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Elena Makarova (Hrsg.)

Gendersensible Berufsorientierung und Berufswahl

Beiträge aus Forschung und Praxis

ISBN Print: 978-3-0355-1529-9

ISBN E-Book: 978-3-0355-1530-5

1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© 2019 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.com

Vorwort

Junge Frauen und Männer entscheiden sich mehrheitlich für Berufe und Studienrichtungen, in denen der Anteil des eigenen Geschlechts überwiegt. Die Berufswahl junger Frauen fällt selten auf den MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik), während junge Männer sich weniger für Berufe und Studienrichtungen im sozialen, pflegerischen oder frühpädagogischen Bereich entscheiden. Diese horizontale Geschlechtersegregation bei der Berufs- und Studienwahl ist seit Jahrzehnten beharrlich und verlangt nach einer Stärkung und Koordination der Maßnahmen im Bereich der gendersensiblen Berufsorientierung.

Da sich bereits Kinder mit ihren «Traumberufen» auseinandersetzen, kommt einer gendersensiblen Berufsorientierung im schulischen Kontext eine zentrale Bedeutung zu. Eine offene Berufswahlvorbereitung an Schulen soll Mädchen und Jungen bei der Erkundung ihrer (geschlechtsuntypischen) berufsbezogenen Interessen durch vielfältige Angebote unterstützen und im Prozess der Berufswahl zur Reflexion von Geschlechterstereotypen ermutigen. Im Weiteren spielt eine gendersensible Berufsorientierung auch für Hochschulen eine zentrale Rolle, um das unausgewogene Geschlechterverhältnis in den Studiengängen und bei der Berufseinmündung nach dem Studium auszugleichen. Dabei stehen ein geschlechtersensibler Auftritt der Berufe und Fachbereiche sowie eine gendergerechte Gestaltung von Studiengängen im Vordergrund der Gleichstellungsbemühungen.

Das vorliegende Buch richtet sich an Vertreterinnen und Vertreter der Wissenschaft, der (Berufs-)Bildungspraxis sowie der Gleichstellung und beleuchtet die geschlechtsbezogenen Disparitäten bei der Berufs- und Studienwahl sowie die Ansätze einer gendersensiblen Berufsorientierung anhand der sechzehn Einzelbeiträge. Diese Beiträge präsentieren einerseits die Erkenntnisse aus den aktuellen Forschungs- und Entwicklungsprojekten und zeigen andererseits innovative Beispiele der Umsetzung einer gendersensiblen Berufsorientierung im (Hoch-)Schulkontext auf. Die dreizehn forschungsbasierten Beiträge wurden einem Double-Blind-Begutachtungsverfahren durch externe Gutachterinnen unterzogen und nach der anschließenden Überarbeitung zur Publikation angenommen. Die drei Praxisbeiträge wurden durch die Herausgeber(innen)schaft begutachtet. Die meisten Beiträge in diesem Band stellen die ausgearbeiteten Langfassungen der Vorträge dar, die auf der internationalen Tagung «Gendersensible Berufsorientierung» am 26. Oktober 2018 an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz in Solothurn gehalten wurden. Die Tagung fand im Rahmen des swissuniversities-Programms P-7 «Chancengleichheit und Hochschulentwicklung 2017–2020» statt und war ein Bestandteil des Aktionsplans Chancengleichheit der Fachhochschule Nordwestschweiz 2017–20.

Das Buch ist entlang der vier Themenbereiche strukturiert, die die inhaltliche Bandbreite der Einzelbeiträge spiegeln. Der erste Themenbereich greift die Reproduktion und Transformation einer geschlechtstypischen Berufswahl anhand von fünf Einzelbeiträgen auf. Im ersten Beitrag untersuchen Katja Pässler und Nadine Schneider die Entwicklung beruflicher Interessen von 248 Primarschülerinnen und Primarschülern aus der Deutschschweiz und zeigen, dass eine Förderung von Interessen bei Kindern möglichst früh verankert werden sollte, bevor die allgemeine Begeisterungsfähigkeit von Kindern abnimmt und sich Geschlechtsunterschiede in beruflichen Interessen verfestigen. Der zweite Beitrag von Selina Teuscher, Elena Makarova und Markus P. Neuenschwander fokussiert die berufliche Laufbahn junger Frauen und Männer im Zusammenhang mit der Geschlechtstypik des gewählten Berufs und belegt, dass die berufliche Geschlechtstypik nicht nur ein gewichtiger Faktor ist, wenn es um die Begründung der Berufswahl und der Wahl der Berufslaufbahn geht, sondern auch um die Beurteilung der Zufriedenheit mit dem gewählten Beruf. Im dritten Beitrag gehen Regula Julia Leemann, Christian Imdorf, Andrea Fischer, Raffaella Simona Esposito und Sandra Hafner der Frage nach, weshalb sich die Geschlechtsspezifität der Fachmittelschule (FMS) nur langsam wandelt. Das Autor(innen)team schlussfolgert, dass die Reproduktion der Geschlechtsspezifität an FMS darauf zurückzuführen ist, dass die Schule sich im Zuge ihrer Institutionalisierung auf ihre traditionelle Funktion stützen musste, um ihr Überleben zu sichern und ihre Position als dritter Bildungsweg zu legitimieren. Der vierte Beitrag von Belinda Aeschlimann, Ines Trede, Marianne Müller und Jörg Neumann untersucht am Beispiel des Sozialbereichs, welche Rolle das Geschlecht für die Berufs- und Bildungsabsichten nach dem Berufsabschluss Fachfrau/-mann Betreuung EFZ spielt, und zeigt einen maßgeblichen Einfluss des Geschlechts und des gewählten Arbeitsbereichs auf die potenzielle Berufs- und Bildungslaufbahn. Abschließend geht der fünfte Beitrag von Sigrid Haunberger und Annabelle Bartelsen geschlechtsspezifischen Studienfachwahlmotiven für das Studium der Sozialen Arbeit nach und beleuchtet, inwiefern ein traditionelles Geschlechterrollenbild sowie eine fehlende Vorstellung über die Studienfachinhalte von Männern ein Studium im sozialen Bereich verhindern.

Nachfolgend setzen sich vier Einzelbeiträge mit geschlechtsbezogenen-Disparitäten im MINT-Bereich und gendergerechter Unterrichtsgestaltung auseinander. Der erste Beitrag in diesem Themenbereich von Walter Herzog, Elena Makarova und Felicitas Fanger illustriert eine stark asymmetrische und stereotype Darstellung der Geschlechter in naturwissenschaftlichen Schulbüchern auf der Sekundarstufe II und beurteilt diese mit Blick auf eine gendergerechte Unterrichtsgestaltung und die Förderung von Frauen in MINT-Fächern als problematisch. Der zweite Beitrag von Nadine Wenger und Elena Makarova verfolgt das Thema der Gendergerechtigkeit von Lehrmitteln in naturwissenschaftlichen Fächern weiter und stellt die Analyse und die Überarbeitung eines Physikschulbuchs für die Sekundarstufe II nach den Kriterien der Gendergerechtigkeit in Lehrmitteln (Gender Equality School Book Index) dar. Im dritten Beitrag schildern Dorothee Brovelli, Evelin Vogler und Andrea Maria Schmid Ergebnisse einer Vignettenstudie bei angehenden Lehrkräften zu einem geschlechtersensiblen Naturwissenschafts- und Technikunterricht und kommen zum Fazit, dass eine gendersensible Unterrichtsgestaltung in der Ausbildung angehender Lehrkräfte noch stärker berücksichtigt werden muss, sollte der Unterricht auch im Hinblick auf die Berufswahl zur Herstellung von Chancengleichheit beitragen. Abschließend befasst sich der vierte Beitrag von Jessica Bollag, Caroline Bühler, Isabelle Clerc, Mira Ducommun und Sonja Schär mit Vorstellungen von Lehrkräften und Dozierenden auf verschiedenen Stufen des Bildungssystems zum Fach Informatik und zum Beruf der Informatikerin beziehungsweise des Informatikers und zeigt, dass Exklusionsmechanismen unreflektiert in die Vermittlung von Informatikkompetenzen in Schulen und Hochschulen einwirken.

Der dritte Themenbereich erörtert Perspektiven einer gendersensiblen Berufsorientierung in Schule und Unterricht. Im ersten Beitrag stellt Hannelore Faulstich-Wieland die theoretischen Grundlagen des Berufswahlprozesses ebenso wie den Ansatz der Irritation nach Arno Combe und Ulrich Gebhard vor und zeigt, wie auf diese Art und Weise ein gendersensibler Berufsorientierungsunterricht ermöglicht werden kann. Der zweite Beitrag von Katja Driesel-Lange und Svenja Ohlemann stellt ausgewählte Studien der Berufsorientierungsforschung dar und zeigt auf dieser Grundlage Implikationen für eine theoretisch fundierte und empirisch begründete Konzeption und Gestaltung individueller und gendersensibler Berufsorientierung. Abschließend schildert ein Praxisbeitrag von Eveline Iannelli Nutzen und Wirkung institutioneller Verankerung eines schulzentrierten Angebots zu einer interessengeleiteten Berufswahl am Beispiel des Avanti-Projekts.

Die im Anschluss folgenden vier Einzelbeiträge thematisieren sodann eine gendersensible Gestaltung von Studiengängen und Weiterbildungen. Der erste Beitrag von Anne-Françoise Gilbert stellt aus der Genderperspektive die Ein- und Ausschlusswirkungen von institutionellen Praxen in technischen Fachhochschulstudiengängen dar und skizziert die Implikationen dieser Befunde für eine genderinklusive institutionelle Praxis in technischen Studiengängen. Im zweiten Beitrag von Dörte Resch und Melanie Nussbaumer wird die Attraktivität von ICT-Berufen analysiert und ermittelt, wie das Berufsimage mittels eines Re-Brandingprozesses so verändert werden kann, dass eine positive Identifikation für die verschiedenen Zielgruppen ermöglicht wird. Der dritte Beitrag aus der Praxis von Lalitha Chamakalayil und Dorothee Schaffner fokussiert Herausforderungen im Umgang mit gegenderten, stereotypen Denkmustern und Rollen- beziehungsweise Berufsbildern von Fachpersonen in der beruflichen Orientierung. Der Beitrag thematisiert, wie Genderthematiken und eine Auseinandersetzung mit intersektional verschränkten Ungleichheiten in der Weiterbildung verankert werden können. Der abschließende Praxisbeitrag von Angela Grosso Ciponte, Danilo Silvestri Graphic und Catherine Sokoloff gibt einen Einblick in den Forschungs- und Entwicklungsprozess einer gendergerechten Lernapp Easystep zum Berufsstart für Studierende in Gestaltung und Kunst.

Als Herausgeberin bedanke ich mich herzlich bei allen Autorinnen und Autoren für ihre spannenden Beiträge, die der interessierten Leser(innen)-schaft vielfältige Einblicke in die Thematik des Buches ermöglichen. Zudem gebührt mein ausdrücklicher Dank Nadine Wenger und Jana Lindner, die durch ihre tatkräftige Unterstützung zum Gelingen der Buchherausgabe erheblich beigetragen haben.

Bern im April 2019

Elena Makarova

Inhalt

Vorwort

Reproduktion und Transformation einer geschlechtstypischen Berufswahl

Katja Pässler, Nadine Schneider

Stabilität und Veränderung geschlechtsspezifischer Interessen im Primarschulalter

Selina Teuscher, Elena Makarova, Markus P. Neuenschwander

Wie begründen Jugendliche ihre Berufswahl und wie zufrieden sind sie im Beruf?

Regula Julia Leemann, Christian Imdorf, Andrea Fischer, Raffaella Simona Esposito, Sandra Hafner

Die Fachmittelschule als «Mädchenschule»!? Eine Bildungsinstitution der Sekundarstufe II zwischen Reproduktion und Transformation der geschlechtertypischen Berufswahl

Belinda Aeschlimann, Ines Trede, Marianne Müller, Jörg Neumann

Die Bedeutung des Geschlechts beim Übergang in die berufliche Tertiärbildung im Sozialbereich

Sigrid Haunberger, Annabelle Bartelsen

Warum Männer und Frauen Soziale Arbeit studieren

Geschlechtsbezogene Disparitäten im MINT-Bereich und gendergerechte Unterrichtsgestaltung

Walter Herzog, Elena Makarova, Felicitas Fanger

Darstellung der Geschlechter in einem Physik- und in einem Chemieschulbuch für die Sekundarstufe II

Nadine Wenger, Elena Makarova

Gendergerechtigkeit von Lehrmitteln in naturwissenschaftlichen Fächern

Dorothee Brovelli, Evelin Vogler, Andrea Maria Schmid

Geschlechtersensibler Naturwissenschafts- und Technikunterricht

Jessica Bollag, Caroline Bühler, Isabelle Clerc, Mira Ducommun, Sonja Schär

Auf dem Weg zu einer gendergerechten Informatikdidaktik

Perspektiven einer gendersensiblen Berufsorientierung in Schule und Unterricht

Hannelore Faulstich-Wieland

Irritationen als Ansatz zur gendersensiblen Berufsorientierung in der Schule

Katja Driesel-Lange, Svenja Ohlemann

Perspektiven von Mädchen und Jungen auf die schulische Berufsorientierung

Eveline Iannelli

Avanti – Nutzen und Wirkung institutioneller Verankerung eines schulzentrierten Angebots zu einer interessengeleiteten Berufswahl*

Gendersensible Gestaltung von Studiengängen und Weiterbildungen

Anne-Françoise Gilbert

Gendersensible Berufsorientierung und die Gestaltung technikwissenschaftlicher Studiengänge

Dörte Resch, Melanie Nussbaumer

Attraktivität von ICT-Berufen

Lalitha Chamakalayil, Dorothee Schaffner

«Wenn die doch zufrieden sind mit einem Frauenberuf?!»*

Angela Grosso Ciponte, Danilo Silvestri, Catherine Sokoloff

«Easystep. Erste Hilfe für den ersten Schritt in den Beruf in Gestaltung und Kunst»*

Autorinnen und Autoren

 

Reproduktion und Transformation einer geschlechtstypischen Berufswahl

Katja Pässler, Nadine Schneider

Stabilität und Veränderung geschlechtsspezifischer Interessen im Primarschulalter

Ergebnisse einer Längsschnittstudie

Abstract

Untersucht wurde die Entwicklung beruflicher Interessen von 248 Primarschülerinnen und Primarschülern der vierten bis sechsten Klasse aus der Deutschschweiz (M Alter = 10.8 Jahre, SD = 1.00). Entsprechend der «disruption hypothesis» verweisen die Ergebnisse auf eine Abnahme des praktisch-technischen, intellektuell-forschenden, sprachlich-künstlerischen, sozialen und konventionellen Interesses mit zunehmendem Alter der Kinder. Bereits im Primarschulalter lassen sich mit Ausnahme des unternehmerischen Interesses Geschlechtsunterschiede in allen RIASEC-Dimensionen nachweisen. Die Geschlechtsunterschiede fallen allerdings geringer aus als bei Jugendlichen und Erwachsenen. Entgegen den Erwartungen berichten Mädchen über ein stärkeres intellektuell-forschendes Interesse als Jungen. Die Ergebnisse zeigen, dass eine Förderung von Interessen bei Kindern möglichst früh verankert werden sollte, bevor die allgemeine Begeisterungsfähigkeit von Kindern abnimmt und sich Geschlechtsunterschiede in beruflichen Interessen verfestigen.

1 Einleitung

Berufliche Interessen sind wichtige Determinanten der Studien- und Berufswahl (Humphreys, Lubinski & Yao, 1993) und valide Prädiktoren von Leistung, Zufriedenheit und Persistenz im schulischen, universitären und arbeitsbezogenen Kontext (Nye, Su, Rounds & Drasgow, 2012; Nye, Su, Rounds & Drasgow, 2017; Schiefele, Krapp & Winteler, 1992; Tsabari, Tziner & Meir, 2005). Geschlechtsunterschiede in beruflichen Interessen gelten als wesentlicher Faktor zur Erklärung der anhaltenden Ungleichverteilung von Frauen und Männern in MINT-Berufen (Ceci, Ginther, Kahn & Williams, 2014). Um die Studien- und Berufswahlentscheidung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen besser nachvollziehen und erfolgreiche Interventionen zur Förderung von MINT-Interessen gestalten zu können, scheint es zentral, die Entwicklung beruflicher Interessen und insbesondere die Entstehung geschlechtsspezifischer Unterschiede in beruflichen Interessen zu beleuchten.

Berufliche Interessen werden als zeitstabile, situationsübergreifende Handlungstendenzen, das heißt Dispositionen, verstanden (Holland, 1997). Zur Operationalisierung beruflicher Interessen dient traditionell das RIASEC-Modell von Holland (1997). Hollands Theorie folgend, lassen sich Individuen anhand von sechs grundlegenden Interessendimensionen beschreiben: praktisch-technisch (realistic, R), intellektuell-forschend (investigative, I), künstlerisch-sprachlich (artistic, A), sozial (social, S), unternehmerisch (enterprising, E) und konventionell (conventional, C). Jeder der sechs Personentypen lässt sich anhand spezifischer Interessen, Fähigkeiten, Kompetenzen, Werte und Ziele charakterisieren und präferiert bestimmte berufliche Tätigkeiten. Der praktisch-technische Typ bevorzugt die Arbeit mit Maschinen und Werkzeugen sowie Tätigkeiten in der Natur; der intellektuell-forschende Typ zeigt eine Präferenz für Naturwissenschaften; der sprachlich-künstlerische Typ bevorzugt es, eigene, neuartige Ideen kreativ mithilfe von Sprache, Musik, darstellender oder bildender Kunst auszudrücken; der soziale Typ präferiert Tätigkeiten, bei denen der Mensch im Vordergrund steht; der unternehmerische Typ möchte andere Menschen überzeugen oder führen; und der konventionelle Typ bevorzugt den Umgang mit strukturierten Daten.

Kindheit und Jugendalter sind wichtige Phasen der Interessenentwicklung. Theorien zur Entwicklung beruflicher Interessen (Gottfredson, 2002; Todt, 2000) gehen zunächst von einer Phase universeller Interessen aus. Im Vor- und Grundschulalter besitzen Kinder eine große Neugier und Offenheit für neue Erfahrungen. Sie erfreuen sich an einer Vielzahl von Aktivitäten und lassen sich für viele Themen begeistern. Durch individuelle Erfahrungen und den zunehmenden Kontakt mit wichtigen Bezugspersonen (z. B. Eltern, Lehrkräfte, Gleichaltrige) lernen Kinder soziale Erwartungen (z. B. Geschlechterrollen, Prestige von Berufen), ihre eigenen Interessen, Stärken und Schwächen kennen. Von der Primar- zur weiterführenden Schule formen sich individuelle Interessen, das heißt, Kinder entwickeln zunehmend Präferenzen für bestimmte Tätigkeiten und Themen. Bis ins späte Jugendalter findet eine zunehmende Differenzierung individueller Interessen statt, das heißt, die Breite der Interessen nimmt immer mehr ab. Erst im späten Jugend- und jungen Erwachsenenalter gewinnt die Exploration neuer Themen- und Tätigkeitsfelder wieder an Bedeutung. Vom frühen Jugendalter (12 Jahre) bis ins mittlere Erwachsenenalter (40 Jahre) besitzen berufliche Interessen eine relativ hohe Stabilität (Low, Yoon, Roberts & Rounds, 2005), die im Alter zwischen 12 und 30 Jahren sogar höher als die von Persönlichkeitsmerkmalen ausfällt (Roberts & DelVecchio, 2000). Für die Interessenentwicklung im Kindes- und Jugendalter kommen der Selbstwahrnehmung und der Selbstwirksamkeitserwartung eine zentrale Bedeutung zu (Lent, Brown & Hackett, 1994; Todt, 2000). Interessen, die den wahrgenommenen Fähigkeiten und Kompetenzen widersprechen, werden abgewertet und verlieren an Bedeutung. Dabei beeinflussen nach Eccles (1999) drei zentrale Aspekte das Selbstkonzept und das Tätigkeitsengagement im Kindes- und Jugendalter: (1) Kognitive Veränderungen führen zu einem besseren Reflexionsvermögen, (2) die soziale Umgebung der Kinder erweitert sich und Aktivitäten außerhalb der Familie gewinnen an Bedeutung und (3) Kinder sind zunehmend sozialen Vergleichen und dem Wettbewerb mit Gleichaltrigen ausgesetzt. Ähnliche normative Veränderungen lassen sich auch für andere Persönlichkeitsmerkmale nachweisen. Studien verweisen in der späten Kindheit und frühen Adoleszenz auf eine Abnahme der Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit und Offenheit für neue Erfahrungen sowie auf eine Abnahme des Selbstbewusstseins (Robins, Trzesniewski, Tracy, Gosling & Potter, 2002; Soto, John, Gosling & Potter, 2011). Zeitgleich lässt sich auch eine stetige Abnahme des Fachinteresses nachweisen (Prenzel, 1998). Die «disruption hypothesis» nimmt an, dass die rasanten biologischen, sozialen und psychologischen Veränderungen beim Übergang von der Kindheit ins Jugendalter zu einer Abnahme verschiedener Persönlichkeitsmerkmale führen (Soto & Tackett, 2015). Unter dem Einfluss von zunehmendem externem Feedback (z. B. durch Lehrkräfte) und dem sozialen Vergleich mit Gleichaltrigen bewerten Jugendliche ihre Interessen, Fähigkeiten und Kompetenzen neu. Entsprechen Interessen nicht mehr dem idealen Selbstkonzept, werden sie abgewertet.

Geschlechtsunterschiede in beruflichen Interessen lassen sich metaanalytisch für Jugendliche und Erwachsene nachweisen (Su, Rounds & Armstrong, 2009). Während Männer ein höheres praktisch-technisches und intellektuell-forschendes Interesse besitzen, berichten Frauen über ein stärkeres künstlerisch-sprachliches, soziales und konventionelles Interesse. Dabei gehören Geschlechtsunterschiede in beruflichen Interessen zu den größten Unterschieden in psychologischen Merkmalen (Lubinski, 2000). Jüngere Stichproben verweisen meist auf geringere Geschlechtsunterschiede als ältere Stichproben (Su et al., 2009). Wann entstehen Geschlechtsdifferenzen in beruflichen Interessen? Bereits im Kindergarten bestehen Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen in der Präferenz von Spielzeugen (Todt, 2000). In der Primarschule, wenn Kinder zunehmend Geschlechterrollen verinnerlichen, etablieren sich sowohl Unterschiede in den Berufswahlpräferenzen (Gottfredson, 2002) als auch in beruflichen Interessen (Maurice & Bäumer, 2015). In ihrer «Theory of Circumscription and Compromise» geht Gottfredson (2002) davon aus, dass sich bereits im Kindesalter eine Karte an erstrebenswerten Berufsbildern und -wünschen ausbildet, die im Zuge der Selbstkonzeptentwicklung sukzessiv reduziert wird. Das Spektrum an Berufen, das für die eigene Person als adäquat betrachtet wird, reduziert sich demnach kontinuierlich und weitgehend unbewusst vom Kindesalter bis in das Jugendalter. Dabei erfolgt zunächst eine Reduktion auf Berufsbilder, die mit der eigenen Geschlechtsrolle übereinstimmen. Anschließend orientieren sich Kinder und Jugendliche an Berufsbildern, die ihrem sozialen Status entsprechen. Im frühen Jugendalter werden dann aus den verbleibenden beruflichen Perspektiven jene ausgewählt, die vermeintlich zu den eigenen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Interessen passen. In der späten Kindheit und frühen Adoleszenz lassen sich auch Geschlechtsunterschiede in Persönlichkeitsmerkmalen und im Selbstbewusstsein erstmals nachweisen (Robins et al., 2002; Soto et al., 2011). Insgesamt scheint der Übergang von der Kindheit in das Jugendalter eine zentrale Phase der Entwicklung von Interessen und Persönlichkeitsmerkmalen sowie von Unterschieden zwischen Mädchen und Jungen in diesen Merkmalen zu sein.

Unsere Studie beschäftigt sich mit der Frage, ob sich das «disruption principle» auch für die Entwicklung beruflicher Interessen beim Übergang von der Kindheit ins frühe Jugendalter nachweisen lässt. Bisher gibt es nur sehr wenige Studien, welche die Entwicklung kindlicher Interessen längsschnittlich betrachten (Maurice & Bäumer, 2015; Tracey & Ward, 1998; Tracey, 2002). Keine der bisherigen Studien verwendet dabei mehr als zwei Messzeitpunkte. Dies stellt methodisch eine Einschränkung dar, da so Entwicklung sehr eng als Zuwachs, das heißt Veränderung zwischen zwei Messzeitpunkten, verstanden wird. Allerdings kann so weder der Prozess der Veränderung beschrieben noch zwischen tatsächlicher Veränderung und Messfehler differenziert werden (Singer & Willett, 2003). Wir gehen davon aus, dass sich eine altersbedingte Abnahme beruflicher Interessen beim Übergang von der Primarschule in die weiterführende Schule nachweisen lässt. In Anlehnung an bisherige Studien (Hoff, Briley, Wee & Rounds, 2018; Maurice & Bäumer, 2015) erwarten wir allerdings unterschiedliche Entwicklungsverläufe für die einzelnen RIASEC-Dimensionen. Wir gehen von einer altersbedingten Abnahme beruflicher Interessen für alle RIASEC-Dimensionen außer dem unternehmerischen Interesse (E) aus (H1).

Da sich Geschlechtsunterschiede in beruflichen Interessen bereits am Ende der Primarschule herauskristallisieren (Maurice & Bäumer, 2015; Tracey & Ward, 1998), erwarten wir Geschlechtsunterschiede bei allen RIASEC-Dimensionen (H2). Jungen berichten über ein höheres praktisch-technisches, intellektuell-forschendes und unternehmerisches Interesse, während Mädchen ein stärkeres soziales, sprachlich-künstlerisches und konventionelles Interesse besitzen. Zusätzlich erwarten wir geschlechtsspezifische Unterschiede in den Entwicklungsverläufen von Mädchen und Jungen. Hoff et al. (2018) fanden für das praktisch-technische Interesse einen stärkeren altersbedingten Abfall bei Mädchen als bei Jungen. Im Hinblick auf das soziale Interesse zeigten Mädchen eine leichte Zunahme, während sich für die Jungen ein deutlicher Abfall nachweisen ließ. Geschlechtsdifferenzen in den Entwicklungsverläufen der anderen RIASEC-Dimensionen wurden bisher nicht empirisch untersucht. Allerdings konnten Maurice und Bäumer (2015) in ihrer Längsschnittstudie mit Grundschulkindern eine altersbedingte Zunahme der Unterschiede in den Interessen von Mädchen und Jungen feststellen. Ausgehend von diesen Befunden erwarten wir Unterschiede in den Entwicklungsverläufen von Mädchen und Jungen im sozialen und praktisch-technischen Interesse (H3).

2 Methode

2.1 Stichprobe

Die Daten wurden zwischen 2015 und 2017 an zehn öffentlichen Primarschulen in der Deutschschweiz erhoben. Die Schulen wurden zufällig ausgewählt und kontaktiert. Schülerinnen und Schüler der vierten bis sechsten Klasse wurden jeweils im Herbst in der Klasse zu ihren Interessen befragt. Schülerinnen und Schüler der Klassen 7 und 8 wurden postalisch kontaktiert. Die Analysestichprobe besteht aus 248 Schülerinnen und -schülern. Insgesamt wurden 500 Schülerinnen und Schüler befragt. Zum ersten Messzeitpunkt waren die Teilnehmenden zwischen 8 und 13 Jahren alt (M = 10.26, SD = .87) und besuchten die vierte bis sechste Klasse. 50.2 Prozent der Stichprobe sind Mädchen. Analysen zeigen keine bedeutsamen Unterschiede in den beruflichen Interessen zwischen jenen, die an allen drei Messzeitpunkten teilnahmen, und jenen, die nur an einem oder zwei Messzeitpunkten teilnahmen. Schülerinnen und Schüler mit vollständigen Daten waren jedoch etwas jünger als jene mit unvollständigen Daten (t(499) = –12.8, p > .05).

2.2 Instrumente

Die beruflichen Interessen der Kinder wurden mit der deutschen Übersetzung des Inventory of Children’s Activities – 3 (ICA-3) von Tracey und Caulum (2015) erfasst. Das ICA-3 besteht aus 30 Aktivitäten, mit denen Kinder vertraut sind (z. B. «Zahlen addieren», «Bilder malen»). Für jede Aktivität geben die Kinder auf einer 5-stufigen Skala (1 = das interessiert mich gar nicht; das tue ich gar nicht gerne, 5 = das interessiert mich sehr; das tue ich sehr gerne) ihr Interesse an. Jeweils fünf Items werden zu einer Interessendimension des Holland-Modells aggregiert. Für die deutsche Übersetzung einer Vorversion des Instruments (ICA-R, Tracey & Ward, 1998) berichten Maurice und Bäumer (2015) interne Konsistenzen zwischen α = .55 und α = .78 in einer Stichprobe von Dritt- bis Fünftklässlern.

3 Ergebnisse

3.1 Deskriptive Statistiken

Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Reliabilitäten sowie Mittelwerte und Standardabweichungen der RIASEC-Dimensionen aufgeteilt nach Geschlecht und Messzeitpunkt. Alle RIASEC-Dimensionen besitzen eine ausreichende bis gute interne Konsistenz (α = .68 – .81).

Tabelle 1: Deskriptive Statistiken und Reliabilitäten der RIASEC-Dimensionen zu allen drei Messzeitpunkten

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Bemerkung: Mädchen (N = 126), Jungen (N = 121), n.s. = nicht signifikant

3.2 Entwicklung beruflicher Interessen

Zur Analyse der altersspezifischen Veränderung wurden Varianzanalysen mit Messwiederholung berechnet. Nachfolgend werden die Ergebnisse der MANOVAs mit Messzeitpunkt (T1, T2, T3) und Geschlecht (männlich, weiblich) als unabhängige Variablen separat für alle RIASEC-Dimensionen dargestellt.

Praktisch-technisches Interesse (R)

Da der Mauchly-Test auf eine Verletzung der Sphärizität hinweist (Mauchly-W(2) = .96, p < .05), werden zur Berechnung des p-Wertes die nach Huynh-Feldt korrigierten Freiheitsgrade verwendet (ε = .97). Es zeigt sich eine signifikante Veränderung des praktisch-technischen Interesses mit zunehmendem Alter der Teilnehmenden (F(1.94, 477.78) = 17.18, p < .05, partielles η² = .07). Bonferroni-korrigierte paarweise Vergleiche zeigen, dass das praktisch-technische Interesse zu T1 (M = 3.41, SD = .06) signifikant höher ist als zu T2 (M = 3.24, SD = .06) und T3 (M = 3.09, SD = .06). Das praktisch-technische Interesse der Jungen fällt höher aus als jenes der Mädchen (F(1, 246) = 21.71, p < .05). Allerdings ergeben sich keine geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Entwicklung des praktisch-technischen Interesses von Mädchen und Jungen (F(1.94, 477.78) = 1.59, p < .21).

Intellektuell-forschendes Interesse (I)

Die Varianzanalyse mit Messwiederholung (Sphärizität angenommen: Mauchly-W(2) = .98, p = .15) zeigt eine signifikante Veränderung des forschenden Interesses mit zunehmendem Alter (F(2, 496) = 22.73, p < .05, partielles η2 = .09). Bonferroni-korrigierte paarweise Vergleiche zeigen, dass das forschende Interesse zu T1 (M = 3.69, SD = .06) signifikant höher ist als zu T2 (M = 3.55, SD = .06) und T3 (M = 3.35, SD = .06). Das forschende Interesse fällt bei Jungen geringer aus als bei Mädchen (F(1, 246) = 5.93, p < .05). Allerdings ergeben sich keine geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Entwicklung des forschenden Interesses von Mädchen und Jungen (F(2, 496) = 2.40, p = .09).

Künstlerisch-sprachliches Interesse (A)

Die Varianzanalyse mit Messwiederholung (Sphärizität angenommen: Mauchly-W(2) = .98, p = .14) zeigt eine signifikante Veränderung des künstlerisch-sprachlichen Interesses mit zunehmendem Alter (F(2, 496) = 5.94, p < .05, partielles η2 = .02). Bonferroni-korrigierte paarweise Vergleiche zeigen keine signifikante Veränderung zwischen T1 (M = 3.60, SD = .05) und T2 (M = 3.54, SD = .05), aber eine signifikante Abnahme des künstlerisch-sprachlichen Interesses zwischen T1 und T3 (M = 3.43, SD = .05). Mädchen berichten über ein deutlich stärkeres künstlerisch-sprachliches Interesse als Jungen (F(1, 246) = 89.70, p < .05). Allerdings ergeben sich keine geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Entwicklung des künstlerisch-sprachlichen Interesses von Mädchen und Jungen (F(2, 496) = .07, p = .49).

Soziales Interesse (S)

Da der Mauchly-Test auf eine Verletzung der Sphärizität hinweist (Mauchly-W(2) = .97, p < .05), werden zur Berechnung des p-Wertes die nach Huynh-Feldt korrigierten Freiheitsgrade verwendet (ε = .98). Es zeigt sich eine signifikante Veränderung des sozialen Interesses mit zunehmendem Alter der Teilnehmenden (F(1.96, 481.27) = 13.70, p < .05, partielles η² = .05). Bonferroni-korrigierte paarweise Vergleiche zeigen keine signifikante Veränderung zwischen T1 (M = 3.74, SD = .05) und T2 (M = 3.81, SD = .05), aber eine signifikante Abnahme des sozialen Interesses zwischen T1 und T3 (M = 3.56, SD = .05). Mädchen berichten über ein stärkeres soziales Interesse als Jungen (F(1, 246) = 13.37, p < .05). Allerdings ergeben sich keine geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Entwicklung des sozialen Interesses von Mädchen und Jungen (F(1.96, 481.27) = .87, p = .42).

Unternehmerisches Interesse (E)

Die Varianzanalyse mit Messwiederholung (Sphärizität verletzt: Mauchly-W(2) = .95, p < .05) zeigt keine signifikante Veränderung des unternehmerischen Interesses mit zunehmendem Alter (F(1.93, 475.32) = 2.66, p = .07). Es bestehen außerdem keine Unterschiede im unternehmerischen Interesse von Mädchen und Jungen (F(1, 246) = 3.43, p = .07).

Konventionelles Interesse (C)

Da der Mauchly-Test auf eine Verletzung der Sphärizität hinweist (Mauchly-W(2) = .97, p < .05), werden zur Berechnung des p-Wertes die nach Huynh-Feldt korrigierten Freiheitsgrade verwendet (ε = .98). Es zeigt sich eine signifikante Veränderung des konventionellen Interesses mit zunehmendem Alter der Teilnehmenden (F(1.96, 474.57) = 4.30, p < .05, partielles η² = .02). Allerdings zeigen Bonferroni-korrigierte paarweise Vergleiche, dass lediglich zwischen T2 (M = 3.28, SD = .06) und T3 (M = 3.12, SD = .06) eine signifikante Abnahme des konventionellen Interesses nachweisbar ist. Mädchen berichten über ein stärkeres konventionelles Interesse als Jungen (F(1, 246) = 7.74, p < .05). Allerdings ergeben sich keine geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Entwicklung des konventionellen Interesses von Mädchen und Jungen (F(1.96, 474.57) = .28, p = .76).

4 Diskussion

Kindheit und Jugend sind bedeutende Phasen der Interessenentwicklung (Tracey, 2001). Theorien zur Entwicklung beruflicher Interessen (Gottfredson, 2002; Todt, 2000) nehmen an, dass von der Geburt bis in das Jugendalter eine fortschreitende Differenzierung beruflicher Interessen stattfindet, die in einer Abnahme von Interessen sowie einer Einschränkung der Breite des individuellen Interessenspektrums resultiert. Als Ursache für die zunehmende Differenzierung beruflicher Interessen werden einerseits eine zunehmende Exploration der Umwelt und individueller Erfahrungen sowie die zunehmende Bedeutung sozialer Vergleiche in Kindheit und Jugend angeführt. In der Persönlichkeitspsychologie wird die zeitlich begrenzte Abnahme von Persönlichkeitsmerkmalen, die aus den umfassenden biologischen, sozialen und psychologischen Veränderungen in Kindheit und Jugend resultieren, als «disruption principle» bezeichnet (Soto & Tackett, 2015).

Unsere Studie untersuchte, inwiefern sich die «disruption hypothesis» auch auf die Entwicklung beruflicher Interessen von der späten Kindheit bis in das frühe Jugendalter übertragen lässt. In Übereinstimmung mit bisherigen Befunden (Hoff et al., 2018) zeigt sich in unserer Studie mit Viert- bis Sechstklässlern über eine Zeitdauer von drei Jahren eine Abnahme der Interessensbereiche R, I, A, S und C, während der Interessensbereich E stabil blieb. Allerdings beschränken sich die Veränderungen im konventionellen Interesse lediglich auf den zweiten und dritten Messzeitpunkt. Das «disruption principle» lässt sich demnach auf die Entwicklung beruflicher Interessen übertragen. Durch den zunehmenden Kontakt mit anderen lernen Kinder Geschlechterrollen und geschlechtstypische Interessen und Berufe kennen und beurteilen ihre eigenen Interessen, Stärken und Schwächen anhand ihrer relativen Position innerhalb ihrer Peergruppe. Die rasanten biologischen Veränderungen der Pubertät und die steigende Bedeutung sozialer Vergleiche führen gleichzeitig zu einer Abnahme des Selbstbewusstseins und der Selbstwirksamkeitserwartung. Da eine enge Verbindung zwischen der Entwicklung von Interessen und Selbstwirksamkeitserwartungen besteht, führt eine Abnahme der Selbstwirksamkeitserwartung zu einer Abnahme entsprechender Interessen (Denissen, Zarrett & Eccles, 2007). Gerade die Missbilligung durch Peers besitzt einen starken Einfluss auf die Entwicklung von geschlechtsspezifischen Unterschieden in beruflichen Interessen (Gottfredson, 2002).

Späte Kindheit und frühe Adoleszenz gelten als zentrale Phasen der Entwicklung von Geschlechtsunterschieden in beruflichen Interessen (Hoff et al., 2018). Unsere Ergebnisse stützen die Annahme, dass sich Unterschiede in den beruflichen Interessen von Mädchen und Jungen bereits am Ende der Primarschule nachweisen lassen (Gottfredson, 2002). Allerdings unterscheiden sich unsere Ergebnisse von den bei Jugendlichen und Erwachsenen metaanalytisch berichteten Geschlechtsunterschieden (Su et al., 2009). Einerseits berichten Mädchen über ein höheres intellektuell-forschendes Interesse als Jungen (dT1 = -.33 und dT3 = -.39). Andererseits fallen die Unterschiede im praktisch-technischen (dT1 = .46, dT2 = .62 und dT3 = .42) und sozialen Interesse (dT1 = -.41, dT2 = -.29 und dT3 = -.46) von Mädchen und Jungen noch deutlich geringer aus als bei Jugendlichen und Erwachsenen (d = .84 und d = -.68), während die Geschlechtsunterschiede im sprachlich-künstlerischen Interesse (dT1 = -.77, dT2 = -.86 und dT3 = -.99) bei den Viert- bis Achtklässlern größer sind als bei Jugendlichen und Erwachsenen (d = -.35). Ähnliche Befunde für das intellektuell-forschende und praktisch-technische Interesse berichten Xu und Tracey (2016) in einer Längsschnittstudie mit Siebt- und Achtklässlern. Entgegen unseren Erwartungen zeigte sich in unserer Studie kein Unterschied in der Entwicklung des praktisch-technischen und sozialen Interesses von Mädchen und Jungen. Sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen nahm das praktisch-technische und das soziale Interesse über einen Zeitraum von drei Jahren ab. Tracey (2002) berichtet in einer Längsschnittstudie mit Fünft- und Siebtklässlern über Unterschiede in den Entwicklungsverläufen von Mädchen und Jungen: Mädchen zeigten eine stärkere Abnahme des intellektuell-forschenden und konventionellen Interesses, während bei Jungen das soziale und sprachlich-künstlerische Interesse stärker abnahm. Möglicherweise lassen sich die diskrepanten Befunde mit dem jüngeren Alter unserer Stichprobe erklären. Die Kinder unserer Stichprobe waren zum ersten Messzeitpunkt im Durchschnitt erst zehn Jahre alt und befanden sich wahrscheinlich erst am Anfang eines fortschreitenden Differenzierungsprozesses.

Welche Implikationen lassen sich aus unseren Befunden für die Förderung von MINT-Interessen und eine gendersensible Berufswahl ableiten?

Geschlechtsunterschiede in beruflichen Interessen, Werten und Selbstwirksamkeitserwartungen wurden als zentrale Aspekte zu Erklärung der anhaltenden Disparität von Frauen und Männern in MINT-Studiengängen und -Berufen identifiziert (Eccles & Wang, 2015; Kossek, Su & Wu, 2017). Sowohl unsere eigenen Ergebnisse als auch andere Forschungsbeiträge (Hoff et al., 2018; Su et al., 2009; Tracey & Sodano, 2008) zeigen, dass sich Geschlechtsunterschiede in beruflichen Interessen früh herauskristallisieren und bis ins Jugendalter verstärken. Initiativen, die auf eine Förderung von MINT-Interessen ausgerichtet sind, sollten daher bereits in der späten Kindheit initiiert werden, bevor Kinder rigide Rollenstereotype erwerben. Wie Gottfredson (2002) in ihrer «Theory of Circumscription and Compromise» darstellt, bildet sich bereits im Kindesalter eine Karte an Berufsbildern und -wünschen aus, die im Zuge der Selbstkonzeptentwicklung sukzessiv reduziert wird, das heißt, das Spektrum an Berufen, das für die eigene Person als adäquat betrachtet wird, reduziert sich kontinuierlich und weitgehend unbewusst. Interessant ist der Befund, dass das intellektuell-forschende Interesse, das sich vor allem auf naturwissenschaftliche Themen und Tätigkeiten bezieht, anders als bei Jugendlichen und Erwachsenen in unserer Stichprobe von Viert- bis Sechstklässlern bei den Mädchen höher ausgeprägt war als bei Jungen. Ähnliche Ergebnisse zeigt eine Längsschnittstudie von Xu und Tracey (2016) mit Siebt- und Achtklässlern. Geschlechtsunterschiede in naturwissenschaftlichen Interessen sind stark domainspezifisch – das zeigt sich sowohl in der Beliebtheit von Schulfächern (Akademien der Wissenschaften Schweiz, 2014) als auch im Geschlechterverhältnis in naturwissenschaftlichen Studiengängen (Eccles & Wang, 2015). Während sich Mädchen eher für Biologie und Life Sciences interessieren, zeigen Jungen ein stärkeres Interesse an Chemie und Physik. Vermutlich besitzen bei den Viert- bis Sechstklässlern Aktivitäten wie «in der Natur sein» und «Tiere und Pflanzen beobachten» noch einen höheren Stellenwert als bei Jugendlichen, dementsprechend fällt das Interesse bei Mädchen in dieser Altersgruppe höher aus als bei Jungen. Offen bleibt, wie das intellektuell-forschende Interesse bei Mädchen langfristig aufrechterhalten werden kann. Hier scheint einerseits eine sukzessive Förderung von der Primarschule bis in die weiterführende Schule zentral sowie ein MINT-Unterricht, der sich stärker am Alltag und der Lebensumwelt von Mädchen orientiert, zum Beispiel indem der Bezug der Physik zum menschlichen Körper in den Vordergrund gestellt wird (Häußler & Hoffmann, 1995).

Weiterhin erscheint es uns wichtig, die Annahme der «Social Cognitive Career Theory» (SCCT, Lent et al., 1994) zur Reziprozität der Entwicklung beruflicher Interessen und Selbstwirksamkeitserwartungen bei der Entwicklung von Interventionsprogrammen zu berücksichtigen. Eine altersbedingte Abnahme von Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeitserwartungen resultiert sehr wahrscheinlich in einer Abnahme entsprechender Interessensbereiche. Interventionsprogramme, die eine Förderung von MINT-Interessen bei Mädchen und sozialer Interessen bei Jungen zum Ziel haben, müssen also zeitgleich die Selbstwirksamkeitserwartung von Mädchen und Jungen in diesen Themenbereichen stärken. Die SCCT geht davon aus, dass die Steigerung von Selbstwirksamkeitserwartung durch die Bereitstellung von Explorationsmöglichkeiten und Lernerfahrungen gelingt, bei denen Kinder praktische Erfahrungen sammeln. Dabei erscheint es besonders wichtig, dass Kinder auch mit Herausforderungen und Widerständen konfrontiert werden, da gerade deren Überwindung die Selbstwirksamkeitserwartung stärkt.

Literaturverzeichnis

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Selina Teuscher, Elena Makarova, Markus P. Neuenschwander

Wie begründen Jugendliche ihre Berufswahl und wie zufrieden sind sie im Beruf?

Eine Schweizer Studie zu Berufswahlverläufen in Zusammenhang mit der beruflichen Geschlechtstypik

Abstract

Der Beitrag analysiert die Bedeutung der Berufswahlmotive und der berufsbezogenen Zufriedenheit während der Laufbahn junger Frauen und Männer in Zusammenhang mit der beruflichen Geschlechtstypik. Dabei werden zwei Übergänge im Berufswahlprozess fokussiert: die Wahl der Berufslehre und die Wahl der Berufslaufbahn. Die Analysen stützen sich auf die Daten einer Schweizer Studie mit einem Multi-Kohorten-Sequenz-Design und einer ereignisbasierten Stichprobenziehung. Die Stichprobe der vorliegenden Studie umfasst junge Erwachsene, die im Durchschnitt 20 Jahre alt und unmittelbar vor der Lehrabschlussprüfung (N = 470) waren. Die Daten wurden mittels nichtparametrischer und parametrischer Methoden ausgewertet. Die Ergebnisse unserer Studie machen deutlich, dass sich Jugendliche durch die vorherrschende Geschlechtstypik der Berufe in ihrer Berufswahl einschränken lassen, wobei insbesondere die Zone der akzeptablen Berufe bei jungen Männern kleiner wird. Dennoch scheint diese Einschränkung den Jugendlichen nicht bewusst zu sein. Sie schätzen die berufliche Geschlechtstypik sowohl für die Wahl der Berufslehre als auch für die Wahl der späteren Berufslaufbahn als unbedeutend ein. Bezogen auf die berufsbezogene Zufriedenheit zeigt unsere Studie, dass die Geschlechtstypik des gewählten Berufs während der beruflichen Ausbildung oder Ausübung zu einer nicht zu unterschätzenden kontextuellen Bedingung gehört, die die Beurteilung der Zufriedenheit im Beruf mitzuprägen vermag. Insgesamt zeigen die Ergebnisse unserer Studie, dass die berufliche Geschlechtstypik nicht nur ein gewichtiger Faktor ist, wenn es um die Begründung der Berufswahl und der Wahl der Berufslaufbahn, sondern auch, wenn es um die Beurteilung der Zufriedenheit im Beruf geht.

1 Einleitung

Bedeutung der Berufswahlmotiveberufsbezogenen Zufriedenheitin Zusammenhang mit der beruflichen Geschlechtstypik