und will wissen, warum sie alle so früh von zu Hause ausgezogen sind. Damals wusstest du noch nicht, dass eine einmal abgegebene eidesstattliche Erklärung genau dafür da ist: damit sie deine eigenen Worte im Prozess gegen dich einsetzen können. Sie zeigen, wie bedürftig du warst. Was für ein leichtes Mädchen du warst, wahrscheinlich. Auf all diesen Dating-Websites, mit all diesen Geschwistern; deine Eltern waren kopulierende Alkoholiker, die all diese Kinder in die Welt gesetzt haben, die sich dann über das ganze Land verteilt und Probleme gemacht haben, auf denen sie wie auf Wellen in neue Bundesstaaten gesurft sind. Du lebst nicht im schönen Teil von West Fargo, du lebst im hässlichen Teil, im Gegensatz zu Mr. Knodel, North Dakotas Lehrer des Jahres, der in einem netten, unauffällig gestrichenen Haus mit einem ordentlich aufgewickelten Gartenschlauch und einem regelmäßig gesprenkelten Rasen wohnt.

Du siehst ihn die ganze Zeit an. Und du denkst daran, wie es damals war. Was, wenn du die Zeit zurückdrehen oder einfach in ihr zurückreisen könntest? Dahin zurück, als noch nichts beschmutzt war. Als alle noch lebten. Was, wenn deine und seine Hände sich noch immer verstehen würden? Und Hoy sagt: »Sie haben angedeutet, dass Sie schon vor der elften Klasse ein enges Verhältnis zu Mr. Knodel hatten.«

Du sagst: »Das ist richtig.«

»Wie kam es dazu?«, fragt Hoy.

Du denkst angestrengt über die Frage nach. In Gedanken schließt du die Augen. Und da bist du auf einmal. Raus aus dem ewig schwarzen Loch deiner Gegenwart und zurück im weiten Himmel deiner Vergangenheit.

 

Maggies Schicksal läuft ihr an einem Nachmittag, ganz ohne Vorwarnung, über den Weg. Und wie alles auf der Welt, das die Macht hat, einen Menschen zu zerstören, kommt es auf Samtpfoten daher.

Sie hat bisher nur von ihm gehört. Manche Mädchen haben darüber geredet, wie heiß er aussieht. Glatte dunkle Haare mit einer leichten Welle vorn, als hätte man sie zu einer dauerhaften Grußgeste gegelt. Bestechende dunkle Augen. Einer von diesen Lehrern, die es schaffen, dass man selbst an den eiskalten Morgen in North Dakota gern zur Schule geht. Sein Name wird auf den Gängen nur noch geflüstert, weil so viel Aufregung mit ihm verbunden ist.

Mister Knodel.

Maggie ist keins von den Mädchen, die etwas darauf geben, wen andere heiß finden. Und sie schließt sich auch nicht der allgemeinen Meinung an, nur um dazuzugehören. Ihre Freundinnen sagen, sie habe einen komischen Geschmack. Sie lachen darüber, aber insgeheim sind sie froh, dass Maggie Teil ihrer Clique ist. Sie sagt einem Mann, dass sie nicht mit ihm vor die Tür gehen wird, sodass er sich die Frage, ob sie nicht mal raus an die frische Luft wolle, genauso gut sparen kann.

An diesem einen Tag dann bekommt sie ihn zwischen der zweiten und dritten Stunde zu Gesicht, als er auf dem Gang an ihr vorbeiläuft. Er trägt Khakis, dazu ein Hemd und eine Krawatte. Es ist keiner dieser Momente, in denen der Blitz einschlägt. Oft ist es keine große Sache, wenn du den nächsten VIP deines Lebens zum ersten Mal siehst. Maggie sagt zu ihren Freundinnen: »Na gut, er ist süß, aber so überwältigend ist er nun auch wieder nicht.«

Doch es gibt nicht viele heiße Lehrer an der Schule. Genau genommen überhaupt keine. Da sind nur noch zwei andere junge Lehrer, Mr. Murphy und Mr. Krinke, die zusammen mit Mr. Knodel die drei Amigos genannt werden. Sie verstehen sich nicht nur gut miteinander, sondern sind auch über alle möglichen Kanäle, zum Beispiel SMS, mit ihren Schülern verbunden – besonders mit den Kids, die sie coachen. Mr. Murphy und Mr. Knodel leiten den Student Congress, Mr. Krinke und Mr. Knodel den Debattierclub. Sie hängen nach der Schule zusammen in Restaurants rum, in denen man Bierflüge bestellen kann, im Spitfire Bar & Grill, im Applebee’s oder im TGI Fridays. Sie sehen sich Punktspiele an und trinken dabei ein paar Lager. Sie essen in Mr. Knodels Klassenzimmer, was sie ein »Männer-Mittag« nennen. Sie reden über Fantasy Football und stopfen sich schamlos ihre Club Sandwiches rein.

Nimmt man die drei Amigos, ist Mr. Knodel der Hauptgewinn. Ein Meter achtzig, fünfundachtzig Kilo. Mit einem Haken: Er ist verheiratet und hat Kinder. Doch von den U-40-Lehrern sieht er definitiv am besten aus. Und wenn man nicht nach Las Vegas fahren kann, begnügt man sich eben mit dem Foxwoods Casino.

Im zweiten Halbjahr der zehnten Klasse sitzt Maggie in Mr. Knodels Englischkurs. Sie findet den Unterricht spannend. Meistens ist sie pünktlich, sie sitzt gerade, meldet sich und lächelt. Nach dem Unterricht unterhalten sie sich noch. Er sieht ihr dabei in die Augen und hört ihr zu, wie ein guter Lehrer das eben so macht.

Dann führt eins zum anderen. Als West Fargo im Fußballhalbfinale der Mädchen gegen Fargo South spielt, stellt Mr. Knodel Maggie auf, und sie zittert plötzlich wie ein kleiner Vogel. Sie bräuchten ihre Kraft jetzt auf dem Platz, sagt er. Am Ende verlieren sie das Spiel, durch Maggies Einsatz aber immerhin nur knapp. Es ist knackig kalt, die Sonne scheint, und Maggie weiß bis heute, wie sie damals dachte: Ich habe noch mein ganzes Leben, um genau das hier zu machen, und auch sonst alles, was ich will.

An den Wänden ihres Zimmers hängen Poster von Mia Hamm und Abby Wambach. Ihre Mutter hat ihr ein Netz an die Wand gemalt, als Kopfteil für ihr Bett. Maggie ist in David Beckham verknallt. Tief im Verborgenen ist sie zuversichtlich, dass sie ein Vollstipendium fürs College ergattern kann. Sie beamt sich an Jungs und Proms und dem neuesten Klatsch vorbei in eine Zukunft, in der das Publikum allein deshalb in die großen Stadien kommt, um die Mädchen spielen zu sehen. Sie steht an diesem Scheideweg, hat noch immer die Träume eines Kindes, ist aber in der Lage, sie mit der Kraft einer Erwachsenen aus der Tiefe ans Licht zu holen.

Als sie in der zehnten Klasse sind, schmuggeln Maggie und ein paar Freunde am Homecoming-Abend Alkohol mit zum Spiel, in Cola-Flaschen, und ziehen danach weiter zu einem der Kids, dessen Eltern verreist sind, um dort noch ein bisschen mehr zu trinken. Sie bekommen eine dieser typischen Heißhungerattacken und fahren raus nach Moorhead ins Perkins, das aussieht wie eine Suppenküche. Der Laden ist trist, die Gäste haben rote Gesichter und die Kellnerinnen einen Raucherhusten, aber für einen jungen Menschen mit etwas Alkohol im Blut ist er perfekt für einen Mitternachtssnack. Als junger Mensch kann man fast alles machen, ohne dass es trist ist.

In der Ferne rattert ein Zug. Maggie denkt sofort an künftige Zugreisen, immer nur mit einer Hinfahrkarte, Hauptsache, raus aus Fargo und rein in Karrieren und schicke Apartments in Städten aus Glas. Sie sieht ihr ganzes Leben vor sich, und der Weg ist nicht vorgezeichnet. So viele Möglichkeiten stehen ihr offen. Sie könnte Astronautin werden, Rap-Star oder Steuerberaterin. Sie könnte glücklich werden.

 

Hoy befragt dich zu anderen Schülern aus deinem Englischkurs und anschließend zu deinem festen Freundeskreis. Du nennst Melani und Sammy und Tessa und Liz und Snokla.

»Snokla«, sagt er, als wäre sie ein tiefgekühltes Dessert. »Ist das ein Mädchen?«

»Ja, das ist ein Mädchen«, sagst du.

»Und das ist die, von der Sie glauben, ihr Nachname wäre Solomon?«

Hoy klingt herablassend, als er das sagt. Dann meldet sich Aaron das erste Mal zu Wort. Der Mann, der dich mit Küssen bedeckt und dann irgendwann nicht nur damit aufgehört, sondern so getan hat, als hätte es dich nie gegeben, richtet das erste Mal seit sechs Jahren das Wort an dich.

»Das ist falsch«, sagt er und schüttelt den Kopf. Er meint: Solomon, der Nachname, ist falsch. So wie er es sagt und den Kopf schüttelt, weißt du, dass er recht hat. Es geht um mehr als Intelligenz. Er ist der Typ Mann, der sich nie eine Geschlechtskrankheit einfängt, ganz egal, mit wie vielen versifften Frauen er schläft, der einen Jahrmarkt nie ohne einen Berg billig produzierter Kuscheltiere auf dem Arm verlässt, diesem Zeichen von Erfolg in Pink und Blau.

Hoy fragt: »Und das ist die, von der Sie glauben, ihr Nachname wäre Solomon?«

»Offenbar ja nicht«, antwortest du. Deine Wangen glühen. Er war dein Lehrer, dein Liebhaber, aber eben immer eine Autoritätsperson, und das ist er weiterhin. Einmal sagte er, für dich würde er auch mal Bodygrooming ausprobieren, und du kamst dir so dumm vor, weil du keine Ahnung hattest, was das ist.

»Das verstehe ich nicht«, konstatiert Hoy.

»Ich habe deutlich gesagt, dass ihr Klient sagt, dass sie nicht so heißt, also …«

Wenn du wütend bist und dich in die Ecke gedrängt fühlst, wirst du bissig. Hoy lenkt ein: »Okay, Sie brauchen das jetzt nicht auszudiskutieren. Beantworten Sie einfach meine Fragen.«

Später wirst du dich fragen, warum niemand es seltsam fand, dass Hoy sich nicht wie der Anwalt eines unschuldigen Mannes, sondern vielmehr wie der Freund eines sich streitenden Liebespaars benahm.

Doch nicht Hoy ist hier verrückt, sondern du. Du bist die Verrückte. Du willst Geld, denken die Leute, und diesen Mann für etwas bezahlen lassen, das er nicht getan hat. Du bist verrückt, einfach hinüber, genau wie dein Wagen und deine geistige Gesundheit. Und wie immer gewinnen die Bösen. Aaron ist auch heute noch stärker als du. Aber nicht das löst den Schmerz aus, sondern etwas, das tief in dir wuchert und nach deiner Mutter schreit. Du zuckst mit den Schultern.

»Dann weiß ich es nicht«, sagst du.

 

Maggie erinnert sich, dass in der Zehnten ein Mädchen namens Tabitha in ihrem Englischkurs saß. Sie erinnert sich deshalb daran, weil Mr. Knodel in einer der Stunden rausrutschte, dass er Hodenkrebs habe. Es ist komisch und nett, aber auch ein bisschen unheimlich, wenn Lehrer etwas aus ihrem Privatleben mit einem teilen. Sie wirken dann weniger lehrerhaft. Man identifiziert sich eher mit ihnen, wenn sie sich als Menschen zeigen, die Erkältungen kriegen und Sachen haben wollen, die sie sich nicht leisten können, oder wenn sie sich auch mal unattraktiv fühlen.

Tabitha fragte daraufhin, ob das heiße, dass er nur noch einen Hoden habe. Nur dass sie nicht ganz so freundlich klang. Sie sagte: »Soll das heißen, Sie haben nur noch ein Ei?«

Mr. Knodel fand das nicht besonders witzig. Er antwortete sehr ernst: »Darüber können wir nach dem Unterricht sprechen.«

Maggie hatte Mitleid mit Mr. Knodel, weil sie verstand, dass Tabitha ihn bloßgestellt hatte. Was für eine schreckliche Frage. Wie konnte man nur so was sagen! Maggie ist frech und laut, aber sie ist nicht gemein oder gedankenlos.

Kurze Zeit später – fast wie ein Streich, um zu zeigen, dass der fehlende Hoden ihn nicht einschränkt – nimmt Mr. Knodel Vaterschaftsurlaub. Seine Frau hat gerade ihr zweites Kind zur Welt gebracht. Mr. Murphy vertritt ihn. Als Mr. Knodel aus dem Vaterschaftsurlaub zurückkommt, wirkt er offener. Er hat aufgetankt und ist zugänglicher als früher – strahlender, onkelhafter.

Maggie erinnert sich nicht mehr genau, wie es anfing, dass sie ihm in diesen Sitzungen nach dem Unterricht aus ihrem Leben erzählte. Mal trödelte sie extra lange nach seinem Kurs, mal fragte er sie irgendwas, wenn sie schon auf dem Weg nach draußen war. »Maggie«, sagte er dann mit unglaublich innigem Blick, und sie blieb doch noch. Nach und nach erzählte sie von sich. Von ihrem Dad, der sich in der Bar so sehr betrank, dass er nicht mehr nach Hause fahren konnte. Von dem Streit am Abend zuvor, als sie nicht auf ihn hören wollte – wie auch, wenn der Vater einen bittet, dass man ihm einen Sechserpack kauft.

Wenn sie Mr. Knodel eine Weile lang nichts mehr erzählt hatte, hakte er manchmal nach. »Hey, ist bei dir zu Hause alles okay?« Und dann blieb Maggie wieder da und erzählte ihm, was so los gewesen war. Er war ein guter Lehrer, er sorgte sich. Manchmal gibt es nichts Besseres auf der Welt als jemanden, der dir durch eine Frage zeigt, dass er sich für dich interessiert.

Lina

Lina weiß, dass es zwei Arten von Fünfzehnjährigen gibt, und sie gehört eher zu denen, die Aufkleber sammeln, als zu denen, die rumknutschen. Allein in ihrem Zimmer, schließt sie die Augen und stellt sich vor, wie es wäre, sich zu verlieben. Das wünscht sie sich mehr als alles andere auf der Welt. Sie glaubt, dass Mädchen, denen beruflicher Erfolg angeblich wichtiger ist, auf jeden Fall lügen. Unten im Erdgeschoss hat ihre Mutter einen Hackbraten im Ofen. Lina findet das eklig. Sie findet vor allem den Geruch eklig, der durch die Luft wabert. Im ganzen Haus riecht es jetzt nach Hackbraten, und der nervige Gestank wird noch tagelang im Staub auf den Mülleimern festsitzen.