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Hansruedi Kaiser

Situationsdidaktik konkret

Unterrichtsrezepte, Beispiele, Grundlagen

ISBN Print: 978-3-0355-1525-1

ISBN E-Book: 978-3-0355-1526-8

1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© 2019 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.ch

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Dank

Leseanleitung

Teil A – Rezepte

A1 Handeln vorbereiten

A2 Erfahrungen reflektieren

A3 Phänomene einordnen

A4 Die Lehrperson als Lernmodell

A5 Das gemeinsame Lernprojekt

A6 Variationen zu Erfahrungen reflektieren

A7 Situationen finden

A8 Professionelle Vorgehensweisen erarbeiten

A9 Leseanleitung zu Teil A

Teil B – Beispiele

B1 Beton bestellen

B2 Randumfang einstellen

B3 Unterrichtsrezepte vermitteln

B4 Reklamationsgespräch

B5 Das gute Leben

B6 Unterrichtsbeispiele besprechen

B7 Lastdiagramme

B8 Wareneingang

B9 Unterrichtsphänomene erklären

B10 Leseanleitung zu Teil B

Teil C – Theoretische Modelle

C1 Subjektive Erfahrungsbereiche

C2 Erfahrungen und Ressourcen

C3 Situierte Abstraktion

C4 Lernziel richtige Antwort

C5 Erfahrung und Instruktion

C6 Varianten des Übens

C7 Schnelles Denken, langsames Denken

C8 Gewisse Ungewissheit

C9 Leseanleitung zu Teil C

Teil D – Glossar

D1 Pädagogisch-didaktische Begriffe

D2 Das schweizerische Berufsbildungssystem

VORWORT

Rezepte und Freiräume

Ein Patentrezept gibt es für kaum etwas im Leben. Doch Rezepte sind uns allen längst nicht nur eine Hilfe, wenn es ums Kochen geht. In diesem Buch finden Sie, liebe Leserin und lieber Leser, eine ganze Reihe von Rezepten dafür, wie sich der Unterricht in der Berufsbildung möglichst praxisnah und handlungsorientiert gestalten lässt. Es sind nützliche Werkzeuge, die gut in den Händen der Praktikerinnen und Praktiker liegen, ohne die Komplexität des Unterrichtsgeschehens allzu sehr zu vereinfachen.

Zur Frage, wie sich ausgehend von Situationen aus dem Berufsalltag lernen lässt, wird am Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung EHB schon lange intensiv gearbeitet. Vorerst entstand das Konzept der konkreten Kompetenzen, heutzutage bekannt als situierte Kompetenzen. Auf dieser Grundlage basiert das danach entwickelte Kompetenzen-Ressourcen-Modell für Bildungspläne. Aufgrund der damit gemachten Erfahrungen erschien schliesslich unter dem Titel «Berufliche Handlungssituationen machen Schule» ein erstes Handbuch. Der so eingeschlagene Weg wurde einerseits im Buch «Fachrechnen vom Kopf auf die Füsse gestellt» für ein spezifisches Anwendungsgebiet konkretisiert, andererseits als Situationsdidaktik verallgemeinert. Die nun vorliegenden Rezepte zur Situationsdidaktik zeigen mithilfe von schrittweisen Anleitungen und Beispielen aus der Praxis sowie untermauert mit einem Theorieteil auf, wie sich die Situationsdidaktik im Lernalltag leben lässt.

Diese Entwicklung spannt einen Bogen von gut 15 Jahren. Sie illustriert schön, wie viel Arbeit und Austausch mit Lehrpersonen und Studierenden es braucht, bis aus ersten Ideen brauchbare Werkzeuge entstehen. Was dabei an diesem Buch besonders gefällt: Autor Hansruedi Kaiser vermittelt sein Wissen wo immer möglich nach den gleichen Vorgehensweisen, die er in seinem Buch propagiert. Er liefert damit eine Anleitung für einen zeitgemässen Fachkundeunterricht in unserem dualen Berufsbildungssystem. Die Stärke der Rezepte liegt darin, dass sie den Lehrpersonen dort eine feste Struktur anbieten, wo sie diese benötigen, um im Unterrichtsgeschehen nicht den Faden zu verlieren. Innerhalb dieser Struktur lassen sie jedoch viel Spielraum und ermutigen die Lehrpersonen, diesen zu nutzen, um mit ihren Lernenden in einen echten Dialog zu treten.

Ich wünsche allen den Mut, mit diesem Spielraum zu arbeiten. Er ist nötig, damit unsere schweizerische Berufsbildung flexibel mit allen in der Berufswelt anstehenden Veränderungen umgehen kann. Und ich hoffe, dass möglichst viele Lehrpersonen erleben können, wie viel Freude es macht, gemeinsam mit den Lernenden für heute und morgen zu lernen.

Jean-Pierre Perdrizat

Direktor ad interim des Eidgenössischen Hochschulinstituts für Berufsbildung EHB

«Unterricht ist ein komplexes Geschehen. Und genau deswegen brauchen wir Rezepte. Einfache Probleme lassen sich auch ohne Rezepte lösen.»

Grell, J. & Grell, M. (1996)

«The statement, that individuals live in a world, means, in the concrete, that they live in a series of situations.»

Dewey, J. (1938)

DANK

Ich bin verschiedenen Personen verpflichtet, die mich absichtlich oder unabsichtlich provoziert haben, sodass ich mein Denken weiterentwickeln musste: August Flammer, Beat Keller, Ruth Rohrer, Betty Bossi, Manfred Künzel, Andreas Grassi, Martin Vonlanthen. Allerdings deckt sich das, was dabei herausgekommen ist, wohl nicht in allen Fällen mit ihren Absichten und Ansichten. Viele andere, die ich hier gar nicht alle aufzählen kann, haben mit Ideen, Anmerkungen und Rückmeldungen zu einzelnen Kapiteln beigetragen. Ich hoffe, ich habe mich jeweils dafür direkt gebührend bedankt. Der grösste Dank gilt aber den Hunderten von Studierenden, die versucht haben, Vorläufer der hier festgehalten Ideen in ihrem Unterricht zum Leben zu bringen. Ich habe bei jedem Versuch, den ich beobachten durfte, etwas dazugelernt. Merci!

Hansruedi Kaiser, März 2019

LESEANLEITUNG

Der Anspruch dieses Buches ist es, eine theoretisch begründete und praktisch fundierte Anleitung für den Fachkundeunterricht in der dualen Berufsbildung zu geben und mit Beispielen zu illustrieren. Versucht man aber im Ernst, Hintergrundtheorie, Anleitungen und Beispiele zusammenzubringen, dann steht man immer vor demselben Problem: Die Theorie und vor allem die Bedeutung der Theorie wird erst verständlich, wenn man sich schon mit den praktischen Anleitungen auseinandergesetzt hat. Und umgekehrt versteht man erst, warum die Anleitungen gerade diese Form angenommen haben, wenn man den theoretischen Hintergrund kennt. Und auch die Beispiele hängen etwas in der Luft, wenn man die Anleitungen nicht kennt, und die Anleitungen werden nur dank der Beispiele lebendig.

Das ist ein Dilemma für Sie als Leserin oder Leser, denn irgendwo müssen Sie anfangen. Beginnen Sie mit der Theorie, wird vieles ein bisschen in der Luft hängen. Fangen Sie mit den Beispielen an, bleibt die Bedeutung des nächsten Schritts unklar. Und wenden Sie sich zunächst den praktischen Anleitungen zu, werden Sie ohne Beispiel nicht immer verstehen, wie sie gemeint sind.

Dasselbe Problem stellt sich mir als Autor, denn im Rahmen eines Buches muss ich mich entscheiden, womit ich beginne: Theorie, praktische Anleitung oder Beispiel. Ich habe versucht, das Dilemma so aufzulösen, indem ich drei klar abgegrenzte Teile geschrieben habe, die gegenseitig aufeinander verweisen:

Teil A: Rezepte (Fertigkeiten)

Teil B: Beispiele (Beispiele)

Teil C: Theoretische Modelle (Kenntnisse)

Beim Lesen können Sie mit dem einen oder anderen beginnen und so lange dabei verweilen, wie Sie möchten. Sie werden dabei Querverweise auf andere Teile des Buches finden. Diese können Sie zumindest beim erstmaligen Durcharbeiten eines Kapitels getrost ignorieren. Folgen Sie ihnen nur, wenn Sie im Moment eine Frage haben, von der Sie sich über den Querverweis eine Antwort erhoffen.

Gleichgültig womit Sie anfangen, erwerben Sie sich Ressourcen für die Situation «An einer Berufsfachschule im dualen Berufsbildungssystem unterrichten» (C2 Erfahrungen und Ressourcen). Nutzen Sie diese beim Unterrichten und machen Sie damit die ersten Erfahrungen, werden Sie mit der Zeit in der Lage sein, sie situationsgerecht zu gebrauchen.

Vor dem Problem, dass man Theorie ohne Praxis und auch Praxis ohne Theorie nicht verstehen kann, stehen natürlich auch die Lernenden in ihrer Ausbildung. In diesem Buch geht es im Wesentlichen darum, wie man ihnen helfen kann, damit umzugehen. Entsprechend ist vieles, was hier dargestellt wird, nicht nur auf die Situation «Wie sagt es die Lehrperson den Lernenden?», sondern auch auf die Situation «Wie sagt es der Autor den Lesenden?» anwendbar. Das Buch ist daher ein didaktischer Doppeldecker. Ich versuche mich an dieselben Vorgehensweisen der Wissensvermittlung zu halten, die hier propagiert werden – zumindest so weit das in der Einbahnkommunikation von mir als Autor zu Ihnen als Leserin oder Leser möglich ist. Wo immer das geschieht, habe ich versucht, das deutlich zu machen.

Hintergrund all dessen, was hier dargestellt wird, ist das schweizerische Berufsbildungssystem. Für diejenigen, die damit nicht so vertraut sind, findet sich am Ende des Buches ein Glossar, wo ausgewählte Begriffe und Besonderheiten dieses Systems erläutert werden (D2 Das schweizerische Berufsbildungssystem).

TEIL A

REZEPTE

Teil A steht unter dem Motto: «Unterricht ist ein komplexes Geschehen. Und genau deswegen brauchen wir Rezepte. Einfache Probleme lassen sich auch ohne Rezepte lösen.» (Grell & Grell 1996, S.48)[1]

Hier werden verschiedene Unterrichtsrezepte vorgeschlagen, mit deren Hilfe man jeweils eine der folgenden drei Zielsetzungen erreichen kann:

Den Lernenden helfen, zur Bewältigung bestimmter Situationen eine neues Vorgehen zu erwerben (Rezepte A1, A4 und A5).

Mit den Lernenden ihr bisheriges Vorgehen in bestimmten Situationen reflektieren (Rezepte A2 und A6).

Den Lernenden helfen, Vorkommnisse in ihrem Umfeld zu verstehen und einzuordnen (Rezept A3).

Hintergrund zur Frage, warum gerade diese drei Zielsetzungen im Fokus stehen:

C7 Schnelles Denken, langsames Denken.

Die Unterrichtsrezepte A1 und A2 sind voneinander unabhängig. Sie können sie sich in beliebiger Reihenfolge anschauen beziehungsweise erarbeiten. Die anderen vier Unterrichtsrezepte bauen auf diesen beiden Grundrezepten auf. Darüber hinaus gibt es noch drei Hilfsrezepte (A7 bis A9). Innerhalb der Unterrichtsrezepte finden Sie an geeigneter Stelle Hinweise darauf.

A1 HANDELN VORBEREITEN

Erstes Grundrezept: «Die acht Schritte»

A1.1 Die Zielsetzung

Im Alltag werden Berufsleute mit unterschiedlichsten Situationen konfrontiert, wie «ein Brot backen», «ein Kundengespräch führen», «eine Klientin mobilisieren», «ein Gerüst aufstellen», «einen Computer als Server einrichten» etc. Die Lernenden müssen lernen, die Anforderungen, die sich aus den jeweiligen Situationen ergeben, professionell zu bewältigen.

Für die Bewältigung mancher dieser Situationen gibt es bewährte Verfahren, die in den Grundzügen an der Schule vermittelt und auch geübt werden können – beispielsweise wie man ermittelt, wie viel Mehl man für eine bestimmte Anzahl Brote braucht oder welche Schritte und Tests man am besten beim Einrichten eines Servers einhält (Weitere Beispiele: B1, B2 und B3).

Um Lernenden zu helfen, solch bewährte Verfahren zu erwerben, ist das Unterrichtsrezept Handeln vorbereiten entstanden.

Leseanleitung: Möchten Sie sich einfach informieren, wie dieses Rezept aufgebaut ist, dann lesen Sie hier direkt weiter. Möchten Sie aber angeleitet werden, wie Sie sich dieses didaktische Rezept am besten zu eigen machen, dann gehen Sie zu A9 Leseanleitung zu Teil A.

A1.2 Handeln vorbereiten kurz gefasst

Das Rezept umfasst acht Schritte. Jeder davon ist für sich allein genommen nicht besonders spektakulär. In ihrer Gesamtheit haben sie sich aber als äusserst wirksam erwiesen.

Im Zentrum stehen:

Eine bestimmte Situation – wie «ein Brot backen» oder «einen Computer als Server einrichten» – deren Bewältigung die Lernenden am Ende ihrer Ausbildung beherrschen müssen (Hintergrund: C1 Subjektive Erfahrungsbereiche).

Ein bewährtes Vorgehen, um mit den Anforderungen dieser Situation fertigzuwerden.

Schritt 1: Warten, bis die Lernenden schon entsprechende Erfahrungen gemacht haben

Der erste «Schritt» ist eigentlich kein Schritt, sondern eine Regel, die die notwendigen Voraussetzungen für das Folgende sicherstellt: mit der Behandlung einer bestimmten Situation zuwarten, bis möglichst viele der Lernenden schon Erfahrungen mit dieser Situation gesammelt haben.

Schritt 2: Erfahrungen schildern lassen

Im ersten eigentlichen Schritt des Ablaufs geht es darum, die entsprechende Situation im schulischen Unterricht lebendig werden zu lassen. Dazu beschreibt man kurz die Situation, die besprochen werden soll (z.B. «Es geht heute um das Backen eines Brotes aufgrund eines Rezepts.»), und lässt dann die Lernenden von ihren Erfahrungen erzählen.

Schritt 3: Mittelschwere Aufgabe stellen und die Lernenden in Gruppen erarbeiten lassen, wie sie diese mit ihrem bereits vorhandenen Wissen angehen würden

Als Nächstes stellt man den Lernenden ohne weitere Instruktion eine entsprechende Aufgabe und lässt diese in Gruppen lösen (z.B. «Hier ist ein Brotrezept. Besprecht, wie ihr vorgehen würdet, um 20kg dieser Brotsorte zu backen!»).

Schritt 4: Die Lösungen der Lernenden gemeinsam kritisch besprechen

Die einzelnen Gruppen stellen reihum ihre Lösungen vor. Diese werden verglichen und die jeweiligen Stärken und Schwächen diskutiert. Fragen, die sich daraus ergeben, werden notiert.

Schritt 5: Vorgehen einführen, Benutzung an realistischem Beispiel modellhaft vormachen

Beim fünften Schritt steht die Lehrperson am deutlichsten im Zentrum. Sie führt an einem Beispiel modellhaft vor, wie ein professionelles Vorgehen in der Situation aussieht (z.B. indem sie ausgehend von einem Rezept für einen Butterzopf die benötigten Zutaten für 30kg fertigen Zopf berechnet). Im Idealfall erkennen und erleben die Lernenden diese Vorführung als Antwort auf all die Fragen und Unsicherheiten, die sich in den vorangegangenen Schritten angesammelt haben.

Schritt 6: Die Lernenden eigene Beispiele erfinden lassen, bis sie sich sicher fühlen

Anschliessend spielen die Lernenden mit möglichst vielen Beispielen selbst durch, was sie am Modell beobachten konnten. Dazu lässt man sie selbst Aufgaben erfinden, die sie untereinander austauschen und dann bearbeiten (z.B. für andere Brotsorten und andere Brotmengen).

Schritt 7: Die Lernenden Spickzettel für die Arbeit im Betrieb erarbeiten lassen

Mit diesem Schritt wird der Übergang zurück in den beruflichen Alltag eingeleitet. Die Lernenden erhalten den Auftrag, persönliche Spickzettel zu schreiben, die sie während der Arbeit auf sich tragen und konsultieren könnten (z.B. «Zuerst Teigmenge ermitteln, dann … nicht vergessen: 100 % gleich Mehlmenge!»).

Schritt 8: Die Anwendung im Betrieb diskutieren

Als letzter, aber zentraler Schritt geht es darum, das, was in der Schule funktioniert, auf die Bearbeitung realer Situationen im Betrieb zu übertragen. Die Lernenden werden ermutigt, das besprochene und geübte Vorgehen im Betrieb auszuprobieren. Ein paar Wochen später wird die Situation wieder aufgenommen, und die Erfahrungen der Lernenden werden besprochen.

A1.3 Anregungen zu den einzelnen Schritten

So weit Handeln vorbereiten einmal im Schnelldurchgang und anhand eines einfachen Beispiels (Weitere Beispiele: B1, B2 und B3). Damit die einzelnen Schritte die gewünschte Funktion übernehmen und als Ganzes ineinandergreifen, gibt es Verschiedenes zu beachten.

Zu Schritt 1: Warten, bis die Lernenden schon Erfahrungen gemacht haben

Hintergrund: C1 Subjektive Erfahrungsbereiche; C5 Erfahrung und Instruktion

Beobachtungsaufträge: Haben die Lernenden im gewünschten Moment noch wenig Erfahrungen mit der entsprechenden Situation gemacht, kann man manchmal nachhelfen, indem man ihnen Beobachtungsaufträge gibt. Dies ist vor allem dann sinnvoll, wenn die Situation im Betrieb sehr wohl vorkommt, die Lernenden aber noch nicht bewusst damit in Kontakt gekommen sind. In diesen Fällen können die Lernenden im Betrieb zumindest als Beobachter Erfahrungen sammeln – sei es selbstständig, sei es im Gespräch mit ihrem Berufsbildner beziehungsweise ihrer Berufsbildnerin (Beispiel: B8 Wareneingang).

Alle Lernenden? Da die Lernenden in unterschiedlichen Betrieben arbeiten, wird es immer wieder Situationen geben, denen gewisse Lernende nie begegnen. Diese Lernenden müssen ersatzweise auf den in Schritt 2 geschilderten Erfahrungen der anderen aufbauen. Erfahrungsgemäss funktioniert dies, wenn mindestens ein Drittel der Klasse wirklich von entsprechenden Erfahrungen erzählen kann (Beispiel: B2 Randumfang einstellen). Sind es weniger, besteht die Gefahr, dass die anderen die Situation als zu exotisch einschätzen und den Aufwand scheuen, sich echt mit ihr auseinanderzusetzen.

Der gute Zeitpunkt: Lehrpläne sehen manchmal vor, gewisse Inhalte zu behandeln, bevor die Lernenden realistischerweise dazu Erfahrungen sammeln können. Es lohnt sich, wo immer möglich den Gestaltungsspielraum, den man als Lehrperson hat, aufs Äusserste auszunutzen und solche Themen zeitlich nach hinten zu schieben. Ist man nicht sicher, zu welchen Situationen die Lernenden in einem bestimmten Moment der Ausbildung schon Erfahrungen gesammelt haben, kann man die Lernenden einfach danach fragen. Am besten stellt man eine Liste der Situationen zusammen, die man auf jeden Fall behandeln wird, und macht dann unter den Lernenden eine kleine Umfrage (Beispiel: B8 Wareneingang).

Wenn die Situation beziehungsweise die Aufgabe nur in einer Prüfung auftritt: Grundsätzlich geht das Buch hier davon aus, dass es die Aufgabe des Unterrichts an Berufsschulen ist, den Lernenden Inhalte zu vermitteln, die für den beruflichen Alltag von Bedeutung sind. Leider kommt es aber immer wieder vor, dass laut Lehrplan Inhalte behandelt werden müssen, deren einzige «Anwendungssituation» eine Zwischen- oder Abschlussprüfung ist. Das ist zwar bedauerlich, aber grundsätzlich ist Handeln vorbereiten auch auf diesen Fall anwendbar. «Eine bestimmte Art von Aufgaben an einer Prüfung lösen» ist genauso eine Handlungssituation wie «ein Brot backen» oder «einen Computer als Server einrichten». Und man kann den Lernenden auf gleiche Art helfen, den Anforderungen auch dieser Situation gerecht zu werden. Wichtig ist dabei allerdings dreierlei: erstens, dass man tatsächlich die Prüfungssituation ins Zentrum stellt, zweitens, dass man bei Schritt 3 fragt: «Wie würdet ihr diese Prüfungsaufgabe angehen?» und drittens, dass man bei Schritt 5 modelliert, wie man selbst in einer Prüfung (nicht im Betrieb!) eine solche Aufgabe bewältigt. Dabei werden auch Fragen wie «Wie kann ich den Text der Prüfungsaufgabe zielgerichtet lesen?» eine Rolle spielen.

Manchmal kommt es vor, dass dieselbe Situation beziehungsweise Aufgabe sowohl im Betrieb wie auch in einer Prüfung vorkommt, dass sich aber die Art, wie man im Betrieb mit der Situation umgeht, stark von dem unterscheidet, was an der Prüfung verlangt wird. Dann ist es zweckmässig, dies hintereinander als zwei getrennte Situationen zu behandeln – zuerst die Situation im Betrieb, sodass die Lernenden den Sinn und Zweck des Behandelten erleben können, und dann darauf aufbauend die Situation an der Prüfung (Beispiel: B1 Beton bestellen).

Zu Schritt 2: Erfahrungen schildern lassen

Hintergrund: C1 Subjektive Erfahrungsbereiche

Vielfalt zulassen: Da man als Lehrperson bereits geplant hat, welches Vorgehen man instruieren will (beispielsweise eine Berechnung), besteht die Gefahr, dass man die Erzählungen in eine bestimmte Richtung zu beeinflussen versucht. Damit die Situation aber wirklich im Schulzimmer präsent wird, ist es wichtig, dass möglichst viele Aspekte zur Sprache kommen, auch wenn sie im Moment irrelevant erscheinen mögen. Einiges davon wird zudem später den Lernenden helfen zu verstehen, warum ein bestimmtes Vorgehen sinnvoller ist als andere, alternative Möglichkeiten. Die Lernenden sollten daher möglichst frei von ihren Erfahrungen erzählen können. Unter anderem erhält man so als Lehrperson auch wertvolle Informationen über die reale Praxis in den Betrieben.

Auf die Situation fokussieren: Allerdings ist es wichtig, dass alle von derselben Situation sprechen – auch wenn sie diese aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten. Dies ist nicht automatisch gegeben. Daher ist es manchmal notwendig, nach den ersten paar Erzählungen zu kommentieren, inwiefern die gewünschte Situation getroffen wurde. So entsteht allmählich bei allen ein klares Bild, wovon die Rede sein soll.

Erzählungen ordnen: Man kann die Erzählungen der Lernenden einfach nebeneinander stehen lassen. Man kann aber auch an der Tafel versuchen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu dokumentieren, sodass bereits eine gewisse Struktur der Situation erkennbar wird.

Beobachtungsaufträge: Lässt man die Lernenden ohne grosse Vorbereitungen erzählen, ist man auf das beschränkt, woran sie sich erinnern können und was ihnen aus ihrer Perspektive als Anfänger aufgefallen ist (Beispiel: B8 Wareneingang). Dies braucht für den Einstieg kein Nachteil zu sein, gibt es doch einen interessanten Einblick in ihren aktuellen Ausbildungsstand. Mehr Material steht aber typischerweise zur Verfügung, wenn ein Beobachtungsauftrag vorangegangen ist.

Mit einem Beobachtungsauftrag zerfällt der Schritt 2 in zwei Teile. Im ersten wird die Situation kurz eingeführt und werden eventuell schon ein paar Erfahrungen eingeholt. Danach erhalten die Lernenden den Beobachtungsauftrag, und ein paar Wochen später wird der Faden wieder aufgenommen.

Materialien aus den Betrieben: Der Beobachtungsauftrag kann die Aufgabe beinhalten, Materialien aus dem Betrieb mitzubringen (z.B. Brotrezepte). Da unterdessen praktisch alle Lernenden über ein Smartphone verfügen, kann das auch heissen, dass sie im Betrieb Fotos von erlebten Situationen machen und diese beispielsweise auf eine gemeinsame Plattform hochladen (Cattaneo & Felder 2018).

Zu Schritt 3: Mittelschwere Aufgabe stellen und die Lernenden in Gruppen erarbeiten lassen, wie sie diese mit ihrem bereits vorhandenen Wissen angehen würden

Hintergrund: C1 Subjektive Erfahrungsbereiche; C4 Lernziel richtige Antwort; C5 Erfahrung und Instruktion; C8 Gewisse Ungewissheit

Schritt 2 als Voraussetzung: Entscheidend ist hier, dass der vorangegangene Schritt erfolgreich abgeschlossen wurde, das heisst, dass alle Lernenden eine konkrete, möglichst in ihren Erfahrungen verankerte Vorstellung der fraglichen Situation haben.

Keine Anleitung: Entscheidend ist, dass die Lehrperson jeder Versuchung einer einführenden Anleitung oder der kurzen Repetition wichtiger Konzepte widersteht und die Lernenden einfach einmal machen lässt (Hintergrund: C2 Erfahrungen und Ressourcen). Unter anderem erhält man nur so einen unverfälschten Blick auf das Vorwissen, das ihnen aktuell zur Verfügung steht.

Mittelschwere Aufgabe: Die Aufgabe sollte nicht so schwer sein, dass die Lernenden keine Chance haben, auch nur annähernd zu einer Lösung zu gelangen. Es sollte aber eine echte Aufgabe sein, die die Komplexität der Situation einfängt und die Lernenden herausfordert. Idealerweise erleben die Lernenden in diesem Schritt, dass sie zwar durchaus schon einiges wissen und können, dass es aber gewisse Aspekte gibt, zu denen sie noch etwas dazulernen müssen und können.

Typischerweise entspricht eine durchschnittliche Aufgabe, so wie sie im beruflichen Alltag immer wieder auftritt, diesen Anforderungen. Auch wenn die Lernenden dann die Aufgabe in ihren Gruppen nicht wirklich lösen können, sollte ihnen klar sein, dass man eine solche Lösung früher oder später von ihnen erwarten wird und dass es sich daher lohnt, sich intensiv damit auseinanderzusetzen.

Keine künstliche Erschwerung: Stellt man eine realistische Aufgabe und zeigt sich dabei, dass das Vorwissen der Lernenden ausreicht, die Aufgabe zu bearbeiten, ist dies kein Grund, die Aufgabe künstlich zu erschweren. Vielmehr ist das ein positives Zeichen dafür, dass die Lernenden bereist beherrschen, was man am Ende der Ausbildung von ihnen erwartet.

Zu Schritt 4: Die Lösungen der Lernenden gemeinsam kritisch besprechen

Hintergrund: C1 Subjektive Erfahrungsbereiche; C5 Erfahrung und Instruktion

Präsentation der Lösungsversuche: Am besten lassen sich die Lösungen der Gruppen vergleichend besprechen, wenn jede Gruppe ihre Lösung auf einem Flipchart darstellt. Diese können zum Vergleich nebeneinander aufgehängt werden.

Positive Aspekte würdigen: Wichtig ist, dass die Diskussion nicht nur Schwächen hervorhebt, sondern dass auch Stärken festgehalten werden. Vielleicht produziert eine Variante zwar keine exakte Lösung, doch eine gute Näherung, die im aktuellen Fall sogar für praktische Zwecke genügen würde. Ebenso ist es möglich, dass eine Variante nur im aktuellen Fall funktioniert, aber in anderen Fällen versagt, etc.

Gegenbeispiele einsetzen: Funktioniert die Lösung einer Gruppe ausschliesslich im aktuellen Fall, kann man darauf mithilfe geeigneter Gegenbeispiele hinweisen (Hintergrund: C7 Schnelles Denken, langsames Denken). Dadurch bereitet man den Boden vor für eine allgemeinere, breiter einsetzbare Variante in Schritt 5.

Offene Fragen sammeln: Wichtig ist, all diese Stärken und Schwächen, all die Ideen und Schwierigkeiten der einzelnen Gruppen festzuhalten und zu würdigen. Im Idealfall steht am Ende des Schritts eine Liste von Anforderungen an ein professionelles Vorgehen und daneben Fragen, die die Lösungsversuche der Gruppen offengelassen haben (Hintergrund: C4 Lernziel richtige Antwort).

Wenn es keine Fragen gibt: Hin und wieder haben die Lernenden mit der Aufgabe keine Schwierigkeiten und beherrschen bereits, was man ihnen beibringen wollte. Dann kann man die Bearbeitung dieser Situation abbrechen und zu einer neuen Situation übergehen. Schritte 5 bis 8 erübrigen sich in diesem Fall.

Zu Schritt 5: Vorgehen einführen, Benutzung an realistischem Beispiel modellhaft vormachen

Hintergrund: C5 Erfahrung und Instruktion

Gebrauch modellieren: Wichtig ist, dass in diesem Schritt nicht das Verfahren abstrakt dargestellt, sondern sein realistischer Gebrauch modelliert wird (Hintergrund: C2 Erfahrungen und Ressourcen). Die Lernenden sollen erleben, wie eine Fachperson das Verfahren in einer realistischen Situation einsetzt und was diese sich dabei so denkt. Dieser Fokus auf den Gebrauch hilft der Lehrperson idealerweise dabei, sich auf das zu konzentrieren, was wesentlich ist. Theoretische Details, die zwar auch noch interessant wären, aber für den Gebrauch keine Rolle spielen, treten in den Hintergrund (Hintergrund: C3 Situierte Abstraktion). Dafür erhalten praktische Abwägungen mehr Gewicht, die bei der Umsetzung im beruflichen Alltag wichtig sind (Beispiele: B1 und B2).

Antwort auf Fragen: Ziel ist es, das, was die Lernenden aufgrund ihres Vorwissens schon beherrschen, auf ein neues, professionelleres Niveau zu heben. Dies funktioniert am besten, wenn es gelingt, das Vorgehen so darzustellen, dass die Lernenden direkt erleben, wie dadurch ihre Fragen (Schritt 4) beantwortet beziehungsweise ihre Schwierigkeiten (Schritt 3) behoben werden (Hintergrund: C4 Lernziel richtige Antwort). Erreichen kann man das unter anderem, indem man diejenigen Aspekte des Verfahrens mit einem direkten Bezug zu den Fragen und Schwierigkeiten hervorstreicht.

Keine Show: Mit «modellhaft vormachen» ist nicht die perfekte Vorführung eines gut vorbereiteten Beispiels gemeint. Eine solche einstudierte Demonstration weckt gerade bei schwächeren Lernenden die falsche Vorstellung, dass eigentlich alles ganz einfach sein sollte. Wichtig ist, dass die Lernenden ein realistisches Bild davon bekommen, was es auch für eine erfahrene Person bedeutet, solch eine Aufgabe anzugehen (Hintergrund: C8 Gewisse Ungewissheit).

Dazu gehört unter anderem, dass man durch lautes Denken sichtbar macht, was man sich alles Schritt für Schritt überlegen muss. Am besten gelingt das, wenn man keine vorbereitete Aufgabe verwendet, sondern sich von den Lernenden eine geben lässt. Dadurch wird man gezwungen, selbst all die Überlegungsschritte zu machen, die es zur vollständigen Bearbeitung der Aufgabe braucht. Und die Lernenden erleben, wo auch eine erfahrene Person noch nachdenken muss und allenfalls etwas ins Stocken gerät.

Hintergrundtheorie: Manchmal spricht das modellierte Vorgehen für sich allein, und den Lernenden ist sofort klar, warum und wie es die Probleme löst, die sie in Schritt 3 und 4 angetroffen haben. Meist benötigen sie dazu aber die eine oder andere Erklärung. Schritt 5 ist daher auch der Ort, um die notwendige Hintergrundtheorie einzuführen und daraus einzelne Aspekte des modellierten Vorgehens zu begründen.

Man kann gut zuerst das Verfahren modellieren und dann erst die Theorie einführen, um einige Aspekte des Vorgehens damit zu erklären. Es ist aber auch umgekehrt möglich, zuerst den notwendigen theoretischen Hintergrund vorzubereiten und dann das Vorgehen auf diesem Hintergrund darzustellen. Wichtig ist einzig, dass Theorie und Verfahren eng aufeinander bezogen sind.

Welche Reihenfolge man wählt, hängt unter anderem von den Vorlieben der Lernenden ab. Manche verlieren bei einem vorangestellten Theorieblock den Faden, andere können ohne vorgängige Orientierungshilfe der modellhaften Vorführung des Vorgehens schlecht folgen. Wenn sich anhand der Theorie erklären lässt, warum die Lernenden im Schritt 3 Schwierigkeiten hatten, ergibt es mehr Sinn, diesen Teil der Theorie vor dem Vorgehen zu behandeln. Dient die Theorie hingegen dazu, Aspekte des Vorgehens zu begründen, ist sie für die Lernenden leichter einzuordnen, wenn sie nachher zum Thema gemacht wird.

Hintergrundtheorien dienen typischerweise dazu, die verschiedenen Elemente der im Zentrum stehenden Handlungssituation zu ordnen und zueinander in Verbindung zu bringen. Dieses Ziel entspricht dem Ziel von A3 Phänomene einordnen. Vor allem, wenn eine grössere Menge Hintergrundtheorie eigeführt werden muss, kann man an dieser Stelle auch A1 Handeln vorbereiten unterbrechen und einmal vollständig und ausführlich A3 Phänomene einordnen durchspielen.

Zu Schritt 6: Die Lernenden eigene Beispiele erfinden lassen, bis sie sich sicher fühlen

Hintergrund: C6 Varianten des Übens

Anleiten: Eventuell ist es zweckmässig, zuerst ein, zwei Beispiele im Plenum zu erfinden und zu bearbeiten. Dann sollten die Lernenden in Gruppen üben, bis sie sich sicher fühlen. Manchmal braucht es für die Gruppenphase nochmals ein bereits formuliertes Beispiel, um die Aufgabenproduktion in Schwung zu bringen. Beim Arbeiten in den Gruppen benötigen die Lernenden zu Beginn meist noch mehr oder weniger Unterstützung (sowohl beim Erfinden der Beispiele wie beim Lösen). Mit der Zeit kann und muss diese aber wegfallen. Gegen Schluss kann man sogar dazu übergehen, spontan zusätzliche Schwierigkeiten in die Beispiele der Lernenden einzubauen.

Wörtliche Umsetzung: Ein Verfahren kann man nur einüben, wenn man sich in der Übungsphase strickt an das vorgeschlagene Vorgehen hält. Wichtig ist daher, dass alle Lernenden angehalten sind, das in Schritt 5 modellierte Vorgehen so gut es ihnen gelingt zu nutzen und nicht hier schon Varianten zu produzieren. Eine Diskussion über Varianten und Grenzen des Vorgehens wird auf später verschoben (vgl. «Reflexion» unten).

Anzahl: Besteht eine Klasse aus 20 Lernenden, die je eine Aufgabe erfinden, 19 Aufgaben ihrer Kolleginnen und Kollegen lösen und dann nochmals 19 Lösungen zu ihrer Aufgabe korrigieren, wurde gut und genug geübt.

Lösungen: Alle, die eine Aufgabe beisteuern, geben separat dazu eine Musterlösung ab. Anhand dieser Lösung korrigieren sie dann die Lösungsversuche der anderen Lernenden. Dies ist nur zielführend, wenn die Musterlösungen korrekt sind. Um dies sicherzustellen, kann die Lehrperson in der Zeit, in der die Lernenden an den Aufgaben arbeiten, die Musterlösungen kontrollieren. Spannender und interaktiver geschieht dies aber, wenn die Lernenden ihre Musterlösungen irgendwo aufhängen. Die Lernenden können dann ihre eigene Lösung mit den Mustern vergleichen. Typischerweise entsteht bei nicht korrekten Musterlösungen, aber auch bei Aufgaben, zu denen es mehrere akzeptable Lösungen gibt, bald einmal eine rege Diskussion zwischen den Lernenden, da nicht alle mit der Musterlösung einverstanden sind. Die Lehrperson kann diese Diskussion nutzen, um alternative Lösungen, typische Schwierigkeiten und typische Fehlüberlegungen zu thematisieren.

Reflexion: Für jedes praktische Vorgehen müssen gewisse Bedingungen erfüllt sein, damit es sinnvoll eingesetzt werden kann. Die Lernenden können das eingeübte Vorgehen im praktischen Alltag nur dann sinnvoll einsetzen, wenn sie sich dessen bewusst sind. Gegen Ende des Schritts 6 ist es ein guter Moment, um mit ihnen diesen Aspekt zu thematisieren. Am besten greift man dazu nochmals auf die Lösungsversuche von Schritt 3 zurück und bespricht, inwiefern und unter welchen Bedingungen das eingeübte Vorgehen die dort erlebten Schwierigkeiten behebt. Dabei zeigt sich manchmal auch, dass in einigen Fällen eine der Gruppenlösungen das praxistauglichere Vorgehen darstellt und somit dem von der Lehrperson eingeführten Vorgehen vorzuziehen ist (Beispiel: B2 Randumfang einstellen).

Zu Schritt 7: Die Lernenden Spickzettel für die Arbeit im Betrieb erarbeiten lassen

Hintergrund: C3 Situierte Abstraktion; C7 Schnelles Denken, langsames Denken

Für den Betrieb: Wenn die Situation auch oder nur an einer Prüfung vorkommt, ist es sinnvoll, auch für diesen Einsatz im Rahmen des rechtlich Erlaubten einen Spickzettel zu erstellen. Von der Grundidee her geht es aber darum, einen Spickzettel für den Gebrauch im Betrieb zu erstellen. Die Lernenden müssen sich daher folgende Frage stellen: Wenn ich morgen im Betrieb mit genau dieser Situation beziehungsweise Aufgabe konfrontiert bin, was brauche ich da als Gedächtnisstütze, damit ich versuchen kann, das Gelernte einzusetzen?

Kurzfristiger Gebrauch: Ein Spickzettel kann eine kurzfristige und eine langfristige Rolle erfüllen. In der kurzfristigen Funktion hilft er den Lernenden, sich im Betrieb daran zu erinnern, wie sie überhaupt vorgehen sollen (z.B. «Zuerst …, dann … Nicht vergessen …!»). Wird das entsprechende Vorgehen mit der Zeit zur Routine, verliert diese Komponente des Spickzettels ihre Bedeutung. Kann sich aber keine Routine ausbilden, weil die entsprechende Situation zu selten auftritt, ist es sinnvoll, dass auch dieser Teil des Spickzettels irgendwo überlebt und später wieder zur Verfügung steht.

Langfristiger Gebrauch: Langfristiger brauchbar können für das Vorgehen zentrale Grössen und Daten sein, die man einfach kennen muss, um den Arbeitsablauf durch Nachschlagen beziehungsweise Nachrechnen nicht zu behindern (Beispiel: B2 Randumfang einstellen). Die Lernenden können daraus ein persönliches Nachschlagewerk aufbauen, das sie unter Umständen längere Zeit während ihrer beruflichen Karriere begleitet.

Individuelle Form: Wichtig ist allerdings, dass die Lernenden nicht einfach Material kopieren, sondern eine Darstellungsform finden, die für sie individuell hilfreich ist, die ihnen genau die Unterstützung bietet, die sie brauchen (Hintergrund: C3 Situierte Abstraktion).

Unterstützung: Brauchbare Spickzettel zu schreiben, muss gelernt werden. Anfänglich ist nicht zu erwarten, dass alle Lernenden gleich das für sie brauchbare Format finden. Es braucht daher etwas Beratung und dann auch gemeinsame Diskussionen, bis ein gutes Format gefunden ist. Sinnvoll ist es, bei Schritt 8 (Erfahrungsberichte aus dem Betrieb) auch die Brauchbarkeit der jeweiligen Spickzettel zu evaluieren und allenfalls daraus Konsequenzen für ein nächstes Mal zu ziehen.

Zu Schritt 8: Die Anwendung im Betrieb diskutieren

Hintergrund: C6 Varianten des Übens; C7 Schnelles Denken, langsames Denken; C8 Gewisse Ungewissheit

Zeitaufwand: Die Bedeutung dieses Schritts darf man nicht unterschätzen. Wird er ernst genommen, kann er schnell mehr Zeit beanspruchen als alle anderen Schritte zusammen! Gelerntes, das man im Prinzip verstanden hat, unter Alltagsbedingungen situationsangemessen zu nutzen, ist keineswegs trivial (Hintergrund: C2 Erfahrungen und Ressourcen).

Vorbereiten: Man kann diesen Übergang in die betriebliche Anwendung vorbereiten, indem man in der Klasse vorausschauend diskutiert, was geschehen wird beziehungsweise geschehen könnte, wenn die Lernenden morgen oder nächste Woche eine entsprechende Situation in ihrem Betrieb anpacken. Am besten geschieht das im Zusammenhang mit der Erstellung der Spickzettel. Dabei kann sich zeigen, dass die Lernenden noch Informationen oder Hilfe zu Punkten brauchen, die bisher gar nicht besprochen wurden.

Nachbereiten: Allerdings lässt sich kaum vorhersehen, welche Schwierigkeiten die einzelnen Lernenden im Betrieb dann tatsächlich haben werden. Wichtiger als eine Vorbereitung auf den Einsatz des Vorgehens ist deshalb, dass die Lernenden zu einem späteren Zeitpunkt die im Betrieb gesammelten Anwendungserfahrungen in die Schule zurückbringen, um sie dann gemeinsam zu diskutieren. Dies ist typischerweise der Moment, wo die Lehrperson als erfahrene Berufsperson aus dem Vollen schöpfen kann und auch soll.

Kritische Reflexion: Dies ist dann nochmals der Moment, die Möglichkeiten und Grenzen des behandelten Vorgehens kritisch zu diskutieren, seine Stärken und Schwächen festzuhalten. Oft ergibt sich das von selbst, wenn einzelne Lernende davon berichten, dass in ihrem Betrieb anders vorgegangen wird oder dass das an der Schule behandelte Vorgehen dort explizit abgelehnt wird.

Erfahrungen reflektieren: Wenn man sich besonders intensiv mit einer Erfahrung, die die Lernenden aus dem Betreib zurückbringen, auseinandersetzen will, kann man das mithilfe von A2 Erfahrungen reflektieren machen.

A1.4 Erwähnte Literatur

Cattaneo, A. & Felder, J. (2018). Eine digitale Brücke zwischen den Lernorten. skilled, 1/18.

A2 ERFAHRUNGEN REFLEKTIEREN

Zweites Grundrezept: «Reflektierende Fallstudie»

A2.1 Die Zielsetzung

Die Lernenden machen im Betrieb täglich neue Erfahrungen in unterschiedlichsten Situationen wie «Brot backen», «ein Kundengespräch führen», «eine Klientin mobilisieren», «ein Gerüst aufstellen», «einen Computer als Server einrichten» etc. Diese Erfahrungen werden in Zukunft ihr Handeln leiten (Hintergrund: C1 Subjektive Erfahrungsbereiche). Daher ist es wichtig, sie zu reflektieren. Professionelles Handeln ist nur möglich, wenn sich die Lernenden bewusst sind, welche ihrer Erfahrungen positive Modelle abgeben, die man getrost kopieren kann (z.B. beim Gerüstbau einen Helm tragen), und welche eher negative Beispiele sind, die man meiden sollte (z.B. schnell, schnell und ungesichert am Gerüst noch eine Veränderung vornehmen).

Für viele Situationen gibt es Regeln oder Leitlinien wie «Hygieneregeln», «Sicherheitsregeln auf dem Bau», «Grundsätze eines erfolgreichen Kundengesprächs» oder «ergonomisches Arbeiten». All diese Leitlinien eignen sich, um Erfahrungen kritisch zu reflektieren, haben aber meist nicht die Form eines Verfahrens, das man erlernen könnte. Aus den «Grundsätzen eines erfolgreichen Kundengesprächs» lässt sich beispielsweise nicht direkt ableiten, was man in einem bestimmten Moment genau sagen soll. Die «Grundsätze» eignen sich aber hervorragend, um nachher darüber nachzudenken, ob das, was man im Verlauf eines bestimmten Gespräches gesagt hat, sinnvoll war (positives Modell) oder eher nicht (negatives Modell) (Hintergrund: C7 Schnelles Denken, langsames Denken).

Um den Lernenden zu helfen, ihre Erfahrungen in diesem Sinne zu reflektieren, entstand das Unterrichtsrezept Erfahrungen reflektieren.

Leseanleitung: Möchten Sie sich einfach informieren, wie dieses Rezept aufgebaut ist, dann lesen Sie hier direkt weiter. Möchten Sie aber angeleitet werden, wie Sie sich dieses didaktische Rezept am besten zu eigen machen, dann gehen Sie zu A9 Leseanleitung zu Teil A.

A2.2 Erfahrungen reflektieren kurz gefasst

Das Rezept umfasst acht Schritte, die aufeinander aufbauen. Im Zentrum stehen:

Eine bestimmte Situation – wie «Brot backen» oder «einen Computer als Server einrichten» –, welche die Lernenden im beruflichen Alltag immer wieder antreffen und zu der sie entsprechend schon verschiedene Erfahrungen gesammelt haben.

Ein bewährtes Raster (Regel oder Leitlinie), mit dessen Hilfe man diese Erfahrungen als positive oder negative Modelle einstufen kann.

Schritt 1: Vorgabe einer typischen beruflichen Handlungssituation

Die Lehrperson bestimmt eine typische berufliche Handlungssituation, die im Fokus stehen soll (z.B. «Reklamationen von Kunden entgegennehmen»). Dies muss eine Situation sein, welche die Lernenden bereits erlebt haben.

Schritt 2: Geschichte wählen und erzählen

Vorschlagen: Die Lernenden machen Vorschläge zu Geschichten, die sie über Erlebnisse in der betreffenden Situation erzählen können (z.B. «eine anspruchsvolle Kundin», «ein wütender Kunde», «eine verwirrte Kundin»).

Auswählen: Alle (Lernende und Lehrperson) stimmen darüber ab, welche der vorgeschlagenen Geschichten vertieft behandelt werden soll (z.B. «ein wütender Kunde»).

Erzählen und Nachfragen: Die Lernende, die die gewählte Geschichte vorgeschlagen hat, stellt diese ausführlich dar (z.B. «Der Kunde war zuerst ganz höflich, aber dann …»). Die anderen fragen nach, wenn ihnen Dinge unklar sind oder wenn sie gern weitere Informationen hätten.

Schritt 3: Frage wählen

Fragen vorschlagen: Alle machen Vorschläge, welche Fragen sie gern anhand der erzählten Geschichte behandeln würden (z.B. «Was mache ich, wenn es zu einer Schlägerei kommt?» oder «Wie kann so etwas überhaupt passieren?»).

Fragen wählen: Alle stimmen darüber ab, welche Frage vertieft behandelt werden soll (z.B. «Wie kann so etwas überhaupt passieren?»).

Schritt 4: Raster wählen und darstellen

Wahl eines Rasters: Es wird ein Raster (ein theoretisches Konzept, ein Modell, eine Theorie) bestimmt, anhand dessen sich die gewählte Frage im Rahmen der Geschichte behandeln lässt (z.B. das Konzept des Vier-Ohren-Modells von Schulz von Thun).

Präsentation des Rasters: Eine Person beschreibt das Raster, sodass es allen präsent ist.

Schritt 5: Beschreibung

Die Geschichte wird in das Raster «eingefüllt», das heisst mithilfe der Begrifflichkeit des Rasters geordnet (z.B. Aspekte einzelner Äusserungen im Gespräch mit dem verärgerten Kunden den entsprechenden «Ohren»).

Schritt 6: Analyse

Anschliessend wird geklärt, ob das, was in der Geschichte geschehen ist, aus der Sicht des Rasters sinnvoll beziehungsweise korrekt war (z.B. «Wurde ein ‹Ohr› systematisch vernachlässigt?»).

Schritt 7: Varianten

Dieser Schritt schafft einen Freiraum, um Aspekte der Geschichte zu behandeln, die durch die vorangegangene fokussierte Analyse nicht berücksichtigt wurden. Er kann verschiedene Formen annehmen, wie beispielsweise:

Diskussionen, Input: Alle beteiligen sich an einer Diskussion, wie man beispielsweise in der Geschichte auch noch hätte vorgehen können (z.B. «Und was mache ich jetzt wirklich bei einer Schlägerei?»).

Übungen: Ausgewählte Aspekte des Rasters und seiner Anwendung werden gezielt geübt, etwa in Form von Rollenspielen (z.B. «auf Widersprüche zwischen den ‹Ohren› achten»).

Schritte 8: Konsequenzen

Individuell planen: Die Lernenden ziehen je für sich Konsequenzen aus dem Behandelten (z.B. das benutze Raster nochmals genauer durcharbeiten, in Zukunft im Betrieb anders zu reagieren …).

Schlussrunde: Die Lernenden beschreiben reihum kurz, welches ihre persönlichen Konsequenzen sind.

A2.3 Anregungen zu den einzelnen Schritten

So weit das Rezept Erfahrungen reflektieren einmal im Schnelldurchgang und anhand eines einfachen Beispiels (weitere Beispiele: B4 Reklamationsgespräch, B5 Das gute Leben und B6 Unterrichtsbeispiele besprechen). Damit die einzelnen Schritte die gewünschte Funktion übernehmen und als Ganzes ineinandergreifen, gibt es Verschiedenes zu beachten.

Zu Schritt 1: Vorgabe einer typischen beruflichen Handlungssituation

Hintergrund: C1 Subjektive Erfahrungsbereiche; C7 Schnelles Denken, langsames Denken

Situation als Analyseeinheit: Erfahrungen werden als Situationen erinnert (Hintergrund: C1 Subjektive Erfahrungsbereiche). Entsprechend ist die Einheit bei der Analyse von Erfahrungen die Situation.

Bekannte Situation: Der ganze Ablauf geht davon aus, dass die Lernenden mit der Situation bereits Erfahrungen gemacht haben. Am besten eignen sich daher Situationen, bei denen diese Voraussetzung für alle Lernenden erfüllt ist. Es ist aber auch möglich, an Situationen zu arbeiten, zu denen nicht alle Lernenden eigene Erfahrungen gemacht haben. Eine bestimmte Geschichte wird letztlich für alle – ausser der Lernenden, die sie erzählt – eine fremde Geschichte sein, und auch die Lernenden mit einschlägigen Erfahrungen müssen sich in diese fremde Geschichte eindenken. Allerdings sollten mehr als ein Drittel der Lernenden die Situation schon erlebt haben, da sonst in der Klasse der Eindruck entsteht, dass es sich um eine Ausnahmesituation handelt, die den ganzen Aufwand nicht wert ist.

Beobachtungsaufträge: Das Material, auf das die Lernenden bei der Arbeit an ihren Erfahrungen zurückgreifen, ist reichhaltiger, wenn man ihnen geeignete Vorbereitungsaufträge stellt. Dabei kann es sich um Beobachtungsaufträge handeln. Die Lernenden beobachten sich selbst oder andere in der entsprechenden Situation und machen sich Notizen. Man kann sie aber auch auffordern, Materialien wie schriftliche Unterlagen oder Handyfotos der erlebten Situation mitzubringen, soweit dadurch nicht rechtliche Bestimmungen verletzt werden.

Zu Schritt 2: Geschichte wählen und erzählen

Auswahl: Als Einstieg fragt die Lehrperson, wer von den Lernenden schon Erfahrungen mit der entsprechenden Situation (z.B. «Reklamationen entgegennehmen») gemacht hat und darüber erzählen möchte. Die Lernenden schildern kurz in zwei, drei Sätzen, was sie erzählen könnten. Diese Kurzfassungen dienen dann als Basis für die Entscheidung darüber, welche Geschichte ausführlicher erzählt werden soll.

Dadurch, dass die Lernenden bei der Auswahl der Geschichte mitwirken, wird sichergestellt, dass sich möglichst viele Lernende dafür interessieren und sich aktiv mit ihr auseinandersetzen (Hintergrund: C8 Gewisse Ungewissheit). In seltenen Fällen kann es trotzdem sinnvoll sein, wenn die Lehrperson die Lernenden überstimmt und eine Geschichte wählt, dank der sich besser an aktuellen Lernzielen arbeiten lässt (z.B. lieber «eine anspruchsvolle Kundin» als «ein wütender Kunde»).

Geschichte: Die Arbeit wird ergiebiger und wirksamer, wenn die Erfahrung ungefiltert einfliesst. Der Begriff «Geschichte» ist daher ganz bewusst gewählt. Es geht nicht darum, einen «Fall» zur Illustration einer bestimmten Theorie zu gewinnen, sondern darum, an den realen Erfahrungen der Lernenden anzuknüpfen und diese zu bearbeiten (Hintergrund: C1 Subjektive Erfahrungsbereiche; C2 Erfahrungen und Ressourcen; C7 Schnelles Denken, langsames Denken).

Nur eine Geschichte: Es wird nur eine Geschichte erzählt, damit genügend Platz vorhanden ist, um die entsprechende Erfahrung in ihrer vollen Komplexität darzustellen und zu analysieren. Allerdings wird so das situative Wissen nur von einer einzigen Lernenden direkt bearbeitet. Daher ist es wichtig, die Geschichte ausführlich zu erzählen, sodass die anderen Lernenden sie als eine Ersatzerfahrung auch in ihr situatives Wissen einbauen können (Hintergrund: C2 Erfahrungen und Ressourcen; C5 Erfahrung und Instruktion).

Zu Schritt 3: Frage wählen

Funktion: Jede reale Erfahrung lässt sich aus verschiedenen Blickwinkeln genauer analysieren. Fragen, die man im Zusammenhang mit der erzählten Geschichte behandeln möchte, entsprechen solchen Blickwinkeln. Dabei kann es um eher fachliche, aber genauso gut um sozial-kommunikative oder methodische Fragen gehen.

Bei «Reklamationen entgegennehmen» könnte es beispielsweise aus einem eher fachlichen Blickwinkel um den professionellen Umgang mit Reklamationen gehen oder aus einer eher sozial-kommunikativen Perspektive um die Gestaltung der Interaktion mit dem Kunden.

Wahl: Auch hier sollen nach Möglichkeit die Lernenden die Frage bestimmen, mit der weitergearbeitet wird, damit sich möglichst viele von ihnen mit ihr identifizieren und aktiv mitarbeiten (Hintergrund: C4 Lernziel richtige Antwort)